Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definitorische Abgrenzung der Begriffe Märchen, Volksmärchen, Kunstmärchen
2.1. Das Märchen
2.2. Das Volksmärchen
2.3. Das Kunstmärchen
3. Von der Verschiedenartigkeit des Volksmärchens und des Kunstmärchens
3.1. Die Kontroverse zwischen Achim von Arnim und den Gebrüdern Grimm
3.2. Über die Unterscheidung von Volksmärchen und Kunstmärchen
3.3. Die Gattungsdiskussion in der Forschung
3.4. Über die Definition von Volksmärchen und Kunstmärchen anhand der aktuellen Forschung
4. Schlussbetrachtung
1. Einleitung
Die Poesie ist das was rein aus dem Gemüth ins Wort kommt, entspringt also immerfort aus natürlichem Trieb und angeborenen Vermögen diesen zu fassen, - die Volkspoesie tritt aus dem Gemüth des Ganzen hervor; was ich unter Kunstpoesie meine, aus dem des Einzelnen.[1]
Mit dieser Aussage in einem Brief aus dem Jahr 1811 an Achim von Arnim legt Jacob Grimm den Grundstein für eine lange währende Debatte um das Märchen, welches er hier mit der Poesie gleichsetzt. Er benennt eine scheinbare Verschiedenartigkeit zwischen dem Volks- und dem Kunstmärchen, die in der Folgezeit als Grundlage für eine Unterscheidung zwischen den beiden Gattungen verwendet wird. Auch rund 150 Jahre später findet sich bei Max Lüthi eine ähnliche, um den Aspekt der mündlichen Tradierung ergänzte, Unterteilung zwischen dem Volks- und dem Kunstmärchen:
Zum Begriff des Volksmärchens gehört, dass es längere Zeit in mündlicher Tradition gelebt hat und durch sie mitgeformt worden ist, während man das Kunstmärchen zur Individualliteratur rechnet, geschaffen von einzelnen Dichtern und genau fixiert, heute meist schriftlich, in früheren Kulturen durch Auswendiglernen überliefert.[2]
Die Autorlosigkeit eines literarischen Textes und dessen Überlieferungsart dienen hiernach als Identifikatoren für das Volks- und das Kunstmärchen. Aber ist es überhaupt möglich, eine so klare Definitionsgrenze zu ziehen? Welche weiteren Abgrenzungen lassen sich zwischen dem Volksmärchen und dem Kunstmärchen vornehmen oder sind die beiden Begriffe doch nur Bezeichnungen für die zwei Seiten derselben Medaille? Und wie definiert die heutige Forschung die Begriffe Volks - und Kunstmärchen ? Das Ziel dieser Arbeit wird es sein, diese Fragen in ihrem Verlauf zu klären und einen Überblick über die Forschungsdebatte zum Volks- und Kunstmärchen zu geben.
Das erste Kapitel dieser Arbeit wird die grundlegenden Begriffe des Märchens, des Volksmärchens und des Kunstmärchens beschreiben und darstellen, da eine genaue Kenntnis ihrer Charakteristika für den Verlauf der Ausarbeitung unerlässlich ist. Die Problematik dieser drei Begriffe besteht wie erwähnt darin, dass es keine wirkliche Trennschärfe der einzelnen Kategorien und somit eine Vielzahl an Definitionsbildungen gibt. Es wird versucht werden, die übereinstimmenden Merkmale wiederzugeben, ohne sich dabei in mehreren Deutungsvarianten zu verlieren. Der Einteilung des Volksmärchens liegt die weitreichende Definition der Monographie Max Lüthis Märchen zugrunde. Weiter wird sich zeigen, dass sich der Bereich der Volks- und Kunstmärchenforschung kaum auf den deutschsprachigen Raum eingrenzen läßt, jedoch wird im Hinblick auf die Dimension dieser Arbeit davon abgesehen, in größerem Umfang auf die Entwicklung der Thematik in anderen Sprachen einzugehen. Ebenso wird aus diesem Grund darauf verzichtet, praxisbezogene Analysen von Präzedenzfällen der beiden Gattungen zu liefern.
Das darauffolgende Kapitel wird sich mit der vermeintlichen Verschiedenartigkeit des Volksmärchens und des Kunstmärchens beschäftigen und versuchen, die bestehenden Kontroversen bei einer eindeutigen Definitionsfindung aufzuzeigen. Der bereits erwähnte Briefwechsel zwischen den Gebrüdern Grimm und dem Schriftsteller Achim von Arnim soll dabei näher untersucht werden. Ebenso soll über die inhaltlichen Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen dem Volks- und dem Kunstmärchen berichtet werden. Anschließend erfolgt eine sehr ausführliche Darstellung und Beschreibung der Diskussion der Gattungsproblematik des Volks- und des Kunstmärchens in der Forschung. Zugleich wird auch die gegenwärtige Bedeutung der Unterscheidung zwischen dem Volksmärchen und dem Kunstmärchen und der aktuelle Forschungsstand zu der Thematik beleuchtet. Anschließend wird die Schlussbetrachtung diese Arbeit resümieren und eine Darlegung der Ergebnisse leisten.
Als hilfreiche Orientierung für diese Arbeit dient das Buch Märchen von Stefan Neuhaus, das einen zuverlässigen Überblick der Thematik verschafft und einen klaren Einstieg in das Thema ermöglicht. Als wichtige Literaturgrundlage fungiert die Monographie Kunstmärchen von Jens Tismar, die zurecht „weiterhin unverzichtbar wegen ihrer vielen wertvollen Hinweise und zahlreichen bibliographischen Angaben“[3] ist. Hilfreich ist außerdem der Aufsatz Das Kunstmärchen – eine moderne Erzählgattung von Hans-Heino Ewers, der sowohl einen sehr aktuellen Blick auf die Entwicklung der Kunstmärchenforschung gibt und sich intensiv mit der in diesem Bereich erschienenen Literatur auseinandersetzt, als auch neue Ansatzpunkte und Ausblicke für die Weiterführung der Debatte formuliert.
2. Definitorische Abgrenzung der Begriffe Märchen, Volksmärchen, Kunstmärchen
2.1. Das Märchen
Eine klare Einordnung des Märchens ist nicht einfach, da sich der verbreiteten Auslegung des Märchens, als erfundene oder unwahre Geschichte, folgend, beinahe jede Literatur als Märchen kategorisieren ließe.[4] Die Etymologie des Wortes Märchen, früher maerelin oder merechyn, leitet sich vom mittelhochdeutschen Wort maere und vom althochdeutschen Wort mârî ab, deren Hauptbedeutungen die Begriffe Kunde, Bericht, Erzählung oder Nachricht beinhalten. Dies zeigt, dass ein Märchen nicht von Anfang an eine Erzählung von etwas Unglaubhaftem oder Unwirklichem war, sondern diesen Sinngehalt erst später angenommen hat.[5] Die Bezeichnung des Märchens im Englischen als fairy tale und im Französischen als conte de fées weist hingegen bereits mehr auf „die eindeutige Konnotation einer Erzählung von etwas in der Wirklichkeit nicht Vorhandenem, also einer wunderbaren Erzählung“[6] hin, die sich im 18. Jahrhundert entwickelt hat.
Der Begriff „ Märchen wird seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert oft synonym mit Volksmärchen verwendet. Seine besondere, bis heute gültige Prägung erfuhr der Begriff zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der deutschen Romantik.“[7] Besonders wichtig für diese Prägung des Begriffes ist die Abhandlung André Jolles, der den Terminus des Märchens mit den Gebrüdern Grimm in Verbindung gebracht hat:
Ein Märchen ist eine Erzählung oder eine Geschichte in der Art, wie sie die Gebrüder Grimm in ihren Kinder- und Hausmärchen zusammengestellt haben. Man pflegt ein literarisches Gebilde dann als Märchen anzuerkennen, wenn es […] mehr oder weniger übereinstimmt mit dem, was in den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen zu finden ist.[8]
Diese sinnhafte Verknüpfung der beiden Kategorien hat zu einer Verengung in der Gattungsdefinition des Märchens geführt und den Weg für eine Debatte geebnet, auf welche Weise denn nun mit Märchen zu verfahren sei, die sich nicht in das Schema der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen einordnen lassen können.
2.2. Das Volksmärchen
Der Grundtyp des europäischen Volksmärchens „kennzeichnet sich in der Hauptsache durch die Neigung zu einem bestimmten Personal, Requisitenbestand und Handlungsablauf und durch die Neigung zu einer bestimmten Darstellungsart […] außerdem teilt [es] die Neigung, Übernatürliches, Wunderhaftes in seinen Rahmen aufzunehmen […].“[9] Gegenüber anderen Wundergeschichten grenzt sich das Volksmärchen dadurch ab, dass es Wunderbares mit Natürlichem unmerklich vermengt. Auch besteht Lüthi in seiner Einleitung, wie eingangs erwähnt, auf das Herkunftsmerkmal der mündlichen Tradierung. Als Prototyp für das Volksmärchen stehen, ähnlich wie für den Begriff des Märchens allgemein, die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm.
Lüthi geht gesondert auf die einzelnen, inhaltlichen Wesenszüge des Volkmärchens ein: So ist der Handlungsverlauf eines Volkmärchens durch „Schwierigkeiten und ihre Bewältigung [geprägt] […], der gute Ausgang […] als Charakteristikum des Märchens zu nennen.“[10] Die Volksmärchen ähneln einander anhand ihrer Themenwahl und ihrer Darstellung von menschlichen Verhaltensweisen und Handlungen.[11] Der einsträngige Handlungsverlauf ist meist in eine zweiteilige Erzählung mit drei Geschehensabläufen gegliedert.[12]
Als Personal des Volksmärchens findet sich als „Hauptträger der Handlung [ein] Held oder [eine] Heldin“[13], weitere Figuren stehen mit diesem in mannigfaltiger Beziehung. Die zum Teil magischen Requisiten im Volksmärchen unterstützen den Helden bei der Erfüllung seiner Aufgaben und Pflichten. Auch diese „Personen und Dinge des Märchens sind im allgemeinen nicht individuell gezeichnet,“[14] sondern treten als fester Typus auf. Die stark kontrastierenden Figuren des Volksmärchens entstammen sowohl der menschlichen, als auch der Über- und Unterwelt und verdeutlichen den „Ausdruck der Neigung des Märchens zur Universalität.“[15]
Lüthi beschreibt die Darstellungsart des Volksmärchens als „handlungsfreudig,“[16] bestimmt und klar: Es neigt zu raschem Fortschreiten und zu knapper Benennung der Figuren und Requisiten; Beschreibungen und Schilderung der Umwelt oder Innenwelt seiner Gestalten sind selten. Weiterhin ist das Volksmärchen sprachlich einfach gebaut, „es gibt hauptsächlich Hauptsätze, keine schwierigen Vokabeln und immer wiederkehrende Formeln.“[17]
Der Begriff des Volksmärchens wurde durch die Zeit vor dem 18. Jahrhundert geprägt, als „schriftliche Zeugnisse fehlten oder schwer zugänglich waren oder […] die Märcheninteressierten Analphabeten waren“[18] und somit die Bedeutung der mündlichen Tradierung und Bearbeitung durch das Volk hervorgehoben werden sollte. Da an späterer Stelle in dieser Arbeit noch auf den Aspekt der vermeintlichen Überlieferung durch das Volk eingegangen werden soll, wird hier lediglich erwähnt, dass die Forschung dazu übergeht, „die Bezeichnung Volksmärchen prägnant als Idealbegriff [ zu] charakterisieren und [sich für] den Terminus Buchmärchen stark“[19] zu machen. Mit einem Buchmärchen seien „schriftlich fixierte, in der Regel literarisierte Erzählungen gemeint, die dem an Volksmärchen herangetragenen Erwartungshorizont entsprechen.“[20]
2.3. Das Kunstmärchen
Ein Kunstmärchen ist das Werk bzw. „die literarisch fixierte Erzählung eines namentlich bekannten individuellen Schöpfers […].“[21] Der Autor, besser der Erfinder des jeweiligen Märchens ist nicht nur bekannt, sondern wird auch als solcher genannt. Außerdem gibt es eine Vielzahl von inhaltlichen Merkmalen, die das Kunstmärchen auszeichnen: So ist die Handlung eines Kunstmärchens nicht linear, sondern es gibt Nebenhandlungen und zeitliche Rückblenden.[22] „Zur Komplexität der Handlung addiert sich jene der Sprache – komplizierter Satzbau und schwierige Vokabeln sind keine Ausnahmen.“[23] In Kunstmärchen „finden sich häufig Orts- und Zeitangaben“[24], die auftretenden Figuren sind keine Stereotypen, sondern „werden psychologisiert, […] haben gute und böse Eigenschaften“[25] und durchleben eine Weiterentwicklung. Häufige Verwendung im Kunstmärchen findet das Stilmittel der Ironie, die Begebenheiten und Geschehnisse sind nicht immer eindeutig, es kommen mehrere Handlungsebenen vor.[26]
Des Weiteren schreibt Apel über das Kunstmärchen:
[...]
[1] Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Hg. v. Reinhold Steig u. Herman Grimm. Stuttgart, Berlin: Cotta, 1904 (Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm; 3), S. 116.
[2] Max Lüthi: Märchen. Bearb. von Heinz Rölleke. 9., durchges. und erg. Aufl. Stuttgart: Metzler, 1996 (Sammlung Metzler; 16), S. 5.
[3] Stefan Neuhaus: Märchen. Tübingen, Basel: Francke, 2005 (UTB für Literaturwissenschaft; 2693), S. VII.
[4] Vgl. Neuhaus: Märchen, S. XIII.
[5] Vgl. Friedmar Apel: Die Zaubergärten der Phantasie. Zur Theorie und Geschichte des Kunstmärchens. Heidelberg: Winter, 1978 (Reihe Siegen: Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft; 13), S. 13.
[6] Ebd., S. 14.
[7] Neuhaus: Märchen, S. 2.
[8] André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Halle (Saale): Niemeyer, 1930 (Sächsische Forschungsinstitute in Leipzig. Forschungsinstitut für Neuere Philologie. Zweite Neugermanische Abteilung; 2), S. 219.
[9] Lüthi: Märchen, S. 25.
[10] Ebd., S. 25.
[11] Vgl. Lüthi: Märchen, S. 26.
[12] Vgl. Neuhaus: Märchen, S. 5.
[13] Lüthi: Märchen, S. 27.
[14] Ebd., S. 28.
[15] Ebd., S. 29.
[16] Ebd.
[17] Lüthi, Märchen, S. 29.
[18] Neuhaus: Märchen, S. 3.
[19] Ebd., S. 4.
[20] Ebd.
[21] Manfred Grätz: Kunstmärchen. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. v. Rolf Wilhelm Brednich. Bd. 8. Berlin u.a.: de Gryter, 1996, Sp. 612.
[22] Vgl. Neuhaus: Märchen, S. 8.
[23] Ebd.
[24] Ebd.
[25] Neuhaus: Märchen, S. 8.
[26] Neuhaus: Märchen, S. 8.