Voll Sinn-voll. Klientenzentrierte Gesprächsführung im Rahmen des § 16a SGB II mit hochsensiblen Persönlichkeiten


Bachelorarbeit, 2014

151 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.) Einleitung

2.) Hintergrundwissen zum Phänomen Hochsensibilität
2.1) Zur Etymologie: sensibel, sensitiv, empfindsam? Eine Begriffsklärung
2.2) Neurobiologie und Forschungsstand
2.2.1) Die fünf (bzw. sechs) Sinne bei Hochsensiblen
2.2.2) Das vegetative Nervensystem: Hormone und Neurotransmitter
2.2.3) Von Denkern und Handlern. Abgrenzung der Hochsensibilität zu ADS/ADHS
2.3) Arten/Ausprägungen von Hochsensibilität
2.4) Zwischen Genie und Wahnsinn
2.4.1) Charakteristika und Verhalten der HSP und die Grenzen zum Patho- logischen
2.4.2) Vom goldenen Mittelweg: Umweltbedingungen und Lernaufgaben für HSP

3.) Die Klientenzentrierte Gesprächsführung nach C. Rogers
3.1) Menschenbild und Persönlichkeitstheorie
3.2) von der Inkongruenz zur „fully functioning person“
3.3) Die Beratungsbeziehung und die drei Grundhaltungen
3.3.1) Empathie
3.3.2) bedingungslose Wertschätzung/Akzeptanz
3.3.3) Kongruenz
3.4) Methoden und Techniken

4.) Relevanz für die Soziale Arbeit - Klientenzentrierte Einzelfallhilfe für HSP im psychosozialen Kontext des §16a SGB II
4.1) Psychosoziale Beratung nach § 16a SGB II – Definition und Inhalt
4.2) Fallschilderung anhand einer hochsensiblen Klientin
a) Klärungsphase: Erstgespräch und Rahmenbedingungen
b) Kennenlernphase à Frau M.- hochsensibel?
c) Arbeitsphase
4.3) Klientenzentrierte Gesprächsführung- geeigneter Ansatz für die hochsensible Persönlichkeit?
4.3.1) Erweiterungen der KZG durch Methoden und Techniken
d) Abschluss-/Transferphase
4.4) Anwendbarkeit der klientenzentrierten Gesprächsführung und den erweiterten Methoden in der psychosozialen Beratung als eine Form der sozialen Einzelfallhilfe

5.) Integration der KZG und der erweiterten Techniken in den
Handlungsrahmen der Psychosozialen Beratung
5.1) Elaine Arons vier Schritte im Umgang mit Hochsensibilität
5.2) Erläuterung zur Handreichung „Beratungsprozess im Großen“ à siehe dazu separate Handreichung
5.3) Erläuterung zur Handreichung „Beratungsprozess im Einzelnen“ à siehe dazu separate Handreichung

6.) Resümee und Ausblick

Anhang

Literaturverzeichnis

Separate Handreichung für die psychosoziale Beratung im Rahmen des §16 a SGB II mit hochsensiblen Klienten

1.) Einleitung

“Although this trait is found in 20% of the population, the actual occurance is probably closer to 50% of patients in most practices.” Dieses Zitat stammt von Elaine Aron (2010), einer amerikanischen Psychotherapeutin, die 1997 den Begriff der „highly sensitive person“ prägte. „The trait“- das Merkmal von dem sie also spricht ist- zu Deutsch- die Hochsensibilität. Dem Zitat sind gleich zwei Kernaspekte der Hochsensibilität(HS) zu entnehmen: Zum Einen wird deutlich, wie gering der Anteil der hochsensiblen Menschen(HSM) in der Bevölkerung mit 20% ist, zum Anderen jedoch verrät das Zitat auch die hohe Relevanz für alle beraterischen Kontexte, wenn die Mehrheit der Klienten hochsensibel ist.

Sowohl dieses Thema, als auch diese Erkenntnis, waren mir bis vor einigen Monaten noch völlig unbekannt, bis ich mich zufällig in ein Werk von E. Aron über Hochsensible einlas und sowohl Parallelen zu mir selbst, als auch zu einer Klientin feststellte, die ich während meiner Praxisphase im Landratsamt Böblingen im Rahmen der psychosozialen Beratung des §16 a SGB II betreute. Fasziniert über das Phänomen der Hochsensibilität und damit einhergehenden speziellen Eigenarten der Klientin, beschloss ich, dies zum Thema meiner Bachelorthesis zu machen. Dabei beschäftigte mich insbesondere die Frage, wie ein Klient, der hochsensibel ist, am besten beraten werden könnte, wie die Beratungsbeziehung gestaltet sein sollte, welche Methoden verwendet werden sollten usw. Auf der Suche nach geeigneten Beratungsmethoden stieß ich auf die klientenzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers. Sie erschien mir auf den ersten Blick als eine geeignete Methode, um hochsensible Klienten beraten zu können. Genau unter diesem Aspekt soll diese Thesis als eine Auseinandersetzung mit der zentralen Fragestellung „Wie kann die psychosoziale Beratung konzipiert sein und inwieweit ist die klientenzentrierte Beratung ein passender Ansatz, um hochsensible Personen beraten zu können?“ fungieren.

Die zwei theoretischen Themenschwerpunkte aus „Hochsensibilität“ und „klientenzentrierter Gesprächsführung“ werden zunächst gesondert behandelt, um dann während der Beschreibung des dritten Schwerpunkts, der Praxis der psychosozialen Beratung, zusammenzufließen.

Der Titel dieser Thesis „Voll Sinn-voll“ spielt bereits auf ein grundlegendes Merkmal der Hochsensiblen an. Hochsensible haben „die Sinne voll“, da sie, durch eine Art Reizfilterschwäche, Reize ihrer Umwelt über die Sinne quasi ungefiltert aufnehmen. Mehr Hintergrundwissen zum Thema der Hochsensibilität findet sich im zweiten Kapitel, in dem eine Begriffsklärung und eine Erläuterung des bisherigen Forschungsstands stattfinden und ein Überblick über die verschiedenen Ausprägungen und Verhaltenszüge der HSM dargeboten wird. Ich möchte hierbei nochmal darauf hinweisen, dass der Begriff der Hochsensibilität erst 1997 durch Arons zunächst englischsprachige Werke entstanden ist, weshalb fundierte wissenschaftliche Literatur über dieses Thema nur mäßig vorhanden ist. Dadurch kommt es teilweise zu Zitaten aus populärwissenschaftlichen Bezugsquellen, was kaum vermeidbar war in Anbetracht des jungen Phänomens.

Anschließend folgt im dritten Kapitel die klientenzentrierte Gesprächsführung(KZG) nach Rogers. Inhaltlich stehen dabei Rogers zugrunde liegendes Menschenbild und die drei zentralen Grundhaltungen im Vordergrund.

Im letzten Teil der Arbeit, der primär den praktischen Teil der Psychosozialen Beratung(PSB) behandelt, fließen dann die theoretischen Aspekte der vorigen beiden Kapitel zusammen. Parallel zur Beschreibung der einzelnen Prozessphasen der psychosozialen Beratung sind zunächst Kapitel eingeschoben, die sich mit der Vereinbarkeit der KZG mit Hochsensiblen beschäftigen. Auf Grund dessen nutzte ich auch die Erfahrungswerte mit meiner hochsensiblen Klientin(anonymisiert) und ließ diese jeweils kursiv gedruckt mit einfließen. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels entsteht dann die Frage nach der Vereinbarkeit der KZG mit der PSB als eine Form der Sozialen Einzelfallhilfe. Hier komme ich zu einer weiteren Besonderheit dieser Thesis zu sprechen: Da die KZG in der Regel eine therapeutische Methode ist, werden hier häufig Begriffe wie „Therapeut“ und „Patient“ genannt. Später verwende ich diese Begriffe synonym zu „Berater“ und „Klient“, da dies in sozialen Kontexten die gängige Formulierung ist. Dennoch findet in selbigem Kapitel auch eine Auseinandersetzung mit der Problematik der Übertragbarkeit einer therapeutischen Methode in den sozialen Kontext statt. Zudem ergänze ich in Kapitel vier Rogers‘ Methoden durch Methoden aus der psychosozialen Praxis und anderen Techniken, die ich im Rahmen der Arbeit mit HSM für anwendbar halte.

Dieses vierte Kapitel mündet schlussendlich in eine Ausarbeitung des bisherigen Handlungsrahmens der PSB, speziell modifiziert und auf HSM abgestimmt. Die Handreichung ist dann als separates Exemplar ausgelegt, Erläuterungen dazu finden sich im fünften Kapitel.

Abschließend folgen dann noch ein Fazit und ein Ausblick in einem Resümee der Thesis.

Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird in dieser Thesis der Einfachheit halber nur die männliche Form verwendet.

2.) Hintergrundwissen zum Phänomen Hochsensibilität

2.1) Zur Etymologie: sensibel, sensitiv, empfindsam? Eine Begriffsklärung

Die Terminologie betreffend bedeutet Sensibilität, abstammend vom lateinischen „sensibilis“, nichts anderes als „mit Sinnen wahrnehmbar“. „Sensus“, sowohl auf das Geistige als auch das Körperliche bezogen meint „Gefühl“ oder „Empfindung“(vgl. Klages 1991:17). Alleine die sprachliche Herkunft verrät also(vgl. ebd.), „dass es sich hier um eine Persönlichkeitsstruktur handelt, bei der die besondere Aufnahme und Verarbeitung von Empfindungen, Wahrnehmungen und Gefühlen eine starke Rolle spielen wird“(ebd.). Im Grunde genommen sind wir alle mehr oder weniger sensible Wesen. Mit hochsensibel wird dabei lediglich impliziert, dass diese Eigenschaften verstärkt auftreten. Primär handelt es sich also um einen neutralen Ausdruck. Doch hinter Begriffen wie „Sensibelchen“ und „Überempfindlichkeit“ verbergen sich häufig abschätzende Haltungen. Sensibilität wird in diesen Ausprägungen auf die rein emotionalen und psychischen Elemente reduziert(vgl. Schauwecker a: o.S). Im englischen Original prägte Elaine Aron den Begriff der „highly sensitive person“, also der „hochsensitiven“ Person, was neben den Komponenten des Wahrnehmens auf physischer Ebene auch das starke Empfinden über die Sinnesorgane mit einbezieht(vgl. Trappmann-Korr 2010: 27f.). Aron bezeichnet das Merkmal der Personengruppe auch als „sensory-processing sensitivity“, was den Zusammenhang zwischen dem Empfinden und den sensorischen Verarbeitungsprozessen unterstreicht(vgl. Schorr 2011: 9). Dieser wissenschaftliche Ausdruck weist auf eine „besondere Konstitution der Reize-verarbeitenden neuronalen Systeme“ hin(Schauwecker d 2013: o.S.). Diese Aussage leitet das kommende Kapitel ein, in dem neurologische Prozesse anhand verschiedenster Forschungen und Studien näher beleuchtet werden sollen.

2.2) Neurobiologie und Forschungsstand

Bedenkt man, dass Elaine Aron den Begriff der highly sensitive person im Jahr 1997 prägte, so kann man von einem relativ jungen Phänomen auf dem Gebiet der Wissenschaft sprechen. Aron war jedoch nicht die einzige Forscherin, die Studien über diese Personengruppe vollzog. So gab es bereits sehr viel früher Forscher, die sich mit der „empfindlicheren Natur“ beschäftigten. Ivan Pawlow, der auch unter dem Begriff des „Pawlow’schen Hund“ bekannt wurde, stellte bereits 1904 neben Versuchen zum bedingten Reflex auch Untersuchungen zur Empfindsamkeit an. Dazu setzte er die Versuchspersonen Lärmquellen aus und intensivierte die Lautstärke stetig(vgl. Schorr 2011: 12). Das eindeutige, dennoch unerwartete Ergebnis der Forschung war, dass sich zwei deutlich voneinander unterscheidbare Gruppen herausbildeten: 15-20% der Probanden erreichten die Belastbarkeitsgrenze, die bei Pawlow den Namen „transmarginale Hemmung“ trägt, sehr schnell, während die restlichen 85% relativ gleichzeitig und erst sehr viel später auf die auditive Beschallung reagierten(vgl. ebd.: 13). Der Psychologe Jerome Kagan bestätigte mit seiner Säuglingsforschung diese Ergebnisse. Als „gehemmte Kinder“ wurden die Säuglinge bezeichnet, die bei Aussetzung verschiedener Reize deutlich stärkere Reaktionen auf die Stimuli zeigten (Zappeln, Schreien etc.) als die anderen. Dieser ebenfalls 20%ige Anteil entwickelte sich später zu vorsichtigeren und introvertierteren Personen(vgl. ebd.). Der Begriff der Introversion bringt uns auch den Anschauungen Carl Gustav Jungs näher. Er war der Auffassung, dass introvertierte Persönlichkeiten eher zu einer Abschottung von der Außenwelt und einer stärkeren Verbindung zum eigenen Innenleben neigen. Sie würden sich eher für das „Subjekt“, also für innere Prozesse –der eigenen und der anderer Menschen-, als für das „Objekt“ interessieren. Was Kagan und Pawlow mit Gehemmtheit zu beschreiben versuchten, trägt bei Jung den Begriff der „sensorischen Überlastung“. Jung hebt hervor, dass diese Menschen eine viel engere Verbindung mit dem Unbewussten haben, dem sie außerdem eine gewisse „Hellsichtigkeit“ zu verdanken haben(vgl. Parlow 2003: 51f.). Um beim Unterbewusstsein zu bleiben: Unter dem Titel „das Drama des begabten Kindes“ hat die –wie C.G. Jung- psychoanalytisch arbeitende Forscherin Alice Miller über die Verdrängung eigener Wünsche (ins Unterbewusstsein) und das Vorhandensein eines „falschen Altruismus“ geschrieben. Gerade sensible, oder nach Miller „begabte“ Kinder seien besonders empfänglich für diese Vorgänge. Sie finden schon sehr früh heraus, wie sie den Bedürfnissen ihrer Eltern oder anderer Bezugspersonen gerecht werden können, was sie tun und fühlen sollten, um gemocht zu werden. So sind sie Experten darin, Gefühle der Mitmenschen wahrzunehmen und sind wahre Meister der Assimilation an diese Wünsche der anderen, haben aber Schwierigkeiten ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen. Je sensibler das Kind ist, umso stärker tritt diese Eigenschaft zu Tage(vgl. ebd.: 55). Interessant wäre hierbei die Auseinandersetzung mit der Ätiologie der Hochsensibilität und das Erforschen eines möglichen Kausalzusammenhangs zwischen Kindheit und der Entwicklung zu einer hochsensiblen Persönlichkeit. „Den Forschungen zu Folge besteht jedoch kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Qualität der Kindheit und dem Auftreten der Hochempfindlichkeit“(ebd.: 56). HS gehört generell zu den veränderlichen Persönlichkeitsmerkmalen, das heißt, man kann mit zunehmendem Alter sensibler werden oder auch nicht, aber eine grundsätzliche Disposition zur HS ist angelegt(vgl. Schorr 2011: 10f). Die These, dass Hochsensibilität angeboren ist, wird auch von Arons Untersuchung bestätigt: Sie unterzog einige Testpersonen während einer Magnetresonanztomographie optischen Reizen. Im Hinblick auf die neurologischen Prozesse konnte bei HSP im Gegensatz zu Nicht-HSP eine „signifikant höhere Aktivierung von Hirnregionen für optische Verarbeitung höherer Ordnung“(Schauwecker d o.J.:o.S.) festgestellt werden und eine stärkere Stimulation des rechten Kleinhirns wahrgenommen(vgl. ebd.). Allerdings existiert der Vorwurf einiger Autoren, dass Aron in ihrer Studie die Traumaforschung nicht ausreichend berücksichtige. Diese konstatiert, dass Menschen, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, dieselben Anzeichen zeigen wie HSP. Es wird daher davon ausgegangen, dass ein geringer prozentualer Anteil der Hochsensiblen seine Eigenschaft im Laufe des Lebens erworben hat, der überwiegende Anteil jedoch eine angeborene Disposition aufweist, die damit ein „Abtrainieren“ oder „Wegtherapieren“ der HS unmöglich macht(vgl. ebd.). Kagan und Jung wiesen außerdem auf vorliegende Dispositionen in der Familienreihe hin(vgl. Parlow 2003: 50-55).

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass ca. 15-20% der Bevölkerung hochsensibel sind. Zwischen den Geschlechtern herrschen dabei keine Differenzen. Hochsensibilität bedeutet zunächst, Stimulationen stärker und intensiver wahrzunehmen, auf psychisch-emotionaler, wie auch auf physisch-sensorischer Ebene. HSM nehmen innere (Gefühle, Gedanken, Schmerzen etc.) und äußere Reize (Geräusche, Impulse, Begegnungen etc.) quasi „ungefiltert“ wahr und ihr zentrales Nervensystem wird dadurch früher überstimuliert(vgl. Schauwecker c o.J.: o.S.).

Was dann zu einer, wie Jung sie nennt, „sensorischen Überlastung“ führt oder wann nach Kagan oder Pawlow eine Hemmung/Gehemmtheit eintritt und wieso die von Aron festgestellte verstärkte Aktivität des rechten Kleinhirns so relevant ist für HSM, kann nun im Folgenden näher beleuchtet werden.

2.2.1) Die fünf (bzw. sechs) Sinne bei Hochsensiblen

HSP sind wortwörtlich Sinn-Voll: Sie nehmen nicht nur mehr und intensiver wahr, sondern können auch feinere Unterschiede erkennen. Dies liegt jedoch weniger an einer besseren Ausprägungen der visuellen, auditiven, olfaktorischen, gustatorischen oder propriozeptiven Sinne, sondern vielmehr befindet sich das Phänomen „irgendwo zwischen Nerv und Gehirn oder im Gehirn selbst, in der Verarbeitung von Informationen“(Aron 2005: 30). HSP berichten oftmals davon, dass ihnen an Tankstellen durch den Petroleumgeruch übel wird, sie keine scharf gewürzten Speisen vertragen, eine extrem starke Abneigung gegen zu intensive Farben haben oder sie kratzige Pullover so sehr stören, dass sie an nichts anderes mehr denken können(vgl. Klages 1991: 27f, 38f, 42). (Übrigens: um die 80% aller Sinnesreize werden visuell aufgenommen, d.h. über die Augen(vgl. Aron 2005: 98)). Man sagt HSP außerdem nach, sie können „das Gras wachsen hören“, so empfindlich seien ihre Gehörsinne ausgeprägt(vgl. Parlow 2003: 34ff). Sie nehmen Druck, Hitze, Kälte etc. im Außen wie im Innen, stärker wahr. Daher wohnt ihnen auch ein stärkeres Schmerzempfinden inne(vgl. ebd.: 22f.).

Die positiven Auswirkungen der verfeinerten Wahrnehmung finden sich bei HSP bspw. in einem äußerst guten Geschmack, ausgeprägtem Farbempfinden, musikalischer und künstlerischer Begabung(vgl. ebd.:19ff). Klages stellte fest, dass HSP tendenziell zu Synästhesien neigen(vgl. Klages 1991: 42): „Unter Synästhesien versteht man […] das Hinüberwirken von Sinneseindrücken auf andere nicht gereizte Sinnesorgane, z.B. das regelmäßige Auftreten von Farbempfindungen beim Hören von Tönen und umgekehrt“(Klages:43). Dadurch, dass HSP eine höhere Anzahl an Reizen und von diesen feinere Nuancen – auch oft un- oder nur halbbewusst- wahrnehmen, verfügen sie automatisch über eine starke Intuitionsfähigkeit. Sie wissen oft Dinge, ohne zu wissen wieso. Dadurch spricht man bei HSP auch vom sechsten Sinn(vgl. Aron 2005: 30f).

Dem zentralen Nervensystem kommt die Aufgabe zu, Wahrnehmungen zu filtern und wichtige Reize von unwichtigen zu unterscheiden. Diese Filter sind bei HSP wesentlich schwächer ausgeprägt, man spricht von einer mangelnden Reizfilterung oder „Reizfilterschwäche“. Die Begriffe „Mangel“ oder „Schwäche“ treffen jedoch nur bedingt zu, beachtet man, dass eher ein „Zu viel“ an Wahrnehmung vorhanden ist. Wenn wir ständig nur „Input“ bekommen, brauchen wir auch dementsprechend viel Zeit um zu verarbeiten. Das empfindlichere Nervensystem kombiniert mit einer Reizfilterschwäche führt zu schneller Überstimulation und Überforderung(vgl. Parlow 2003: 17f.). Im Gegensatz zu „Normalsensiblen“, die eine geringe Menge an Eindrücken sammeln, schnell verarbeiten und nach einfachen Kriterien ordnen, sammeln HSP eine hohe Menge an Eindrücken, verarbeiten tiefer und detaillierter, stellen Querverbindungen zu bereits Gespeichertem her und versuchen dies komplex verknüpft abzulegen. Diese Verarbeitung braucht Zeit, Kapazität, Leistung und Energie; sind diese Faktoren nicht gegeben, stürzt das System -vergleichbar mit einem Computer- ab(vgl. ebd.: 29). Ein solcher Computerabsturz könnte mit der von Jung erwähnten „sensorischen Überlastung“ assoziiert werden.

Aron stellt zwei Grundsätze auf: Zum Einen fühlt der Mensch sich dann am wohlsten, wenn er weder über- noch unterfordert ist(Aron 2005: 29). Das Yerkes-Dodson-Gesetz (siehe Anhang Grafik 1) bestätigt diese These: Nach dem Gesetz erreicht die Leistungsfähigkeit einer Person bei mittlerem Erregungsniveau ihr Maximum, während die Effektivität bei zu niedriger oder auch zu hoher Anspannung sinkt(vgl. Trappmann-Korr 2010: 55f.). Zweitens ist das Erregungsniveau des Nervensystems bei jedem Individuum unterschiedlich und die bereits dargelegten 15-20% der Bevölkerung weisen eine empfindlichere Reaktion auf Reize auf(vgl. Aron 2005: 30). Bei HSP ist der in der Abbildung mittlere Bereich wesentlich schmäler als bei Normalsensiblen. Sie sind schneller über- als auch unterreizt. Der Fokus sei dabei jedoch, angesichts der immer schneller und „reizvoller“ werdenden Umwelt, auf eine mögliche Über -reizung zu legen. Dies liefert auch eine Erklärung dafür, weshalb das Phänomen erst 1997 durch Arons Studien öffentliches Aufsehen erregte und nicht bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Pawlows Forschungen. In dem Maße wie auf der Erde das Tempo und die Informationsflut expandieren, werden sich die Menschen erst ihrer sensiblen Veranlagung bewusst(vgl. Schorr 2011: 14).

2.2.2) Das vegetative Nervensystem: Hormone und Neurotransmitter

Wie bereits erwähnt, kann die neuronale Aktivität hochsensibler Menschen als angeboren verstanden werden. Brackmanns Annahme zufolge, ist die Funktionsweise der neuronalen Netzwerke in gleichem Maße von der Umwelt geprägt, wie sie genetisch bedingt ist(vgl. Schorr: 27): „Es gibt Hinweise darauf, dass die intensivere Nutzung eines bestimmten Hirnareals zu einem Wachstum an Nervenbindungen führt“(ebd.:27). Der häufige Zustand der Überreizung Hochsensibler führt zu einer vermehrten Ausschüttung des Stresshormons Adrenalin. Folgen nacheinander mehrere Adrenalinstöße führt dies zu einer Art Dauerstress für den Körper und dieser produziert das Stresshormon Cortisol(vgl ebd.: 28). Cortisol versetzt den Körper quasi in andauernde „Alarmbereitschaft“, in dieser Zeit sind HSP noch leichter erregbar. Auf lange Sicht ist ein solcher Zustand gesundheitsschädlich: Er führt zu Stresskrankheiten wie erhöhter Infektanfälligkeit, Schlaflosigkeit, Essstörungen etc.(vgl. Parlow 2003: 77).

Diskurs: Diathese-Stress-Modell und Ausbruch einer Störung

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell (siehe Anhang Grafik 2) stützt den eben genannten Zusammenhang von Stress und Krankheit und schlussfolgert, einer erhöhten Gefahr der Krankheitsentwicklung zu unterliegen, wenn eine angeborene oder erworbene Verletzlichkeit besteht. „Nach diesem Modell bricht eine Störung dann aus, wenn mehrere Faktoren zusammenwirken. Eine diathetische Prädisposition (z.B. Erbfaktoren, prä-, peri- und postnatale Traumata) erzeugt zusammen mit einer psychosozialen Prädisposition (z.B. chronische Belastungen in der frühen Kindheit) eine Verletzlichkeit oder Anfälligkeit (Vulnerabilität) für die Entwicklung einer Störung. Belastung und Stress führen zum Ausbruch der Störung; der aktuelle Lebenskontext beeinflusst im Sinn von Risiko- und Schutzfaktoren, wie sich der Störungsverlauf entwickelt.“ (KRUG 2008: o.S.)

Demnach kann Hochsensibilität allenfalls als ein Risikofaktor unter der Kategorie „diathestische Prädisposition“ gelten und für das Ausbrechen bestimmter Krankheiten verantwortlich sein, niemals jedoch an sich als Krankheit zu werten.

Parallel zur Ausschüttung von Adrenalin wird auch der Neurotransmitter Noradrenalin hergestellt. Er sorgt als Vermittler zwischen den Gehirnzellen und hält unsere Denkprozesse in Gang. Daher wird HS neben Schreckhaftigkeit und Nervosität auch eine schnellere Auffassungsgabe und Lernfähigkeit zugeschrieben(vgl. Parlow 2003: 57f.). Warum langandauernde nervliche Überstimulation auch zu depressiven Verstimmungen führt, beweist ein weiterer Neurotransmitter: Serotonin. Im gleichen Maße wie der Cortisolspiegel steigt, sinkt nämlich der Serotoninspiegel im Gehirn und dies stellt den Ausgangspunkt für Depressionen dar(vgl. Schorr 2011: 29f). Gunnar bewies mithilfe von Tests, ähnlich denen von Kagan, dass Säuglingen, die, während sie einer neuen oder als bedrohlich empfundenen Situation ausgesetzt wurden, einen aufmerksamen und liebevollen Babysitter hatten, signifikant weniger Cortisol im Speichel nachgewiesen wurde als denen, denen ein abweisender Babysitter zugewiesen wurde(vgl. Aron 2005: 68).

Exkurs Bindungstheorie nach John Bowlby

Bezugnehmend auf die Bindungstheorie nach John Bowlby benötigen Kinder (und in gewisser Weise auch Erwachsene) feste Vertrauenspersonen, um später einmal eine sichere Bindung zu entwickeln; während häufig wechselnde, unzuverlässige oder ambivalente Bezugspersonen zu unsicheren Bindungsstilen führen(Brisch 2010: 43). Bowlby deutet außerdem eine Wechselbeziehung zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten an. Ist also das Bindungsverhalten aktiviert, ist das Kind damit beschäftigt, sein Bindungsbedürfnis zu beruhigen durch Nähe zur Bezugsperson. Ist das Bindungsbedürfnis beruhigt und fühlt sich das Kind sicher und geborgen, kann es von der Bezugsperson als „sicherem emotionalem Hafen“ aus seine Umwelt neugierig erforschen(vgl. ebd.: 37).

Dies zeigt erneut den als durchaus relevant einzustufenden Zusammenhang zwischen der Qualität der Kindheit und des Umfeldes in Bezug auf die Entwicklung und den Lebenslauf eines HS, insbesondere in Anbetracht der bei HSM signifikant häufig vorkommenden Schüchternheit und Introvertiertheit.

Kagan entdeckte in ihrer Säuglingsforschung auch noch weitere Details, wie beispielsweise, dass die linke Gesichtspartie der Babies eine höhere Temperatur aufwies als die rechte, was auf eine höhere Aktivität der rechten Gehirnhälfte hinweist(vgl. Aron 2005: 60). Diese Beobachtung führt direkt in den folgenden Abschnitt, in dem auf zwei bedeutende Systeme des Gehirns eingegangen wird und die unterschiedlich vorherrschenden Wahrnehmungs- und Lernstile thematisiert werden.

2.2.3) Von Denkern und Handlern, Abgrenzung der Hochsensibilität zu ADHS/ADS

Eine große Anzahl von Wissenschaftlern unterscheidet zwei grundlegende Systeme des Gehirns: das Verhaltensaktivierungssystem, das aufgenommene Reize direkt in Reaktionen in Form von Bewegung o.Ä. umwandelt, und das Verhaltenshemmsystem, das in der Reaktion eher die Tendenz zur Vorsicht, Wachsamkeit und Wegbewegen hat. Letzteres System ist mit den Gehirnregionen verbunden, die bei den „gehemmten“ Kindern in Kagans Untersuchung aktiver waren(vgl. Aron 2005: 61f.). Auch an Pawlows „transmarginale Hemmung“ sei hier zu erinnern. Alleine die Begrifflichkeit „Hemm-„ versus „Aktivierungssystem“ lässt vermuten, welches der Reaktionsmodi als das „bessere“ in unserer Gesellschaft gewertet wird. Trotz des eigentlich hochintelligenten Reaktionsmusters („Erst Denken, dann Handeln“) genießen die „Handler“ in unserer Gesellschaft eine bevorzugte Stellung, denn „Denker“ sind in ihren nach außen demonstrierten Reaktionen zu langsam und zögerlich für unsere hektische Welt. Das Verhaltenshemmsystem, nach dem Psychologen Gray „Behavioral Inhibition System“ benannt (BIS) hemmt zwar das Verhalten nach außen, aktiviert aber das innere. Diese „Denker“ sind oft passiv, übervorsichtig und ständig in Alarmbereitschaft. Auch eine innere Unruhe ist bei dieser Persönlichkeit festzustellen, ähnlich ADS-Betroffenen. Es ist also angesichts der bereits beschriebenen Merkmale nicht verwunderlich, dass ein Großteil der HS im Schema der „Denker“ angesiedelt ist(vgl. Trappmann-Korr 2010: 113ff).

Denken spielt sich bei HSP in zwei Dimensionen ab: dem Vor- sowie auch dem Nach-denken. So finden sich unter HSM ausgesprochen detaillierte „Planer“, die Umzüge oder andere große Veränderungen nur schwer verkraften und langsam verdauen können, denn sie müssen sich gedanklich erst einmal damit auseinander setzen. Spontaneität gehört also nicht zu den Vorlieben hochsensibler Persönlichkeiten. Aber auch feste Termine machen sie unruhig, denn sie müssen sich damit auseinandersetzen und im Geiste die verschiedenen Handlungsschritte ausprobieren(vgl. ebd.: 114f). Dies wird untermauert von Parlows Forschungsergebnissen: In Parlows Studie gaben über 70% aller HSP an, Probleme mit Veränderungen zu haben(vgl. Parlow 2003: 62). Ein ebenso zentraler Bereich wie das Vor-Denken ist das Nach-Denken. So bietet ein Spaziergang oder eine Radtour einem HSM so viel aufgenommenes Material, das er erst einmal verarbeiten muss. So kann er noch tagelang nach einem solchen Ereignis von der Landschaft erzählen und so diesen gedanklichen Vorrat „abbauen“. Es kann sich jedoch auch als schwierig gestalten den Gedankensprüngen eines HSM zu folgen, denn da er grundsätzlich tendenziell in Bildern und „Gefühlen“ denkt, sind seine Erzählungen oftmals nicht nachvollziehbar(vgl. Trappmann-Korr 2010: 116f).

70% aller Hochsensiblen zählen sich zur Gruppe der „Denker“. Nach Parlow zeichnet sich diese Gruppe durch ein schwaches Aktivierungssystem mit stärkerem Hemmsystem aus. Diese Personen sind eher introvertiert und erfreuen sich im Gegensatz zu den zwei anderen Typen an einem regen Innenleben. Menschen deren Hemm- und Aktivierungssystem schwach ausgeprägt sind, stellen die kleine Gruppe der stillen und ereignisarmen HSP dar. Während die dritte Gruppe von Typen, auch noch einen geringen Anteil der HSM verkörpert: diese besitzen sowohl ein ausgeprägtes Aktivierungs- wie auch Hemmsystem. Nach C.G. Jung sind dies die extro- sowie introvertierten Persönlichkeiten, sie haben einen sehr schmalen Grat der optimalen Stimulation(vgl. Parlow 2003: 59f).

Wie eben angedeutet, denken HSM häufig in Bildern, was nicht verwundert, denn die rechte, nach Kagans Beobachtungen „aktivere“ Gehirnhälfte, wird mit Kreativität, Intuition und Emotionen assoziiert. Diese Personen verfügen im Gegensatz zu dem weitaus mehr verbreiteten „analytischen“ Wahrnehmungsstil über einen sogenannten „holistischen“ Wahrnehmungsstil und streben damit komplexe Problemlösungswege an(vgl. Trappmann-Korr 2010: 110). Dieser Wahrnehmungsstil ist außerdem ausschlaggebend, wenn es darum geht, Hochsensibilität und ADHS/ADS voneinander differenziert zu betrachten. Häufig erinnern die äußeren Reaktionen von Hochsensiblen nämlich an Betroffene vom Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom.

Wie BIS/BAS und die beiden Wahrnehmungs- und Denkstile mit ADHS und ADS zusammenhängen, wird in folgender Tabelle dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle BIS/BAS-System. (Trappmann-Korr 2010: 95)

Zur Verdeutlichung soll angenommen werden, dass Personen dieser vier Typen mit derselben Aufgabe konfrontiert werden: Was ist die Lösung der Aufgabe 2+2? „Der analytische Wahrnehmungs- und Denkstil sucht die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, fährt also immer auf der Autobahn, schnell, sicher und effizient“(vgl. ebd.: 96). Während der in der Minderheit stehende holistische Denker die Tendenz hat, Umwege zu gehen, Landstraßen mit Sehenswürdigkeiten überquert und auch der Frage nachgeht, ob denn die Autobahn überhaupt die beste Route sei. Der holistische Denker zählt sich daher auch oft zu den Spatzündern im Bildungsbereich, da er bestrebt ist, systemisch zu arbeiten und Landkarten zu erstellen und zu speichern(vgl. ebd.). Ein solch vernetztes Denken kann sich bzgl. zeitlicher, inhaltlicher, als auch assoziativer Kriterien abspielen(vgl. Parlow 2003: 37).

Trifft nun eine genetisch bedingte Reizoffenheit auf den analytischen Wahrnehmungsstil, kommt es zu Verarbeitungsproblemen, das „für ADHS/ADS typische Chaos im Kopf entsteht“(Trappmann-Korr 2010: 96). Für einen Typus mit einer BAS-Reaktionspräferenz ist die Strecke zum Ziel nur Mittel zum Zweck. Er kann es kaum abwarten, das Ergebnis zu präsentieren. Daher kommt es zuweilen vor, dass BAS Typen eher zu hyperaktivem Verhalten neigen. BIS-Typen hingegen hegen das Motto „der Weg ist das Ziel“, ihnen geht es weniger um das Ergebnis, sondern mehr um das „wie“, sie möchten das „Richtige“ tun (vgl. ebd.: 97). Doch nur ein holistischer Denkstil gepaart mit den Reaktionsmodi ergibt eine HS. Wie bereits angedeutet, gibt es auch einen Typ von HSM, der sowohl ein starkes Aktivierungs- als auch ein starkes Hemmsystem besitzt. Diese finden sich in der Tabelle als „High Sensation Seeker“ wieder. Sie stellen eine Kombination aus Denker und Handler dar. Diese Thesis zielt jedoch insbesondere auf die erstgenannte Gruppe der HSM ab, die sich durch ein schwaches BAS und ein starkes BIS auszeichnet, da diese unter den HSM am weitesten verbreitet sind.

Ordnet man den Denkstilen einen jeweiligen Lernstil zu, entspricht dem analytischen Wahrnehmungsstil ein auditiv-sequenzieller Lernstil, während ein visuell-räumlicher Lernstil das Pendant zum holistischen Denkstil bildet(vgl. ebd.: 192).

Die angehängte Tabelle (im Anhang unter Tabelle 1) gibt Aufschluss über die Unterschiede dieser beiden Lernstile. Kernaspekte sind dabei insbesondere das Lernen in Bildern, die gewünschte Strukturlosigkeit und Offenheit in der Aufgabenstellung, sowie eine kreative und ganzheitliche Bearbeitung der Aufgabe seitens der Hochsensiblen. Hinzuzufügen sei der Gruppe dieser holistischen Denker außerdem eine „intrinsische“ Motivation, eine von innen heraus kommende Motivation. So funktionieren übliche Strategien, die eine extrinsische Motivation hervorrufen wollen, nicht. Kinder üben dann Schulaufgaben gerne, wenn sie Gefallen daran finden, aber nicht, wenn man ihnen eine Belohnung nach Erledigung verspricht(vgl. Trappmann-Korr 2010: 75).

2.3)Arten/Ausprägungen von Hochsensibilität

Nun wurde bereits auf einige verschiedene Formen der Hochsensibilität eingegangen und diese bzgl. des BAS- und BIS Systems zugeordnet. Zu beachten ist dabei immer die Kombination mit einem holistischen Wahrnehmungs- und Denkstil. Denn nur wenn dieser vorliegt, liegt auch eine „echte“ HS vor.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nun gibt es jedoch noch weitere Zuordnungsschemata, bspw. lassen sich HSP in empathische, kognitive, sensorische und spirituelle HSM einteilen(vgl. Schorr 2011: 20).

Beim Typus der sensorischen HS kann angeknüpft werden an Obiges. Sie empfangen alle Reize über ihre Sinne intensiver. Geschmäcker, Gerüche, Geräusche usw. können schnell zu einer Überforderung führen und die Konzentration vermindern(vgl. ebd.).

Kognitive HSP besitzen eine ausgeprägte Intellektualität und Gabe zur Analyse, sie verfassen wissenschaftliche Texte oder sind Meister der Kommunikation. Oft lehnen sie ihre Emotionen ab und neigen dazu, alle Beobachtungen sachlich und logisch belegen zu wollen(vgl. ebd.: 22).

Die dritte Gruppe findet sich mit den spirituellen HSP. Sie „haben einen Zugang zur immateriellen Welt. Leicht fühlen sie sich zu esoterischem Gedankengut hingezogen und haben möglicherweise auch Wahrnehmungen, die sich dem Rest der Allgemeinheit verschließen“(ebd.: 23). Sie suchen nach dem tieferen Sinn in der Welt, dem Leben und ihrer Selbst. So finden sich diese Menschen häufig in Glaubensgemeinschaften oder in esoterischen Gruppen wieder(vgl. ebd.: 24).

Die empathischen Hochsensiblen besitzen die Fähigkeit, Gefühle ihres Gegenübers wahr- bzw. aufzunehmen und zu fühlen. Sie können Stimmungen „erfühlen“ und tendieren dazu, über ihre Ich-Grenzen hinaus zu gehen, was zu einer Unsicherheit über die eigene Identität führt(vgl. ebd.: 20f.). Auch Trappmann-Korr beschreibt in einem ganzen Kapitel die Besonderheiten der sogenannten „Empathen“. Empathische HSM haben eine Neigung zur Isolation, denn die extreme Ausprägung ihres Einfühlungsvermögens führt nicht selten zu Überlastungen. Bleibt die Belastung unerkannt oder wird verdrängt, entstehen häufig psychosomatische Beschwerden. Empathen seien demnach anfällig für Burn-Out, Depressionen, PTBS oder Angststörungen. Paradoxerweise umhüllen sich Empathen häufig mit einer Mauer aus „Gefühlskälte“, um sich zu schützen vor den vielen Gefühlseinströmungen der anderen. Nach außen können Empathen also wie Autisten wirken, dennoch liegt die Ursache des Insichgekehrtseins des Autisten an seiner Unfähigkeit soziale Bindungen einzugehen und der Bedeutungslosigkeit von Gefühlen, während bei HSM die Gefühlsebene die bedeutendste Rolle spielt und Ursache für den Rückzug ist(vgl. Trappmann-Korr 2010: 273/276).

Wenden wir uns der Neurologie zu, fällt der Blick auf die Entdeckung der Spiegelneurone von Giacomo Rizzalotti. 1992 beobachtete er das Verhalten von Affen, während man ihnen Nüsse anbot. Das sogenannte „Handlungsneuron“ eines Affen wurde sogar dann aktiv, wenn dieser nur hinter einer Scheibe sitzend den Mitarbeiter wahrnehmen konnte, der nach den Nüssen griff. So spielte es keine Rolle, ob der Affe selbst nach der Nuss griff oder ob er sehen konnte, wie ein anderer die Handlung vollzog(vgl. Bauer o.J.: 1). Empathen wird daher auch nachgesagt, sie haben eine besonders ausgeprägte Intuition und seien „hellsichtig“ bzw. „hellfühlig“. Trappmann-Korr unterscheidet die Empathen wiederum in Untergruppen. So kann der physische Empath auf körperliche Ebene wahrnehmen, was sein Gegenüber fühlt oder Magenschmerzen bekommen, wenn sein Gegenüber ihm Lügen unterbreitet. Der emotionale Empath dagegen kann mit den typischen „Sensibelchen“ assoziiert werden. Hier spielen, im Gegensatz zu physischen Schmerzen, Gefühle wie Angst oder Traurigkeit eine primäre Rolle. Diese HSM werden leicht verletzt, leiden an Durchsetzungsschwäche und bevorzugen Introversion. Die intellektuellen Empathen gleichen den kognitiven HSM und können Beobachtungen gedanklich nachvollziehen. Trappmann-Korr erwähnt ebenso die spirituellen Empathen, die Träger der Merkmale der bereits genannten spirituellen HSM sind ( vgl. Trappmann-Korr 2010: 290f.).

Meist existieren Mischformen der verschiedenen Typen und Hochsensibilität trifft laut Klages nur dann zu, wenn die folgenden drei Kriterien erkennbar sind: eine Überempfindlichkeit gegen Reize, die affektive Störbarkeit und die „Tendenz zur Kompensation“(vgl. Klages 1991: 142). „Zu den übrigen Symptomen, sozusagen zweiter Art, würden wir die allgemeine Instinktunsicherheit zählen, die schnelle Ermüdbarkeit und die Antriebsschwäche […], die Sachlichkeit, die Tendenz zu literarischer und künstlerischer Begabung, das gelegentliche Kokettieren mit den Symptomen“(ebd.: 142).

Differentialdiagnostisch stellte Klages fest, dass es eine ungeheure Anzahl an Charakter-Eigenschaften geben kann, die jedoch wiederum auf unterschiedliche Typen verteilt ganz anders sein können. Insbesondere benennt er Unruhe und Nervosität als eine Ausprägung von HS, auf der anderen Seite zählt er die Flucht in Tagträume ebenso zu den Charakteristika mancher HSM(vgl. ebd.: 142ff.).

Im folgenden Kapitel soll versucht werden, die Eigenschaften der HSM überblicksartig darzustellen und auf das Verhältnis zwischen Umweltbedingungen und Hochsensiblen einzugehen. Auch wird näher auf die von Klages zitierte „Tendenz zur Kompensation“ eingegangen und die Grenzen zum Pathologischen untersucht.

2.4.) Zwischen Genie und Wahnsinn

2.4.1) Charakteristika und Verhalten der HSP und die Grenzen zum Pathologischen

Klages beschreibt drei Formen des mehr oder weniger „pathologischen“ Umgangs mit der eigenen Sensibilität. Neben dem „ Prinzip Maske “, mit dem versucht wird, die eigene Persönlichkeit mit einer Schein-Persönlichkeit zu überdecken oder der Flucht in Fantasiewelten, nennt er als dritte Möglichkeit die „ innere Emigration “(vgl. Klages 1991: 92f.),. Diese drückt sich durch Passivität, Rückzug und Isolation aus(vgl. ebd.:111). Das Prinzip Maske wählen nach Klages insbesondere Menschen, die einen starken Antrieb haben, versuchen mit erhöhter Aktivität ihre Maske zu leben. Menschen, die über einen mittelstarken Antrieb verfügen flüchten sich häufig in Traumwelten und „primär antriebsschwache“ HSP suchen ihren Ausweg in Ruhe und Einsamkeit(vgl. ebd.: 114).

Wenn diese Formen der Kompensation -die durchaus nützlich und sinnvoll sein können, wenn sie im rechten Maße ausgeübt werden- ungenügend sind oder erschöpft werden, kann es laut Klages zu einem „neurasthenischen Erschöpfungssyndrom“ kommen(vgl. ebd.:115). „Es kommt oft nach Phasen jahrelanger psychischer Beherrschung und Disziplin ganz plötzlich[…] zu einem Gefühl der völligen Erschöpfung. Dieses wird begleitet von vegetativen Krisen. Sie sind durch eine Neigung zur Tachykardie, durch vermehrtes Schwitzen, weite Pupillen, Wechsel der Gesichtsfarbe, vermehrtes Dermographismus, Hyperdrosis, Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, Störungen der Nahrungsaufnahme gekennzeichnet. Sie sind häufig verbunden mit Kopfdruck und einem Gefühl der allgemeinen Leistungsschwäche.“(ebd.: 115) Heute umschließt die Modeerscheinung „Burn-Out“, im ICD-10 unter der Kategorie Z 73.0 zu finden, die genannten Symptome.

Die in allen Kapiteln bereits genannte Überempfindlichkeit der Hochsensiblen führe laut Klages zu einem erheblichen Bedürfnis nach Einsamkeit(vgl. Klages 1991: 132f.). Die niedrigen Reizschwellen des thalamischen Nervensystems seien nach Klages verantwortlich für ein „Verschwimmen der Ich-Grenzen“, eine Charakteristik die nahe an den schizophrenen Formenkreis erinnert(vgl. ebd.: 133). Es wurde bereits genannt, dass insbesondere Empathen diese Gabe in Bezug auf Gefühle oder Empfindungen anderer Menschen haben. So fühlen sie was ihr Gegenüber fühlt, beginnen sich in Gestik, Mimik und Aussprache so zu verhalten wie ihr Gegenüber es tut. Dies hat laut Klages „Entfremdungsgefühle“ bzw. „Depersonalisationserlebnisse“ zur Folge. Der Hochsensible weiß nicht mehr wer er selbst ist, denn die Grenzen zur Umwelt verschwimmen(vgl. ebd.: 134).

So sehr Klages hier aber auch die Hochsensibilität versucht dem Pathologischen zuzuordnen, stellte er immer wieder fest, dass zwar all diese Eigenschaften ins Pathologische führen können, sozusagen eine ausgeprägte Vulnerabilität vorzufinden ist, dennoch bewegt es sich ständig an den Grenzen der Pathologie und Normalität, sodass es nur bedingt zu eindeutigen Symptomen der schizophrenen Formenkreises kommt(vgl ebd.: 138f.). Alle bisher genannten Charakteristika hatte Klages anhand des Poeten Rainer Maria Rilke aufgezählt. Klages stellte fest, dass eine derart hohe sensible Veranlagung häufig bei Personen in philosophischen oder künstlerischen Bereichen vorzufinden sei. So finden sich hierbei gleichermaßen neben den herausfordernden Aspekten der Hochsensibilität auch deutliche Gaben und Fähigkeiten, die sich in ihren Werken wiederspiegeln(vgl. ebd.:135).

Die von Klages erwähnte erhöhte Vulnerabilität bestätigt auch Schorr. Nach ihr erleben HSM sehr häufig traumatisierende Situationen. Diese Traumata können sehr subtil geschehen, bei HSM genügen bereits ein verletzendes Wort oder besondere Begegnungen um Stress zu erzeugen und zu „kleinen Schocks“ zu führen(vgl. Schorr 2011: 33). Dem sei jedoch hinzuzufügen, dass HSM zwar im Alltag unter einer geringen Widerstandskraft leiden in Bezug auf widrige Umstände; in Krisensituationen seien sie dennoch extrem resilient(vgl. ebd.: 33f). Erklärt werden kann dies dadurch, dass HSM „in ihrer Gedanken- und Vorstellungswelt oft Szenarien entwerfen, die sie Krisensituationen quasi als „Trockenübung“ durchleben lassen“(ebd.: 34). Schorr fügt außerdem als typische Charakteristik von HSM hinzu, dass sie häufig (zu) hohe Ansprüche, sowohl an sich selbst, als auch an andere, stellen. Diese außerordentliche Fehlersensibilität zeigt sich in jedem Lebensbereich, sei es im Beruf, beim Gestalten des Wohnumfeldes, bei der Auswahl der Kleidung etc.(vgl. ebd.: 37). Parlow unterstreicht diese Eigenschaft und konstatiert, dass es dadurch bei HSM in Prüfungssituationen zu großem Stressempfinden kommt, bzw. sie durchschnittlich in Prüfungssituationen schlechter abschneiden als sie es in anderen Situationen bei der gleichen Aufgabe tun(vgl. Parlow 2003: 40f). Sie unterweisen sich selbst ebenfalls hohen ethischen Standards, nach denen sie ihr Leben ausrichten. Neben der Suche nach dem Sinn des Lebens streben sie auch nach allumfassender Gerechtigkeit und einem friedlichen Miteinander(vgl. ebd.: 39f). Wenn ihr Perfektionismushang in eine erlöste Form mündet, findet man HSM häufig in spirituellen oder religiösen Lebensbereichen wieder, in denen sie nach der Vollkommenheit oder der „universellen Liebe“ streben(vgl. ebd.: 46). HSM haben ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Harmonie in ihrer Umgebung. Besonders die empathischen HSM verlangen nach einem harmonischen Miteinander, da sie alle Schwingungen und Gefühle der anderen aufnehmen. Paradoxerweise sehnen sie sich zwar sehr nach Nähe und Intimität, aber ihre Angst vor Überstimulation bringt sie ebenso sehr dazu, Menschen und Beziehungen zu meiden und lassen deutlich hervor klingen, dass man sie besser mit zu viel Nähe verschonen soll(vgl. Schorr 2011: 40). Dies erinnert an die Aussagen im vorigen Kapitel bezüglich der Empathen unter den Hochsensiblen. In Konfliktsituationen neigt der hohe Prozentanteil der HSM dazu, sich zurückziehen, was dann dazu führt, dass er seine Interessen nicht vertreten oder durchsetzen kann(vgl. Parlow 2003: 42f).

Die bereits genannte Tendenz zum intensiven Nachdenken bzw. Nachfühlen bestimmter Ereignisse und das holistische Denkmuster lassen HSM oftmals entscheidungsschwach und in ihren Reaktionsmodi langsam erscheinen. Dadurch, dass sie Schwierigkeiten haben, Prioritäten zu setzen („alle Geräusche sind (gleich) laut, alle Bereiche sind (gleich) wichtig“) tendieren sie dazu, in Entscheidungssituationen verschiedene Bekannte um ihre Meinung zu fragen, übernehmen deren Standpunkte dann zeitweise und überlegen sich es plötzlich wieder ganz anders(vgl. ebd.: 37f.). Insbesondere empathische HSP nehmen die Meinung der anderen auf; oder das „begabte“ Kind hat die Tendenz zur Anpassung an andere, oft ohne dies bewusst wahrzunehmen. Diese Entscheidungsschwierigkeiten stellen viele HSM insbesondere in beruflicher Hinsicht vor dilemmatische Situationen(vgl. Schorr 2011: 47). Dabei besitzen HSM in der Regel eine gut ausgeprägte Intuition und würden sie dieser vertrauen, würden sie quasi „automatisch“ den für sie passenden Weg einschlagen(vgl. Parlow 2003: 32f). Denn ihre reiche Vorstellungsgabe hilft ihnen auch, ihre Ziele zu verwirklichen, da sie zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit keine Grenze ziehen, wenn sie sich also intensiv ein Ereignis vorstellen, z.B. in Gedanken ein Bewerbungsgespräch mit positivem Resultat führen, so können sie gestärkt und selbstsicher in das Gespräch gehen und es auch in der Realität zum Positiven wenden. Mit derselben Stärke und Intensität erleben sie jedoch auch ihre Ängste und negativen Emotionen, die sie dann in panische Situationen kommen lässt und bei dauernder Stimulation zu Stresskrankheiten führen kann(vgl. Parlow 2003: 36f). Doch wie bereits bezüglich des „hochbegabten Kinds“ aufgeführt wurde, wollen HSM die Erwartungen ihrer Eltern, Lehrer oder anderer Bezugspersonen nicht enttäuschen und nehmen daher (auch unbewusst) Jobs an, die ihnen im Grunde genommen nicht liegen oder in denen sie keine Erfüllung finden(vgl. Schorr 2011: 49). Ich wähle hier deshalb den Begriff der Erfüllung, da HSM ihren Beruf mit einer Berufung gleichstellen, sie wollen ihre Ideale, Fähigkeiten und ihr schöpferisches Potential einbringen, in gleichem Maße wie sie ihre hohe Sensibilität zum Ausdruck bringen möchten(vgl. ebd.: 50f).

Auch gehören HSM zu besonders guten Zuhörern, sie bilden eine Art „menschliche Klagemauer“ und haben die Tendenz das Elend der Welt auf sich zu nehmen und als Kummerkasten zu fungieren(vgl. Parlow 2003: 41f.). In ihrer psycho-emotionalen Gesundheit werden sie durchaus schnell verletzt, da sie sich jedes Wort sehr zu Herzen nehmen und sich bei einem „falschen“ Wort angegriffen fühlen(vgl. ebd.: 83). Parlow erwähnt außerdem eine erhebliche Schwächung des Selbstwertgefühls bei vielen Hochsensiblen, was möglicherweise dadurch zu erklären ist, dass sie durch ihre Charaktermerkmale nicht zum mehrheitlichen Rest der Menschen passen und ihre Art und Weise von anderen z.B. als ein „Auf-sich-aufmerksam-machen-Wollen“ interpretiert werden kann(vgl. ebd.:87f.).

Um von den emotionalen Komponenten der Persönlichkeit zu den physischen Komponenten zu kommen, lässt sich sagen, dass HSP schneller ihre Schmerzgrenze erreichen, ihren Körper, dessen Signale und eventuelle Veränderungen intensiver und früher wahrnehmen, wodurch sie auch schneller in ihrem physischen und psychischen Wohlbefinden beeinträchtigt sind. Bezug nehmend auf die Gesundheit stellte Parlow fest, dass HSM eine Neigung zu Allergien haben, auf Medikamente, Koffein, Alkohol etc. stärkere Reaktionen zeigen(vgl. ebd.: 75).

Ich habe die vielfältigen Erkenntnisse über die Charaktermerkmale der Hochsensiblen anhand folgender Tabelle einer Ordnung unterzogen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Erstellt von J.B.

Eine scharfe Trennung und Zuordnung der einzelnen Charaktereigenschaften zu den Persönlichkeitsmerkmalen ist wie in der Tabelle nicht möglich, da die Grenzen auch hier verschwimmen. Auch habe ich die Charakteristika bewusst keiner Wertung unterzogen, denn jede Eigenschaft kann sich positiv, wie auch negativ auswirken, so kann der Hang zum Perfektionismus durchaus ins Negative kippen, wenn utopische Ansprüche vorherrschen und die Person wird zunehmend unzufriedener, wenn sie das gesteckte Ziel nicht erreichen kann. Zudem ist hinzuzufügen, dass Hochsensible ein uneinheitliches, ambivalentes, wenn gar paradoxes Persönlichkeitsbild abgeben: Zwar benötigen sie Harmonie und Vollkommenheit, sind gewissenhaft und liefern gute Zuhörer ab, doch sobald sie ihre Grenzen überschreiten/überschritten werden und sie über- oder unterstimuliert sind, kippt ihre Stimmung vom einen auf den anderen Moment. Haben sie zum Beispiel Hunger, werden sie reizbar und launisch und es scheint, als würden sie Konflikte herausfordern oder sie ziehen sich zurück und isolieren sich(vgl. Parlow 2003: 43).

„Bei ungünstigen Umweltbedingungen zeigen HSM ausgeprägte Introversion, Schüchternheit, eine soziale Angststörung, Vermeidungsverhalten, Schizotypie, Schizophrenie, Neurotizismus, psychosomatische Beschwerden“(Trappmann-Korr 2010:104). Folgen wir Trappmann-Korr und legen wir den Fokus insbesondere auf den ersten Teil der Aussage, gilt es also, den Umweltbedingungen eine primäre Rolle zuzuschreiben und diese genauer zu untersuchen.

Betrachten wir erneut die Grafik des Yerkes-Dodson Gesetzes (Anhang: Grafik 1), ist logisch nachvollziehbar, dass HSP einfach die „perfekte Mitte“ benötigen, um sich wohl zu fühlen. Haben sie jedoch „ihre Mitte“ gefunden und sind in Balance, steigen sie zu Höchstformen auf. Diese Mitte verlassen HSP allerdings häufig; wenden wir uns der Tabelle zu, entdecken wir die Gefahr hier insbesondere in dem „Verschwimmen der Ich-Umwelt-Grenzen“. Wenn diese Grenzen verschwimmen, bekommt die Umwelt eine noch größere Bedeutung.

Aron nennt zwei Möglichkeiten, um aus der inneren Mitte zu kommen: der Rückzug ins Innere oder die zu starke Konfrontation mit der Außenwelt. Die übertriebene Form der Isolation schildert Aron anhand einer kurzen Geschichte von einem Mann, der mit Stress im Leben nicht zurecht kam. Er beschloss, in einer abgeschiedenen Höhle zu leben und dort für den Rest seines Lebens zu meditieren. Allerdings kam er sehr schnell wieder von dem Gedanken ab, da er durch das Tropfen des Wassers am Eingang der Höhle gestört wurde und völlig aus der Entspannung gebracht wurde. Aron schlägt daher vor, dass ein gewisses Maß an Aktivität vorhanden sein sollte und als „Desensibilisierung“ dienen kann(vgl. Aron 2005: 92f.). Der entgegengesetzte Charakter ist überaktiv und wendet sich zu sehr ins Außen. Diese selbst herbeigeführte Überforderung führt zu den Symptomen, die bereits beim neurasthenischen Erschöpfungssyndrom aufgezählt wurden. Häufig überfordern sich HSP, weil sie zu viele Dinge auf einmal verwirklichen möchten. Hier kommt auch wieder die für sie typische Entscheidungsschwäche hinzu, die es noch schwieriger macht, Dinge zu sortieren und nach Wichtigkeit zu ordnen. Auch haben viele HSP große Probleme mit dem „Nein sagen“ oder dem Abschlagen von Wünschen anderer, was wiederum in Überbelastung mündet(vgl. ebd.: 94f).

Dazu möchte ich einen Blick auf unser aktuelles Gesellschaftssystem werfen. Alleine bereits durch die enorme Reizüberflutung (TV, alle Arten von Medien, immer schneller werdende Autos, verlangte Multitaskingfähigkeit etc.) werden HSM einer herausfordernden Umwelt ausgesetzt. Die Schnelligkeit der Technik und der Hang zum Materialismus spiegelt, was die Gesellschaft auch vom Menschen erwartet. Sie begünstigt „Handler“, Schnelligkeit, Reaktion im Außen, Arbeiten mit System etc. Der weitaus größere Teil der Menschheit wird begünstigt und präferiert(vgl. Parlow 2003: 69). Emotionen und Gefühle werden vernachlässigt, „Gefühle machen blind“. Es herrscht eine Abwertung des weiblichen Prinzips(vgl. Trappmann-Korr 2010: 153).

Schorr erstellte eine Tabelle, die die Gegensätzlichkeiten im Bereich Beruf/Arbeit für HSM deutlich macht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Tabelle: Schorr 2011: 46)

Wie lässt sich Hochsensibilität also einordnen? Ist es eine Krankheit? Kann man Hochsensibilität „diagnostizieren“? Bedarf es einer Behandlung?

Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Fragen, komme ich erneut zurück auf das Vulnerabilitäts-Stress-Modell und auf die Beobachtungen Klages‘. Demnach wäre HS als Faktor zur erhöhten Vulnerabilität anzusehen, jedoch nicht per se als Krankheit. Erst durch die Umweltbedingungen und etwaige Belastungssituationen können psychische oder physische Störungen oder Krankheiten ausbrechen.

Um dieses Kapitel abzuschließen, möchte ich noch ein passendes Zitat von Schorr einfügen: „Galten Kinder mit einer Veranlagung zur Stressempfindlichkeit […] als von Geburt an gefährdet und gar belastet, stellt sich nun heraus, dass viele dieser Kinder allem voran ein großes Potential haben-wenn sie nur in einem emotional unterstützenden, fördernden Umfeld aufwachsen.[…] Manche Forscher sprechen sogar davon, dass gerade auf Grund solcher Erfahrungen [gemeint sind: belastende Familienkonstellationen] Kreativität, schöpferisches Genie und andere Eigenschaften zur Entfaltung kommen können. Bei aller gebotenen Vorsicht solchen Interpretationen gegenüber scheint es tröstlich, sich bewusst zu machen, dass gerade auch wegen der hochsensiblen Veranlagung die Betroffenen eine besondere Widerstandsfähigkeit […] und ihre Fähigkeit, belastende Erfahrungen zu transformieren, mit auf diese Welt bringen. Sie kommen nicht mit „Pathologiegenen“ zur Welt, sondern ihr Erbgut reagiert verstärkt auf das Gute wie Schlechte in der Welt.“(Schorr 2011: 45)

2.4.2) Vom goldenen Mittelweg: Umweltbedingungen und Lernaufgaben für HSP

Bezug nehmend auf die Tabelle im vorigen Kapitel in Bezug auf die Persönlichkeitsmerkmale, möchte ich in diesem Abschnitt Kernpunkte der HS in meinen eigenen Worten wiedergeben und auf mögliche, fördernde Umweltbedingungen und eventuelle Lernaufgaben schließen lassen.

Durch die hohe sensorische Wahrnehmung lässt sich erklären, dass HSM einer reizarmen Umgebung bedürfen, sie bevorzugen ein ruhiges Miteinander, benötigen im Falle einer Überstimulation Rückzugs- „Fluchtmöglichkeiten“. In Situationen, die große Veränderungen mit sich bringen (Umzug etc.) sollte nach Parlow auf die Beibehaltung bisheriger Routinen und Rituale geachtet werden(vgl. Parlow 2003: 63). Die Wahrung ihrer Privats- und Intimsphäre stehen ganz oben auf der Rangliste. Wichtig sei dabei, dass bei der Umgebung immer die „goldene Mitte“ getroffen wird. Zu wenige Reize, bspw. ein zu leeres Zimmer wirkt dann schnell kalt und ungemütlich auf HSM. Da HSM in Prüfungssituationen häufig unter Druck stehen und weniger gute Leistung erbringen, benötigen HSM demnach wahrscheinlich eine kontrollarme Umwelt, wenig Druck- und Konkurrenzsituationen, bevorzugen ein Leben an der „langen Leine“. Ihnen ist es vermutlich wichtig, dass man ihnen vertraut, sie fördert, ermutigt und anerkennt. Insbesondere auf Grund ihres geschwächten Selbstwertgefühls und des ohnehin vorhandenen Perfektionismustriebs könnten sie sonst schnell zu Nervosität und Unruhestörungen neigen. Sie benötigen Harmonie in jeder Form und gedeihen gut in friedlichem Miteinander. Sie erwarten Toleranz gegenüber ihres feinen Wesens und meiden Menschen, die verletzende Aussprachen verwenden. Auf Grund ihres feinen Gespürs für innere Prozesse ihres Gegenübers benötigen sie meines Erachtens nach ein hohes Maß an Authentizität bei anderen, da sie unechtes oder aufgesetztes Verhalten schnell durchschauen. HSM möchten ihre Freiheit, wollen ihr kreatives und schöpferisches Potential ausleben und darin ermutigt werden. Auf der Suche nach dem tieferen Sinn des Lebens und durch ihre intrinsische Motivation, geht es HSM weniger um materielle oder äußere Werte, wie Geld, Besitz, Reichtum, sondern eher um Achtung und Anerkennung im Dialog. Sie wollen mitdenken und mitentscheiden und Neues ausprobieren. Durch ihre hohe emotionale Verletzlichkeit erwarten sie eine fehlerfreie Kommunikation, so wie sie auch durch ihren Perfektionismushang im Grunde genommen eine perfekt gestaltete Umgebung erwarten. Schenkt man ihnen Vertrauen, versuchen sie womöglich durch ihre hohe Fehlersensibilität alles richtig zu machen, entgegnet man ihnen allerdings mit Misstrauen, beginnen sie sich in ihrem Selbstwert zu schwächen und sich zu sehr von anderen beeinflussen und leiten zu lassen. Ich denke also, sie benötigen Transparenz in jeder Hinsicht, sie wollen wissen, was, wann, wo und warum geschieht, da sie sich sonst bestimmten Situationen kontrolllos ausgesetzt fühlen, was sie in ihrem planenden Wesen unsicher werden lässt. Ich denke, es ist wichtig für HSM über ihre Gefühle sprechen zu können, denn wenn die emotionale Komponente in der heutigen Gesellschaft kaum Berücksichtigung erfährt, wenn HSM die Erfahrung machen, ihre Gefühle seien negativ oder schädlich, dann beginnen sie, diese zu unterdrücken und erfüllen nur noch die Wünsche der anderen. Durch die Unterdrückung eigener Gefühle kann es dabei dann, wie bereits erwähnt, zu psychosomatischen Beschwerden kommen.

Kurzum: HSM benötigen eigentlich eine fehlerfreie Umwelt und erwarten von Menschen ihres Umfelds Perfektion. Sie streben nach Balance in allen Bereichen und haben fast utopische Erwartungen. Doch nicht nur die Rahmenbedingungen sollten angepasst werden an die Art und Weise der Hochsensiblen, sondern es bedarf auch einer Innenschau und Übung der Hochsensiblen mit ihrem „So-Sein“ umzugehen. Insbesondere auf Grund ihrer Ambivalenzen ist bei allem Verständnis für die Sensibilität auch Konfrontation mit dem Verhalten von Bedeutung. Denn da im Leben nichts perfekt sein kann, erleben sie immer wieder Enttäuschungen. Eine Lernaufgabe der HSM ist es also, anzuerkennen, dass Fehler zum Leben gehören. Die Annahme und Akzeptanz, die sie von anderen erwarten, müssen sie lernen, sich selbst geben zu können. Toleranz gegenüber sich selbst und anderen ist eine der großen Aufgaben eines jeden HSM. Zu diesem Thema gehört auch, dass HSM lernen sollten, sich realistische Ziele zu setzen. Dies bewirkt sekundär eine Stärkung ihres Selbstwertes, doch sie müssen trotz allem lernen, Selbstbewusstsein aufzubauen. Ein Anstreben realistischer Ziele sollte auch auf anderer Ebene einstudiert werden, neigen doch manche HSP zu Tagträumereien und streben nach dem Erleben surrealer Zustände. Hier sei auf die Differenzierung von Realität und Traumdenken hervorzuheben. Durch das hohe Maß an Empathie bekommt auch das Thema Abgrenzung eine besondere Bedeutung. Erkennen eigener Wünsche und Bedürfnisse und derer der anderen. Dazu gehört es zunächst, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und deuten zu können. Im richtigen Moment können HSP vertrauen, auf ihre Intuition zu hören und dieser nachzugehen.

In Bezug auf die Entscheidungsschwäche seien noch Unterscheidungsfähigkeit und Prioritätensetzung zu den wichtigen Lernaufgaben zu nennen.

Im Rückblick auf dieses Kapitel fällt auf, wie hoch die Ansprüche aus Sicht der Hochsensiblen an die Umwelt sind und es stellt sich die Frage inwieweit diese Ansprüche erfüllbar sind bzw. ob das Verlangen nach Harmonie in jeglicher Form und Farbe nicht auch utopisches Potential beinhaltet. Zunächst kommt der Gedanke, für Hochsensible die komplette Umwelt umbauen zu müssen. Wie kann also ein Umgang mit Hochsensiblen gelingen, insbesondere im Bereich der Beratung? Auf der Suche nach einem geeigneten Ansatz bin ich während der Auseinandersetzung mit verschiedenen Beratungsmethoden unter Anderem auf die klientenzentrierte Gesprächsführung gestoßen. Daher soll die klientenzentrierte Gesprächsführung nach Carl R. Rogers im kommenden Kapitel zentraler Inhalt der vorliegenden Studienarbeit sein. Dieser Ansatz wird dann auf die Typologie der Hochsensiblen spezifisch hin untersucht werden und die „Passgenauigkeit“ überprüft.

[...]

Ende der Leseprobe aus 151 Seiten

Details

Titel
Voll Sinn-voll. Klientenzentrierte Gesprächsführung im Rahmen des § 16a SGB II mit hochsensiblen Persönlichkeiten
Hochschule
Duale Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart, früher: Berufsakademie Stuttgart  (Landratsamt Böblingen)
Note
1,1
Autor
Jahr
2014
Seiten
151
Katalognummer
V275883
ISBN (eBook)
9783656685531
ISBN (Buch)
9783656685524
Dateigröße
9061 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
mit separater Handreichung
Schlagworte
sozial, Sozialarbeit, klientenzentriert, Beratung, Einzelfallhilfe, hochsensibel, Hochsensibilität
Arbeit zitieren
Julie Bergé (Autor:in), 2014, Voll Sinn-voll. Klientenzentrierte Gesprächsführung im Rahmen des § 16a SGB II mit hochsensiblen Persönlichkeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275883

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