Der sechste Tag des "Decameron". Madonna Oretta und die Kunst der Erzählens


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Der sechste Tag des Dekameron
2.1 Einleitung zum sechsten Tag
2.2 II leggiadro motto
2.3 Erzählschema des sechsten Tages

3. Novelle 1
3.1 Einordnung in das Gesamtwerk
3.2 Inhalt der Novelle
3.3 Handelnde Personen
3.4 Ort und Zeit der Handlung
3.5 Themen und Topoi
3.5.1 Das mottoder Madonna Oretta
3.5.2 Das Erzählen in itinere
3.5.3 Die Kunst des Erzählens

4. Schlussbetrachtung

5. Literaturangabe

1. Einleitung

Als letzter der legendären «tre corone» erblickt Giovanni Boccaccio 1313 das Licht der Welt. Zusammen mit Dante Alighieri und Francesco Petrarca formiert er jenes strahlende Dreigestirn, das im 14. Jahrhundert eine literarische Blütezeit hervorbrachte.[1] Doch nicht nur als Autor des Decameron kam Boccaccio zu Ansehen, auch als Wegbereiter des Humanismus machte er von sich reden.[2]

Inhaltlich neu ist bei Boccaccio, dass tragische und komische Figuren gleichzeitig präsentiert werden, was einen reizvollen Wechsel von Ernst und Scherz mit sich bringt. Neben der Mannigfaltigkeit des Inhalts, der unterschiedlichen Motive und Stimmungen sowie der Fülle an Schauplätzen, alternieren Menschen aller sozialen Klassen: Wir lesen von Königen, Fürsten und Rittern, Richtern, Bürgermeistern, Notaren, Ärzten, Kaufleuten, Handwerkern, Geistlichen und Bauern ebenso wie von Damen und Dirnen, treuen wie untreuen Ehefrauen, verliebten Witwen und heiratswilligen Mädchen.[3] Mit der von Boccaccio vorgenommenen Verflechtung der anderswo getrennten Milieus führt er uns die Diskrepanz zwischen Tugend und Laster, zwischen Gut und Böse vor Augen, jedoch zeigt er uns all diese Verhaltensweisen, ohne die Menschen zu verurteilen. Sein Meisterwerk, das Decameron, verschafft uns auf bisher unvergleichlich realistische Art und Weise einen Einblick in die Gesellschaft des 14. Jahrhunderts und erhebt ihn zum Begründer der Novellentradition.[4]

Die vorliegende Hausarbeit setzt sich zum Ziel, einen Einblick in die Erzählkunst des Boccaccio zu vermitteln.

Zunächst gehe ich auf den sechsten Tag ein. Ich behandle dabei seine Einleitung, sein Thema sowie sein Erzählschema, bevor im dritten Kapitel dann die erste Novelle des sechsten Tages explizit thematisiert wird.

In der Schlussbetrachtung sollen die gewonnen Erkenntnisse in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden.

2. Der sechste Tag des Dekameron

2.1 Einleitung zum sechsten Tag

Am Vorabend des sechsten Tages schlägt Elissa folgendes Thema vor: ”[…] voglio che domane con l’aiuto di Dio infra questi termini, si ragioni, cioè di chi, con alcun leggiadro motto tentato, si riscotesse, o con pronta risposta o avvedimento fuggí perdita o pericolo o scorno.“[5] Bevor der erste Erzähler, in diesem Falle Filomena, seine Geschichte zum Besten geben kann, ertönt jedoch von der Küche her ein gewaltiger Lärm. Dort nämlich tragen Licisca, Filomenas Magd, und Tindaro, der Diener Filostratos, einen lauthalsen Streit darüber aus, ob die Mädchen jungfräulich in die Ehe gehen sollen oder eher nicht. Tindaro glaubt an die voreheliche Jungfräulichkeit, wohingegen Licisca fest davon überzeugt ist, dass es diese nicht gibt und ihren Standpunkt mit den Worten verficht: ”[…] le giovani [non] sieno sí sciocche, che elle stieno a perdere il tempo […]“[6]. Womit die Mädchen, anstelle des Wartens, ihre Zeit verbringen, tut sie im feinsten Küchenhumor kund und macht dabei auch nicht vor Beschimpfungen ihres Gegenübers halt. Während sie sich immer weiter in Rage redet, ”[…] facevan le donne sí gran risa, che tutti i denti si sarebbero loro potuti trarre […].“[7] Elissa versucht mehrfach die Magd zur Räson zu rufen. Doch ”[…] ella non ristette mai infino a tanto che ella ebbe detto ciò che ella volle.“[8] Anschließend legt Elissa fest, dass Dioneo am Ende des Tages, wenn alle Novellen erzählt sind, entscheiden möge, welcher der beiden Streithähne Recht hat. Er fällt sein Urteil jedoch sofort; für ihn steht fest, dass Licisca im Recht ist. Dass Dioneo auf diese Weise urteilt, sollte nicht weiter verwundern, lebt er doch selbst getreu dem Motto „Carpe diem“ und wird von Elwert als „der frohgemute Lüstling“[9] charakterisiert.

Im Kontext des Decameron ist dieser Streit als außergewöhnlich zu bewerten. Denn einerseits ist es das einzige Mal, dass die Bediensteten seit ihrer Einführung beim Namen genannt werden[10], und andererseits wird der stilistisch erhabene Stil abgelöst von einem komischen, fast pöbelhaften Ton, der die sonst so friedliche und idyllische Atmosphäre durchdringt.[11] Den Namen Licisca assoziiere ich mit dem Adjektiv licenzioso, was „zügellos“ bedeutet. Mit diesem Wissen im Hinterkopf ist es wenig verwunderlich, dass ihre Ausdrücke fast schon vulgär und ihre Verhaltensweisen unangebracht sind. Als Tindaro von Elissa nach dem Grund des Streits befragt wird, fällt Licisca ihm ins Wort und antwortet an seiner Stelle. Dies kann sicher als Vorschau auf das gedeutet werden, was in VI 1 passiert, denn auch da unterbricht die Frau den Mann – obgleich auf nicht so plumpe Art.

Generell kann festgehalten werden, dass dieser impulsive Zwischenfall gleich in doppelter Hinsicht als Negativbeispiel für das Tagesthema dient, denn weder Licisca noch Tindaro beherrschen die Kunst des motteggiare. Zwar animiert Licisca die Damen zum Lachen, jedoch nicht aufgrund ihres geistreichen Wortwitzes, sondern vielmehr wegen ihrer ungezügelten Derbheit. Auch Tindaro ist als Exempel ungeeignet – schließlich verstummt er im Angesicht von Liciscas Suada und weiß sich nicht mittels eines leggiadro motto zu helfen.[12]

2.2 Il leggiadro motto

Unter einem motto versteht man heute, ebenso wie zu Zeiten Boccaccios, ein ”detto arguto und spiritoso“[13]. „Anders als im Deutschen bedeutet motto hier nicht den sentenzenartigen Ausspruch, sondern die schnelle, geistreiche, schlagfertige und deshalb witzige Antwort oder Pointe.“[14]

Betrachten wir Pampineas einleitende Worte in I 10, 3: ”[…] come ne’ lucidi sereni sono le stelle ornamento del cielo e nella primavera i fiori ne’ verdi prati, cosí de’ laudevoli costumi e de’ ragionamenti piacevoli sono i leggiadri motti“, so stellen wir fest, dass wir ihrer Äußerung eine regelrechte Begeisterung für motti entnehmen können, die sich zur Zeit der Abfassung des Decameron in einem wahrhaftigen „Kult des treffenden Ausspruchs“[15] äußerte. Das motteggiare wurde zu einer virtù mit einem hohen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad. Diesen Eindruck bestätigt bereits der erste Tag, an dem jeden freisteht zu erzählen, was ihm beliebt, Fiammetta aber nach dem vierten Beitrag erfreut feststellt: ”[…] [di] essere entrati a dimostrare con le novelle quanta sia la forza delle belle e pronte risposte […]“[16]. Verbale Gewitztheit stand in der Toskana des 13. und 14. Jahrhunderts durchaus auf der Tagesordnung: „Unter den Hofmännern des Mittelalters waren der Witz, die scharfzüngige Antwort, die schnelle, treffende Zurechtweisung oder der versteckte Tadel keineswegs weniger beliebt als an den Höfen Europas zu Zeiten der Renaissance.“[17] Jene Aussage wird auch durch ein zu Lebzeiten Boccaccios entstandenes Anstandsbuch, das Libro di buoni costumi, welches zahlreiche Regeln zum standesgemäßen Sprechen sowie zum motteggiare enthält und als „Spiegel der Sitten- und Tugendhaftigkeit“[18] der damaligen Zeit gelesen werden kann, verifiziert. Ähnlich wie Paolo da Certaldo mit seinem Libro di buoni costumi gibt auch Boccaccio Ratschläge zur adäquaten Verwendung der Sprache. Da nicht jedermann im Stande war, mit Scherzworten, wie die motti oft im Deutschen bezeichnet werden, situationsgemäß umzugehen, war es sein Bestreben, jene, die dazu noch nicht in der Lage waren, mit ”utile consiglio“[19] zu unterstützen.[20] Dass dies primär Frauen sind, erfahren wir am Ende des ersten Erzähltages: (Pampinea:) ”[…] oggi poche o niuna donna rimasa ci sia la quale o ne ’ntenda alcun leggiadro o a quello, se pur lo ’ntendesse, sappia rispondere […]“[21].

Bereits in diesen Worten offenbart sich Boccaccios didaktische Absicht. Zu „Lern- und Nachahmungszwecken“[22] formuliert er Novellen, die als Lehrstücke gedacht sind, um den Damen die abhanden gekommene Fähigkeit, sich mittels Worten zu verteidigen, zurückzugeben.[23] Auch Filomena weist in VI 1, 3 erneut auf die Zweckdienlichkeit der motti hin und gibt, analog zu Pampinea, zu bedenken, dass es nur wenige, vielleicht sogar keine Frauen mehr gibt, die dazu im Stande sind, zur rechten Zeit das rechte zu sagen bzw. das Gesagte richtig aufzufassen. Doch Boccaccio gibt den Damen nicht nur Musterbeispiele für Scherzworte an die Hand, er übermittelt zudem Regeln für deren Verwendung. So dürfen jene ein bestimmtes Niveau nicht unterschreiten: ”[…] vi voglio ricordare essere la natura de’ motti cotale, che essi, come la pecora morde, deono cosí mordere l’uditore e non come ’l cane: per ciò che, se come il cane mordesse il motto, non sarebbe motto ma villania.“[24] Angemahnt wird demnach ein Ethos, das verletzende Witze verbietet. Es gibt jedoch Ausnahmen - wurde man selbst „Opfer“ eine rüpelhaften Aussage, dann darf man sich auch mit einer groben Replik verteidigen: È il vero che, se per risposta si dice e il risponditore morda come cane, essendo come da cane prima stato morso, non par da riprender come, se ciò avvenuto non fosse, sarebbe […]“.[25] Allerdings sollten motti generell nur da angewandt werden, wo die Situation es tatsächlich erfordert: ”[…] bella cosa è in ogni parte saper ben parlare, ma io [Filostrato, Anm. d. Verf.] la reputo bellissima quivi saperlo fare dove la necessità il richiede […]“.[26]

Zahlreiche Beispiele für den Einsatz von Sprachwitz finden sich bereits im Novellino, der ältesten italienischen Novellensammlung aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Eine Innovation gegenüber diesem Werk ist, dass bei Boccaccio auch Frauen Urheberinnen geistreicher Pointen sind. Das dürfte allerdings angesichts seines didaktischen Interesses nicht weiter verwundern: „Es wäre wenig sinnvoll, den Damen […] die vorgeführten Formen des Einsatzes von Scherzworten zur Nachahmung zu empfehlen und als erfolgreiche Verwender dieser motti vorrangig Männer zu präsentieren.“[27]

[...]


[1] Vgl. Elwert, Wilhelm Theodor (1980): Die italienische Literatur des Mittelalters, München: Francke, S. 204.

[2] Vgl. ebd., S. 206f.

[3] Vgl. ebd., S. 216.

[4] Vgl. Kölsch, Hanskarl (2012): Boccaccio. Decameron, Norderstedt: Books on Demand, S. 17.

[5] Boccaccio, Giovanni (1992): Decameron, a cura di Vittore Branca, 2 Bände, Torino: Einaudi, VI Con-clusione, 3. Zur Zitierweise: Im Folgenden bezeichnen die römischen Ziffern den Erzähltag, die arabischen die Novelle des jeweiligen Tages; arabische Ziffern, die durch ein Komma von diesen beiden Angaben bzw. der Angabe Introduzione getrennt sind, beziehen sich auf die in Brancas Ausgabe nummerierten Perioden der Novelle bzw. der Introduzione.

[6] VI Introduzione, 9.

[7] VI Introduzione, 11.

[8] Ebd.

[9] Elwert (1980), S. 215.

[10] Vgl. I Introduzione, 98-101.

[11] Vgl. Richardson, Brian (1973): ”Onomastica boccacciana. ʻ La moglie di Sicofante ʼ , in: Lingua nostra, XXXIV, S. 42-44.

[12] Vgl. Dicke, Gerd (2005): „Fazetieren. Ein Konversationstyp der italienischen Renaissance und seine deutsche Rezeption im 15. und 16. Jahrhundert“, in: Lutz, Eckart (Ed.) et al.: Literatur und Wandmalerei. II: Konventionalität und Konversation, Tübingen: Niemeyer, S. 155-188, S. 155f.

[13] Zingarelli, Nicola (2004): ”Motto“, in: Ders.: Lo Zingarelli. Vocabolario della lingua italiana, Bologna: Zanichelli, S. 1143.

[14] Arend, Elisabeth (2004): Lachen und Komik in Giovanni Boccaccios Decameron , Frankfurt am Main: Klostermann, S. 296.

[15] Salwa, Piotr (1995): „Lorenzo il Magnifico und die Fazetie“, in: Heintze, Horst/Staccioli, Giuliano/ Hesse, Babette (Hg.): Lorenzo der Prächtige und die Kultur im Florenz des 15. Jahrhunderts, Berlin: Duncker & Humblot, S. 87-99, S. 88.

[16] I 5,4.

[17] Jaeger, Charles Stephen (2001): Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter, Berlin: Schmidt, S. 225f.

[18] Jakobs, Béatrice (2006): Rhetorik des Lachens und Diätetik in Boccaccios Decameron , Berlin: Duncker & Humblot, Anm. 133, S. 297.

[19] Proemio, 14.

[20] Vgl. Jakobs (2006), S. 299.

[21] I 10, 4.

[22] Jakobs (2006), S. 300.

[23] Vgl. Arend (2004), S. 298.

[24] VI 3, 3.

[25] VI 3, 4.

[26] VI 7, 3.

[27] Jakobs (2006), S. 303.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Der sechste Tag des "Decameron". Madonna Oretta und die Kunst der Erzählens
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
23
Katalognummer
V275757
ISBN (eBook)
9783656680567
ISBN (Buch)
9783656680550
Dateigröße
529 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Boccaccio, tre corone, Decameron, motto, motteggiare, Tag 6., Madonna Oretta
Arbeit zitieren
Patrizia Scamarcio (Autor:in), 2013, Der sechste Tag des "Decameron". Madonna Oretta und die Kunst der Erzählens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275757

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