Diskussion über die Benes-Dekrete aus Anlass des EU Beitritt Tschechiens


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

26 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt:

Einleitung

1. Vorgeschichte und Fakten über die Dekrete
1.1. Die Beneš-Dekrete

2. Die Auffassung des tschechischen Verfassungsgerichtshofes im Bezug auf das Dreithaler-Urteil
2.1. Die Argumente der Beschwerdeführer im Dreithaler-Fall
2.2. Die Argumente des tschechischen Verfassungsgerichthofes

3. Verschiedene Dimensionen der Beneš-Dekrete
3.1. Die Völkerrechtliche Dimension
3.2. Die Europäische und Außenpolitische Dimension
3.3. Die Restitution und die damit verbundenen Probleme
3.4. Die Ansprüche Liechtensteins und die Haltung Tschechiens

Zusammenfassung

Einleitung

Die nach der offiziellen tschechischen Auffassung rechtlich unwirksame Beneš-Dekrete (i.F. Dekrete) haben in den letzten zehn Jahren an großer Bedeutung gewonnen. Der Eiserne Vorhang schützt die Tschechische Republik nicht mehr vor dem Problem der Verantwortung für ihre Nachkriegsgeschichte. Die Dekrete sind wieder zum Thema der europäischen Beziehungen geworden und je näher die Ost-Erweiterung der Europäischen Union rückt, desto lauter sind die Stimmen der ehemaligen Vertriebenen und ihrer Familien, welche nach einer Wiedergutmachung an erster und der Rückgabe des konfiszierten Eigentums an zweiter Stelle streben. Die EU Ost-Erweiterung gibt diesen Menschen nach über fünf Jahrzehnten ein sehr starkes politisches Druckmittel in die Hand, mit welchem sie für ihre Rechte und Eigentum kämfpen können. Die EU ist zwar keine richterliche Instanz, bei der die Betroffenen klagen könnten, aber sie und ihre Mitgliedstaaten haben seit Jahrzehnten eine bestimmte Wertevorstellung, welche sich mit dem Inhalt der Dekrete nicht vereinbaren lässt.

Die Dekrete haben, ähnlich wie das Münchener Abkommen, das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakei Jahre lang belastet. Das Münchener Abkommen hat dem Präsident Dr. Edvard Beneš sein Lebenswerk zerstört und als er Anfang 1939 die verkleinerte und lebensunfähige Tschechoslowakische Republik[1] (i.F. ČSR) verlassen hat, wurde diese binnen wenigen Wochen ins Deutsche Reich einverleibt und bekam den Statut eines Reichprotektorats. Aber der Unterschied zwischen den Dekreten und dem Abkommen von München ist gewaltig. Das Abkommen wurde im Zuge der Brandschen Ostpolitik Deutschlands durch den gemeinsamen Vertrag mit der ehemaligen Tschechoslowakei (ČSSR) vom 11. Dezember 1973 für ungültig erklärt.[2] Die Dekrete sind trotz ihrer inhaltlicher Nichtigkeit, ihres Alters und des fehlenden Gegenstandes weiter gültiges Recht geblieben und befinden sich in den Sammlungen[3] des tschechischen Justizministeriums. Wenn man nur die Presse betrachtet, werden die Dekrete mindestens alle zwei Wochen Inhalt der wichtigsten deutschen, tschechischen, aber auch österreichischen Zeitungen.

In dieser Arbeit werde ich versuchen die Problematik der Dekrete zu erläutern. Im ersten Teil wird dem Leser kurz die Geschichte der Nachkriegs-ČSR dargestellt und die Dekrete inclusive des sog. Straffreiheitsgesetzes, die den EU und EWR-Beitritt Tschechiens gefährden, werden erwähnt. Als Beispiel für die tschechische Auffassung über die Dekrete wird das kontroverse „Dreithaler-Urteil” des tschechischen Verfassungsgerichthofs über die Aufhebung des Dekrets Nr. 108/1945[4] behandelt und mit Fakten und Argumenten aus der Fachliteratur konfrontiert. Im Hauptteil werden die wichtigsten Problemdimensionen, welche durch die Dekrete entstanden sind, erwähnt. Dadurch wird unter anderem dem Dreithaler-Urteil ein Spiegel vorgehalten.

Schließlich wird dem Leser ein Ausblick in die Zukunft dieses Streits innerhalb der EU gegeben, da die umstrittene Beibehaltung der Dekrete innerhalb der tschechischen Rechtsordnung die Erfüllung der Kopenhagener Beitrittskriterien in Frage stellen. Die Kriterien sind die Basiswerte der EU und falls diese nicht geachtet werden, möge es passieren, daß sie ihre selbstverständliche Verbindlichkeit verlieren könnte.

1. Vorgeschichte und Fakten über die Dekrete

Die ČSR wurde durch die Friedensverträge von Versailles und Saint-Germain geschaffen. Es gibt viele Paradoxe in der Geschichte und die ČSR ist eins von diesen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zerfall der Habsburger Monarchie war es die Absicht der Allierten, die Schaffung ethnisch gemischter Staaten zu vermeiden. Im Sinne der 14 Punkte des Wilson’schen Programmes sollten die Nachfolgerstaaten des Ersten Weltkrieges unter dem Motto der Selbstbestimmung der Völker geschaffen werden. Wir wissen aber, daß dies öfters nicht der Fall gewesen ist. Als Beispiele kann man die Südtirol, Polen, Tschechoslowakei, aber auch Belgien[5] und die Sowjetunion nennen. In allen erwähnten Staaten gab es Minderheits- und Ethnienprobleme. In der ČSR war die Situation besonders kompliziert, wie folgende Abbildung zeigt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1

Die „Väter“ der ČSR, namentlich Edvard Beneš, Tomáš G. Masaryk und M. Štefánik haben die Allierten Mächte in Paris, London und Washington über die Existenz des „Tschechoslowakischen“ Volkes überzeugt. Die Grenzen des neuen Staates wurden dann ziemlich willkürlich gezogen. Bei Tschechien ist man vom alten Königreich ausgegangen und in der Slowakei hat man die Donau als natürliche Grenze gewählt. Im Osten des Landes wurde der Tscheschoslowakei die Karpato-Ukraine zugespielt, welche in ethnischer und sprachlicher Hinsicht weder mit den Tschechen, noch mit den Slowaken eine Verbindung hat. Die Abb. 1 zeigt die Ausgangslage zwischen den beiden Weltkriegen und nach der Volkszählung von 1920. Fast ein Drittel der Bevölkerung gehörte nicht zum Konstrukt des „tschechoslowakischen“ Volkes. Mit dem Gedanken der Selbtbestimmung der Völker hat dies wenig zu tun.

Die Ostpolitik Deutschlands hat sich nach Hitlers Machtübernahme wehement radikalisiert. Das geschwächte und durch den Versailler Vertrag verkleinerte Deutschland hatte im Osten klare Revisionsansprüche gegenüber Polen und der Tschechoslowakei. Diese wurden durch das immer stärkere NS-Regime in Deutschland, aber auch durch die Sudetendeutsche Partei (SdP) in der ČSR propagandistisch ausgeschlachtet. Die Propagandasprüche „heim ins Reich“ u.a. haben bei den Sudetendeutschen in der ČSR großen Anklang gefunden. Einer der vielen Gründe war die Weltwirschaftskrise, welche die ČSR sehr hart getroffen hat und zu sozialen Unruhen geführt hat. Die SdP, unter der Führung Konrad Henleins, diente als verlängerter Arm der deutschen NSDAP und realisierte analog deren Machtpolitik. Im Jahre 1937 übte die SdP einen ungelungenen Putsch in Prag aus, agierte für Hitler, für den Anschluß an Deutschland, gegen Kommunisten und Juden. Durch außenpolitische Fehlperzeptionen und die Appeasementpolitik Großbritanniens und Frankreichs kam es bereits 1937 zur Einigung[6] unter den ehemaligen Allierten des Ersten Weltkrieges, daß die Ansprüche Deutschlands in der ČSR gesättigt werden müssen.[7] Weder Großbritannien und Frankreich, und ebenso die Sowjetunion waren nicht bereit für die ČSR zu kämpfen.[8] Der Anschluß Österreichs im Jahre 1937 diente bereits als Beispiel der allierten Hilfsbereitschaft.

Im September 1938 haben Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien das Münchener Abkommen unterschrieben und der Regierung in Prag vorgelegt. Diese hat es nach Monatelangem Druck „mit Bedauern“ unterschrieben. Wenige Tage später wurden die Revisionistischen Ansprüche Ungarns durch den Wiener Schiedspruch gesättigt und die südlichen Teile der Slowakei incl. der Karpato-Ukraine annektiert. Die Abbildung Nr. 2 zeigt die darausfolgende Änderungen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: The Economist

Kurz nach dem Münchener Abkommen dankt Präsident Beneš ab, an seine Stelle wird von der Nationalversammlung Dr. Emil Hácha, der spätere Protektoratspräsident, gewählt. Anfang März 1939 wurde dieser in der Berliner Reichskanzlei unter Druck gesetzt und hat das Protektoratsabkommen unterschrieben. Am 14. März wurde die Slowakische Republik für unabhängig erklärt und wenige Wochen später hatte diese einen Vertrag über den Schutz durch das Deutsche Reich unterschrieben und ist dadurch ein Sattelitenstaat geworden. Die Slowakei wurde durch alle Großmächte (mit der Ausnahme der USA) anerkannt.

1.1 Die Beneš-Dekrete

Während seines Londoner Exils hat Dr. Beneš die „Doktrin der Rechtskontinuität“ entwickelt und gewann mit seiner Exil-Regierung die Anerkennung der allierten Mächte. Im Krieg haben tschechische und slowakische Soldaten an der Seite der Allierten an verschiedenen Fronten gekämpft und innerhalb des eigenen Landes aktiven Widerstand geleistet. Daher wurde die Exilregierung als Verbündeter akzeptiert und die heute völkerrechtlich umstrittene Logik der „Doktrin der Rechtskontinuität“ hatte in dieser Zeit festen Boden gefunden. Ein wesentlich wichtigerer Grund für die Anerkennung der ČSR als eine Macht an der Seite der Allierten war die organisierte bewaffnete Erhebung in der Slowakei, die vom 29. August 1944 ein halbes Jahr die Wehrmacht beschäftigte.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Wiederherstellung der ČSR kam es innerhalb des Staates zur Bestrafung der Nazis und ihrer Kollaboranten. Diese wurden auf verschiedener Weise durchgeführt:

1. Volkstribunale, insbesondere mit Offizieren der SS, SA, der Gestapo und den wichtigsten tschechischen Kollaboranten
2. Säuberungen und Hinrichtungen durch die „Roten Garden“ und Partisanen
3. Entrechtung und Vertreibung der Sudetendeutschen durch die Beneš-Dekrete

[...]


[1] Siehe Abb. 2 weiter unten.

[2] Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik vom 11.12.1973.

[3] Přehled právních předpisu 9.5.1945 – 31.12.1991.

[4] Veröffentlicht als Gesetz Nr. 55/1995 Sb., bekannt als das „Dreithaler-Urteil“, benannt nach dem deutschstammigen Beschwerdeführer Rudolf Dreithaler aus Reichenberg (die heutige Stadt Liberec).

[5] Deutschsprachige Grenzgebiete Eupen und Malmedy mußte Deutschland an Belgien abtreten.

[6] In Kissinger S. 324: Neville Chamberlain hat am 29. und 30. November die Diskussion über den Vertrag zwischen Frankreich und der ČSR geöffnet. Sein Ansprechpartner, der fr. Außenminister Delbos, hat es im diplomatischem Sinne verstanden und ihm wurde klar, daß Großbritannien hiermit einen Ausweg sucht. Frankreicht hat sich demnächst geäußert, daß es nur dann die ČSR unterstützen wird, wenn diese zur Opfer einer Agression sein sollte. Aber falls sich die Sudetendeutschen trennen möchten und ein Konsens mit Deutschland erreicht wird, werden die Französischen Verpflichtungen gegenüber ČSR nicht verletzt.

[7] Politik der Sättigung der Anspüche anstatt von ihrer Eindämmung.

[8] Die Sowjetunion, ČSR und Frankreich haben durch diverse Freundschafts-Verträge eine „Achse“ Paris-Prag-Moskau gegen Deutschland gebildet.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Diskussion über die Benes-Dekrete aus Anlass des EU Beitritt Tschechiens
Hochschule
Hochschule für Politik München
Veranstaltung
Diplomandenseminar Völkerrecht
Note
1,7
Autor
Jahr
2003
Seiten
26
Katalognummer
V27402
ISBN (eBook)
9783638294621
ISBN (Buch)
9783638649469
Dateigröße
678 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit beinhaltet alle Problemfelder der Benes-Dekrete: die Auffassungen der beiden Seiten, Diskussion über den Urteil des Tschech. VerfGH, deutsche VöR Auffassung, Geschichte, Rechtsgrundlage u.v.m.
Schlagworte
Diskussion, Benes-Dekrete, Anlass, Beitritt, Tschechiens, Diplomandenseminar, Völkerrecht
Arbeit zitieren
Michal Broska (Autor:in), 2003, Diskussion über die Benes-Dekrete aus Anlass des EU Beitritt Tschechiens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27402

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