Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas" im Zwiespalt zwischen Recht und Gerechtigkeit


Hausarbeit, 2011

24 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Kleist und die Rechts- und Staatsphilosophien seiner Zeit
2.1. Naturrecht bei Hobbes und Rousseau
2.2. Adam Müllers Staatstheorie
2.3. Das Recht des Staates in Europa und Preußen

3. Michael Kohlhass im Zwiespalt mit dem Recht auf dem Weg zur Gerechtigkeit
3.1. Der Anlass zur Rache
3.2. Der Rachefeldzug Michael Kohlhaas und seine Gefolgschaft
3.3. Das Gespräch mit Luther und die Amnestie
3.4. Dresden und der Rechtsspruch
3.5. Berlin und die Hinrichtung

4. Resümee

5. Bibliographie
5.1. Primärtext
5.2. Sekundärliteratur

1. Einleitung

Soziale Gemeinschaften beschäftigen sich seit Jahrhunderten mit einem Aspekt, der entscheidend zur Gestaltung ihres Zusammenlebens beiträgt - mit der Frage nach Recht und Gerechtigkeit. Anfangs drückte Gerechtigkeit allein die Übereinstimmung mit dem geltenden Recht aus.1 Seit längerem rückt gleichermaßen ihre moralische Bedeutsamkeit stärker in den Vordergrund. Aus objektiver Sicht wird hierbei die inhaltliche Richtigkeit des Rechts sowie subjektiv die Rechtschaffenheit eines Menschen betrachtet.2 So scheinen beide in einem kausalen Zusammenhang zu stehen. Der Mensch als moralisches Wesen handelt nach den inhaltlichen Vorgaben ihm bekannter Rechte. Die Rechte selbst sind mitunter Ergebnis der Vorstellungen einer moralischen Wertegemeinschaft. Dabei ist das Verlangen nach Gerechtigkeit allen Kulturen gleich. In diesem Sinne spricht Otfried Höffe ferner von der „gesamte[n] Menschheit als eine[r] Gerechtigkeitsgemeinschaft“3, der gemein das Gleichheitsgebot ist. Demnach sollte jedem dasselbe Recht geschehen, unabhängig von seiner Person.

Ein Zeugnis für die literarische Auseinandersetzung mit dem Thema Recht und Gerechtigkeit bildet bis heute Heinrich von Kleists 1810 veröffentliche Charakternovelle „Michael Kohlhaas“.4 Den Protagonisten Michael Kohlhaas und sein Verbrechen wählte Kleist nach einem historischen Vorbild aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, dessen Geschichte er nutzte, um ein Werk zu schaffen, welches Recht und Unrecht, Verbrechen und Strafe in einen großen geistigen Zusammenhang stellt.5

Gegenstand dieser Hausarbeit wird es sein, die Momente des Verbrechens in Augenschein zu nehmen, die ausschlaggebend für die Konstituierung des Unrechts am Protagonisten sind und ihn in den angenommenen Zwiespalt zwischen Recht und Gerechtigkeit treiben. Besondere Beachtung kommt dabei den Umständen zu, die das Auslösen und den Verlauf der Tat außerhalb juristischer Normen begünstigen, sowie dem Charakter des Verbrechers. Zuerst gibt die Arbeit einen Einblick in die Rechts- und Staatsphilosophien der Aufklärung, die den Anschein erwecken, maßgebend für das Verständnis von Rechtsverhältnissen bei Michael Kohlhaas und seiner Umwelt zu sein - folgend den Hinweisen, die das Agieren und Interagieren der Personen bietet. Zum besseren Verständnis des Textes wird die staatsrechtliche Situation jener Zeit in Europa und Preußen kurz abgerissen, da davon auszugehen ist, dass diese rechtlichen Umstände Kleists dichterisches Schaffen und rechtsphilosophisches Denken beeinflusst haben. Der zweite Teil der Arbeit widmet sich dann dem Wesen des Verbrechens und der Psyche des Michael Kohlhaas, im Hinblick auf sein Streben nach Recht und Gerechtigkeit in der bestehenden Rechts-Ordnung bzw. Rechts-Unordnung. Zu diesem Zweck wird die Erzählung in die fünf wichtigsten Ereignisetappen unterteilt. Abschließend versucht die Hausarbeit Stellung zu beziehen zur der Frage, ob dem Helden am Ende Gerechtigkeit durch das Recht geschieht. Von Interesse wird dabei sein, ob Kleist im Handlungsverlauf bzw. am Schluss für die Ambivalenz zwischen Recht und Gerechtigkeit eine Lösung findet - oder lässt er den Leser weiter im Unklaren? Zu erwarten ist im Anblick der Fülle unterschiedlicher Interpretationen zur Erzählung, dass Kleist mit seiner Novelle einen Text verfasste, welcher dem Rezipienten nicht zur schnellen Meinungsbildung verhilft, sondern durch Aufbau und Inhalt zum „Selbstkritischen Denken“6 anregen soll.

2. Kleist und die Rechts- und Staatsphilosophien seiner Zeit

Die Situation um 1800 ist geprägt durch eine Vielzahl gesellschaftlicher, kultureller, politischer und religionsgeschichtlicher Umbrüche. Während dieser Zeit beschäftigt sich Heinrich von Kleist im großen Maß mit Studien zur Rechtstheorie und Rechtspraktik sowie mit Staatstheorien.

Das Jahrhundert endet mit dem Siegeszug des neuzeitlichen Naturrechts, als zunächst vorwiegend geistig-theoretische Denkschule findet es immer mehr Eingang in die Praxis und nimmt Einfluss auf die Gesetzgebung.7 Deswegen wird in den folgenden Kapiteln auf ausgewählte Rechtsphilosophien, die sich am Naturrecht orientieren, sowie auf den Rechtsstaat um 1800 eingegangen.

2.1. Naturrecht bei Hobbes und Rousseau

Die allgemeine Grundannahme des Naturrechts („lex naturare“) ist die Auffassung, das jedem Menschen, unabhängig von Geschlecht, Alter, Ort, Ethnie, Zeit und Staatsform, „von Natur aus“ gegebene unveräußerliche Rechte zustehen. Demnach ist dem Menschen eine „naturrechtliche Grundnorm“ vorgelagert. Recht ergibt sich folglich aus der Gerechtigkeit, und Moralvorstellungen bestimmen die Rechts- auffassung.8

Wesentliches Handeln und Argumentieren des Protagonisten Michel Kohlhaas im Verlaufe seines Kampfes für Recht und Gerechtigkeit steht in der Tradition der Naturrechtslehre. Im 16. Jahrhundert stehen die meisten europäischen Staaten vor einer Ordnungs- und Legitimationskrise. Die christliche Kirche muss einen Machtverlust hinnehmen, welcher zur allmählichen Aufgabe ihres christlichen determinierenden Weltbildes in den entstehenden absolutistischen Staaten führt. Diese beruhen auf dem Legitimationsprinzip nach dem benötigten sie eine Begründung für ihren Anspruch, die widerstrebenden Machtinteressen auszugleichen.9

Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) entwickelt in seiner staatstheoretischen Abhandlung „Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil” (1651) eine Theorie deren einer Ausgangspunkt die Frage ist; Wie würde sich der Mensch verhalten, wenn das Staatsgefüge nicht mehr existieren würde? „Bellum omnium contra omnes“10, der Krieg aller gegen alle - ist Hobbes’ klare Antwort. Der Mensch im Naturzustand ist für ihn ein Mensch im Kriegszustand, der ein Recht auf alles hat, da jeder dem anderen gleich gestellt ist und über dieselben Mittel verfügt. In seiner Freiheit kann sein Programm nur die Selbsterhaltung und Lustmaximierung sein, was aus logischen Schlüssen zu einer Machtakkumulation führen muss, wenn eine regelnde Gewalt, in Form einer Staatsmacht, nicht vorhanden ist. Das Machtvakuum kann nicht zu einer friedlichen Sozialordnung führen. Die latente Bedrohung durch den Krieg bleibt immer bestehen, aufgrund der fehlenden Verbindlichkeiten zu sozialen Kooperationen.11

In seiner Vorstellung von einem primitiven Gesellschaftssystem siegt immer der Stärkere über den Schwächeren - „homo homini lupus“12, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Im Grunde ist der Mensch, nach Hobbes, von seiner Natur aus weder selbstlos noch schlecht. Sein Handeln allein ergibt sich aus den Bedingungen und Handlungszusammenhängen, die ihm der Naturzustand bietet. Folglich strebt in seinem Selbsterhaltungstrieb der Mensch nach einem gesicherten Frieden.13 Er ordnet seinen eigenen Willen dem Mehrheitswillen unter, zugunsten der eigenen und der allgemeinen Sicherheit, damit schließt er einen Gesellschaftsvertrag ab, dessen institutionelle Ausprägung die Schaffung eines Staates ist, welcher über die absolute Macht verfügt. Seine Aufgabe ist es zum Wohle des Volkes zu handeln, dem sich auch die Kirche unterzuordnen hat im Sinn einer Einheit des Ganzen.14

Hobbes schließt darüber hinaus in seiner Theorie ein Widerstandsrecht des Einzelnen aus, da dieses den Menschen wieder in einen Naturzustand zurückversetzen würde, folglich die Ursache des Wiedererwachens egoistischer Eigeninteressen und Gier wäre. Das Staatsprinzip als Selbsterhaltungsprinzip unter Ausschluss von Widerstand, hier liegt der Widerspruch in Hobbes’ Theorie.15 Wenn der absolutistische, vom Volk legitimierte Herrscher nicht zum Wohle des Volkes handelt - wie wehrt sich der Staatsbürger gegen ihn? Falls sein Agieren nicht dem allgemeinen Gerechtigkeitssinn entspricht und von Willkür geprägt ist? Derweil ihm nach Hobbes das Recht auf Widerstand, vor allem des gewaltsamen, verboten ist?

Diesen Widerspruch nimmt sich der französische Philosoph Jean Jacques Rousseau (1712-1778) zur Zeit der Aufklärung an. Seine Vorstellungen davon, was Staat und Recht leisten sollen, gehen auch auf den Menschen im „Naturzustand“ zurück. Dabei betrachtet er im Gegensatz zu Hobbes den Menschen nicht als Mitglied einer Gemeinschaft, sondern als nahezu isolierten Einzelgänger in seiner natürlichen Ordnung. Der natürliche Mensch („l’homme naturelle“) ist bei Rousseau in seiner Ursprünglichkeit im Wesen „gut“. Er verlässt sich auf sein Gefühl, das Grundlage seiner Selbstliebe („amour de soi-mêmê“) ist, aus der sich überdies sein Mitleid gegenüber anderen ableitet.16 Das Zusammenleben der Menschen ist ein gleichgültiges Nebeneinander. Akzeptanz finden die Grundsätzen von Freiheit („indépendance“) und Gleichheit („fraternité“). Sein Trieb ist einfacher Natur und beruht allein auf physischen Bedürfnissen. Hobbes wirft er in diesem Zusammenhang vor, gesellschaftliche Zustände in seiner Darstellung des Naturmenschen projiziert zu haben.17

Rousseau sieht im Menschen unter natürlichen Verhältnissen das Ideal der menschlichen Entwicklung. Das Entstehen von Vernunft und Kultur (Sprache, Wissenschaft, Kunst) sowie einer sozialen Gesellschaft und damit das Schaffen des Zivilmenschen („homme civilisé“), ist für ihn Anfang allen Unglücks. Der Mensch einer Zivilgesellschaft ist nun viel mehr getrieben durch die „Selbstsucht“ („amour- probre“) ohne die ihm natürlich zustehende Gleichheit. Erst durch Eigentum und Arbeitsteilung tritt der Mensch in den Kampf alle gegen alle ein. Sein positives Bild vom Menschen im Naturzustand wandelt sich augenblicklich in ein negatives mit dem Übergang zur Zivilgesellschaft - eine Umkehr der Theorie von Hobbes. Zwar hält Rousseau diese Entwicklung für schädlich, erkennt sie aber durchaus als zwangsläufig und unumstößlich an.18

Seine Lösung ist ein Gesellschaftsvertrag („Contrat social“, 1762) in dem sich der Einzelne der Gemeinschaft unterordnet, um auf diesem Weg wieder Freiheit und Gleichheit aller zu erlangen. Der Wille des Einzelnen geht im Gemeinwillen („volonté générale“) auf, damit unterstellt sich jeder in der Gemeinschaft gleichzeitig seinem eigenem Gesetz. Denn nur das Erlassen von Gesetzen die dem Allgemeinwillen, also dem Willen des Volkes entsprechen, ist gültig.19 Gesetzt dem Falle, ein Sonderwille setzt sich durch, dient der Gemeinwille immer als Angelpunkt für dessen Ausführung.20 Damit schuf Rousseau das Prinzip der Volkssouveränität.

[...]


1 Höffe, Otfried: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. 3. durchges. Aufl. München: Beck, 2007 ( = Beck’sche Reihe 2168 : C.H. Beck Wissen). S. 9

2 Ebd.

3 Ebd. S. 11

4 Müller-Salget, Klaus: Heinrich von Kleist. Stuttgart: Reclam, 2002 ( = Universal-Bibliothek 17635).

S. 186

5 Schmidthäuser, Eberhard: Verbrechen und Strafe. Ein Streifzug durch die Weltliteratur von Sophokles bis Dürrenmatt. München: Beck 1995. S. 21

6 Schmidt, Jochen: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche. 2. unveränderte Aufl. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009. S. 215

7 Braun, Johannes: Einführung in die Rechtsphilosophie. Der Gedanke des Rechts. Tübingen: Mohr Siebeck 2006 ( = Mohr-Lehrbuch). S. 15

8 Schwintowski, Hans-Peter: Recht und Gerechtigkeit: Eine Einführung in Grundfragen des Rechts. Berlin u.a. : Springer 1996 (Springer-Lehrbuch). S. 37-38

9 Apel, Friedmar (Hrsg.): Kleists Kohlhaas. Ein deutscher Traum vom Recht auf Mordbrennerei. Berlin: Wagenbach 1987 ( = Wagenbachs Taschenbücherei 151). S. 123

10 Schwaabe, Christian: Politische Theorie 1. Von Platon bis Locke. Paderborn: Fink 2007. ( = UTB 2931 : Politikwissenschaft) ( = Grundzüge der Politikwissenschaft ). S. 136

11 Ebd. S. 130

12 Schwaabe, C.: Politische Theorie 1. S. 137

13 Ebd. S. 136-137

14 Kunzmann, Peter ; Burkard, Franz-Peter ; Wiedmann, Franz: Dtv-Atlas Philosophie. 11. aktualisierte Aufl. München : Dt. Taschenbuch-Verl 2003. ( = dtv 3229). S. 117

15 Apel, F.: Kleists Kohlhaas. S. 123-124

16 Kunzmann, P.: Dtv-Atlas Philosophie. S. 133

17 Schwaabe, Christian: Politische Theorie 2. Von Rousseau bis Rawls. Paderborn: Fink 2007. ( = UTB 2931 : Politikwissenschaft) ( = Grundzüge der Politikwissenschaft ). S. 16-17

18 Ebd. S. 18

19 Kunzmann, P.: Dtv-Atlas Philosophie. S. 133

20 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas" im Zwiespalt zwischen Recht und Gerechtigkeit
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft)
Veranstaltung
Kriminalanthropologie: Repräsentation von Kriminalität und Strafverfolgung in Literatur und Film
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
24
Katalognummer
V275865
ISBN (eBook)
9783656688105
ISBN (Buch)
9783656688112
Dateigröße
482 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
heinrich, kleists, michael, kohlhaas, zwiespalt, recht, gerechtigkeit, Thema Kleists Kohlhaas
Arbeit zitieren
Anja Brauer (Autor:in), 2011, Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas" im Zwiespalt zwischen Recht und Gerechtigkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275865

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