Wahrnehmung und Wirkung von öffentlichen Erinnerungsräumen

Analysen am Beispiel des Denkmals für die ermordeten Juden Europas


Bachelorarbeit, 2014

62 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Basistheorien
2.1 Kollektives Bewusstsein und kollektives Gedächtnis
2.2 Soziologie der Emotionen
2.3 Raumsoziologie

3. Zusammenspiel der Theorien
3.1 Gedächtnistheorie – Raumsoziologie
3.2 Gedächtnistheorie – Soziologie der Emotionen
3.3 Raumsoziologie – Soziologie der Emotionen
3.4 Zusammenfassung und Hypothese

4. Forschungsmethode „Qualitative Inhaltsanalyse“
4.1 Qualitative Inhaltsanalyse als Forschungsmethode
4.2 Vorgehensweise am Beispiel des Denkmals für die ermordeten Juden Europas

5. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas
5.1 Chronik, Architektur und Eröffnung des Denkmals
5.2 Debatten um das Denkmal
5.3 Metaphern als Ausdruck der Wahrnehmung
5.4 Emotionen und Verhalten der Besucher

6. Ergebnisse aus Theorie und Forschung
6.1 Faktoren, die die Wahrnehmung beeinflussen
6.2 Veränderungen in der Wahrnehmung

7. Fazit

8. Literaturverzeichnis
8.1 Wissenschaftliches Material
8.2 Empirisches Material für die Inhaltsanalyse

9. Anhang

9.1 Abbildungen

9.2 Tabellen.

1. Einleitung

„Wenn ich hier langgehe, und es kommen die Gedanken an die grausame Zeit, dann habe ich das Gefühl, meine Eltern, sämtliche Freundinnen und alle Verwandten, die ich in der Schoa verloren habe, sind hier begraben, und ich bin ihnen ganz nah.“ (Inge Borck in Kühn, 2010).

Diese Aussage einer Überlebenden des Holocausts beim Besuch des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“ beschreibt, welche individuellen Emotionen beim Durchschreiten eines Raumes ausgelöst werden können, wenn er mit Erinnerungen in Beziehung gesetzt werden kann. Aber können solche individuellen Wahrnehmungen auch Auswirkungen auf die Gesellschaft haben? Kann man mit dem Raumkonzept eines öffentlichen Raumes die Erinnerungen an geschichtli­che Ereignisse der Vergangenheit lebendig halten und somit auch künftige Generationen daran teilhaben lassen? Diese Fragen sind vor allem dann von großer Bedeutung, wenn es sich um die Erinnerung an die Opfer von grausamen Verbrechen durch die Allgemeinheit handelt, deren Andenken vor einer Wiederholung solcher Taten warnen soll. Relevant ist das Thema auch, da im speziellen für die Zeit des Nationalsozialismus die Generation der Zeitzeugen auszusterben beginnt und somit ein unwiederbringlicher Verlust an persönlichen Erinnerungen bevorsteht.

Zentrale Frage der vorliegenden Bachelorarbeit ist, welche Arten der Wahrnehmung bei der Begehung öffentlicher Erinnerungsräume Auswirkungen auf das Individuum und auf die Gesellschaft haben können. Zur Beantwortung dieser Frage muss zuerst geklärt werden, welche Voraussetzungen auf die Wahrnehmung eines Erinnerungsraums Einfluss nehmen und analysiert werden, welche unterschiedlichen Arten der Wahrnehmung möglich sind.

Im ersten Teil der Bachelorarbeit wird auf den theoretischen Hintergrund für die Beantwortung der Fragestellungen eingegangen. Hier wird von drei soziologischen Basistheorien ausgegangen und diese im Zusammenhang zueinander gestellt. Es handelt sich erstens um die Theorien des kollektiven Bewusstseins (Durkheim, 1988) und des kollektiven Gedächtnisses (Halbwachs, 1967), zweitens um die Theorien zur „Soziologie der Emotionen“ (Flam, 2002) und drittens um eine Theorie der Raumsoziologie (Löw, 2000).

Die Theorie des kollektiven Bewusstseins als „psychischer Typus der Gesellschaft“ (Durkheim, 1988, S. 129) zeigt, dass dieser nicht nur die individuelle Fähigkeit der emotionalen Wahrnehmung ermöglicht, sondern bereits das Bedürfnis der Gesellschaft nach dem Festhalten an Erinnerungen beinhaltet. Auch bei der Theorie des kollektiven Gedächtnisses von Maurice Halbwachs (1967) handelt es sich um die Darstellung sowohl einer Vorausset­zung als auch einer Wirkung von Erinnerungsräumen, in diesem Fall auf das Erinnerungsvermögen einer Gesellschaft. Die Details zu einer Sonderform des kollektiven Gedächtnis­ses, das kulturelle Gedächtnis, welches sich auch Objekten wie Erinne­rungsräu­men bedient, werden an Hand der Theorien von Jan Assmann (1997) und Aleida Assmann (1999) darge­legt.

Die „Soziologie der Emotionen“ (Flam, 2002) hat soziale Beziehungen und die Identifikation mit den Anderen als Basis für emotionales Handeln zum Thema und inwiefern Emotionen strukturbildend bzw. strukturerhaltend wirken.

Die Darstellung der Raumsoziologie stützt sich vor allem auf die Theorie von Martina Löw (2000), die ein dynamisches Raumkonzept verfolgt, wonach Raum sowohl als Bedingung als auch als Resultat sozialen Handelns betrachtet wird.

Die drei Basistheorien greifen ineinander, sodass die Hypothese aufgestellt werden kann, dass die emotionale Wahrnehmung von Erinnerungsräumen für die Wirkung auf Strukturen und das Gedächtnis als zentral betrachtet werden kann.

Inwiefern Erinnerungsräume emotional wahrgenommen werden können, wird somit auch zum zentralen Untersuchungsgegenstand des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit, die sich konkret auf das „Denkmal für die ermordeten Juden Euro­pas“ in Berlin bezieht. Als Methode wird dabei die qualitative Inhaltsanalyse gewählt, wobei größtenteils zum Thema vorhandene nationale und internationale Zeitungsartikel analysiert werden. Die Methode erlaubt sowohl eine Übersicht über die zu dem Denkmal gehörenden Daten wie Bau, Architektur oder Eröffnung zu liefern, als auch Details zu Debatten auszuarbeiten, die zur Erklärung der mit dem Denkmal verbundenen Emotionen von Bedeutung sind. Außerdem kann die Wahrnehmung der Besucher bei der Begehung des Denkmals mit Hilfe von bereits durch Journalisten geführten Interviews und deren Beobachtungen analysiert werden. Das Selbst-Führen und Analysieren von Interviews in einer repräsentativen Zahl bzw. eigene Feldbeobachtungen wären um vieles aufwändiger; zudem sind durch die Beleuchtung der unterschiedlichsten Aspekte in den zur Verfügung stehenden Artikeln bereits alle erforderlichen Informationen abgedeckt.

Wichtig für das bessere Verständnis der vorliegenden Arbeit ist die Definition folgender zentraler Begriffe:

- Unter „Wahrnehmung“ wird nicht nur die sinnliche Wahrnehmung, sondern auch die emotionale oder gefühlsmäßige Wahrnehmung, also die Verinnerlichung des äußerlich Wahrgenommenen verstanden.
- Ein „Ort“ bezeichnet lediglich eine geografische Position, während ein „Raum“ mit der Wahrnehmung und Nutzung eines Ortes in Verbindung steht bzw. im Falle eines virtuellen Raumes ortsunabhängig ist. Der Raum kann auch ungeachtet seiner ursprünglichen Widmung bei Akteuren oder Gruppen, die mit ihm in Berührung kommen, unterschiedliche Empfindungen auslösen oder auf unterschiedliche Weise genutzt werden.
- Ein „Erinnerungsraum“ ist ein physischer oder virtueller Raum, der entweder künstlich errichtet wurden, um die Erinnerung an ein geschichtliches Ereignis festzuhalten, wie z.B. Denkmäler oder Museen, oder er wurde in der virtuellen Welt in Form von Foren, blogs, chatrooms und ähnlichem zum Zweck des Gedenkens und des Austauschs eingerichtet. Eine andere Art von Erinnerungsräumen sind Räume bzw. Orte, an denen geschichtliche Ereignisse selbst stattgefunden haben und die nun der Erinnerung daran gewidmet sind wie z.B. ehemalige Konzentrationslager.

Thema in dieser Arbeit sind vor allem öffentliche, physisch begehbare Räume. Bei dem für diese Arbeit analysierten „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ handelt es sich um einen künstlich hergestellten, öffentlich begehbaren Erinnerungsraum. Es wurde zum Gedenken an die ermordeten Juden aus der Zeit des nationalsozialistischen Regimes errichtet. Der Förderkreis „Denkmal für die ermordeten Juden Europas e.V.“ hat folgenden Leitspruch, der den Zweck des im Zentrum Berlins liegenden Erinnerungsraums verdeutlicht:

„Unsere Würde gebietet einen unübersehbaren Ausdruck der Erinnerung an die
Ermordung der europäischen Juden“ (Willy Brand)
.

Einleitend noch ein formaler Hinweis: Zur Vereinfachung wurde bei der allgemeinen Nennung von Personen in der vorliegenden Bachelorarbeit stets die männliche Form verwendet (Akteur, Besucher, Jugendlicher usw.); selbstverständlich beziehen sich diese Formulierungen immer auf beide Geschlechter.

2. Basistheorien

2.1 Kollektives Bewusstsein und kollektives Gedächtnis

In diesem Unterkapitel wird dargelegt, dass das kollektive Bewusstsein und das kollektive Gedächtnis in erster Linie Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Erinnerungsräumen darstellen. Sie können aber auch als Ergebnis dieser Wahrneh­mung betrachtet werden.

2.1.1 Kollektives Bewusstsein

Der Begriff des kollektiven Bewusstseins, auch als Kollektivgefühl bezeichnet, wurde vom französischen Soziologen Emile Durkheim geprägt, der zu den soziologischen Klassikern gezählt wird. Durkheim definiert in seinem ursprünglich 1930 veröffentlichten Werk „Über soziale Arbeitsteilung“ (1988) das gemeinsame oder Kollektivbewusstsein als „psychischen Typus einer Gesellschaft“, der „über die ganze Gesellschaft verbreitet ist.“ Er ist unabhängig von den Bedingungen, mit denen Individuen zu kämpfen haben, zeit- und ortsunabhängig sowie generationsübergreifend (vgl. ebd., S. 128f). Die kollektiven Gefühle stellen eine moralische Vorgabe für eine funktionierende Gesellschaft dar. Übertretungen werden sanktioniert, nicht alle sind aber im Strafrecht geregelt. Sie sind vielmehr im Menschen selbst vorhanden: „Bei diesen Gefühlen handelt es sich nicht um zögernde und oberflächliche Willensschwankungen, sondern um Emotionen und Neigungen, die stark in uns
verwurzelt sind.“ (ebd., S. 126).

Durkheims Intention war vorrangig, die Moral der Gesellschaft wissenschaftlich zu untersuchen. „Solidarität und Moral sind bei Durkheim kongruent gebrauchte Begriffe.“ (Luhmann 1988, S. 24). Das Kollektivbewusstsein nützt der Gesellschaft zumindest immer in der Hinsicht, dass es zur Stärkung der Solidarität beiträgt (vgl. Durkheim 1988, S. 157), unabhängig davon, um welche Form der Solidarität es sich handelt. Durkheim unterscheidet zwei Formen der Solidarität, die mechanische und die organische Solidarität: Die mechanische Solidarität ist archaischen Gesellschaften zu Eigen, aber auch in der modernen Gesellschaft in Gruppen wie Familien oder Nationen zu beobachten, in denen ein gemeinsames Ziel vorherrscht und die Gruppenmitglieder mit ähnlichen Aufgaben betraut sind. In diesen Gesellschaften ist das Kollektivbewusstsein, das Bewusstsein der Gruppenzusammengehörigkeit, stark ausgeprägt. Das zeigt sich z.B. auch in einem starken Traditionsbewusstsein. Mit dem Zeitalter der Industrialisierung etablierte sich die arbeitsteilige Gesellschaft, die nunmehr vor allem durch die organische Solidarität zusammengehalten wird. Das heißt, jedes Mitglied erfüllt wie die verschiedenen Organe eines Körpers seine jeweilige Aufgabe. Damit ist aber auch eine fortschreitende Individualisierung zu beobachten, die das Kollektivbewusstsein schwächt. (vgl. ebd., S. 122).

Auch die Größe einer Gesellschaft hat Einfluss auf die Stärke des Kollektivbewusstseins, je größer die Gesellschaft, desto schwächer das Kollektivgefühl. (vgl. ebd., S. 248). Dieses Phänomen ist bei der zunehmenden Urbanisierung zu beobachten, wobei durch die Anonymisierung des Einzelnen das Interesse am Anderen schwindet und zu einer Abnahme des Kollektivbewusstseins beiträgt. (vgl. ebd., S. 354f).

Wichtig ist nun aber die Frage, inwiefern Kollektivgefühle Einfluss auf die Wahrnehmung nehmen. Durkheim geht darauf ein, indem er fragt, ob Kollektivgefühle aus dem Vergnügen oder Schmerz entstehen, den die Gesellschaft im Kontakt mit Objekten findet. Er kommt zu dem Schluss, dass es in der Mehrzahl der Fälle umgekehrt ist, dass die „kollektive Sensibilität“ Voraussetzung dafür ist, um an einem Objekt Gefallen (oder Missfallen) zu finden. (vgl. ebd. S. 131). Man kann also davon ausgehen, dass bei der Begehung eines Erinnerungsraums das Individuum je nach Gruppenzugehörigkeit von Kollektivgefühlen begleitet wird, die die Wahrnehmung beeinflussen.

Voraussetzung dafür, dass Menschen überhaupt das Bedürfnis dafür entwickeln, Erinnerungsräume zu errichten, sind auch im Kollektivbewusstsein begründet: Handlungen, die dem Kollektivgefühl zuwiderlaufen, haben oft eine kollektive Mobilisierung der in ihren Gefühlen verletzten Gruppe zur Folge. Grund dafür ist, dass gemeinsam geteilte Gefühle stärker als individuelle Gefühle sind. (vgl. ebd., S. 149ff). „Denn so, wie sich die entgegengesetzten Gefühle abstoßen, ziehen sich die ähnlichen Gefühle an, und das umso stärker, je intensiver sie sind“ (ebd., S. 152). Erinnerungsräume können daher auch Ausdruck des Widerstands gegen verletzte Kollektivgefühle sein. Im Fall der Ermordung der Juden im Nationalsozialismus richten sich die kollektiven Gefühle gegen dieses Verbrechen, die kollektiven Emotionen führen zu kollektiver Mobilisierung, die z.B. zur Folge haben, dass Erinnerungsräume wie das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ in Berlin errichtet werden. Auch Durkheim bezeichnet gerade den Mord als oberstes Verbrechen, das dem Kollektivgefühl widerspricht: „Wenn es […] eine all diesen Moralauffassungen gemeinsame Regel gibt, dann bestimmt jene, die den Menschenmord verbietet“ (ebd., S. 221).

Andere, harmlosere Übertretungen, die das Kollektivgefühl verletzen und häufig wiederholt werden, können aber auch schließlich toleriert werden. „Eine Regel scheint ihre Respektabilität zu verlieren, wenn sie aufhört, respektiert zu werden, und dies ungestraft“ (ebd., S.362). So ist zu erklären, dass abweichendes Verhalten wie z.B. das Klettern auf den Stelen des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“ zwar nicht erlaubt, aber toleriert wird.

2.1.2 Kollektives Gedächtnis

Der Soziologe Maurice Halbwachs, ein Schüler Durkheims, baute seine Theorien über das kollektive Gedächtnisses auf den grundlegenden Aussagen Durkheims über das Kollektivbewusstsein auf. So geht Halbwachs in seinem Werk „Das kollektive Gedächtnis“ (1967), welches im französischen Original bereits 1936 veröffentlicht wurde, davon aus, dass die individuelle Erinnerung nur im Zusammenhang mit der sozialen Gruppe, dem Kollektiv, greifbar ist. Das Kollektivbewusstsein der Gruppe ist für die Erinnerung an Ereignisse der Vergangenheit notwendig. Diese Erinnerungen sind nicht einfach im individuellen Gedächtnis vorhanden, sondern müssen im Nachhinein unter dem Einfluss von gemeinsamen Vorstellungen und Begebenheiten wieder konstruiert werden. Es besteht die „Notwendigkeit einer gefühlsmäßigen Übereinstimmung“ (vgl. ebd., S. 11ff).

Den Einfluss der sozialen Gruppen auf das Erinnerungsvermögen des Indi-viduums verdeutlicht Halbwachs am Beispiel einer bunt zusammenge-würfelten Reisegruppe. Die gemeinsamen Erlebnisse werden unterschiedlich wahrgenommen, da jeder Reisende sein soziales Umfeld, seine Familie, Freunde usw. in Gedanken auf die Reise mitnimmt und davon die Auswahl und die Art und Weise des Wahrgenommenen beeinflusst wird (vgl. ebd. S. 23ff). Kommen die Reisenden nach der Reise wieder mit der Reisegruppe zusammen, um sich über das Erlebte auszutauschen, dann können diese individuellen Erinnerungen zu einer kollektiven Erinnerung zusammengefügt werden: „Er-innerung entsteht durch die Auswirkung der Folgen mehrerer ineinander verflochtener kollektiver Denkweisen wieder“ (ebd., S. 32).

Halbwachs unterscheidet also zwischen einem autobiografischen, individuellen, innerlichen Gedächtnis und einem kollektiven, äußerlichen Gedächtnis (vgl. ebd., S. 36). Das individuelle Gedächtnis benötigt einerseits einen geschichtlichen Rahmen, das historische Gedächtnis, um Erlebnisse einordnen zu können, aber auch das kollektive Gedächtnis, um Erinnerungen zu rekonstruieren. „Nicht auf die gelernte, auf die gelebte Geschichte stützt sich unser Gedächtnis“ (ebd. S. 42). Dabei kann es sich auch um Erinnerungen aus Erzählungen oder Zeitungsberichten handeln, wobei sich Erinnerungen durch aktuelle Ereignisse und andere Blickwinkel verändern können. Befragt man zwei Personen zum selben Geschehnis, so wird man wahrscheinlich zwei unterschiedliche Sichtweisen, zwei unterschiedliche Erinnerungen zur Antwort erhalten. Die Aussagen werden sich aber auch gegenseitig befruchten. So kann man manchmal vergessen geglaubte Erinnerungen durch Erzählungen von anderen wieder rekonstruieren (vgl. ebd., S. 56ff).

Halbwachs unterscheidet nicht nur zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis, sondern auch zwischen dem kollektiven und dem historischen Gedächtnis. Das kollektive Gedächtnis unterliegt einer „kontinuierlichen Denkströmung“ (ebd., S. 68). Das heißt, es ist dasjenige von Interesse und damit im kollektiven Gedächtnis evident, das für die jeweilige Gruppe in einer bestimmten Epoche wichtig ist. Diese Epochen sind keine geschichtlichen Epochen, sondern werden von der Gruppe selbst bestimmt, wobei der Übergang von einer zur nächsten Epoche oft erst im Nachhinein erkannt werden kann (vgl. ebd. S. 68ff).

Eine weitere Unterscheidung zwischen kollektivem und historischem Gedächtnis sieht Halbwachs in der Frage der Subjektivität: Es gibt zum gleichen geschichtlichen Ereignis mehrere kollektive Gedächtnisse, je nachdem, welche Gruppe das Ereignis betrachtet. Das kollektive Gedächtnis ist also subjektiv, dasselbe Ereignis wird zum Beispiel von verschiedenen Nationen oder politischen Parteien unterschiedlich interpretiert, während im historischen Gedächtnis objektive Fakten durch die Zusammenführung der unterschiedlichen Erinnerungen der Gruppen an dasselbe Ereignis herausgearbeitet werden (vgl. ebd., S. 66ff). Schließlich sind für die Gruppe Erinnerungen wichtig, die die Gruppenzusammengehörigkeit fördern, die also auf der Ähnlichkeit der Gruppenmitglieder beruhen. Im historischen Gedächtnis werden hingegen meist Ereignisse gespeichert, die große Veränderungen einer Gesellschaft zur Folge haben (vgl. ebd., S. 75f).

Die Unterscheidung zwischen kollektivem und historischem Gedächtnis ist im Zusammenhang mit der Betrachtung von Erinnerungsräumen insofern von Bedeutung, da es zeigt, dass die Wahrnehmung der Räume durch das kollektive Gedächtnis subjektiv ist, da es von den sozialen Gruppen abhängt, in denen sich das Individuum bewegt, während die Begründung und Planung für die Errichtung der Räume meist objektiv betrachteten historischen Ereignissen zu Grunde liegt.

2.1.3 Das kulturelle Gedächtnis

Eine erweiterte Sichtweise auf das kollektive Gedächtnis trifft der Kulturwissenschaftler Jan Assmann in seinem Werk „Das kulturelle Gedächtnis“ (1997). Seine Ausführungen zeigen unterschiedliche Aspekte, die verdeutlichen, welche kulturellen Hintergründe bei der Wahrnehmung von Erinnerungsräumen auf den Besucher wirken. Er verweist in Anlehnung an Halbwachs darauf, dass er die moderne Gesellschaft an der Schwelle einer Epoche erachtet, vor allem in Hinblick darauf, dass die letzten Zeitzeugen der Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus aussterben (vgl. ebd., S. 11).

Das kulturelle Gedächtnis dient der Erinnerung und der Aufrechterhaltung von Kultur und Tradition. Jan Assmann beschreibt das kulturelle Gedächtnis als einen Raum, der aus drei ineinander übergehenden Bereichen gebildet wird: den Riten, die den kulturellen Sinn überliefern; Dingen, die auf den Sinn verweisen und schließlich Sprache und Kommunikation. Im Zusammenhang mit Erinnerungsräumen sind vor allem die Dinge, die auf einen Sinn verweisen von Interesse. Beispiele dafür sind Symbole oder Gedenksteine (vgl. ebd., S. 21), man kann aber sicher auch Erinnerungsräume dazu zählen, da sie mehr sind als physische Räume, sondern sich auf Ereignisse oder Menschen aus der Vergangenheit beziehen.

Die Notwendigkeit der Errichtung solcher Dinge wie Erinnerungsräume verdeutlicht Assmann mit seinem Begriff der „Erinnerungsfiguren“, die er derart begründet: „Ideen müssen versinnlicht werden, bevor sie in unser Gedächtnis Einlass finden“ (ebd., S. 38). Die Merkmale der „Erinnerungsfiguren“ sind der Bezug zu Zeit und Raum, der Gruppenbezug und die Rekonstruktivität (vgl. ebd., S. 38ff). Diese Merkmale definierte Assmann analog zu den Merkmalen des kollektiven Gedächtnisses von Halbwachs. Dieses benötigt ebenfalls Zeit und Raum zur Orientierung, den Gruppenbezug zu einer lebendigen Gruppe und die Rekonstruktivität durch die Gesellschaft, wobei Vergangenheit „fortwährend von den sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart her reorganisiert“ (ebd., S. 41) wird.

Aleida Assmann führt die Theorien ihres Mannes Jan Assmann weiter und konzentriert sich auf die Darstellung von Erinnerungsräumen, welche sie als Speicher für Geschichtsbewahrung betrachtet. Der Begriff „Erinnerungsraum“ ist bei Aleida Assmann weiter als hier definiert gestreut. So versteht sie unter Erinnerungsräumen nicht nur physische und virtuelle Räume, sondern allgemein Medien wie Schrift, Bild, Körper und Orte, in denen Erinnerungen gespeichert sind (vgl. Assmann, 1999).

Die Erinnerungen des kulturellen Gedächtnisses können auf zwei Arten gespeichert werden: Aleida Assmann unterscheidet zwischen „ars“ und „vis“. Unter „ars“ versteht sie die Speicherung einer Erinnerung mit dem Ziel, diese Erinnerung später wieder ins Bewusstsein zu holen; unter „vis“ das nicht vorsätzliche Erinnern (vgl. ebd., S. 28f). So könnte man sagen, dass bei der Errichtung von Erinnerungsräumen die damit verbundene Erinnerung darin gespeichert wird. Lebendig wird diese Erinnerung aber erst beim Begehen des Raumes.

Auch Aleida Assmann orientiert sich an Halbwachs, indem sie zwischen Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis unterscheidet (vgl. ebd., S. 130ff). Hier finden sich Parallelen zur Unterscheidung zwischen kollektivem und historischem Gedächtnis bei Halbwachs. In Anlehnung an das kollektive Gedächtnis ist das Funktionengedächtnis an eine Gruppe gebunden und erinnert sich subjektiv an für die Gruppe interessante Ereignisse. Es geht wertend vor, während im Speichergedächtnis geschichtliche Ereignisse objektiv aufbewahrt werden. Assmann kritisiert aber selbst diese Sichtweise: Eine objektive Geschichtsschreibung sei illusorisch (vgl. ebd., S. 133).

2.2 Soziologie der Emotionen

Bereits für soziologische Klassiker wie Durkheim, Parsons oder Weber waren Emotionen Thema ihrer Arbeiten, wie auch z.B. die bereits dargelegte Theorie des Kollektivgefühls von Durkheim zeigt. Helena Flam (2002) analysiert in ihrem Werk „Soziologie der Emotionen“ sowohl die Aussagen der Klassiker als auch die Auswirkungen der Emotionen auf die heutige Gesellschaft.

Für das vorliegende Thema sind vor allem zwei Aspekte in Zusammenhang mit Emotionen von Bedeutung: Erstens stellt sich die Frage, wie Emotionen im Individuum geweckt werden können und somit das Interesse an den Ereignissen oder Menschen, denen der Erinnerungsraum gewidmet ist. Dazu ist in erster Linie die Identifikation mit Anderen notwendig. Der zweite Aspekt ist die Frage nach den Auswirkungen emotionalen Handelns auf die Gesellschaft.

Allgemein geht man in der Soziologie der Emotionen davon aus, dass Emotionen auf Beziehungen beruhen. Man muss in Beziehung zu anderen Menschen stehen, um sich selbst wahrnehmen zu können, (wobei diese Menschen auch Verstorbene sein können). Die Anderen sind der Spiegel des Selbst. Ohne Andere gäbe es keine Identität, man definiert sich selbst über das Bild, das andere von einem haben, indem man sich mit ihnen vergleicht. Flam bezieht sich bei der Zeichnung dieses Menschenbildes auf Charles Horton Cooley (vgl. ebd., S. 90ff).

Cooley bezeichnet das Ich, die eigene Identität als „self-feeling“, da man sich selbst vor allem in seinen Gefühlen und Meinungen wahrnimmt. Das „self-feeling“ dient als Handlungsmotiv für soziales, zielorientiertes Handeln (vgl. Cooley 1902, S. 136ff). Als soziales Wesen sieht der Mensch sich auch immer mit den Augen der anderen als „reflected or looking-glas-self“ (ebd., S. 152). Die Empathiefähigkeit basiert auf einem stabilen Selbst, welches durch
Anerkennung und Liebe durch andere entsteht. „On the other hand, it is only on the basis of a substantial self that a person is capable of progressive sympathy or love“ (ebd., S. 156). Das Selbstgefühl wird mit dem Alter gefestigter und somit weniger von der Anerkennung anderer abhängig. Dies bedeutet aber auch, dass man mit zunehmendem Alter gegen Veränderungen verschlossener wird (vgl. Flam 2002, S. 96).

Mit den Möglichkeiten der Veränderung bzw. der Beibehaltung der gesellschaftlichen Ordnung beschäftigte sich unter anderen Talcott Parsons. Basis für eine soziale Ordnung sind demnach der Wunsch nach Anerkennung durch andere und Angst vor Ablehnung (vgl. ebd. S. 104). Eines von vier Handlungsmustern („pattern variables“) nach Talcott Parsons, welches Handlungsalternativen darstellt, ist die Gegenüberstellung von „Affectiv neutrality“ versus „Affectivity“ (Parsons 1951, S. 77), also die Alternative zwischen neutralem Handeln und Handeln aus emotionalen Motiven. Viele Soziologen interpretierten diese Gegenüberstellung dahingehend, dass neutrales Handeln systemerhaltend wirke, während affektives Handeln unerwünscht sei, da es nicht normenkonform ist (vgl. Flam 2002, S. 114).

Gerade im Zusammenhang mit der Aufarbeitung von Erinnerung ist aber emotionales Handeln erwünscht. Gelingt es, durch Erinnerungsräume Emotionen zu wecken, seien es Trauer, Mitgefühl oder auch Freude und verbindet der
Akteur die Emotionen mit bestimmten geschichtlichen Ereignissen, dann kann es zu einer Änderung alter, verfestigter Einstellungen kommen, die strukturbildend wirkt bzw. können Wiederholungen der Geschichte abgewehrt werden und somit die soziale Ordnung beibehalten werden.

Emotionen als mögliches Handlungsmotiv beschrieb auch Flam in ihrer Charakterisierung des „emotional man“. Sie unterschied zwischen dem „pure emotional man“ und dem „constrained emotional man“. Während letzterer auch normen- und zweckorientiert handelt, beruhen die Handlungen des „pure emotional man“ ausschließlich auf Gefühlen (vgl. Flam 1990).

Der „emotional man“ bringt Gefühle durch Handlungen zum Ausdruck, wobei verschiedene Gefühle unterschiedliche soziale Handlungen auslösen können. So ist nachvollziehbar, dass z.B. Gefühle der Scham oder Schuldgefühle
altruistisches Handeln hervorrufen können, während Gefühle der Wut oder des Zorns eher zerstörerische Handlungen nach sich ziehen und Gefühle der Angst oder Einengung meist dazu führen, dass Menschen sich zurückziehen. Oft sind aber auch dieselben Gefühle Auslöser unterschiedlichster Handlungen. Das Gefühl der Trauer kann z.B. sowohl zu heftigen, nach außen sichtbaren Reaktionen führen, als auch zu apathischem Verhalten. Es gibt also vielfältige Möglichkeiten, wie sich Emotionen auf das Handeln auswirken können.

Werden bei vielen Menschen die gleichen Emotionen geweckt, so ist eine mögliche Folge die kollektive Mobilisierung. Dies birgt die Gefahr, dass unkontrollierte Handlungen in größerem Ausmaß die soziale Ordnung stören (vgl. ebd.) .

Gefühle lösen also Handlungen aus, die sich auf gesellschaftliche Strukturen auswirken. Ein düsteres Bild malt Sighard Neckel, der die Gefühle des Neids und der Wut als wichtigste Gefühle benennt, die soziale Strukturen in westlichen Demokratien prägen. Die Menschen empfinden demnach Wut gegenüber den Ausgeschlossenen und Neid gegenüber den Erfolgreicheren (vgl. Neckel 1999).

Uwe Schimank beschreibt die möglichen Wirkungen von durch Emotionen ausgelöstes Handeln auf soziale Strukturen unter anderem mit der Strukturdynamik wechselseitiger Beobachtungskonstellationen, in welcher die Dynamiken der Abweichungsverstärkung oder Abweichungsdämpfung zum Tragen kommen. Die Dynamik der Abweichungsverstärkung wirkt strukturverändernd oder strukturaufbauend, während die Dynamik der Abweichungsdämpfung strukturerhaltend wirkt (vgl. Schimank 2010, S. 235ff).

Was ist nun unter Strukturen zu verstehen, die durch emotionales Handeln erzeugt bzw. geändert werden oder erhalten bleiben? Antony Giddens definiert Strukturen als „isolierbare Mengen von Regeln und Ressourcen“ (Giddens 1998, S. 69). Ein wichtiger Aspekt betreffend der Voraussetzung und Wirkung von emotionalen Handeln wird von Giddens Strukturationstheorie mit seinen Ausführungen zur „Dualität der Strukturen“ geliefert: Demnach sind Strukturen sowohl Bedingungen als auch Resultat sozialen Handelns (vgl. Giddens 1988, S. 77ff). Inwiefern Räume als Strukturen zu betrachten sind, wird im nächsten Kapitel zur Raumsoziologie näher ausgeführt.

2.3 Raumsoziologie

In der Betrachtung des Raumes unter soziologischen Gesichtspunkten fand
in jüngerer Vergangenheit ein Paradigmawechsel statt. Stand die zeitliche Komponente sozialer Prozesse bis dahin im Vordergrund, so beschreibt der sogenannte „spatial turn“ die „Wiederentdeckung des Raums in den Sozial-wissenschaften“ (Fuchs-Heinritz 2007, S. 620) mit der Forderung nach der Untersuchung des Raums als Bedingung und Resultat sozialer Prozesse
(vgl. Löw 2007, S. 66).

Giddens bezeichnet den Einfluss von Raum auf das Handeln als essentiell, Raum bildet den Bezugsrahmen für Interaktionen. Der Bezugsrahmen ist wiederum für die „Spezifizierung der Kontextualität“ eines Raumes verantwortlich (vgl. Giddens 1988, S. 170). Er erkennt also eine Wechselwirkung zwischen Raum und Handeln, betrachtet jedoch Raum nicht als Struktur („Zeit und Raum überdauern Strukturen“) und setzt sich daher auch nicht mit dem Einwirken des sozialen Handelns auf den Raum auseinander (vgl. ebd., S. 77).

Martina Löws Raumtheorie geht einen Schritt weiter. Sie betont die Wechselwirkung von Handeln und Strukturen, wobei auch der Raum als Struktur
betrachtet wird und durch Handeln konstituiert wird: „Vielmehr wird Raum selbst als sozial produziert, damit sowohl Gesellschaft strukturierend als auch durch Gesellschaft strukturiert und im Prozess sich verändernd begriffen“ (Löw 2007, S. 51).

[...]

Ende der Leseprobe aus 62 Seiten

Details

Titel
Wahrnehmung und Wirkung von öffentlichen Erinnerungsräumen
Untertitel
Analysen am Beispiel des Denkmals für die ermordeten Juden Europas
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Soziologie)
Note
1,1
Autor
Jahr
2014
Seiten
62
Katalognummer
V275171
ISBN (eBook)
9783656673880
ISBN (Buch)
9783656673866
Dateigröße
922 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit ist vor allem dem Thema Raumsoziologie zuzuordnen.
Schlagworte
wahrnehmung, wirkung, erinnerungsräumen, analysen, beispiel, denkmals, juden, europas
Arbeit zitieren
Andrea Dellitsch (Autor:in), 2014, Wahrnehmung und Wirkung von öffentlichen Erinnerungsräumen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275171

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