Direkte Naturerfahrungen in der Sozialen Arbeit. Ein Zugang zum Selbst

Eine Betrachtung am Beispiel einer „Visionssuche“


Bachelorarbeit, 2013

63 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einführung

1. Was ist „Natur“? - zur Schwierigkeit des Naturbegriffs

2. Naturerfahrung

3. Naturerfahrungen heute - medialisierte Lebenswelten

4. Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen - Individualisierung und Pluralisierung

5. Naturerfahrungen als Zugang zum Selbst - eine entwicklungspsychologische Betrachtung

6. Naturerfahrungen in der Sozialen Arbeit

7. Erlebnispädagogik - eine Methode zur Nutzung von Naturerfahrungen
7.1 Erlebnispädagogik - was bedeutet Erlebnis?
7.2 Erlebnispädagogik - Grundlagen
7.3 Ziele der Erlebnispädagogik
7.4 Erlebnispädagogik - Transfer und Reflektion
7.5 Naturerfahrung und Erlebnispädagogik

8. Visionssuche - Direkte Naturerfahrungen in Methoden der Sozialen Arbeit
8.1 Ablauf einer Visionssuche
8.2 Wer macht Visionssuchen?
8.3 Naturerfahrungen und Visionssuche
8.3.1 Symbolische Übertragungsprozesse
8.3.2 Das Medizinrad und die Vier Schilde
8.3.3 Psychische Objektrepräsentanzen
8.4 Die Visionssuche als Übergangsritual
8.5 Die Visionssuche als erlebnispädagogische Methode
8.5.1 Die Visionssuche als Aufgabe mit Ernstcharakter
8.5.2 Erlebnispädagogik als gruppenpädagogisches Angebot
8.5.3 Prozessgestaltung einer Visionssuche
8.5.4 Die Übertragbarkeit der Erfahrungen in den Alltag
8.5.5. Visionssuche und Persönlichkeitsentwicklung
8.6 Sicherheit bei der Visionssuche

Fazit

Literaturverzeichnis

Einführung

Es ist Sommer. Eine Schmetterlingsraupe frisst sich durch grünes Blattwerk. Überall spriesst es, Nahrung ist im Überfluss vorhanden. Die Raupe wächst und gedeiht. Doch langsam kündigt sich der Herbst an, Veränderung liegt in der Luft. Die Raupe wächst, häutet sich, wächst und häutet sich wieder. Doch irgendwann ist ein Endstadium erreicht. Die Raupe kann in dieser Form nicht mehr weiter existieren. Sie ist ausgewachsen, das Nahrungsangebot sinkt mit dem Ende des Sommers. Sie ist den sinkenden Temperaturen schutzlos ausgeliefert. Sie muss sich wandeln und anpassen. Sie zieht sich in sich zurück und verpuppt sich. Auf diese Weise kann sie den Unbillen von Herbst und Winter standhalten. Wenn der Frühling kommt und es wärmer wird, bricht die Puppe auf. Heraus kommt ein wunderschöner Schmetterling. Schöner und größer als zuvor ist das Tier, und jetzt es kann fliegen...

Was soll diese kleine Geschichte illustrieren? Sie soll einführen in eine Arbeit, die sich mit der Übertragbarkeit von Naturerfahrungen auf die menschliche Innenwelt beschäftigt. In der Natur lassen sich Dinge, Eigenschaften, Kreisläufe und Prozesse erkennen und erfahren, die sich in strukturell ähnlicher Weise auch in der menschlichen Innenwelt und im menschlichen Lebenslauf wiederfinden.

So könnte jemand, der eine solche Naturerfahrung macht, Anteile von sich selbst in dieser Raupe bzw. diesem Schmetterling erkennen und sich dadurch besser verstehen lernen. Er könnte Mut dafür schöpfen, dass auch er schwierige Bedingungen im Leben meistern kann. Er könnte den Vorgang als Metapher für sich selbst, aber auch für seine Lebenssituation erfahren und Anforderungen und Aufgaben an ihn daraus ableiten. Auch der menschliche Lebenslauf ist geprägt von Wandel, Krisen, notwendigen Anpassungsprozessen und Übergängen. Eine solche Naturerfahrung wie die oben beschriebene könnte beispielsweise dazu beitragen diese Prozesse zu verdeutlichen und Mut machen, dass Übergange gelingen können.

Natürlich ist diese Metapher nur eine von vielen Möglichkeiten, aus Naturerfahrungen Rückschlüsse auf eigene Situationen zu ziehen.

- Wie können Naturerfahrungen dazu beitragen, Menschen näher an sich selbst heranzuführen, Erkenntnis über sich zu gewinnen und somit einen Zugang zum Selbst ermöglichen?
- Wie kann die Soziale Arbeit diese Prozesse nutzen und methodisch umsetzen?
- Wieso sind solche Zugänge zum Selbst überhaupt wichtig und wie decken sie sich mit den Zielen der Sozialen Arbeit?
- Erfüllen die dafür angewandten Methoden die theoretischen Grundlagen, sind sie also „Methoden der Sozialen Arbeit“?

Diesen Fragen soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden.

Dazu soll in den ersten beiden Kapiteln geklärt werden, was überhaupt unter „Natur“ zu verstehen ist und was direkte Naturerfahrungen sind und zudem eine zielführende Arbeitsdefinition dieser Begriffe gefunden werden.

Im dritten Kapitel folgt eine Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen Naturerfahrungen und einer gesellschaftlichen Tendenz zur zunehmenden Medialisierung und Technisierung. Die Berührungspunkte mit der Natur scheinen durch neue technologische Entwicklungen, vor allem in Form von tragbaren Endgeräten, eingeschränkt. Dies könnte dazu führen, dass insgesamt weniger und weniger intensive Naturerfahrungen gemacht werden. Inwieweit dies zutrifft soll hier analysiert werden.

Im vierten Kapitel werden dann aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und sich daraus ergebende Anforderungen an die Individuen skizziert, die sich unter den Stichworten Individualisierung, Pluralisierung und veränderte Übergangsanforderungen fassen lassen.

Im fünften Kapitel folgt eine Betrachtung der entwicklungspsychologischen Wirkung von Naturerfahrungen. Die Entwicklung des Menschen wird in der Entwicklungspsychologie zumeist als Resultat der Beziehung zur menschlichen Umwelt verstanden. Hier soll der Blick auf die Beziehung zur nicht-menschlichen Umwelt und insbesondere zur Natur gerichtet werden.

Im sechsten Kapitel werden die herausgearbeiteten Erkenntnisse auf den Aufgabenbereich der Sozialen Arbeit bezogen.

Eine ausführliche Betrachtung von Erlebnispädagogik und Naturerfahrung folgt im siebten Kapitel. Während früher eher von einer Eigenwirkung der Natur ausgegangen wurde („the mountains speak for themselves“) sind die theoretischen Grundlagen erlebnispädagogischer Programme heute fundierter ausgearbeitet. Diese werden dargestellt und auf das Praxisbeispiel einer Visionssuche bezogen.

Die Visionssuche, englisch „Vision Quest“, geht auf alte traditionelle Übergangsrituale zurück und wurde von Steven Foster und Meredith Little für die heutige westliche Gesellschaft wiederentdeckt und methodisch aufbereitet. Hier wird die Annahme der Übertragbarkeit von Naturerfahrungen auf das menschliche Selbst praktisch umgesetzt. Ist die Visionssuche eine Methode, die den derzeitigen theoretischen Anforderungen der Erlebnispädagogik genügt, und wie wirken die direkten Naturerfahrungen in ihr? Dieser Frage soll im achten Kapitel nachgegangen werden.

1. Was ist „Natur“? - zur Schwierigkeit des Naturbegriffs

Was bedeutet Naturerfahrung? Was ist „Natur“?

Diese Fragen sind nicht trivial, da der Begriff umgangssprachlich weit gefasst ist und Lebewesen wie Pflanzen und Tieren genauso erfassen kann wie Landschaften mit Seen, Flüssen und Bergen. Es gibt die „menschliche Natur“ als Beschreibung menschlicher Eigenarten und die Natur als grundlegende evolutionäre Triebkraft hinter allen Dingen. Für eine Arbeit, die sich mit Natur und Naturerfahrungen auseinandersetzt, ist es daher zunächst wichtig, den Begriff der „Natur“ einzugrenzen und ihn im Hinblick auf die Fragestellung der Arbeit zu konkretisieren. Wie kann nun ein solcher Naturbegriff aussehen und wie ist er wissenschaftlich zu unterfüttern?

Gerhard Trommer hat in seinem Buch "Natur im Kopf" 98 Erwachsene nach ihren Assoziationen zum Begriff "Natur" befragt. Genannt wurden hier vor allem nicht- menschliche Aspekte. (Bäume 40 mal, Wiese 24 mal, Wald 23 mal, Tiere 15 mal, Vögel 11 mal, Blumen 11 mal) Dazu kamen ästhetische Aspekte (Schönheit, Weite, Harmonie, insgesamt 13 mal), sowie Erholungsaspekte (Wandern, Spazieren, Ruhe, Erholung, insgesamt 11 mal), die Umweltzerstörung (12 mal) und der Begriff "Mensch" (8 mal) (vgl. Trommer 1990, S. 24). Hier wird die hohe Spannweite des Begriffs nochmals deutlich.

Weitere empirische Hinweise zu dieser Fragestellung liefert der „Jugendreport Natur“ von Rainer Brämer, der sich unter anderem ausführlich mit dem Naturbegriff auseinandersetzt. In dieser Untersuchung befragte Brämer 1.275 Jugendliche der Klassenstufen 5-12 zu ihren spontanen Assoziationen mit dem Begriff „Natur“. Diese sind aus der folgenden Tabelle ersichtlich:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Tabelle 1, Quelle: Brämer 2006, S. 73)

Aus Tabelle 1 wird die Spannbreite des Begriffs „Natur“ abermals sehr deutlich. Sowohl biologische, geographische als auch anthropologische Kategorien werden genannt.

Wie diffus der Naturbegriff ist, zeigt sich auch in Tabelle 2, die ebenfalls dem Jugendbericht Natur entnommen wurde:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Tabelle 2, Quelle: Brämer 2006, S. 81)

Bei der dieser Tabelle zugrunde liegenden Frage „Was gehört deiner Meinung nach zur Natur“ mit 24 Items gab es lediglich für drei Items eine mehr als 75%-ige Zustimmung (für „Wald“, „Reh“ und „Biologie“), und das, obwohl auch die Antwortkategorie „eher ja“ als „Zustimmung“ gewertet wurde. Auffällig ist zudem, dass Items, die mit menschlicher oder industrieller Bearbeitung in Verbindung stehen- wie Tiefkühlspinat oder Kartoffelchips - kaum zur Natur gezählt werden, obwohl sie ja auch aus „natürlichen“ Zutaten bestehen. Ähnliches zeigt sich bei dem Verhältnis zwischen Erdöl (wird eher dazugezählt) und Strom (wird eher nicht dazugezählt).

Dies kann ein erster Hinweis drauf sein, dass menschlicher Einfluss antagonistisch zur "Natur" gesehen wird.

Trotzdem bleibt der Naturbegriff schwer zu fassen. Reiner Brämer räumt bezogen auf diese Befragung dann auch ein, dass die Grenze zwischen dem, was „Natur“ ist und dem, was demzufolge „Nicht-Natur“ ist, eine gewisse Beliebigkeit aufweist. So fielen im Schnitt ein Drittel der Antworten in die Kategorie „teils,teils“, „so, als ginge die Grenze zwischen Natur und Nichtnatur tatsächlich mitten durch die Dinge hindurch“ (Brämer 2006, S. 79).

Weiter merkt Brämer an: „Ganz offenkundig ist den Jugendlichen in hohem Maße unklar, was sie unter Natur verstehen wollen oder sollen und in welchem Verhältnis sie selber zur Natur stehen. Was die einen für Natur halten, erscheint den anderen als ihr Gegenteil, und die eine wie die andere Meinung hat vermutlich nicht selten Zufallscharakter“ (Brämer 2006, S. 80). Zudem seien „für die Zuordnung zur Natur vor allem subjektive Eindrücke statt objektiver Sachverhalte maßgebend“ (ebd. S. 80). Wie ist dies zu erklären?

Eine grundlegende Paradoxie des Begriffs „Natur“ besteht zunächst einmal darin, dass der heutige Mensch sich zugleich als Teil, aber auch als Gegenüber der Natur erfährt, auch wenn er rein logisch nur das eine von beiden sein kann (vgl. Brämer 2006, S.75). Der Mensch musste sich, um sich überhaupt einen expliziten Naturbegriff machen zu können, zunächst als etwas von der Natur getrenntes erfahren - im Gegensatz z.B. zu einem Tier - um die „Natur“ dann in einem zweiten Schritt als Gegenüber wieder erfahren, bewerten, mit subjektiver Bedeutsamkeit aufladen und dadurch begrifflich fassen zu können (vgl. Gebhard 2009, S.40). Dies war zum Beispiel im Zeitalter der Industrialisierung der Fall, als diese den Menschen von der Natur entfremdete und ihn dadurch von ihr unabhängig zu machen schien, was die Wiederentdeckung der Natur und des „Naturschönen“ durch die Romantik zur Folge hatte.

Trotzdem bleibt der Mensch auch immer Teil der Natur und ist, nicht zuletzt aufgrund seiner „animalischen Herkunft und tödlichen Zukunft“ (Brämer 2006, S. 76) in ihre Wirkungs- und Wechselwirkungszusammenhänge spürbar eingebunden. Inwieweit man den Menschen nun als Teil der „Natur“ begreift oder ihm einen Sonderstatus zuweist, ist letztendlich eine Glaubensfrage. So stellt Brämer leicht resigniert wirkend fest: „Es enden alle vom Menschen ausgehenden Versuche,„Natur“ zu definieren, in einem unauflöslichen Paradoxon. Auf diesem Wege lässt sich kein widerspruchsfreier Naturbegriff finden“ (ebd. S. 77)

Trotz dieser dem Naturbegriff innewohnenden Problematik soll hier nun ein Naturbegriff gefunden werden, der für diese Arbeit zielführend und gleichzeitig empirisch haltbar ist. Dazu sollen folgende Überlegungen leitend sein:

Die Arbeit baut auf dem Praxisbeispiel einer Visionssuche auf. Diese findet in der „Wildnis“ und ohne menschlichen Kontakt statt. Der Begriff „Wildnis“ beruht genauso wie der Naturbegriff auf einer Abgrenzung zu etwas anderem, in diesem Fall der menschlich beeinflussten Welt. Vom Menschen unberührte Landschaften gibt es heute, zumindest in unseren Breiten, jedoch nicht mehr - von einzelnen Sonderzonen wie Nationalparks einmal abgesehen. Und auch hier wirkt der historische anthropogene Einfluss nach, zudem sind sie durch großmaßstäbige Phänomenen wie den Klimawandel beeinflusst. Daher kann es beim Thema „Wildnis“ immer nur um die Erfahrung „relativer“ Wildnis gehen. Ein solches Modell bietet beispielsweise Trommer an, der von Zivilisation und Wildnis als zwei Polen ausgeht, innerhalb derer sich Landschaften relativ positionieren (vgl. Trommer 1997, S. 82).

Der Naturbegriff soll nun so gewählt werden, dass er der Natur, so wie sie während einer Visionssuche erfahren wird, möglichst nahekommt. Zunächst soll sich der Naturbegriff daher auf die nicht-menschliche Natur beziehen. Dies hat zudem den Hintergrund, dass die Naturerfahrung und die damit in Verbindung stehenden Prozesse von den sozialen Erfahrungen unterschieden werden sollen. Ein solcher Naturbegriff wird durch den Jugendreport Natur gestützt, aus dem hervorgeht, dass eine Sache um so seltener von den Jugendlichen mit „Natur“ in Verbindung gebracht wurde, je mehr der Mensch - zumindest dem Anschein nach - mit dieser Sache in Berührung trat (vgl. Brämer 2006, S. 81).

Hubert Markl hat Natur als „[...] den Kulturzustand unserer Umwelt, den extensive, nicht industrielle, traditionelle Landbewirtschaftung erhalten hat“ (Markl 1989 zit. n. Gebhard 2009, S. 48) definiert. Es geht also um relative, und nicht um absolute Unberührtheit, sowie um eine relative, keine absolute Kulturferne. Dieser Sichtweise schließt sich der Autor in dieser Arbeit an.

Des Weiteren soll sich der Naturbegriff auf die belebte Natur beziehen, also auf Pflanzen und Tiere, aber auch auf deren Lebensräume wie naturnahe Landschaften im Sinne Hubert Markls, also Wiesen, Gewässer, Flüsse, den Wald sowie landschaftsformende Naturelemente wie Berge, Höhlen, Steine etc. Zudem soll er die Prozesshaftigkeit der Natur mit einbeziehen, also auch Wetter, Jahreszeiten usw. beinhalten. Alle diese Dinge wurden im Jugendreport Natur auch mit dem Naturbegriff assoziiert (siehe Tab 1).

Es ist klar, dass diese Unterscheidung nicht trennscharf sein kann. Es gehört zu den grundsätzlichsten Fragen unseres Daseins, wo „Leben“ und damit „Belebtheit“ anfängt. Auch ein Fluss oder ein Stein beinhalten und beherbergen eine Menge „Leben“, etwa in Form von Mikroorganismen, sie kommen und gehen, sind vergänglich, und somit in gewisser Weise auch „lebendig“. Es ist auch möglich, die Natur grundsätzlich als „belebt“ und „beseelt“ anzusehen und damit die Gesamtheit des Lebens in den Naturbegriff einzubeziehen, was ihm eine metaphysische Dimension verleiht. Auf diesen Punkt soll hier allerdings aus Gründen der Fokussierung und des Umfangs nicht weiter eingegangen werden.

Als Arbeitsdefinition von Natur wird also bis hierher festgehalten: „Natur“ im Sinne dieser Arbeit ist der „nicht-menschliche, belebte Teil der Umwelt, der extensiv und nicht industriell bewirtschaftet wird und eine gewisse Kulturferne aufweist, sowie die ihm innewohnende Prozesshaftigkeit“.

2. Naturerfahrung

„In der folgenden Tätigkeit als Bergführer musste ich oft die enttäuschende Erfahrung machen, dass meine Gäste sich zwar zunächst für die sie umgebende Flora zu interessieren schienen, nachdem ich ihnen den Namen einer Pflanze genannt hatte, das Interesse an ihr jedoch verloren. Kann das wohl sein, dass mit dem Namen das Wesen eines Dings erfasst ist? Wird die Erscheinung also dann durch einen Namen ihres Ausdrucks ´beraubt´?“ (Rohwedder 2002, S. 132)

Nach dem Naturbegriff soll nun der Begriff der Naturerfahrung betrachtet werden. Bayrhuber und Mayer definieren Naturerfahrung als „spezifischen Auseinandersetzungsprozess des Menschen mit seiner belebten Umwelt […], der sich durch unmittelbare, multisensorische, affektive und vorwissenschaftliche Lernerfahrungen auszeichnet“. (vgl. Bayrhuber und Mayer 1994, S.4)

Hier wird bereits deutlich, dass Naturerfahrung etwas mit Unmittelbarkeit zu tun hat. Zudem wird die vorwissenschaftliche Erfahrung angeführt, also die Erfahrung, bevor sie vom Menschen in kognitive Muster einsortiert, analysiert und damit einer Bewertung unterworfen wird. Auch Hiering und Killermann betonen den ganzheitlichen Charakter von unmittelbaren Erfahrungen und ihre besondere Wirksamkeit für die Beeinflussung von Gefühlen und Einstellungen. (vgl. Hiering und Killermann 1991, S. 229). Gerhard Trommer greift diesen ebenfalls Gedanken auf und differenziert die Qualität der Naturerfahrung aufgrund der Mittelbarkeit bzw. Unmittelbarkeit der Erfahrung. Dabei grenzt er drei Ebenen ab, die er jedoch nicht scharf trennt und auch nicht hierarchisch verstanden wissen will. Trotzdem ist diese Unterscheidung für diese Arbeit sehr hilfreich. Es sind im Einzelnen:

- Primäre Naturerfahrungen, also die direkte, sensorisch-körperliche Begegnung mit den Phänomenen der Natur (Trommer: der „belebten Umwelt“)
- Sekundäre Naturerfahrungen, also kognitive, erkundende und erforschende Naturerfahrungen
- Tertiäre Naturerfahrungen, also das sich aus den primären und sekundären

Erfahrungen ergebende, anwendungsbezogene Umweltwissen (vgl. Trommer 1997)

Eine ähnliche Unterscheidung findet sich bei Susanne Bögeholz. Sie unterscheidet fünf Dimensionen der Naturerfahrung, die in der folgenden Tabelle gezeigt werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Tabelle 3, Quelle: Bögeholz 1999, S. 24)

Es liessen sich nun für jede dieser Dimensionen naturnahe Angebote der Sozialen Arbeit ersinnen, beschreiben und herausarbeiten. Diese Arbeit soll sich im Folgenden aber vor allem auf die ästhetische Dimension der Naturerfahrung konzentrieren, da diese für die psychische Entwicklung als besonders bedeutsam gilt (vgl. Gebhard 2009, S. 38) und bei der Visionssuche vornehmlich dieser Art von direkter Naturerfahrung gemacht wird.

Die ästhetische Dimension umfasst nach Bögeholz „optische, akustische, geschmackliche, olfaktorische und haptische Erfahrungen von ´Schönheit und Eigenart´ der Natur im weitesten Sinne. Sie fokussiert auf die bewusste, sinnliche Wahrnehmung von Bewegungen, Formen, Mustern, Farben, Gerüchen und anderen Sinnesmodalitäten, folglich auf die Vielfalt der Erscheinungsformen von Lebewesen und Landschaften“ (Bögeholz 1999, S. 22).

Dieser Zugang wird auch durch die Analyse von Naturbedeutungen gestützt, wie Werner Nohl sie vornimmt. Diese sind:

- die utilitär-vitale Bedeutung der Natur

Hiermit ist die Natur als Grundlage der menschlichen Bedürfnisbefriedigung gemeint. Die materiellen Grundlagen des Lebens wie Nahrung, Kleidung, Behausung, aber auch Energie oder Pharmazeutika basieren direkt oder indirekt auf Naturstoffen. Aus diesem Verständnis von Natur ergibt sich auch das Bedürfnis, sich der Natur praktisch zuzuwenden, z. B. durch Bestellung eines Kleingartens oder sportlicher Aktivitäten in der Natur.

- die ökologisch-vitale Bedeutung der Natur

Hiermit ist die biologisch-physiologische Anpassungsfähigkeit des Menschen an die Umwelt und hier insbesondere das Spannungsfeld zwischen sinnvoller Naturbeherrschung und (selbst-)zerstörerischer Naturausbeutung gemeint.

- die symbolisch-ästhetische Bedeutung der Natur

Hiermit meint Nohl die Erfahrung, das Erleben und die Wahrnehmung von Natur (griechisch aisthesis). Es wurde im Kapitel 1 zum Naturbegriff bereits ausgeführt, dass der Mensch sich zunächst als von der Natur getrennt erfahren muss, um sie in einem zweiten Schritt beschreiben und mit Bedeutungen aufladen zu können. Dieser Ansicht folgt auch Nohl bei der Entwicklung seines symbolisch-ästhetischen Naturbegriffs. Er schreibt: „In dem Maße, wie sich dieser Zusammenhang mit der Natur auflöst, und Natur den Menschen als entäußertes Objekt entgegentritt, entwickeln sie eine emotionale Beziehung zu ihr.“ (Nohl 1982, S. 526).

Natürlich können diese Formen der Naturbedeutung nicht völlig voneinander getrennt gesehen werden. Die Naturbedeutungen treten sozusagen vergesellschaftet auf, auch wenn in der Regel Akzente gesetzt werden. Fast immer ist jedenfalls die ästhetische Komponente der Natur mit angesprochen. (ebd, S. 527).

Zusammenfassend sollen in dieser Arbeit also die Aspekte der Naturerfahrung betrachtet werden, die sich aus der unmittelbaren, im Sinne Trommers direkten Erfahrung ergeben. Ergänzend dazu soll dem Begriff der ästhetischen Naturerfahrung im Sinne von Bögeholz und der symbolisch-ästhetischen Bedeutung der Natur im Sinne Nohls gefolgt werden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 63 Seiten

Details

Titel
Direkte Naturerfahrungen in der Sozialen Arbeit. Ein Zugang zum Selbst
Untertitel
Eine Betrachtung am Beispiel einer „Visionssuche“
Hochschule
Hochschule München  (FK 11)
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
63
Katalognummer
V273642
ISBN (eBook)
9783656698951
ISBN (Buch)
9783656699248
Dateigröße
5652 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
direkte, naturerfahrungen, sozialen, arbeit, zugang, selbst, eine, betrachtung, beispiel, visionssuche
Arbeit zitieren
Ansgar Beyerle (Autor:in), 2013, Direkte Naturerfahrungen in der Sozialen Arbeit. Ein Zugang zum Selbst, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/273642

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