Psychosoziale Befindlichkeiten von Kindern und Jugendlichen im Rahmen erhöhter Handlungsspielräume und einer individualisierten Gesellschaft

Gesellschaftsverweigerung und sozialer Hungerstreik


Masterarbeit, 2012

100 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

DANKSAGUNG

EINLEITUNG

1. MOTIVATION UND FORSCHUNGSINTERESSE
1.1 Das Phänomen Hikikomori
1.2 Vorgehensweise

2. DAS KONSTRUKT DER SOZIALEN ISOLIERUNG
2.1 Operationalisierung
2.2 Motive und Entstehungsfaktoren
2.3 interne Faktoren
2.3.1 Beurteilungsprozesse als Bedingungen
2.3.2 Personenmerkmale als Bedingungen
2.3.3 Familiäre Sozialisationsbedingungen
2.4 Externe Faktoren
2.4.1 Persönliche Lebensverhältnisse
2.4.2 Bedingungen der Interaktion
2.5 Folgen längerfristiger sozialer Isolierung
2.6 Resümee und Überleitung

3. DIE PSYCHISCHE LAGE VON KINDERN UND JUGENDLICHEN
3.1 Psychischer Gesundheitszustand
3.1.1 Wertorientierungen und Lebenseinstellungen
3.1.2 Freizeit zur Identitätsbildung
3.2 Stehen Jugendliche unter Druck?
3.3 Verbreitung von Depressionen im Kindes- und Jugendalter
3.4 Resümee

4. PROZESSE UND FACETTEN DER INDIVIDUALISIERUNG
4.1 Triebkräfte des Modernisierungsprozesses
4.2 Pluralismus der Lebenskonzepte
4.3 Individualisierung als Machttechnik
4.4 DIAGNOSE DER VEREINSAMUNG
4.5 NARZISSMUS
4.6 Sucht
4.7 Identitätskonzepte in der modernen Gesellschaft
4.8 Der preis der Moderne: Das Aufkommen der Depression
4.9 psychische Befreiung und unsichere Identität
4.10 TRAGÖDIE DER KULTUR

5. SCHLUSSBETRACHTUNG

NACHWORT

QUELLENVERZEICHNIS
WEBSEITEN

Blisters on my hands And I feel the Fall I got scissors in my head Telling me to take a thought Telling me to let it fail Secret in the deep dark Secret on the inside Oooohhhhh I know I’m home Linger in myself

Interpret: Zola Jesus. Titel: Hikikomori.

„ Wenn die Depression die Geschichte eines unauffindbaren Subjekts ist, dann ist die Sucht die Sehnsucht des verlorenen Subjekts.“

Alain Ehrenberg:

Das erschöpfte Selbst, S. 11.

Danksagung

Die vorliegende Arbeit liegt meiner MA-Thesis zugrunde, welche 2012 vom Institut für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommen wurde.

Angeregt und begleitet wurde die Thesis von Herrn Prof. Dr. Herbert Willems, der sich von Anfang an kritisch mit ihr auseinandersetzte und mich durch seine zahlreichen Randbemerkungen und mündlicher Kritik zu größerer Klarheit und Genauigkeit zwang. Für die freundliche und kompetente Betreuung und Diskussion der Arbeit möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bei ihm bedanken.

Ganz besonders möchte ich mich bei meiner Familie und Freunden für die moralische Unterstützung bedanken. Runald Herbertz und Johann Wurzenberger spreche ich ein großes Dankeschön für die vielen Stunden des Korrekturlesens aus. Herzlichen Dank auch an Mona Schuchardt für die interessanten Beiträge und Änderungsvorschläge. Nicht zuletzt möchte ich mich auch bei meinen Eltern und Großeltern bedanken, denn ohne sie wäre dieses Studium niemals möglich gewesen.

Einleitung

Heute sind Subjektivität, Gefühle und moralische Empfindungen zentrale Fragestellungen für die Soziologie (vgl. Ehrenberg in: Menke & Rebentisch 2011, S. 52f.). Man nimmt an, dass es durch die Auseinandersetzung mit der Subjektivität gelingen könne, das Geheimnis der Sozialität des Menschen zu ergründen. Psychische Leiden wie Depressionen werden in diesem Zusammenhang als gesellschaftliche Pathologien verstanden. Soziologen und Sozialphilosophen verstehen sie entweder als Symptome einer Lockerung sozialer Bindungen (vgl. hierzu Karp 1995), als Folge der Ich-Emanzipation der 60er und 70er Jahre oder des Kapitalismus, der das Ideal der Emanzipation individueller Subjektivität in neue Zwänge und Ausbeutungsformen verkehrten. Der französische Psychiater und Soziologe Alain Ehrenberg ist jedoch der Ansicht, dass Depression nicht durch Kapitalismus, Emanzipation oder dergleichen verursacht wird, noch das sie ein Symptom gesellschaftlicher Rückzugstendenzen darstellt. Sie gründet auf den Konflikt und Widerspruch eines Prozesses, welche auf der Aufwertung von Autonomie einhergeht. Vor vier Jahrzehnten basierte die Gesellschaft auf Gehorsam, Konformität und Verboten. Heute gelten die Autonomie, Initiative und Eigenverantwortung eines jeden Einzelnen von uns. Während nach Freud die Neurose ein Krankheitsbild der Schuld war, scheint die Depression die Krankheit der Verantwortlichkeit und Unzulänglichkeit zu sein. Heute dreht sich die Frage nicht mehr um „Darf ich das?“, sondern um „Kann ich das?“. Von jedem Individuum wird erwartet, dass es in allen Lebensbereichen selbst entscheidet und handelt. Ehrenberg zufolge, verstärkt die Zentralstellung des Werts der Autonomie die individualistische Sicht auf das Gesellschaftsgefüge. Er hebt hervor, dass die Veränderungen in unserem Handlungsbegriff auch institutionelle Veränderungen mit sich brachten (2011, S. 59). Diese sind so ausgerichtet, dass der Bürger sich in einer Umgebung befinden soll, der ihn zum Hauptverantwortlichen seiner Handlungen werden lässt. Das Individuum ist dazu angehalten die Motivation zu finden, eigene Projekte zu entwickeln, sich dafür nötigen sozialen Fertigkeiten auszubilden und in zahlreichen gesellschaftlichen Situationen eigenverantwortlich zu verhalten.

Aus soziologischer Sicht ist der Terminus „Jugend“ ein Synonym für die Entwicklungsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Der Jugendliche erfährt einen Zuwachs an Autonomie und erweiterten Handlungsmöglichkeiten, die mit dem Erwerb neuer sozialer Aufgaben verbunden sind. Häufig ist diese Zeit mit Verunsicherungen, Ängsten und Krisen verbunden, da sie Übergänge durch die Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen sowie Entwicklungschancen und Belastungen vorgeben. Zudem sind die Risiken im Beruf und im alltäglichen Leben nur schwer vorhersehbar, die massiv durch Konkurrenz und Individualisierung geprägt sind. Unter diesen Umständen kann sich das Individuum über Unbekümmertheit, Ausweichen, Abtauchen, Aggression und Verweigerung schnell selbst ins Abseits katapultieren. Erhöhte Anfälligkeit besteht für Jugendliche aus den unteren sozialen Schichten sowie diejenigen, die über keine stabilen sozialen Netzwerke verfügen, welche Rückhalt und Schutz bieten.

Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen durch die größte Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg, kann für 2010 eine neue Qualität des Optimismus unter Jugendlichen festgehalten werden. Zu diesem Ergebnis kommt die 16. Shell Jugendstudie aus dem Jahre 2010 (vgl. Shell-Studie, S. 121f.). Die gesellschaftliche Zukunft wird insgesamt mit vielen positiven Meldungen - z.B. gestiegener Kinderwunsch, breite Zuversicht hinsichtlich der eigenen Zukunft sowie der Selbstverwirklichung auf beruflicher Ebene - bewertet (vgl. ebd., S. 127f.). Dennoch zeigen deutsche Jugendliche von zwölf bis 25 Jahren auch Ängste und Sorgen in bezug auf die Furcht vor Arbeitslosigkeit (72%) und den Mangel an Ausbildungsplätzen (69%). Die Zusammenhänge und Trends in den letzten Jahren zeigen, dass die soziale Herkunftsschicht ein differenzierendes Faktum für die Einstellung des Jugendlichen darstellt. So ist der Optimismus bei Jugendlichen aus der Unterschicht rückläufig.

Trotz der insgesamt positiven Selbsteinschätzung der Jugendlichen, liegen bei ca. 22 % aller untersuchten Kindern und Jugendlichen psychische Auffälligkeiten vor (vgl. BDP- Bericht 2007, S. 8f.). Der Bericht zur Kinder und Jugendgesundheit des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen aus dem Jahre 2007 untersuchte die gegenwärtigen psychischen Lebensbedingungen von Kinder und Jugendlichen. Demnach bestehe ein deutlicher Zusammenhang zwischen psychischen Auffälligkeiten und einem niedrigen sozialökonomischen Status. Zusätzlich werden starke Belastungsreaktionen der Schüler durch die gestiegenen schulischen Anforderungen und der ebenfalls gestiegenen Erwartungshaltung von Eltern verursacht. Zudem hat sich das Verhältnis von Schülern zur Schule dramatisch verschlechtert. Des Weiteren kommt der Bericht zu dem Ergebnis, dass eine zum Teil erhebliche Unterversorgung auf dem Gebiet der Prävention von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen vorliegt. Dies sei fatal, da eine nicht rechtzeitige Behandlung von beispielsweise Depressionen und Suizidrisiken verheerende Folgen haben könne. Zwar nehmen Präventivmaßnahmen der öffentlichen Gesundheit eine zunehmende Bedeutung im Rahmen der Gemeinschaftspolitik der Europäischen Union ein, allerdings fehlt es an vergleichbaren Daten über die soziale und gesundheitliche Lage junger Europäer (vgl. Hackauf & Winzen 2004, S. 11f.). Die Jugend stellt eine wichtige Zielgruppe für die Zukunft der Europäischen Union dar, dennoch verfügt die Gesundheitsberichterstattung über kein Berichterstattungssystem, welches Bezugspunkte zu den allgemeinen und spezifischen Lebensbedingungen von jungen Menschen erhält.

1. Motivation und Forschungsinteresse

Kemprozess der Modernisierung ist die Individualisierung und die damit verbundene unbegrenzte Freiheit neue Bindungen einzugehen und nach Zahl, Art und Umfang selbst zu bestimmen (vgl. Simmel 1908, S. 456f.). Die Soziologen Georg Simmel, Norbert Elias beobachten in modernen Gesellschaften das Anwachsen der individuellen Freiheit und der Verschiedenheit ihrer sich immer erweiterten Handlungsspielräume. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte mit ihren sozialen Entwicklungen und Innovationen einen erneuten Individualisierungsschub, der eine Vielzahl neuer Lebensstile und sozialer Perspektiven für das Individuum ermöglichte. Das Leben wird zu einem Projekt, dass vom Individuum eigenverantwortlich gestaltet werden muss (vgl. Beck 1986, S. 217.). Das Individuum befindet sich in einem permanenten Zustand von Abwägungen und Einschätzungen über mögliche Konsequenzen des eigenen Handelns. Mit diesem steigenden Entscheidungszwang entsteht auch eine zunehmende Selbstverantwortlichkeit. In einem viel beachteten Buch über das derzeit in den westlichen Gesellschaften gegenwärtige Krankheitsbild der depressiven Erschöpfung sieht Ehrenberg genau in diesem gesteigertem Maß an Eigenverantwortung die Ursache für die allgemeinen Ermüdungserscheinungen des Subjekts. Jeder ist selbst alleine dafür verantwortlich, sich situationsadäquat zu verhalten und sich unter dem Druck instabiler Rahmenbedingungen immer wieder neu zu erfinden.

Für den amerikanischen Psychoanalytiker Erik Erikson stellt die Identität ein Schlüsselkonzept zum Verständnis der menschlichen Psyche dar und entwickelt dazu ein Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung (Erikson 1966, S. 214f.), in welchem das Individuum zur Identitätsentwicklung verschiedene Krise zu bewältigen hat. In der Jugendphase hat das Individuum neben den körperlichen Veränderungen, auch den neuartigen Ansprüchen der Umwelt gerecht zu werden. Auf der Suche nach seiner Ich- Identität hat es bisherige Erfahrungen (Auseinandersetzung und In-Frage-Stellen der Bezugspersonen, Rolle in der Peergroup und Beruf sowie die Auseinandersetzung mit dem anderen Geschlecht) zu sammeln und zusammenzufügen (Identitätsdiffusion). Die Geklärte Identität ermöglicht eine tragfeste Partnerschaft und Intimität, d.h. sich gegenüber dem Partner zu öffnen. Auf der anderen Seite steht die Isolierung, die Erikson sich damit erklärt, dass noch keine stabile Ich-Identität ausgebildet wurde. Zwar sei die Erfahrung der Isolation oder der Distanzierung für das Individuum wichtig, allerdings gehe es um ein sinnvolles und ausgewogenes Verhältnis, das sich zwischen Intimität und Isolierung entwickeln müsse.

1.1 Das Phänomen Hikikomori

Kurz nach der Jahrtausendwende erreichte der Begriff „Hikikomori“ in den Medien auch unsere Breitengrade. In Japan hat sich der Terminus, welcher „akuter Rückzug aus der Gesellschaft“ bedeutet, als neues Krankheitsbild etabliert. Der Psychologe Tamaki Saito prägte den Begriff, der jedoch recht diffus aufgestellt ist und von leicht unangepasstem Verhalten bis hin zu schweren Psychosen reicht. Was die Betroffenen jedoch gemeinsam hätten, sei die mangelnde Fähigkeit mit Menschen zu interagieren. Ein Autor der „Neuen Züricher Zeitung“ versuchte im Jahre 2007 Hikikomori in einen gesellschaftlichen Kontext einzubetten und bezeichnet es als ein Phänomen, „in dem sich das Leiden der Gesellschaft an ihrer eigenen Metamorphose Ausdruck verleiht.“ Die „ZeitWissen“-Autorin Anne Kunze berichtet im Jahre 2005 von der Suche nach ihrer 39-jährigen Cousine, die sie bis dahin noch nie gesehen hatte. Aus dem Interview mit der Psychologin Elisabeth Schramm geht hervor, dass die Abwesenheit jeglicher Stimuli mit Folter zu vergleichen sei. So würden sich sozial Isolierte häufig mit Medien optisch und akustisch stimulieren, vielleicht sogar emotional. Sie beschreibt, dass dies in dieser Situation existentiell sei und es da nur noch „ums nackte Überleben“ (Kunze zitiert Schramm) gehe. Zudem hätten Menschen, die häufig unter schweren sozialen Phobien leiden, zwar den Kontakt zur Realität verloren, dennoch nicht das Bewusstsein zur Realität, dem Leben außerhalb ihrer vier Wände. Je länger sich der Betroffene zurückzieht, umso schwieriger sei es, den Weg zurück zu finden. Oft fehlten den Soziophobikern insbesondere auf der Interaktionsebene soziale Kompetenzen und Fähigkeiten. Eine Bitte oder ein Gespräch stellten große Herausforderungen dar, Konflikte zu lösen noch viel größere.

Auf dem Expertenportal „hilfreich“ wird Hikikomori als „Lifestylekrankheit“ aufgeführt“ Dem Bericht zufolge, seien in Asien etwa 500.000 bis eine Million (bei einer Gesamtpopulation von etwa 127 Millionen111) Menschen betroffen. Das Durchschnittsalter liege bei 27 Jahren, während etwa ein Drittel der Betroffenen über 30 Jahre alt sei. 80% der Hikikomori seien männliche Jugendliche über 18 Jahre. Das wahrscheinlich charakteristischste des Hikikomori, ist nicht nur der Rückzug aus der Gesellschaft, sondern auch aus der Familie. Oft handelt es sich um einen Prozess, der sich über Jahre hinweg zieht. Begünstigt wird das Verhalten zusätzlich durch die ausgeprägte Mutter-Kind-Beziehung („amae“: vgl. Lowjeski 2008) in Japan. So ist das Bemuttern des Kindes auch im hohen Alter selbstverständlich, außerdem wird von erwachsenen Kindern der schnelle Einstieg in die Berufswelt nicht erwartet. Hinzu kommen die verschärften Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt.

Über die möglichen Gründe für den gesellschaftlichen Rückzug wird vor allem das harte japanische Schulsystem herangezogen. So sprechen japanische Schüler von der „Prüfungshölle“ (shiken jigoku). Der Leistungsdruck führt zu Versagensängsten, welches häufig Schulverweigerung zur Folgen hat. Auch die niederländische Dokumentation „Hikikomori in Japan“ aus dem Jahre 2004 zeichnet dieses Bild einer Leistungsgesellschaft, dessen Wettbewerb schon in der Schule unter den Kindern in Form von Notenaushängen geschärft wird.iv Das Interview eines Schuldirektors zeigt, dass Privatschulen und das Absolvieren der Oberstufe für die berufliche Zukunft von großer Bedeutung seien und sich die Schüler hierfür dem harten Diktat von Aufnahmeprüfungen unterwerfen müssen. Das Bildungssystem lässt den Kindern und Jugendlichen kaum Freiraum eigene Interessen nachzugehen. Zwischen Unterricht, Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitungen bleibt wenig Zeit für eine individuelle Talentförderung. Dies unterdrückt einen wichtigen Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und Identität, wodurch ihre Individualität auf der Strecke bleibt.

Die Soziologin Mariko Futsiwara ist der Ansicht, dass der häufige Schulwechsel eine große Herausforderung für Kinder und Jugendliche darstellt (vgl. ebd.). Wenn die Initiative und Fähigkeit auf Mitschüler zuzugehen nicht erfolgreich bewältigt wird, ist Ausgrenzung und Mobbing oft die Folge. Hinzu kommt der Erfolgsdruck von Seiten der Familie. Futsiwara zufolge, sei der direkte Sozialkontakt mehr und mehr eine Ausnahmeerscheinung. In einem hoch technisierten Land wie Japan geschieht Kommunikation häufig über ein Medium. So würden insbesondere Kinder und Jugendliche heute weniger miteinander, als mehr über ein Medium (Computer, Spiele­Konsole) spielen und kommunizieren. Das Selbstvertrauen und die Eigeninitiative auf andere Menschen zuzugehen, zu kommunizieren und zu interagieren - was mehr und mehr an Bedeutung gewinnt - schrumpft somit zunehmend.

In Japan existieren bereits diverse Non-Profit Organisationen (NPO) wie beispielsweise „New Start“ v, die sozial zurückgezogene Jugendliche wieder integrieren wollen. Auch Selbsthilfeorganisationen von und für betroffene Eltern kümmern sich um zwei weitere Gruppen, Eltern von Schulverweigerern und NEET. Letzteres ist aus dem Englischen entlehntes Akronym: „not in education, employment or training“ und bezeichnet junge Menschen, die sich in keiner Ausbildung oder Ähnlichem befinden. Insgesamt weisen diese drei Gruppen ähnliche Verhaltensmerkmale auf, die von Apathie, Misstrauen, Angst bis hin zu Kontaktschwierigkeiten reichen. Der massenhafte Rückzug in die vier Wände des meist elterlichen Hauses scheint zunächst ein japanisches Phänomen zu sein. Erklärbar durch den wirtschaftlichen Wettbewerb mit dem Westen und der kollektiven Anstrengung, welches die japanische Gesellschaft nachhaltig prägte. Im Zuge der Globalisierung und der folgenden Deregulierung des Arbeitsmarktes bestimmen nicht mehr Wachstum und Konformitätsdruck die gegenwärtige Lebenslage, sondern Risiko und Konkurrenzdruck. Hinzu kommt die Propagierung des Individualismus als wertvolle Lebenshaltung. Der tiefgreifende demografische Wandel sowie der soziale Mikrokosmos der Familie führen dazu, dass sich die ganze Konzentration der Eltern auf wenige Kinder richtet. Die ideologische Neuorientierung Japans vom Kollektivismus zum Individualismus erzeugt Erwartungen, die ein Einzelner zu bestehen hat. Einige fühlen sich dem nicht gewachsen und ziehen sich aus der Gesellschaft zurück (vgl. hierzu auch Kevenhörster 2010).

Bisher ist die Auswahl an wissenschaftlicher Literatur über die Hintergründe und Ursachen, welche sich mit dem Hikikomori Phänomen als einer spezifischen Form des sozialen Rückzugs beschäftigt, sehr gering. Aufmerksam wurde die Autorin durch die Werke des Kinder- und Jugendpsychiaters Michael Winterhoff „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ (2008) sowie „Tyrannen müssen nicht sein“ (2009). Hierin stellt Winterhoff die These auf, dass Kinder heute vermehrt wie kleine Erwachsene behandelt werden und es dadurch zu einer Machtumkehr komme, welche dem Kind die Chance auf eine gesunde Entwicklung verbaue. Bleibt das Kind beispielsweise im frühkindlichen Narzissmus fixiert (wie dies beim Hikikomori der Fall sei), können sich kein Schuldbewusstsein und Moralvorstellungen entwickeln, welches negative Perspektiven für die Gesellschaft bereit hält.

1.2 Vorgehensweise

Ausgehend vom Phänomen des Hikikomori in Japan, welches weltweit immer mehr an Popularität gewinnt, soll die vorliegende Arbeit auf die psychische Lage der Kinder und Jugendlichen in Deutschland hinweisen und Risikofaktoren benennen, um damit auf die Rahmenbedingungen des Aufwachsens in einer modernen, individualisierten Gesellschaft aufmerksam machen.

Neben den psychologischen Entstehungsbedingungen von sozialem Rückzug bzw. Isolierung (Ängste, Depression, Verweigerung, Sucht) sollen vor allem gesellschaftliche Entwicklungen und die Facetten des Modernisierungsprozesses (z.B. Individualisierung, Identitätsbildung, erhöhte Handlungsspielräume) im Rahmen der jugendlichen Entwicklungsphase untersucht werden.

Welche Entstehungsbedingungen führen zur sozialen Isolierung und wann nimmt sie pathologische Formen an?

Wie gehen Kinder und Jugendliche mit den Leistungsanforderungen und erhöhten Handlungsspielräumen um?

Existiert ein Zusammenhang zwischen der zunehmenden Selbstbestimmtheit (Entscheidungszwang, Identitätszwang) der individualisierten Gesellschaft und psychischen Störungen (Verweigerung, Depression, Sozialphobien etc.) bei Kindern und Jugendlichen?

Wie kommt es, dass moderne Gesellschaften nach innen ohne Verhaltenskontrollen auskommen, während seine Individuen ein Höchstmaß an Beherrschtheit und Voraussicht an den Tag legen?

Ist ein erhöhter Narzissmus unter Jugendlichen die Folge des veränderten familiären Gefüges und Wandel des Erziehungsstils?

Folgt auf die zunehmende Gefühlskälte und Entfremdung der Individuen voneinander eine organisierte Unverantwortlichkeit auf kollektiver Ebene?

2. Das Konstrukt der sozialen Isolierung

Der Shell Jugendstudie (vgl. BDP-Bericht 2010, S. 48) ist zu entnehmen, dass die große Mehrheit der heutigen Jugendlichen Verantwortung übernehmen will und bereit ist, Aufgaben zu übernehmen. Sie wissen intuitiv, wie wichtig die eigene Initiative in der heutigen Gesellschaft ist, die sich durch Offenheit und weltweite Vernetzung auszeichnet. Diese Lebenslage führt allerdings auch zu Unsicherheiten und zu dem Bemühen, wichtige Entscheidungen mit verbindlichem Charakter zu optimieren und dementsprechend auch hinauszuzögern. Wie gehen Jugendliche mit den erheblichen Anforderungen in der heutigen Zeit um? Wie verhalten sich diejenigen, die Entwicklungs- und Leistungsdruck nicht standhalten können oder wollen? Welche Konsequenzen bringt die Verweigerung vor diesen individuellen Aufgaben mit sich? Hurrelmann (Hurrelmann 2010, S. 162f.) beschreibt drei mögliche psychologische Reaktionsformen auf Überforderung:

1. Demnach könne zum einen ein erhöhter Entwicklungsdruck zu aggressiven Reaktionen führen, die sich in Form von körperlicher, psychischer und verbaler Gewalt nach außen richtet und innere Spannungen so an andere Menschen im Umfeld weitergegeben werden.
2. Des Weiteren kann der Druck nach innen weitergegeben werden und so den eigenen Körper und die eigene Psyche belasten. Die verinnerlichten Bewältigungsmuster können depressive Züge annehmen.
3. Die dritte Form der möglichen Reaktionen bezeichnet den Rückzug durch das „aus dem Felde gehen“. In die Kategorie des fluchthaften Ausweichens gehört auch der Konsum von legalen und illegalen Drogen zur Manipulation der Befindlichkeit.

Soziale Isolierung, Einsamkeit sowie Verlassenheitserlebnisse sind ein weit verbreitetes Phänomen in modernen Industriegesellschaften (vgl. Lauth & Viebahn 1987, S. 2 ff.). Die Zahlenangaben belegen zweierlei: Nicht nur das Ausmaß der sozialen Einsamkeit, sondern auch das Negative dieses Zustandes ist ein Problem. Das Bündel an negativen Aspekten reicht von Benachteiligung, Ausgegrenztsein und mangelnder Wertschätzung durch andere bis hin zu Resignation, eigenem Versagen und mangelndem Erfolg. Die Ursachen und Wirkungen von sozialer Isolierung werden mehr und mehr zu einem Thema der Psychologie. Die Autoren Lauth und Viebahn analysierten die soziale

Situation einzelner Gruppen anhand eines Ordnungssystems und belegen, dass dauernde Einsamkeit und soziale Isolierung die Entstehung und Aufrechterhaltung emotionaler und psychischer Störungen begünstigen kann. Dennoch könne die soziale Isolierung kaum als direkte Ursache für eine psychosoziale Beeinträchtigung angesehen werden. Vielmehr ist sie eine Folge einer primären Beeinträchtigung, wie etwa Behinderung oder emotionale Störung. Auffällig ist hier, dass soziale Isolierung mit einer sich verringerten psychosozialen Gesundheit und Integrationsfähigkeit und -bereitschaft einhergeht.

Im Folgenden soll erörtert werden, wie soziale Isolierung konstruiert ist und welche Entstehungsbedingungen und Folgewirkungen eine Rolle spielen. Lauth und Viebahn beurteilen kulturkritische Diskussionen des Themas, in welchen die soziale Rückständigkeit einzelner Personen oder Gruppen als eine Erscheinung des Industriezeitalters aufgefasst wird, als fehlerhaft. Demnach sei die Schwächung traditioneller Gruppenstrukturen, die gesellschaftliche Wertschätzung von Individualität, deren Selbstverwirklichung sowie Freiheit und Unabhängigkeit und die Reduzierung der direkten Kommunikation (heute noch verstärkter durch das World Wide Web) für diese Entwicklungen verantwortlich. Die Instabilität sozialer Beziehungen erscheint somit als Kehrseite einer erreichten individuellen Unabhängigkeit und des technischen Fortschritts. Lauth und Viebahn folgen in ihrer Betrachtung solcher zeitgeschichtlich übergreifenden Faktoren der Konzeption, dass das Alleinsein nur dann als eine soziale Isolierung empfunden wird, wenn die betreffende Person wichtige soziale Motive nicht mehr befriedigt sieht. Demzufolge hat soziale Isolierung konkrete gesellschaftliche und materielle Voraussetzungen, die erst durch die individuelle Wahrnehmung entsteht. Komplex wird es an der Stelle, wo der zeitweilige (meist freiwillige) Rückzug eines Menschen oft als befriedigend und entspannend empfunden wird und darüber hinaus als wichtige Voraussetzung zur Selbstreflexion und -fíndung dient. Das Alleinsein ist also nicht per se negativ. Erst durch das Erleben der „sozialen Isolation“ infolge mangelnder und unbefriedigender sozialer Kontakte entsteht der negative Charakter. Kurz: Die fehlende Freiheit zwischen Integration und sozialem Rückzug wählen zu können, macht die soziale Isolierung zu dem negativen Phänomen. Das Alleinsein kann durchaus auch der Weiterentwicklung dienen und positive Folgen auf den Einzelnen haben. Einsamkeitserleben steht mit anderen sozial bedeutsamen Konzepten in Beziehung und fördert verschiedene Neuorientierungen zu letztlich befriedigendem Handeln wie Kreativität, Verantwortlichkeit, Neubestimmung und Zufriedenheit (vgl. Calhoun 1980).

Das Phänomen der sozialen Isolierung wird in verschiedenen psychologischen Teildisziplinen behandelt und berührt dabei verschiedene Teile des Gesamtkonstruktes.

Soziales Netzwerk

Da Menschen sich bei Problemen zunächst an Bezugspersonen (Partner, Familie, Freunde etc.) wenden, um Hilfe und Unterstützung zu erhalten, ist ein solches Netzwerk wichtig für das soziale Wohlbefinden (vgl. Lauth & Viebahn 1987, S. 4.). Dieses Unterstützungssystem oder ,Soziale Netzwerk‘ umfasst neben Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft, auch Vereine, Kirche sowie politische Organisationen. Das soziale Netzwerk, in dem eine Person lebt, kann formal mit der Anzahl der Personen, der Dichte der Beziehungen und ihrer Heterogenität gekennzeichnet werden. Soziale Unterstützung beinhaltet konkrete Hilfeleistungen (Sachleistungen, Informationen und Mithilfe etc.) sowie die emotionale Unterstützung (Trost, Ermutigung etc.). In diesem Zusammenhang bedeutet soziale Isolierung mangelnde soziale Unterstützung und kleine, meist homogene soziale Netze.

Klinische Psychologie

Unter dem Aspekt der klinischen Psychologie spielt die soziale Isolierung für die psychosoziale Gesundheit eine große Rolle (vgl. ebd.). Das Verarbeiten von Problemen fällt Personen mit sozialer Unterstützung durch Rat und Anerkennung nachweislich leichter. Personen, die beispielsweise als schizophren oder depressiv diagnostiziert werden, haben meist weniger oder distanzierte Kontakte. Als eine direkte Kausalbeziehung in dem Sinne, dass Personen aufgrund sozialer Unterstützung gesünder sind, darf der Befund nicht verstanden werden. Vielmehr erhalten unproblematische Personen eher soziale Unterstützung (vgl. Silver & Wortman 1980). Wichtiges Ziel präventiver psychisch-soziologischer Tätigkeit ist die Ermöglichung befriedigender, sozialer Kontakte.

Sozialpsychologie

In der Sozialpsychologie werden vor allem die sozialen Kontakte analysiert, welche verdeutlichen, wie sehr sich Menschen gegenseitig attraktiv und ansprechbar empfinden (vgl. ebd.). Hier sind die Voraussetzungen sozialer Kontakte sowohl in einer individuumsbezogenen als auch in einer interaktionellen Sichtweise von zentraler Bedeutung. Aus individuumsbezogener Sicht sind soziale Einstellungen und Erwartungen von großer Wichtigkeit, da sie die Bereitschaft zur Kontaktaufnahme beeinflussen. Auch die sehr vielfältigen sozialen Bedürfnisse und Motive nehmen großen Einfluss auf die Attraktivität von Kontakten eines Menschen, ob eher Arbeits­oder persönliche Kontakte gesucht werden. Der tatsächliche Erfolg von Kontaktbemühungen richtet sich nach den sozialen Fertigkeiten. Für eine individuumsbezogene Sichtweise einer sozial isolierten Person ist es bedeutsam, welche sozialen Einstellungen und Erwartungen diese hat, welche ihr entgegengebracht werden, über welche sozialen Fertigkeiten sie verfügt und welche sozialen Bedürfnisse sie zu befriedigen beabsichtigt.

Auf interaktioneller Ebene sind Kontaktverläufe als ein Wechselwirkungsgeschehen zu begreifen, in welchen die Merkmale der beteiligten Personen zum Tragen kommen. So neigt beispielsweise der Gesprächspartner einer schüchternen Person mit geringer Selbstoffenbarung, ebenfalls zu verringerten Selbstäußerungen, sodass eine tiefere Beziehung zwischen den Beteiligten kaum entstehen kann. Solche und ähnliche interaktionelle Modelle geben sowohl Hinweise über die Entstehung unbefriedigender Sozialkontakte als auch sozialer Isolierung.

Umweltpsychologie

Bei der Umweltpsychologie geht es um die Frage, inwieweit im Lebensraum eines Menschen günstige Voraussetzungen für die Ausweitung und Aufrechterhaltung sozialer Konflikte bestehen (vgl. ebd., S. 6f.). Die wichtigen Umweltaspekte von Integration und sozialer Isolierung sind differenziert. Von besonderer Bedeutung ist hier die Leichtigkeit, mit der soziale Kontakte geknüpft und aufrechterhalten werden können. Wichtige Rahmenbedingungen sind hier eine geringe räumliche Distanz sowie die Möglichkeit zu selbstgestalteten Kontakten. Das Fehlen leicht verfügbarer Verkehrsmittel ist beispielsweise ein Faktor, der hier eine bedeutende Rolle spielt.

Zudem lassen bestimmte Institutionen ausschließlich ,standardisierte‘ Sozialkontakte zu, die kaum tiefergehende Interaktionen zulassen. Des Weiteren besteht in der Anlage und Ausstattung von Gebäuden und Bauwerken ein bedeutendes psychologisches Moment: Während Nischen und Ecken in großen Gebäuden wie etwa Schulen, ein Zusammenkommen begünstigen, führen gegliederte und überschaubare Bauten zu einer besseren sozialen Orientierung und einer erhöhten Umweltkontrolle. Letztlich werden Sozialkontakte durch die Attraktivität (ähnliche Weltanschauung, Lebenslagen, Erwartung sozialer Unterstützung etc.) der erreichbaren sozialen Kontakte beeinflusst.

2.1 Operationalisierung

Heute werden Problemlagen, Krisen oder abweichendes Verhalten häufig noch so behandelt, als seien sie jedem Einzelnen mit seiner Biografie oder psychophysiologischen Ausstattung zuzuschreiben, nicht aber gesellschaftlichen oder materiellen Faktoren (vgl. ebd., S. 7f.). Diese Haltung begünstigt einen Prozess der Entpolitisierung und der „Problementeignung“ der Betroffenen. Ein soziales Problem wird aufgrund der Expertenzuständigkeit in einen psychologischen Sachverhalt umdeflniert. Dabei wird in erster Linie versucht, die Veränderung der Person im psychologischen Sinne herbei zu führen, nicht aber die Veränderung ihrer Lebens- und Umweltbedingungen.

Den Autoren zufolge, ist der Begriff „Soziale Isolierung“ bisher kaum in einer befriedigenden Form operationalisiert und definiert worden (vgl. ebd., S. 8f.). Dies liegt zum einen daran, dass oft leichter operationalisierbare Nachbarbegriffe (z.B. Soziale Zurückgezogenheit, Schüchternheit, Alienation) herangezogen werden. Zum anderen berührt dieser Begriff mehrere Fachgebiete, wie etwa die Pädagogik, die Soziologie, die Psychologie, Psychiatrie und Medizin. Eine übergreifende Begriffskonnotation kann somit kaum entwickeln werden. Die Autoren versuchen, die verschiedenen Begriffe innerhalb eines integrierenden Konzepts darzustellen und so soziale Isolierung als psychologisches Konstrukt zu definieren.

Lauth & Viebahn lehnen sich mit ihrer kognitionspsychologischen Definition an Thomas (1985) und beschreiben soziale Isolierung als das negative individuelle Erleben unzureichender Sozialkontakte (vgl. ebd., S. 11f.). Dieses negative Erleben ist die Folge der unzureichenden Befriedigung innerhalb einer sozialen Situation. Demnach setzt soziale Isolierung das Werturteil des Individuums voraus, dass seine gegenwärtigen sozialen Kontakte (Ist-Lage) seinem Wunsch nach Nähe (Soll-Lage) nicht entsprechen. Diese Ist-Soll-Diskrepanz ist ein zentrales Merkmal sozialer Isolierung und präzisiert einen wesentlichen Aspekt des Isolierungserlebens. Zudem ist dies ein Ansatz zur Analyse ihrer Entstehungsprozesse. Der Definition liegt somit die Annahme zugrunde, dass die Ist-Soll-Diskrepanz subjektiv repräsentiert ist und innere psychische Verarbeitungsprozesse die Grundlage für das Entstehen sozialer Isolierung sind. Das bewertende Erleben der Person steht hier im Vordergrund, da es sowohl für die Kennzeichnung seines Wohlbefindens wesentlich ist, als auch sein soziales Verhalten bestimmt.

Die Entscheidung zu einer subjektiven Definition der sozialen Isolierung erlaubt die Trennung zweier Gruppen von Isolierungsindikatoren:

- Direkte Isolierungsindikatoren bezeichnen alle subjektiven Aspekte: Bewerten einer sozialen Beziehung, Einsamkeitsgefühle etc.
- Indirekte Isolierungsindikatoren beziehen sich auf die äußeren Umstände, die für das Erleben sozialer Isolierung eine Rolle spielen: Soziale Netzwerke, Kontakthäufigkeit, Vielfalt an Interaktionsmöglichkeiten, sozialer Status, enge Vertrauter etc.

Die verschiedenen Facetten sozialer Isolierung lassen einen Bezug zu unserem Alltagsleben herstellen (vgl. ebd., S. 12f.). Soziale Isolierung besteht meist aus einem Bündel negativer Erlebnisse, die jeweils Gefühle des Mangels sowie der Selbstabwertung einschließen. Dazu gehören: das Gefühl der Verlassenheit, Einsamkeit, Niedergeschlagenheit, das Gefühl verstoßen oder anderen fremd zu sein sowie Angst, Bedrohung und Furcht vor sozialen Kontakten. Die Isolierung beinhaltet tiefgreifende negative Erlebnisse, die mit einer relativ hohen Korrelation mit Depressions- und Angstindikatoren einhergehen (vgl. Russell et al. 1980, Weeks et al. 1980). Die negativen Gefühlsanteile der sozialen Isolierung können aufgrund des hohen Stellenwerts sozialer Kontakte in unserer Gesellschaft kaum offen gezeigt werden. Die betroffene Person versucht möglichst lange den Eindruck zu erwecken, nicht isoliert zu sein. Die soziale Isolierung ähnelt dem Gefühl des Neides oder der Eifersucht, da sie ebenfalls von einem subjektiv erlebten Mangel ausgeht. Durch das selbstbild­diskrepante Gefühl der sozialen Isolierung entsteht ein Teufelskreis aus fassadenhaftem Verhalten, welches wiederum die Selbstentfremdung und die soziale Desintegration verstärkt. Der Betroffene verliert den Bezug zur Realität, entfremdet sich von dieser und kann sich zunehmend weniger integrieren.

2.2 Motive und Entstehungsfaktoren

Welche Bedürfnisse bei sozialer Isolierung nicht befriedigt werden, führt zunächst zur Frage nach den Zielen, die alle Menschen mehr oder weniger verfolgen und die sich nur im Kontakt mit anderen verwirklichen lassen (vgl. Lauth & Viebahn 1987, S. 14f.).

Motive

Anschlussmotiv: Es kennzeichnet eine soziale Interaktion, die von beiden Seiten als anregend, befriedigend und bereichernd empfunden wird (vgl. hierzu Heckhausen 1980). Auch der Wunsch nach Zuneigung, Anerkennung und Schutz (vgl. hierzu Brandstätter 1983) und der Wunsch nach sozialem Vergleich und der damit verbundenen Orientierung (vgl. hierzu Müller & Thomas 1974) kann gegeben sein. Weiss (1974) zufolge, trachtet der Mensch nach folgenden zentralen Motiven, die er in sozialen Beziehungen zu verwirklichen versucht: Teilen gemeinsamer Interessen, Quelle für Geselligkeit, das Gefühl gebraucht zu werden, die Versicherung des Selbstwertes, die Beratung und Leitung durch andere, der Wunsch nach Hilfeleistungen, das Machtmotiv, das Sexualmotiv.

Entstehungsbedingungen

Lauth & Viebahn verstehen unter sozialer Isolierung ein subjektives Erlebnis (1987, S. 15f.). Die kognitiven Verarbeitungsprozesse bzw. die (differentiellen) Merkmale werden im Folgenden als „interne Faktoren “ bezeichnet.

Die Autoren bestimmen das Phänomen der sozialen Isolierung als einen Zustand mit hoher Ist-Soll-Abweichung. Die intrapsychischen Beurteilungsprozesse zum Erleben einer Diskrepanz zwischen sozialer Wirklichkeit und sozialen Wünschen sind neben dem Einschätzen der Ist-Lage, der Vergleich von Ist- und Soll-Lage (Bewertung) sowie das Erklären von Ist-Soll-Abweichungen.

Jedoch werden die sozialen Beziehungen auch durch das soziale Verhalten des beurteilenden Individuums beeinflusst. Daher sind neben den genannten Beurteilungsprozessen auch die kognitiven Verarbeitungsprozesse wichtig, da sie eine Bedeutung für soziales Handeln haben. Die Erwartungs-Wert-Theorie liefert den Autoren die Grundlage für relevante motivationale Bedingungen für soziales Handeln:

- das Einschätzen der sozialen Handlungsmöglichkeiten,
- die subjektive Wahrscheinlichkeit, mit bestimmten sozialen Handlungen seine sozialen Beziehungen verbessern zu können,
- die Bedeutsamkeit der sozialen Beziehung für das Individuum.

Es zeigt sich, dass die intrapsychischen Beurteilungsprozesse von doppelter Bedeutung sind, da sie zum einen das Urteil der sozialen Isolierung bestimmen und zum anderen über die Erwartungshaltung das soziale Handeln steuern.

Wesentlich ist auch, welche Faktoren wiederum die Beurteilungsprozesse bzw. Kognitionen beeinflussen. Die zuvor genannte Literatur nennt hier:

- soziale Kenntnisse und Fertigkeiten,
- das Selbstwertgefühl sowie
- komplexere differenzielle Merkmale, wie etwa Schüchternheit und soziale Ängste.

2.3 Interne Faktoren

Im Folgenden sollen die internen Bedingungen genauer dargestellt werden. Lauth & Viebahn haben sich in ihren empirischen Angaben auf die Unterschiede zwischen Isolierten und Nicht-Isolierten bezogen, mit der Annahme, dass sich in diesen Unterschieden relevante Bedingungen für soziale Isolierung herauskristallisieren.

2.3.1 Beurteilungsprozesse als Bedingungen

Einschätzungs- bzw. Aufmerksamkeitsprozesse beeinflussen die Wahrnehmung des Einzelnen in Beziehung zu anderen Personen und seinem Umfeld. So neigen einsame Personen einerseits zu einer Überschätzung der Kontakte zu anderen Menschen und andererseits glauben sie zu beobachten, dass andere Personen leichter in Kontakt kommen (vgl. hierzu Thomas 1984). Eine Untersuchung (Young 1979a) zeigt, dass einsame Studenten durch eine verzerrte Wahrnehmung ihrer Situation und durch eine Übergeneralisierung charakterisiert werden können. So glauben sie beispielsweise, niemanden zu haben, der sich um sie kümmere.

Innerhalb des Bewertungsprozesses wird die Ist- und Soll-Lage verglichen. Als Resultat der eigenen sozialen Situation, kann das Gefühl der sozialen Isolierung entstehen. Wichtige Voraussetzung für das Entstehen sozialer Isolierung ist somit das Anspruchsniveau der Soll-Vorstellung, die variabel ist. Die persönliche Spielraumbreite für das Akzeptieren von Ist-Soll-Abweichungen ist von Individuum zu Individuum unterschiedlich. Oft hängt soziale Isolierung mit ungewöhnlich hohen sozialen Soll­Vorstellungen zusammen. Untersuchungen (Moore 1976, Sermat 1980) ergaben, dass Sozial-Isolierte mit ähnlichen Sozialbeziehungen, die von anderen als befriedigend angesehen werden, unzufrieden waren. Hinzu kommt, dass soziale Beziehungen einen ich-bezogenen Aspekt haben. Das Individuum findet in sozialen Beziehungen etwas von sich selbst wieder, schließlich findet es diese als zu seinem Ich gehörig. Somit haben Sozial-Isolierte ein überhöhtes Ich-Ideal und stellen relativ hohe Ansprüche an die eigene Person. Zwischen diesen Ansprüchen und ihrer tatsächlichen Situation entstehen Diskrepanzen, denen sie ausgesetzt sind (vgl. hierzu Cutrona 1982, Belcher 1973, Wöller 1978).

Erklärungsprozesse meinen jene Vorgänge, wie der einzelne seine sozialen Defizite erklärt und welche Gründe er für sein Verhalten anderen gegenüber und umgekehrt anführt. Bestimmte Erklärungsmuster sind dementsprechend auch mit einer spezifischen sozialen Isolierung verbunden: Ein Individuum, das bei anderen die Schuld für seine Einsamkeit sucht, reagiert oft mit Ärger oder Bitterkeit. Wenn das Individuum durch mangelnde Hilfen anderer nicht mehr „funktionieren“ kann, entsteht Angst. Sobald eigene Merkmale (geringe persönliche Attraktivität) als Grund für die Einsamkeit angesehen werden, spielen Traurigkeit oder Schwermut eine große Rolle (vgl. Young 1982). In einer Studie von Young (1979a) tendierten isolierte Studenten dazu, nur einen relevanten Situationsfaktor (eigene Person) als Grund für die Einsamkeit zu erkennen, während andere (unverfänglichere) Erklärungen oder Interpretationen außen vor blieben. So begründeten sie beispielsweise die Gegebenheit, dass Freunde alleine ausgingen, häufig damit, den Probanden nicht dabei haben zu wollen. Unverfängliche Erklärungsansätze wurden selten herangezogen. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass ein solches Erklärungsmodell zu Traurigkeit und einer geringen Erfolgserwartung beim sozialen Handeln führt.

Die Entstehung und Entwicklung von sozialer Isolierung ist Lauth & Viebahn zufolge als ein dynamischer Prozess zu verstehen, in dem sich genau diese Faktoren, d.h. Einschätzungs-, Bewertungs- und Erklärungsvorgänge, wechselseitig beeinflussen (1987, S. 18f). Ein Individuum kann sich die Situation eines missglückten Kontaktes im Laufe verschiedener kognitiver Zwischenprozesse erträglicher machen, wenn es dem Kontakt zu Anderen beispielsweise einen geringen Wert einräumt. So kommt es zu einer Veränderung der Sollvorstellung und damit zu einer Verminderung der Ist-Soll­Abweichung. Das Individuum ist fähig, eine angenehmere Ursachenerklärung zu finden, wie etwa „der Kontakt kam nicht zustande, da ich ihn selbst nicht wollte“. Mit dieser Diskrepanzreduktion verringert sich die Intensität des Einsamkeitserlebens. Es verändert seinen subjektiv sozialen Standard in bezug auf das, was es als erwünschtes soziales Beziehungsgefühl ansieht und nimmt beispielsweise eine Reduktion des Grades an Selbstaufmerksamkeit vor (vgl. hierzu Thomas 1985).

[...]

Ende der Leseprobe aus 100 Seiten

Details

Titel
Psychosoziale Befindlichkeiten von Kindern und Jugendlichen im Rahmen erhöhter Handlungsspielräume und einer individualisierten Gesellschaft
Untertitel
Gesellschaftsverweigerung und sozialer Hungerstreik
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Institut für Soziologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
100
Katalognummer
V274994
ISBN (eBook)
9783656671534
ISBN (Buch)
9783656671527
Dateigröße
816 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Autonomie, Individualisierung, Kapitalismus, Depression, Soziale Phobie, Hikikomori, Isolierung, Jugendliche, Entwicklungsprozesse, Gesellschaftsverweigerung, Hungerstreik, Autonomiezwang, Selbstverwirklichung, Erziehung, Leistungsdruck, Schulverweigerung
Arbeit zitieren
Sabrina Wurzenberger (Autor:in), 2012, Psychosoziale Befindlichkeiten von Kindern und Jugendlichen im Rahmen erhöhter Handlungsspielräume und einer individualisierten Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/274994

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