Piero della Francesca und Sansepolcro. Die Beziehung einer Stadt und ‚ihrem Künstler‘


Bachelorarbeit, 2013

49 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einführung

2. Piero in Sansepolcro
2.1 Die Stadt
2.2 Der Künstler
2.3 Kunst für die Stadt

3. Die Bildtradition Sansepolcros
3.1 Zwei Auferstehungen
3.2 Modo e forma: Von Niccolò di Segna über Sassetta zu Piero

4. Sansepolcro in Pieros Werken
4.1 Die Taufe Christi
4.2 Die Auferstehung Christi
4.3 Die Geburt Christi

5. Schluss

6. Literaturverzeichnis

7. Abbildungsverzeichnis

8. Bildanhang

1. Einführung

Fährt man als Tourist durch die Provinz Arezzo, fallen einem sofort die Straßenschilder mit der Beschriftung „Terra di Piero“ ins Auge – das Land Pieros. Hier wurde in der kleinen Stadt Sansepolcro Piero della Francesca (c. 1412-1495) geboren, der bis heute als einer der mysteriösesten Künstler des Quattrocento gilt. Dennoch strömen jährlich Tausende von Kunstfreunden in die südliche Toskana um dort auf dem sogenannten Piero della Francesca Trail zu wandeln, auf dem sie die schönsten Werke des Malers der Frührenaissance bestaunen können. Das war nicht immer so. Lange war Piero eher für seine Wissenschaft als für seine Malerei bekannt, erst im 19. Jahrhundert erwachte nach und nach das Interesse der Kunstgeschichte an dem Künstler und seiner rational-geometrischen Kunst, die bis dato wenig Anklang gefunden hatte.[1]

Die vorliegende Arbeit untersucht die Beziehung von Piero zu seiner Heimatstadt Sansepolcro. Eine Interpretation von Pieros Werk mit lokalem Bezug ist ein relativ junger Ansatz, der erst durch die Erkenntnisse des Historikers James R. Banker vorangetrieben wurde, der lange Zeit in Sansepolcro verbrachte und mit sozialhistorischem Ansatz die „important features of the culture of San Sepolcro and [..] those most formative in the life of Piero della Francesca”[2] erforschte. Eine Ausstellung in der New Yorker Frick Collection aus diesem Jahr ist die erste, die sich Piero della Francesca „in patria“ verschrieben hat. Gastkurator Nathaniel Silver kommentiert im zugehörigen Katalog: „Piero’s responses to his surroundings were encompassing and profound.”[3]

Piero hat den Großteil seines Lebens in der kleinen Stadt Sansepolcro verbracht, obwohl er einige Zeit in den großen, künstlerischen Metropolen wie Florenz oder Rom arbeitete. Wieso ist der Maler, der sich so sehr für Mathematik und Geometrie interessierte, dass er im Alter sogar zwei mathematische Abhandlungen veröffentlichte, nicht in diesen fortschrittsorientierten Zentren geblieben? Inwiefern war die Kultur Sansepolcros wirklich „eigen“ und prägend für Piero, wie Banker vorschlägt, wenn er schreibt: „San Sepolcro made Piero della Francesca.“[4] ? Das Kapitel „Piero in Sansepolcro“ gibt historischen und biographischen Aufschluss über diese Fragen. Desweiteren soll untersucht werden, inwiefern gesagt werden kann, dass Piero ‚Kunst für die Stadt‘ schafft.

Piero hat wie kaum ein anderer die verschiedenen Strömungen der Kunst des 15. Jahrhunderts aufgenommen. Das dritte Kapitel befasst sich mit der Bildtradition in Sansepolcro im Speziellen und versucht anhand von zwei Vergleichen die Einflüsse aufzuzeigen, die diese auf Piero hatte. Als Beispiel dienen Niccolò di Segnas Darstellung der Auferstehung Christi im Vergleich zu Pieros Fresko mit dem selben Thema. Im Folgenden wird das Bildnis des Heiligen Franziskus auf Sassettas Borgo San Sepolcro Altar in Beziehung zu Pieros Schutzmantelmadonna gesetzt.

Das vierte und letzte Kapitel zeigt anschließend, wie die Stadt Sansepolcro in Pieros Werken auftaucht, als Beispiel dienen hier die Taufe, die Auferstehung und die Geburt Christi, drei der wichtigsten Werke Pieros, die alle für Sansepolcro, aber jeweils für einen unterschiedlichen Kontext geschaffen wurden. Ein kurzer Exkurs erläutert außerdem den Stand der Landschaftsmalerei zu Zeiten von Pieros Schaffen.

2. Piero in Sansepolcro

2.1 Die Stadt

Sansepolcro, oder Borgo San Sepolco, wie die Stadt ursprünglich hieß, liegt am östlichen Zipfel der Toskana in Mittel-Italien, direkt an der Grenze zu Umbrien und den Marken. Die kleine Stadt im flachen Tal, das von den frisch entsprungenen Läufen des Tibers geformt wurde, hat den steilen Gebirgszug der Apenninen im Rücken. Zu Zeiten Piero della Francescas Jugend lebten etwa 4400 Einwohner in der Stadt.[5] Kenneth Clark beschreibt die Stadt als Kombination aus Intimität und Erhabenheit: „It is compact, solid, proportionate, and at its centre, made the more luminous by contrast with the narrow streets, is a white, open piazza, with a cathedral and civic offices, their arcades and pilasters rising from the slightly irregular surface of the ground as unselfconsciously as the buttresses of a barn.”[6]

Die politische Situation Sansepolcros im 14. und 15. Jahrhundert war lange Zeit schwierig, da die Stadt über die Jahre einer ständig wechselnden Herrschaft ausgesetzt war, an deren kulturelle Gepflogenheiten und Regeln sie sich immer wieder auf ein Neues anpassen musste.[7] Es ist somit verständlich, dass sich die Einwohner nach Unabhängigkeit sehnten und trotz politischer Abhängigkeit von Rimini, Rom oder Florenz besonderen Wert und Ehre auf ihre lokalen Ämter und politischen Institutionen legten.[8] Gleichzeitig mag das Fehlen eines Vorbildes in Form eines verlässlichen, dauerhaften Herrschers auch für einen starken Zusammenhalt der Bürgergemeinschaft unter sich gesorgt haben, die ihre eigenen Ideale und Lebensweisen hervorbrachte.

Sowohl die Stadt als auch das umliegende Land gehörte lange der Adelsfamilie der Malatesta.[9] Diese hatten ihren Sitz allerdings weit entfernt auf der anderen Seite der Apenninen in Rimini, ein päpstliches Urteil beendete deren Regierungszeit im Jahr 1430, es folgten chaotische Zeiten in denen die Stadt von der päpstlichen Autorität in Rom an Perugia, Florenz und wieder an Rom vergeben wurde.[10] Nach der berühmten Schlacht von Anghiari, einem Konflikt zwischen einer Allianz von Florenz, Venedig und dem Kirchenstaat gegen Mailand, verkaufte Papst Eugen IV. die Stadt endgültig an Florenz, die zu dieser Zeit einflussreichste toskanische Stadt.[11] Durch den neuen Besitzer wandte sich Sansepolcro in politischer und kultureller Sicht von den Marken und Umbrien in Richtung Toskana und Florenz. In der Folge stellten sich friedlichere Zeiten in der umkämpften Kleinstadt ein.[12]

Wenn Piero von seinen Reisen in seine Heimatstadt zurückkehrte, erwartete ihn schon von Weitem die charakteristische Stadtsilhouette mit ihren zahlreichen Türmen an den eleganten, palastartigen Häusern der reichen Familien (Abb. 10 & 11). Viele der Türme fielen im 18. Jahrhundert einem Erdbeben zum Opfer, einer der wichtigsten Türme auf dem zentralen Platz der Stadt, der Torre di Berta, errichtet im zwölften Jahrhundert, wurde im zweiten Weltkrieg zerstört.[13] So ist der Eindruck, den Touristen heute bei ihrem Besuch in Sansepolcro gewinnen, zwar ein anderer als der zu Zeiten Pieros, dennoch kann man sich vorstellen, wie imposant die kleine Stadt mit ihren steinernen Palästen und Kirchen zu Glanzzeiten gewirkt haben muss.

Die abgelegene Lage hatte Vor- und Nachteile für die kleine Stadt: zum einen war sie dadurch weit entfernt von den wichtigen Großstädten wie Florenz, Siena, Perugia oder Rimini, zum anderen trafen sich wichtige Handelswege, die die großen Städte miteinander verbanden, im Herzen von Sansepolcro, wodurch der Ort zum strategischen kommerziellen Zentrum wurde und zum Anlaufpunkt für viele Kaufleute. Mit Grund für das Netz an Handelsverbindungen waren auch die unterschiedlichen politischen Abhängigkeiten, zum einen die an die Adria während der Herrschaft der Malatestas in Rimini, zum anderen die neue wirtschaftliche Bedeutung durch den Anschluss an Florenz: Sansepolcro war der „[obligatorische] Durchgangsort für Waren vom thyrrhenischen Meer und aus der Toskana, die über den Apennin an die adriatische Küste transportiert wurden.“[14] Durch Sansepolcros Lage in fruchtbarem Hochland spielte auch die Landwirtschaft eine große Rolle, besonders der Anbau von Färberwaid, im Italienischen als „Guado“ bezeichnet, einer Pflanze die zur Gewinnung des gefragten Indigo-Blautons nötig war. Der Handel mit gefärbtem Stoff stellte sich für die ansässigen Familien als besonders lukrativ heraus.[15]

Ein weiteres wichtiges Merkmal der Stadt war ihre Verbindung zur Pilgertradition. Einer der bedeutendsten Pilgerwege, der Franziskusweg von Florenz über Assisi nach Rom, führte viele Pilger durch die Stadtmauern von Sansepolcro. Auch die Stadt selbst hatte bedeutende Reliquien vorzuweisen, die auf den Gründungsmythos der Stadt zurückgehen. Der Legende nach wurde die Stadt im 10. Jahrhundert von den Pilgern Arcano und Egidio gegründet, die sich auf dem Rückweg aus Jerusalem befanden.[16] Mit sich brachten die beiden angebliche Fragmente vom Grab Jesu und Stücke aus dem Holz des Kreuzes. Beim Durchqueren des Valtiberina erreichte sie der göttliche Auftrag, dort zu bleiben und zum Schutz der Heiligtümer eine Kapelle zu bauen. Bald folgte ein angrenzendes Kloster, welches schlüssigerweise den titulus des Heiligen Grabes wählte. Nach und nach entwuchs dann in der Nachbarschaft eine große Laienbruderschaft – die Ursprünge der heutigen Stadt. Durch die Reliquien wurde Sansepolcro zum wichtigen Pilgerziel im späten Mittelalter und der Renaissance.[17]

Wie wichtig der Stadt die Verbindung zur Grabstätte Jesus war, zeigte sich spätestens Anfang des Quattrocento, als der Kanzler der Stadt, Francesco de Largi, eine schriftliche Fassung der Legende forderte, die ältere mündliche Überlieferungen zusammenfasste.[18] Die Kommune wählte das Heilige Grab als ihr Symbol, auch der offizielle Stadtbanner, welcher der neuen Herrschaft in Florenz 1441/2 überreicht wurde, war mit den Stadtfarben und einem Schild mit dem Abbild des Heiligen Grabes verziert.[19] Ein anderer Autor einer Chronik aus dem Jahr 1454 besteht zudem darauf, dass die Klosterkirche von Sansepolcro im Jahr 1012 nach dem Abbild der Anastasis, der Grabeskirche in Jerusalem, geschaffen wurde, zur selben Zeit als das Original in Jerusalem von ungläubigen Sarazenen eingenommen und zerstört wurde.[20] Der Versuch, Sansepolcro hier zum symbolischen alternativen Zufluchtsort der Gläubigen zu machen, scheint zwar zweifelhaft, vor allem, da, wie Gardner von Teuffel erkennt, zwischen der Grabeskirche und der spätmittelalterlichen Basilika in Sansepolcro keine auffällige Ähnlichkeit besteht.[21] Dennoch verdeutlicht der Versuch des Chronisten, Sansepolcro zum „Neuen Jerusalem“ zu erklären, den Wunsch einer starken Beziehung der Gemeinde zum Ursprungsort des Heiligen Grabes und die eigene Identifikation mit diesem. Am deutlichsten zeigt sich der Stolz der Einheimischen auf die Stadtgeschichte und die wertvollen Reliquien natürlich im Namen der Stadt selbst: diese hieß ursprünglich „Borgo del Santo Sepolcro“, also Stadt des Heiligen Grabes.

2.2 Der Künstler

Die Familie della Francesca war traditionell im Handwerkergewerbe und im sozial wenig angesehenen, unsauberen Handel mit Fell und Leder tätig, doch zu Beginn des Quattrocento schaffte es der ehrgeizige Vater Benedetto seine Familie in höhere Kreise zu befördern, indem er sich der Kaufmannstätigkeit mit handwerklich angefertigten Produkten und Färberwaid zuwandte, ein Handel mit großer Nachfrage und dadurch überdurchschnittlich gutem Einkommen.[22] Zur Zeit von dessen Tod 1464 war die Familie gut situiert, mit imposanten Häusern und einigen Ländereien und im Begriff zur städtischen Elite aufzusteigen.[23]

Piero war der Erst- oder Zweitgeborene[24] der della Francesca. Zu den wichtigsten Erkenntnissen von Banker zählen bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung unbekannte Dokumente, die ein Geburtsdatum Pieros auf 1412 nahelegen. Diese weisen darauf hin, dass Piero seine Ausbildung zum Maler bereits in seiner Heimatstadt abschloss, dort einige Jahre als Assistent seines Meisters Antonio di Giovanni d’Anghiari arbeitete und damit bereits einen gewissen eigenen Stil entwickelt hatte, als er 1439 als Gehilfe von Domenico Veneziano in Florenz tätig war.[25] Leider kann über seinen Stil vor seinem Florenzaufenthalt nur gemutmaßt werden, da keines dieser frühen Werke erhalten ist, die frühesten erhaltenen Werke sind die Taufe und das Polyptychon der Madonna della Misericordia.[26]

Es ist davon auszugehen, dass auch Piero im Handelsgewerbe in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte. Warum er sich gegen die „Welt“ seiner Familie entschied und wann genau er sich dazu entschloss Maler zu werden ist nicht belegt, Vasari spricht von einem Alter von fünfzehn Jahren.[27] Auch ob diese Entscheidung die Gunst des Vaters gewinnen konnte, ist fraglich. Man kann sich gut vorstellen, welcher Druck auf Pieros Schultern lastete, auch in diesem Bereich erfolgreich und dem Anspruch von Benedetto gerecht zu werden.

Wie andere Jugendliche seines Alters aus ähnlichen gehobenen sozialen Verhältnissen, dürfte auch Piero in der Schule Grundlagen für eine spätere Kaufmannstätigkeit gelernt haben.[28] Wie genau seine Schulbildung aussah beruht allerdings auf Spekulation.[29] Es ist davon auszugehen, dass durch den kaufmännisch geprägten Alltag in Sansepolcro durchaus Pieros Neugier geweckt wurde und dieser einen Impuls für seinen geometrischen Stil und das „Rechenbuch“ von 1482 darstellte, allerdings ist es naheliegend, dass Piero sein Leben lang lernte und eine wirkliche mathematische Ausbildung erst in Florenz nachholte.[30] Wie Philip Hendy anmerkt, war sein mathematisches Interesse nicht ausschließlich verantworlich für seinen künstlerischen Stil, doch “his excursions into mathematics must have helped to strengthen and refine his aesthetic sense of balance, his love of order, of clarity, of precision, providing a more or less unconscious discipline when he was laying down the lines of his composition.”[31]

Auch über Pieros Ausbildung zum Maler liegen kaum Dokumente vor, aus den 1430ern sind fünf gemeinsame Aufträge mit seinem Meister bekannt.[32] Es handelte sich immer um einfache Arbeiten, etwa das Bemalen von Kerzenständern oder Stoffbannern. Nach jedem politischen Regierungswechsel musste das Wappen des Herrschers an die Stadttore gemalt werden, nach der päpstlichen Übernahme der Stadt 1430 wurden Antonio und Piero dazu beauftragt, neben das Wappen malten sie sechs Fahnen.[33] Carlo Bertelli argumentiert, dass sich diese Arbeiten im Bereich der Heraldik, so schlicht sie auch waren, prägend auf Piero ausgewirkt zu haben scheinen: „In einem Wappen werden die intendierten Darstellungen auf ein zweidimensionales, geometrisches Schema reduziert, denn die Ausdrucksmittel der Heraldik sind Formen und Farben, wobei die Farben häufig spiegelbildlich umgekehrt werden. […] Eine Fahne ist zudem ein außergewöhnliches Kunstobjekt. […] Die Fahnen, welche Piero später in seine Schlachten-Fresken in Arezzo einfügen sollte, belegen diese Aspekte nachhaltig.“[34]

Tatsächlich lässt sich besonders am Beispiel der „Schlacht zwischen Heraklius und Chosroes“ (Abb. 1) aus dem Freskenzyklus Pieros Faszination für das Fahnenmotiv und sein außergewöhnlicher Umgang mit diesem beobachten. Die in den Himmel gereckten Fahnen unterscheiden sich alle in Farbe und Form und werden auf verschiedenste Weise von Wind und Menschenkraft bewegt: die eine ist nach vorne hin aufgebläht, eine andere zur Seite ausgedehnt, eine weitere hängt gar schlaff hinab, die nächste ist in der Mitte zerrissen, doch das Loch in die Verkrümmung mit eingearbeitet. Durch die Darstellung entsteht eine besondere Dynamik im Bild. Auch das Umkehren der Farben ist ein typisches Merkmal von Pieros Arbeiten, besonders seine Vorliebe für gekreuzte Rot-Grün-Darstellungen ist auffällig, etwa in der „Madonna del Parto“ in Monterchi (Abb. 2) an den beiden Engeln oder im Fresko der „Auferstehung Christi“ (Abb. 6) an den Soldaten in der unteren Bildhälfte. Diese Affinität könnte Piero in seinen Anfangsjahren als Maler entwickelt haben.

Spiegelbildliche Umkehrung sorgt auch im Bereich der Komposition für Balance und die für Piero so typische Ordnung und Ruhe der Darstellung. Wieder können die begleitenden Engel der „Madonna del Parto“ zum Beispiel herangezogen werden, die sich so sehr ähneln, dass die Vermutung nahe liegt, dass Piero für beide den selben Karton nutzte, einmal dessen Vorderseite, beim zweiten Mal die Rückseite, wodurch die Engel zu nahezu identischen Doppelgängern werden und das Fresko symmetrisch ausbalanciert wird.[35] Die farbliche Kreuzung aus Rot- und Grüntönen hingegen sorgt für Abwechslung in der Darstellung: sind die Socken und Flügel des linken Engels rot und dessen Gewand grün, verhält es sich bei seinem Spiegelbild genau umgekehrt. Clark stellt fest: „Perhaps only a painter brought up in the traditions of heraldry and receiving his first instruction, it may well be, from a painter of flags and banners, could have employed so unselfconsciously this elementary form of balance.”[36] Pieros Bedürfnis nach Wiederholung als Stilmittel in seinen Werken und seine Fähigkeit, was immer er sah in einfache geometrische Formen zu übertragen, könnte er in seiner Anfangsphase als Malergehilfe erworben haben und mit in seinen späteren Stil eingearbeitet haben.[37]

Auch in der Darstellung von Stoffen und Materialien merkt man Pieros Arbeiten einen vertrauten Umgang mit diesen an. Banker schreibt: “In his painting of the objects produced by the artisans of his world Piero was not simply representing the physical world; he chose to capture in paint the labor of the artisans in minutest detail and beauty.”[38] Zwar sind Pieros Gewänder meist schlicht, doch liegt deren Schönheit in ihrer überzeugenden Materialität, so etwa der wuchtige, raumfüllende rote Mantel des Evangelist Johannes im Altarbild von Sant’Agostino. Auch der verzierte, lederne Einband des dicken Buches in seinen Händen wirkt so realistisch, wie Piero das nur in der Praxis bei seinem Vater, einem ehemaligen Lederhändler, erlebt haben konnte. So schlussfolgert auch Carlo Bertelli, dass „Pieros Geschick in der Darstellung der Gewänder [..] seine direkten Wurzeln in der Familientradition [hat].“[39] Die Akribie mit der Piero seine Objektwelt registriert, die wirklichkeitsgetreue Darstellung von Stoff, Waffen, Sattelzeugs, Gewändern und Rüstungen zeugen von einer sehr praktischen Sichtweise seiner Umgebung, so wie es ihm in seinen frühen Erfahrungen als Maler vermittelt wurde. Sie waren sicherlich förderlich für die Detailtreue und Präzision seiner späteren Werke.[40]

Die angestellten Beobachtungen aus der historischen Betrachtung der Stadt Sansepolcro, sowie ein biographischer Blick auf Pieros frühe Jahre lassen als erste Schlussfolgerungen zu, dass sich die dualistische soziale Herkunft des Malers als nachhaltig prägend herausstellte. Zum einen scheint Pieros Entwicklung als Maler in gewissem Maße in Verbindung zur Handwerkskultur der Stadt zu stehen, die er in seine Werke mit einarbeitete. Die berufliche Umorientierung des Vaters, welche sicher auch für Piero wegweisend sein sollte, machte ihn mit den Aufgaben und Problemen, mit denen sich ein Kaufmann alltäglich befasst, vertraut. Das dürfte in ihm ein erstes Interesse an der Mathematik und Wissenschaft geweckt haben, die er sein Leben lang weiter verfolgte. Wie Banker erklärt, überschritt er – ähnlich wie später Leonardo da Vinci – die Grenze zwischen Theorie und Praxis.[41]

In Sansepolcro waren die Aufgabenbereiche von Handwerkern und Künstlern miteinander verwoben, man kannte sich in der kleinen Stadt und half sich gegenseitig aus, etwa bei banalen Reparaturarbeiten.[42] In dieser Umgebung machte Piero seine ersten Schritte als Maler und erwarb gewisse praktische Fähigkeiten, doch schon bald nach seiner Ausbildung akzeptierte er keine dieser simplen Aufträge mehr, wie auch der Vater schien er nach Höherem zu streben. Die Reise in die große Stadt Florenz war die logische Folge: Sansepolcro hatte keine bedeutende künstlerische Tradition (zur Ausnahme gehören die vorgestellten Werke in Kapitel 3) oder große Künstlerfamilien vorzuweisen, die ihm neues Wissen hätte vermitteln können, auch in seiner eigenen Familie mangelte es an Vorfahren in den bildenden Künsten.[43]

2.3 Kunst für die Stadt

Im vorherigen Kapitel habe ich gezeigt, inwiefern die profilierte Kultur Sansepolcros zwischen Handwerk und elitärem Kaufmannsleben als maßgeblich in Pieros Karriere angesehen werden kann und wie dieser die beiden Kulturen der Stadt überbrückte. Wie James R. Banker argumentiert auch der britische Kunsthistoriker Michael Baxandall in seinem Buch „Die Wirklichkeit der Bilder“ aus einer sozialhistorischen Perspektive und betont, wie die Kunst- und die Sozialgeschichte miteinander verbunden sind und sich gegenseitig neue Erkenntnisse vermitteln können.[44] Baxandall zeigt, wie sich aus der Gesellschaft heraus gewisse Fähigkeiten und Gewohnheiten entwickeln, die sich dann wiederum im Stil eines Malers zurückverfolgen lassen.[45]

Zuerst einmal ist es wichtig zu erkennen, dass ein Maler bei seiner Arbeit keinesfalls ganz eigenständig vorgehen konnte. Es gab immer einen Auftraggeber und einen Vertrag, der meist sehr genau vorgab, welche Motive der Maler wie darstellen sollte.[46] Beide, Maler sowie Patron, handelten hierbei im Sinne gewisser Institutionen – da es sich im Quattrocento meist um religiöse Auftragswerke handelte: der Kirche – und Konventionen – etwa in der Darstellung biblischer Figuren oder im Sinne einer lokalen Bildtradition.[47] Auch die Gesellschaft, oder genauer der Betrachter – ob nun Geistlicher, Intellektueller oder Arbeiter, stellte gewisse Ansprüche an das Werk (ob nun berechtigt oder insgeheim), welches etwa bestimmten Sehgewohnheiten gerecht werden sollte. Zudem musste das Bild eine bestimmte Funktion erfüllen: im religiösen Kontext sollte das Bild „seine Geschichte für die einfachen Menschen klar erzählen, ins Auge fallend und leicht erinnerbar für die Vergeßlichen [sic!] und unter voller Ausschöpfung aller emotionalen Mittel des Sehsinnes als des mächtigsten wie auch des genauesten der Sinne.“[48] Die Verbindung des Geistlichen und des Weltlichen im Alltagsleben, der Stadtpolitik und dem Berufsleben war typisch für die Renaissance und zeigt sich auch deutlich am Beispiel der Stadt Sansepolco.[49]

So wie sich die Kultur der Zeit von der unsrigen unterscheidet, so war auch die Wahrnehmung der Menschen des Quattrocento eine andere. Baxandall argumentiert, dass die Art und Weise, wie diese an ein Kunstwerk herangingen und dieses interpretierten, abhängig war von ihrer Erfahrung und Bildung.[50] Bei manchen Bildern sind bestimmte Wahrnehmungstechniken wichtiger als andere. Baxandall unterscheidet hier verschiedene Herangehensweisen in der Malerei: zum einen die ‚getanzte‘ Art Botticellis, zum anderen die ‚gepredigte‘ Art Fra Angelicos, jeweils bedingt durch die umgebende Gesellschaft und deren Traditionen und Fähigkeiten. Im Falle des Dominikanermönches Fra Angelico etwa unterstützen die Bilder die stille Einkehr seiner Klosterbrüder.[51] Baxandall betont, dass der Geist des Publikums keine „leere Tafel“[52] ist, dieser also immer bereits gemachte (Seh)-Erfahrungen in die Betrachtung eines Bildes mit einbringt, oder er bereits andere Visualisierungen desselben Sujets kennt. Zudem hat der Gläubiger auch eine eigene, innere Visualisierung zur Aufgabe, wie etwa ein Meditationsvorschlag aus einem zeitgenössischen Handbuch für junge Mädchen beweist, der dazu aufruft, sich Orte und Personen im Kopf auszumalen: „[..] zum Beispiel eine Stadt, die die Stadt Jerusalem sein wird; zu diesem Zwecke wählst du eine Stadt, die du [die Betende] gut kennst.“[53] Diese Anmerkung wird auch zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Arbeit noch von Bedeutung sein.

[...]


[1] Vgl. cole, Bruce, Piero della Francesca: Tradition and Innovation in Renaissance Art, New York 1991, S. 153f.

[2] banker, James R., The Culture of San Sepolcro during the Youth of Piero della Francesca, Ann Arbor, Michigan 2003, S. 1.

[3] silver, Nathaniel, Piero “in terra nostra“: Image-Making for Borgo San Sepolcro, in: Piero della Francesca in America, hg. v. Nathaniel Silver, New York 2013, S. 27.

[4] Banker 2003, S. 12.

[5] Vgl. banker, James R., Death in the Community, Athens, Girogia 1988, S. 33. Sansepolcro war mit seinen 4.397 Einwohnern in 1427 die drittgrößte Stadt im florentiner Staat nach Florenz selbst (37.246 Einwohner) und Pisa (welches zu der Zeit zu Florenz gehörte, 7.333 Einwohner). Das naheliegende Arezzo war mit 4.152 Einwohnern zu der Zeit sogar kleiner als Sansepolcro. Zum Vergleich: Siena in der rivalisierenden Toskana hatte zu der Zeit etwa 25.000 Einwohner. Zitiert nach: Sassetta. The Borgo San Sepolcro Altarpiece I, hg. v. Machtelt Israëls, Florenz 2009, S. 15(n51).

[6] clark, Kenneth, Piero della Francesca, London 1969, S. 10.

[7] Vgl. Banker 2003, S. 1.

[8] Vgl. Banker 2003, S. 14.

[9] hendy, Philip, Piero della Francesca and the Early Renaissance, New York 1968, S. 19.

[10] Für weitere Ausführungen siehe Banker 2003, S. 20ff.

[11] Vgl. Hendy 1968, S. 47.

[12] Vgl. Hendy 1968, S. 19.

[13] Ibid.

[14] Bertelli, Carlo, Piero della Francesca, Köln 1992, S. 13.

[15] Vgl. Ibid.

[16] Vgl. Gardner von Teuffel, Christa, Niccolo di Segna, Sassetta, Piero della Francesca and Perugino: Cult and Continuity at Sansepolcro, in: Städel-Jahrbuch, Neue Folge Band 17, hg. v. Herbert Beck, Frankfurt am Main 1999, S. 163.

[17] Vgl. ahl, Diane Cole, The Misericodia Polyptych – Reflections on Spiritual and Visual Culture in Sansepolcro,, D,, in: The Cambridge Companion to Piero della Francesca, hg. v. Jeryldene M. Wood, Cambridge 2002, S. 16.

[18] Vgl. Gardner von Teuffel 1999, S. 163.

[19] Vgl. Gardner von Teuffel 1999, S. 173.

[20] Vgl. lavin, Marilyn Aronberg, Piero della Francesca’s Baptism of Christ, New Haven 1981, S. 29.

[21] Vgl. Gardner von Teuffel 1999, S. 164.

[22] Vgl. lavin, Marilyn Aronberg, Artist’s Art in the Renaissance, London 2009, S. 50.

[23] Vgl. Banker 2003, S. 97.

[24] Vgl. Banker 2003, S. 143.

[25] Vgl. Banker 2003, S. 136ff. Banker geht hier genau auf die Diskussion unter Kunsthistorikern über das Geburtsdatum Pieros ein und beschreibt, wie Longhi, Battisti und andere sich ein spätes Geburtsdatum, für das es keine dokumentarischen Beweise gibt, zurechtlegen, um Piero zum Kind der Florentiner Schule zu erklären. Dass der Aufenthalt in Florenz prägend war für den jungen Maler steht außer Frage, kann in dieser Arbeit aber nicht genauer behandelt werden. Als Belege für das frühe Geburtsdatum führt Banker Dokumente an, laut denen Piero 1431 bereits ein kleines Gehalt bekam und 1432 als „Maler“ bezeichnet wird, was eine abgeschlossene Ausbildung zu der Zeit nahelegt.

[26] Auch auf den von seinem Lehrer Antonio vermittelten Stil lässt sich nicht schließen, da keines seiner Werke überliefert ist, siehe Banker 2003, S. 173.

[27] grendler, Paul F., What Piero Learned in School, in: Piero della Francesca and His Legacy, hg. v. Marilyn Aronberg Lavin, Washington 1995, S. 167.

[28] Vgl. WOOD, Jeryldene M., Introduction, in: The Cambridge Companion to Piero della Francesca, hg. v. Jeryldene M. Wood, Cambridge 2002, S. 2.

[29] Grendler 1995, S. S. 161-174 und Banker 2003, S. 57-92 widmen sich der Diskussion um die Schulbildung in Sansepolcro, beziehungsweise im Italien der Renaissance generell, und versuchen sich an Schlussfolgerungen auf den konkreten Einzelfall Piero della Francescas. Wie allerdings Banker feststellt, kann weder nachgewiesen werden, dass Piero eine Lateinschule besuchte, da auch seine späteren mathematischen Abhandlungen in der einfachen Umgangssprache Sansepolcros verfasst wurden, noch kann eine sogenannte abaco Schule, die eine Grundausbildung im kaufmännischen Rechnen vermittelte, in Sansepolcro nachgewiesen werden. (Banker 2003, S. 88)

[30] Vgl. Grendler 1995, S. 170.

[31] Hendy 1968, S. 12.

[32] Vgl. Banker, James R., The Altarpiece of the Confraternity of Santa Maria della Misericordia in Borgo Sansepolcro, in: Piero della Francesca and His Legacy, hg. v. Marilyn Aronberg Lavin, Washington 1995, S. Ba24.

[33] Vgl. Bertelli 1992, S. 7.

[34] Bertelli 1992, S. 8.

[35] Die mehrfache Nutzung desselben Kartons findet man in vielen von Pieros Werken. Banker bezieht auch diese Technik auf Pieros Erfahrung in der Heraldik (Banker 2003, S. 204) und verweist auf Beobachtungen von Maurizio Calvesi, Piero della Francesca, New York 1998, S. 15-16.

[36] Clark 1969, S. 46.

[37] Vgl. Clark 1969, S. 46.

[38] Banker 2003, S. 251.

[39] Bertelli 1992, S. 13.

[40] Die Detailgetreue wurde oft auch als flämischer Einfluss interpretiert. Piero könnte während seiner Zeit in Ferrara am Ende der 1440er in Kontakt mit flämischen Malern gekommen sein. Banker jedoch empfindet die simple Existenz von Vorbildern jedoch nicht als überzeugend, da Piero wesentlich mehr schafft als pure Imitation. Für ihn ist Pieros Darstellung deutlich eher aus der Realität inspiriert, als der Kunst: Banker 2003, S. 204f.

[41] Vgl. Banker 2003, S. 160. Banker beschreibt den Unterschied zwischen den zwei Kulturen der intellektuellen Elite, mit Lateinbildung und Universitätsabschluss auf der einen, und der ungelehrten Mehrheit der Handwerker auf der anderen Seite, nur wenige, die sogenannten tecnici überschritten diese Grenze, neben Piero zählt Leonardo da Vinci als weiteres Beispiel. Diese tecnici hatten keine Universität besucht, konnten aber lesen, schreiben und etwas Latein.

[42] Vgl. Banker 2003, S. 162.

[43] Vgl. Banker 2003, S. 162.

[44] Vgl. baxandall, Michael, Die Wirklichkeit der Bilder, Berlin 2013, S. 10.

[45] Vgl. Baxandall 2013, S. 9.

[46] Als Beispiel für einen solchen Vertrag wäre jener für Pieros Madonna della Misericordia von 1445 zu nennen, de facto der einzig überlieferte Vertrag, der in Zusammenhang mit Piero della Francesca steht. Siehe Baxandall 2013, S. 39-41. Dieser legt fest, dass allein Piero – und keiner von dessen Gehilfen – Hand anlegen durfte, welche Farben er besonders benutzen sollte und in welcher Zeit die Fertigstellung gefordert war (eine Klausel, an welche sich Piero allerdings nicht gehalten hat).

[47] Vgl. Baxandall 2013, S. 13.

[48] Baxandall 2013, S. 70.

[49] Vgl. Cole 1991, S. 82. Cole beschreibt, dass in Sansepolcro, wie in vielen Städten der Renaissance, das religiöse und säkulare Leben in der Stadtregierung, im Handel und auch sonstigen Alltagsbereichen ineinander überging. Während sich die Berufs- Geistlichen aus bürgerlichen Entscheiden eher heraushielten (nach: Banker 2003, S. 25), war es vor allem die ausgeprägte Kultur der Laienbruderschaften und die Stadtgemeinschaft, die sich für Religion im Alltag einsetzte und sich verantwortlich fühlte. Das hat sich auch auf die Kunst übertragen, etwa in dem deutlich lokale Charaktere oder Beati in den Bilder dargestellt wurden. Beispiele sind der Heilige Ranieri aus Sansepolcro in Sassettas Borgo San Sepolcro Altar oder die Gründungsheiligen der Stadt, Arcano und Egidio, in Pieros Madonna della Misericordia.

[50] Vgl. Baxandall 2013, S. 52.

[51] Vgl. Baxandall 2013, S. 221.

[52] Baxandall 2013, S. 45.

[53] Baxandall 2013, S. 78.

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Piero della Francesca und Sansepolcro. Die Beziehung einer Stadt und ‚ihrem Künstler‘
Hochschule
Universität Konstanz
Note
2,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
49
Katalognummer
V275579
ISBN (eBook)
9783656686101
ISBN (Buch)
9783656686071
Dateigröße
7430 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
piero, francesca, sansepolcro, beziehung, stadt, künstler‘
Arbeit zitieren
Sandra Kuberski (Autor:in), 2013, Piero della Francesca und Sansepolcro. Die Beziehung einer Stadt und ‚ihrem Künstler‘, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275579

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