Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Analyse des Protagonisten Carl Haffner in Carl Haffners Liebe zum Unentschieden von Thomas Glavinic
2.1 Charakterisierung Carl Haffners
2.2 Familie und Kindheit
2.2.1 Beziehung zum Vater
2.2.2 Beziehung zur Mutter
2.2.3 Beziehung zur Halbschwester
2.3 Liebe
2.4 Schach
2.5 Hunger, Armut, Tod
3 Schlussbemerkungen
4 Literaturverzeichnis
4.1 Primärliteratur
4.2 Fachliteratur
1 Einleitung
Carl Haffners Liebe zum Unentschieden, 1998 erschienen , ist der erste Roman des österreichischen Schriftstellers Thomas Glavinic. Die Romanfigur Carl Haffner basiert auf der historischen Figur des österreichischen Schachspielers Karl Schlechter, der im Jahr 1910 gegen den amtierenden deutschen Weltmeister Emanuel Lasker zur Schachweltmeisterschaft angetreten ist.1 Erzählt wird von der Austragung des Wettkampfes, unterbrochen von Rückblenden, die Einblick in die Familiengeschichte Carl Haffners und seines Privatlebens gewähren. Das Leben von Carl Haffner beginnt trostlos, wird in der Jugend hoffnungsvoll und endet in einem tragischen Hungertod.
Die Titelfigur des Romans hinterlässt einen bleibenden Eindruck und viele offene Fragen. Die folgende Arbeit wird sich mit dieser Fragestellung beschäftigen, welche Persönlichkeit sich hinter diesem Mann verbirgt, der sein Leben dem Schach gewidmet hat. Es soll der Versuch unternommen werden, den Protagonisten Carl Haffner auf psychologischer Basis hin zu analysieren. Dabei sollen alle Aspekte mit einbezogen werden, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben. Begonnen wird mit einer allgemeinen Charakterisierung, in der zunächst Carls Wesen beschrieben werden soll. Daraufhin soll ein Blick in seine Kindheit und Familiengeschichte Aufschluss über seine Wurzeln geben. Die Beziehung zu seinen Familienangehörigen wird ebenfalls näher beleuchtet. Nach dieser Familienanalyse, soll das Leben des erwachsenen Carl Haffners im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Von Interesse ist dabei seine Sexualität, beziehungsweise sein Liebesleben und seine Beziehung zum Schach. Am Ende seines Lebens nehmen Armut und Hunger eine immer größere Rolle ein. Deshalb wird im letzten Kapitel der Analyse, der Frage nachgegangen, wie es zum Hungertod Carls kommen konnte. In einem abschließenden Resümee sollen alle Ergebnisse der Analyse zusammengefasst werden.
Der Roman ist vor 14 Jahren erschienen, dennoch ist die bisherige Sekundärliteratur sehr rar. Es gibt nur einige Rezensionen zum Buch. Mit der Figur des Carl Haffner hat sich die Forschung bisher noch nicht im Detail auseinandergesetzt. Es gibt daher kaum geeignete Sekundärliteratur, auf die diese Arbeit zurückgreifen könnte. Die Analyse wird deshalb weitestgehend textimmanent bleiben, wobei aber geeignete Fachliteratur zu den spezifischen Themen des Romans zu Rate gezogen werden.
2 Analyse des Protagonisten Carl Haffner in Carls Haffners Liebe zum Unentschieden von Thomas Glavinic
2.1 Charakterisierung Carl Haffners
Carl Haffner wächst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien auf. Er wird in ärmliche Verhältnisse hineingeboren. Da der Vater die Familie früh verlässt, wird Carl hauptsächlich von seiner Mutter aufgezogen.
Bereits als Kind ist Carl schüchtern und in sich gekehrt. Er ist ein stilles, nicht leicht zugängliches Kind. In der Schule gehört er zu den schwächeren Schülern und er hat kaum Freunde. Er wird jedoch nicht als melancholisches Kind beschrieben. „Die Freudlosigkeit überwog nicht in seinem Wesen. Er konnte stundenlang im Gras liegen und zufrieden einen Baum beobachten“.2 Demnach ist Carl ein Einzelgänger, der mit seiner Situation jedoch zufrieden ist.
Dass Carl trotz seiner schwachen schulischen Leistungen eine bemerkenswerte Auffassungsgabe hat, macht sich bei einem Spiel bemerkbar, dass die Familie zu besonderen Anlässen spielt, das „Augenrätsel“ (S. 44). In diesem Spiel muss jeweils der Gegenstand entdeckt werden, der aus dem Raum entfernt wurde, wobei man die Augen verbunden bekommt. Carl bemerkt, trotz seines jungen Alters, sofort jede kleinste Veränderung.
Carls Leben ändert sich, als er seine Liebe zum Schach entdeckt. Von nun an konzentriert er sich nur noch auf dieses Spiel. Alles andere erscheint ihm unwichtig.
Sein Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen ist immer freundlich, aber distanziert. Er baut zu niemanden, mit Ausnahme seiner Halbschwester, eine engere Bindung auf.
Carls Charakter ist sehr passiv und introvertiert. Er tut nichts im Leben aus einem eigenen Antrieb heraus. Seine Mutter bestimmt über seine Ausbildung, sein Ausbilder Samuel Gold führt ihn in die Schachwelt ein und der Schachclub bestimmt, dass er zur Weltmeisterschaft antreten soll. Carl widersetzt sich niemals, er verweigert sich höchstens. Beispielsweise geht er einfach nicht mehr zum Schulunterricht, weil er lieber Schach spielen möchte oder weigert sich Geld anzunehmen, weil er es für unangemessen hält.
Carl ist somit ein zurückhaltender, schüchterner Einzelgänger, der Wert auf seine Prinzipien legt und eine Leidenschaft für das Schachspiel hat.
Nachdem nun Carls Charakter in seinen Grundzügen beschrieben wurde, soll seine Figur im Folgenden auf verschiedene Perspektiven hin genauer beleuchtet werden. Zu Beginn steht Carls Kindheit und Familiengeschichte im Mittelpunkt der Betrachtung.
2.2 Familie und Kindheit
2.2.1 Beziehung zum Vater
Obwohl er nur kurze Zeit an Carls Leben beteiligt war, ist der Vater eine der wichtigsten und prägendsten Personen für Carl.
Der Vater Adalbert Haffner wuchs zusammen mit seinen drei jüngeren Schwestern in einer Künstlerfamilie auf. Sein Vater Siegfried schrieb fürs Theater und war damit zumindest so erfolgreich, dass er seine Familie ernähren konnte. Die Mutter war eine erfolglose Schauspielerin und hat sich mit ihrer Rolle als Hausfrau gezwungenermaßen abgefunden. Siegfried selbst wurde von seinem Vater zu einem Medizinstudium gedrängt. Diesem Weg widersetzte sich Siegfried aber und wurde Dichter (S. 29). Dieser Tradition folgend wollte Siegfried wiederum Adalbert eine Karriere als Musiker aufzwingen. Adalbert trat mit seiner Geige jedoch nur in Kneipen auf und brach den Kontakt zu seiner Familie ab.
Sowohl der Urgroßvater als auch der Großvater von Carl waren tyrannische Väter, die als Familienoberhaupt über das Schicksal ihrer Söhne entscheiden wollten. Das führte jeweils zu VaterSohn-Konflikten und schließlich zum endgültigen Bruch.
Adalbert Haffner bricht nun als Familienvater mit dieser Tradition. Er ist kein tyrannischer Vater, der seinen Sohn kontrollieren will. Ihm ist dagegen jegliche Verantwortung zu viel. Zu Carls Mutter, Maria, hatte er von Beginn an eine Beziehung, die nicht als leidenschaftliche Liebe bezeichnet werden kann, sondern eher als vertraute Zuneigung (S. 40). „Es war gut, daß sie da war, aber er liebte sie nicht“. Auch beruflich ist der Erfolg ausgeblieben und so wird Adalbert immer unzufriedener, bis er schließlich Lisl kennenlernt und sich in sie verliebt. Die Beziehung zu seinem Sohn Carl ist komplex. Sein Sohn ist ihm nicht gleichgültig, er kann ihm aber nicht die Zuwendung geben, die er braucht. Carl dagegen versucht alles, um die Aufmerksamkeit des Vaters zu gewinnen. Sinnbildlich für die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist das gemeinsame Schachspiel, das ausschließlich nachts mit jeweils einem Zug stattfindet. Für Carl bedeutet das Spiel mit seinem Vater alles, Adalbert belustigt die Begeisterung des Jungen dagegen nur (S. 70). Carl ist völlig auf seinen Vater fixiert. Er hat immer Angst, Adalbert müsse vielleicht in den Krieg und könnte dabei getötet werden (S. 69). Verlustängste plagen den Jungen schon lange Zeit bevor der Vater wirklich die Familie verlässt. Zum ersten Mal wird dies deutlich, als Carl im bereits erwähnten Spiel fehlende Gegenstände erkennen muss. Einmal versteckt sich nämlich der Vater hinter dem Vorhang. Carl kommt nicht darauf, was im Raum fehlt und bricht in Tränen aus, als der Vater hervortritt (S. 45).
Als Adalbert die Familie verlässt, schenkt er Carl zum Abschied ein Schachspiel (S. 80). Es scheint, als wolle der Vater damit sein Gewissen beruhigen. Für Carl ist es das einzige, was ihm vom Vater geblieben ist. Von da an gibt es in seinem Leben nur noch Schach und er interessiert sich für nichts anderes mehr. Eine Art Vaterersatz findet Carl in Samuel Gold, der Carls Talent als Schachspieler fördert. Aus Furcht vor Progromen, flieht der jüdische Kaufmann jedoch einige Jahre später nach Amerika. Wieder wird Carl von einer männlichen Bezugsperson verlassen.
Der Verlust des Vaters hatte für Carl weitläufige Auswirkungen. Die Vater-Kind-Bindung ist genau wie die Mutter-Kind-Beziehung für die Entwicklung des Kindes sehr wichtig. Der von Sigmund Freud entwickelte Begriff „Ödipuskomplex“ beschreibt ein psychoanalytisches Konzept, nach dem ein männliches Kind in seiner sexuellen Entwicklung unbewusst gegenüber der Mutter sexuelles Begehren empfindet und den Vater als Rivalen sieht, den es loswerden möchte.3 Dieses Konzept entspräche nach Freud dem Normalfall. Wenn der Vater aber zu weit abseits der Mutter-Kind-Dyade steht und er dem Sohn zu früh Liebe verweigert oder angst vor Zärtlichkeiten hat, kann es sein, dass das Verhältnis gestört wird. Aus dieser Situation heraus entwickeln Söhne häufig eine idealisierende Liebe zum Vater, bis hin zur Unterwürfigkeit.4 Verstärkt werde dieser „negative Ödipuskomplex“ zusätzlich durch die emotionale Abwesenheit des Vaters, die dann vorliegt, wenn die Mutter in der Erziehung dominiert und der Vater an der Entwicklung des Kindes desinteressiert ist.5 Die Entidealisierung des Vaters findet für gewöhnlich in der späten Adoleszenz statt, wenn der Sohn selbst zum Mann heranreift. Wenn der Vater in dieser Phase jedoch nicht mehr anwesend oder bereits verstorben ist, bleibt es meist bei der Idealisierung des Vaters.6
Das Konzept des „negativen Ödipuskomplexes“ lässt sich auf Carl Haffner und seinen Vater übertragen. Die Zurückweisungen des Vaters führten ebenfalls zu einer Idealisierung, die durch sein Fortgehen nicht mehr aufgehoben werden konnte. Da die Mutter ebenfalls verlassen wurde, hatte sich der Fokus nicht auf sie gelegt, sondern auf das Schachspiel, dem einzigen verbindenden Element zwischen Vater und Sohn.
2.2.2 Beziehung zur Mutter
Carls Mutter, Maria Haffner, ist als junge Frau nach Wien gekommen, um sich vom tristen Landleben zu befreien. Dafür nimmt sie es in Kauf, von Näharbeiten leben zu müssen. In ihrer Heimat hätte sie das Gasthaus der Eltern übernehmen können, doch sie entschließt sich den jungen Geigenspieler Adalbert zu heiraten und in Wien zu bleiben. Doch die Liebe, die sie Adalbert entgegenbringt, ist weitaus größer als er die, die er für sie empfindet. Als Adalbert sie verlässt, bleibt sie mit Carl alleine zurück. Selbst als Adalbert sie mit dem Kind sitzen lässt, verhält sie sich ihm gegenüber aufopfernd und gibt ihm ihr letztes Geld mit (S. 82). Von da an konzentriert sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf Carl. Über den Verlust ihres Mannes scheint sie nie ganz hinwegzukommen denn andere Männer spielen in ihrem weiteren Leben keine Rolle und siestellt immer das Wohl ihres Sohnes über ihr eigenes. Maria ist eine selbstlose, gute Mutter. Sie ist ohne Zögern bereit, jede Arbeit anzunehmen, um sich und ihren Sohn zu versorgen. So verdient sie als Toilettenfrau ihren gemeinsamen Unterhalt. Maria wünscht sich für Carl ein gesichertes, sorgenfreies Leben, so wie sie es selbst nicht hatte. Er sollte es einmal besser haben als sie.
Deshalb steht sie seiner Liebe zum Schach kritisch gegenüber. Mit Schach kann er nicht viel Geld verdienen und seine Leidenschaft behindert erst seine Schulbildung und dann auch jeden Versuch eine Ausbildung zu machen.
Auch Carl liebt seine Mutter. Der Kontakt zwischen Mutter und Sohn bleibt sein Leben lang bestehen. Carls sorgenvolles, selbstloses Wesen hat er von seiner Mutter geerbt. Es kann dabei aber nicht von der selben Vernarrtheit die Rede sein, die Carls seinem Vater entgegengebracht hatte. Marias Versagen besteht darin, nie mit ihrem Sohn über den Verlust des Vaters gesprochen zu haben und dadurch eine Aufarbeitung zu ermöglichen. Im Laufe des Romans findet sie immer weniger Erwähnung. Dem Leser stellt sich die Frage, weshalb sie den schlechten Zustand von Carl nicht bemerkt und eingreift.
[...]
1 Winkels, Hubert: Schach dem Leben. Thomas Glavinic' erster Roman „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden. http://www.zeit.de/1998/27/SchachdemLeben, aufgerufen am 29.09.2012.
2 Thomas Glavinic: Carl Haffners Liebe zum Unentschieden, überarbeitete Ausgabe, München 2006, S. 74. Zitate dieser Ausgabe werden im Folgenden im Fließtext durch Seitenangaben in Klammer belegt.
3 Vgl. Sigmund Freud: Das Ich und das Es. In: Studienausgabe, Bd. 3, Frankfurt am Main 2000, S. 299.
4 Vgl. Josef Christian Aigner: Der ferne Vater. Zur Psychoanalyse von Vatererfahrung, männlicher Entwicklung und negativem Ödipuskomplex, Gießen 2001, S. 149 - 151.
5 Vgl. Ebd. S. 154.
6 Vgl. Ebd. S. 338.