Walter Moers "Ensel und Krete". Märchenparodie und Dekonstruktion


Bachelorarbeit, 2013

72 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Es war einmal..

2. Postmoderne und Parodie

3. Das Referenzobj ekt ״Märchen“
3.1 ״Hansel und Gretel“ als Volksmärchen

4. Referenzen und signifikante Abweichungen
4.1 Die Transformationsprozesse innerhalb des narrativen Modells von ״Ensel und Krete“
4.1.1 Die Entmoralisierung der Handlungsmotivation
4.1.2 Die erste Rückkehr
4.1.3 Der Irrweg
4.1.4 Die Begegnung mit der Hexe
4.1.5 Und wenn sie nicht gestorben sind
4.2 Die Dekonstruktion der Figurenkonzepte
4.2.1 Die Geschwister
4.2.2 Die Eltern
4.2.3 Die Helferfiguren
4.2.4 Die Hexe
4.3 Bedeutungszunahme des Raumes in ״Ensel und Krete“
4.3.1 Die Konstruktion und Bedeutung des Waldes bei ״Hansel und Gretel“
4.3.2 Die Konstruktion und Bedeutung des Waldes bei ״Ensel und Krete“
4.3.2.1 Bauming als Raum der Ordnung und Kontrolle
4.3.2.2 Der Große Wald als verbotener Raum und Gegenwelt

5. Die extradiegetisehen Abschweifungen und Ergänzungen des realen und fiktiven Autors sowie des fiktiven Professors und ihre Funktion

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Es war einmal...

״Nun, bis zu dieser Stelle wird Ihnen dieses zamonische Märchen bekannt vorgekommen sein, nicht wahr? Oder zumindest das gleichnamige Kinderlied: Ensel und Krete, die gingen in den Wald.. .Nur die leicht modernisierte Fassung [...]“ (Moers, 2002, S.40)

Und erkennen Sie das zitierte Kinderlied? Die phonologische Ähnlichkeit zu einem bekannten Volkslied und dem Märchen der Brüder Grimm ״Hansel und Gretel“, auf dem es beruht, ist leicht zu erkennen. Die angesprochene Modernisierung lässt sich nicht nur auf den vorliegenden Roman beziehen, sondern ebenso auf den in ihm verarbeiteten Prätext. Das Märchen ״Hansel und Gretel“ gehört zu den bekanntesten Märchen der Brüder Grimm und ״Ensel und Krete“ schließt an eine lange Reihe von Märchenparodien an. Die Parodie eines tradierten Märchens ist stets ein Beweis für seinen Bekanntheitsgrad. Viele andere Märchen wurden auf unterschiedlichste Arten und Weisen parodiert. Durch ihre große Popularität, die weitreichenden Interpretationen in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und ihrem pädagogischen Wert werden sie zur Zielscheibe der Parodisten. Diese verfolgen unterschiedliche Ziele bei ihren Märchenparodien. Die Abwandlungen entheben sie oft ihrer tiefenpsychologischen und moralischen Bedeutungen und betonen die Überinterpretation. Bereits Wilhelm Busch parodierte Märchen in Wort und Bild. In den Jahren des Faschismus wurde das Märchen instrumentalisiert, um bestimmte Werte an die Jugend zu vermitteln. Die Gegner dieser Technik verwendete die Märchenparodie um gegen diese Intention zu Steuern und die vermittelten Werte zu entkräften (vgl. Woeller, Woeller, 1990, S.241).

Die vorliegende Arbeit untersucht die Dekonstruktion des Märchens und die parodisti sehen Techniken in ״Ensel und Krete“. Die Märchenparodie bedient sich der Dekonstruktion, um den Sinn des Märchens in Frage zu stellen, die Rezeptionsweise zu verändern und sich von der Vorlage zu distanzieren. Zu Beginn wird versucht den Begriff der Postmoderne zu erfassen und postmoderne Merkmale herauszuarbeiten. Des Weiteren werden die Parodie und ihre Verfahrensweise dargestellt und ״Ensel und Krete“ auf seine Postmodernität und Parodiemerkmale hin untersucht. Da das Parodierte bekannt sein muss, um die Parodie zu verstehen, wird der Begriff des Märchens dargelegt und ״Hansel und Gretel“ als Volksmärchen klassifiziert. Auf den theoretischen Teil aufbauend folgt die Untersuchung der Referenzen und Abweichungen zwischen den Texten. In den folgenden Punkten wird die divergente Raumdarstellung, die Substitution, Adj ekti on und Detraktion innerhalb der Handlungssequenzen und die Psychologisierung der Personen dargestellt. Der Text wird auf einer metareflexiven Ebene fragmentiert und sein Konstruktcharakter hervorgehoben. Diese extradi egeti sehe Ebene wird im letzten Punkt ausgearbeitet.

2. Postmoderne und Parodie

Der Diskurs der Postmoderne ist unübersichtlich und durch eine semantische Vagheit geprägt. Aufgrund seiner medienübergreifenden Anwendung auf Architektur, bildende Kunst und Literatur wird er inflationär gebraucht. Ein wissenschaftlich gesichertes Fundament des Begriffes Postmoderne gibt es nicht, denn der Begriff bedeutet nahezu alles und nichts (vgl. Novak, 2009). Festzuhalten ist, dass die Postmoderne eine auf die Moderne folgende Gattung ist. In der Postmoderne geht es um die Auflösung von Grenzen und der Konstituierung von Neuem und Fremden, abweichend von der Moderne. Viele Literaturwissenschaftler haben versucht den Begriff der Postmoderne zu definieren und ihr gewisse Merkmale zuzuweisen.

Die Hauptmerkmale der Postmoderne, die Petersen und Grabes in ihren Werken herausgearbeitet haben, sind Metafiktion und Selbstreferenz, Intertextualität, Dekonstruktion und die daraus resultierende textuelle Offenheit. Nach Petersen entsteht die textuelle Offenheit mit der Etablierung einer selbstreflexiven Metaebene und der Entgrenzung mit Hilfe intertextueller Verfahren (vgl. 2003, S.158). Die Offenheit der Bedeutung entsteht aus kritischen, skeptizistisehen und dekonstruktiven Diskursen (vgl. Petersen, S.155).

Die selbstreflexive Ebene ist eng verknüpft mit dem selbstironischen Gestus in der Literatur. Das primäre Ziel ist die Reflexion über die Tätigkeit des Schreibens. Auf dieser Metaebene werden der Prozesscharakter künstlerischer Produktion und der Konstruktcharakter des in diesem Prozess Geschaffenen dargestellt. Die eigentliche Erzählung wird dabei selbstironisch zu etwas weitgehend Beliebigem relativiert (vgl. Grabes, 2004, S.72). Außerdem entsteht auf der extradiegetisehen Ebene Platz für das Spiel mit dem Leser und seiner Rezeptionshaltung (vgl. Petersen, S.160). Der Text wird dekonstruiert mit der Betonung des prinzipiell unabgeschlossenen Schreibprozesses (vgl. Grabes, S.83). Dadurch wird der Blick auf den Leseprozess und die Sinnkonstitution gelegt (vgl. Grabes, S.90). Die Interaktion mit dem Rezipienten stellt einen weiteren Bestandteil der Selbstreflexivität dar. Der Text öffnet sich indem er mit dem Spiel der Lesererwartung über sich selbst hinausverweist (vgl. Petersen, S.159).

Mit der Intertextualität bestand die Chance der Postmoderne Neues zu kreieren, indem das Ausgereizte erneut relativiert wurde. Diese Relativierung nahm vielfältige Formen an, von der ironierenden, parodierenden, travestierenden Wiederholung des Bekannten zur Kombination getrennter und gegensätzlicher Konventionen bis hin zur Grenzauflösung (vgl. Grabes, S.70). Intertextualität ist, je subtiler sie ist, stark auf eine kulturelle Vorbereitung des Rezipienten angewiesen (vgl. Grabes, s. 105). Durch die poststrukturalist sehe Theorie wurde ein Bewusstsein der Unausweichlichkeit von Intertextualität geschaffen (vgl. Grabes, S.115). Direkte Zitate, offene Referenzen und versteckte Anspielungen vereinigen sich in gleichermaßen eklektizistischen wie heterogenen Texten (vgl. Petersen, S.162). In der intertextuellen Zuspitzung definiert sich der Text bewusst aus Zeichen- und Textsystemen und dies gleichermaßen zitierend und dekonstruierend. Dadurch weist er sich implizit als ein der Immanenz des Metasystems verhaftetes Artefakt aus (vgl. Petersen, S.314).

Die Dekonstruktion stellt den Gegensatz zum Strukturalismus dar. Die Dekonstruktivisten untersuchen einen Text nach Elementen, die Strukturen zusammenbrechen lassen. Die Dekonstruktion behauptet, dass die Textbedeutung überhaupt nicht im Text liege, sondern das Resultat der Arbeit des Lesers mit dem Text ist (vgl. Dahlerup, 1998, s.l f). Der Text ist prinzipiell unabgeschlossen, da er immer neue Ketten von Leserkonnotationen ausnützen kann (vgl. Dahlerup, S.16). Derrida geht in seiner Philosophie der Dekonstruktion von der Autonomi si erung der Zeichen aus, die besagt, dass Zeichen nur in einem System von anderen Zeichen, Begriffen oder Signifikanten Bedeutung enthalten. Er dekonstruiert das Modell von de Saussure, indem er den Dualismus von Signifikat und Signifikant auflöst und die Widersprüche des Modells herausstellt (vgl. Petersen, s. 204 f.) Nach Derrida muss jede Struktur Elemente unterdrücken, die nicht in ihr System passen, wenn dieser Ausschließungsprozess enthüllt wird zerfällt die Struktur, (vgl. Dahlerup, S.34). Baudrillard erweitert dies in seiner Theorie der Simulation. Er geht davon aus, dass das Reale in dessen zeichenhafter Simulation substituiert wird (vgl. Dahlerup, S.211). Die Zeichen generieren sich aus sich selbst heraus in der Immanenz ihres eigenen Systems. Das Reale ist dem Zeichen nicht mehr vorangestellt. Die Simulation und Dissuasion setzt Baudrillard als zwei Mechanismen der Verdrängung der Realität durch Zeichen und der Etablierung einer Hyperrealität. Die Realität wird zugunsten einer Hyperrealität destruiert (vgl. Dahlerup, S.215 f). Johnson hat diese Annahmen in der literarischen Dekonstruktion weitergeführt. Sie geht davon aus, dass die Bedeutung j edes Textes als Gegensatzsystem strukturiert ist, das auf einer Illusion aufbaut. Jede Textanalyse erfordert dementsprechend eine Dekonstruktion (vgl. Dahlerup, S.42). Damit wird der Anspruch einer einseitigen Dominanz einer Signifikationsform über die andere zerstört. Johnson dekonstruiert nicht nur die Gegensätze zwischen sondern auch die Gegensätze innerhalb einer Person (vgl. Dahlerup, S.44 f). Wenn in dieser Arbeit von Dekonstruktion gesprochen wird, ist damit dass kritische Hinterfragen und Auflösen eines Textes im weiteren Sinne gemeint. Dekonstruktion wird insofern eingesetzt um zu ergründen, wie ein Text seine Bedeutung selbst hinterfragt, durchkreuzt und mit solchen Paradoxien Sinn schafft und den Deutungswahn zerstört.

Die Parodie stellt, aufgrund ihrer Intertextualität und der Dekonstruktion der Strukturen seiner Vorlage, eine der Hauptgattungen der Postmoderne dar. Wünsch definiert sie als einen Text, ״der einen anderen Text dergestalt verzerrend imitiert, dass eine gegen diese Vorlage gerichtete komische Wirkung entsteht.“ (1999, S.13). Verweyen und Wittingen definieren die Parodie als eine Schreibweise, bei der wichtige Elemente der Ausdrucksebene eines Textes, einer Textgruppe oder charakteristische Merkmale eines Stils übernommen werden und durch Komisierung herabgesetzt werden (vgl. 2010, S.268). Der Begriff Parodie geht auf ein griechisches Kompositum zurück. Die Bedeutung hängt wesentlich von dem Bestandteil para ab. Etymologisch bedeutet Parodie Neben­beziehungsweise Gegengesang. Vom musikalischen Bereich wurde dieser Begriff auf die Vers- und Prosaliteratur übertragen (vgl. Freund, 1981, S.9). Das Besondere der Parodie ist, dass sie sich immer auf eine Vorlage bezieht, die sie partiell wiederholt aber auch variiert. Die Art der Abweichung ist immer unpassend und verzerrend, wodurch die komische Wirkung entsteht (vgl. Wünsch, s.ll). Sie nimmt eine nicht-affirmative Haltung gegenüber dem Text ein. Jegliche Formen ernsthafter und affirmativer Nachahmungen werden aus dem Bereich ausgeschlossen (vgl. Wünsch, S.12). Die Parodie ist ein indirektes und darstellendes Verfahren. Sie trifft keine direkten Aussagen über den Aufbau eines Textes oder seiner Kritikwürdigkeit, sondern zeigt sie. Die didaktische Stärke der Parodie liegt in ihrer Anschaulichkeit und Überzeugungskraft (vgl. Wünsch, S.224). Eine Parodie ist keine Travestie, Nachahmung, Paraphrase, Umschreibung oder Kontrafaktur. Allerdings kann sie sich den Mitteln und Auswirkungen all dieser Gattungen bedienen oder partiell selbst Anwendung finden (vgl. Holthuis, s.ll8). Von der Travestie unterscheidet sie sich durch die Übernahme von Elementen der Ausdrucksebene und von der Kontrafaktur aufgrund der Komisierung der Vorlage (vgl. Verweyen, Witting, S.268). Die Parodie verfügt über eine starken intertextuellen Verweisungscharakter, denn zur Parodie gehört unabdingbar das Parodierte. Sie enthält aber auch Elemente, die nichts mit dem Parodierten zu tun haben (vgl. Müller, S.207). Intertextuelle Relationen können lexikalischer, morphologischer, syntaktisch-grammatischer, graphemischer oder phonol Ogi scher Art sein. Analogien und Differenzen können sich überlagern, da sie auf verschiedenen Ebenen liegen können (vgl. Müller, S.220). Die inhaltlichen Charakteristika der Vorlage können stärker verändert werden als die formal-stilistisehen Merkmale. Die wichtigsten sprachlichen Strukturen des Modells dürfen auf keinen Fall in der parodistischen Bearbeitung fehlen (vgl. Müller, S.222). Der Rezipient ist unerlässlich für die Parodie. Wenn dieser den intertextuellen Charakter der Parodie nicht erkennt, kann diese ihre volle Wirkung nicht entfalten (vgl. Müller, S.210). Der Leser erkennt bei einer bekannten Vorlage eher die Bezugnahme des parodistischen Textes zum Original (vgl. Müller, S.220). Der Text muss Rezeptionssignale aussenden, damit er verstanden wird. Zum einen handelt es sich bei diesen um Intertextualitätssignale und zum anderen um Parodiesignale. Diese äußern sich in allem Diskrepanten, Inkongruenten, Unstimmigen und von der Norm abweichenden, sowie bei Brüchen, die Erwartungen und Illusionen zerstören. Intertextualitätssignale sind besonders wichtig, wenn das Original so stark verändert wurde, dass man es ohne ein kulturelles Wissen nicht erkennen kann (vgl. Wünsch, S.225 f). Die Signalstärke ist dabei explizit oder implizit, abhängig von der Nähe zum Original und der Größe des Verzerrungsgrads (vgl. Wünsch, S.228). Sehr eindeutige Intertextualitätssignale sind die Nennung allseits bekannter Werke oder Namen oder die Zitation des Textbeginns (vgl. Wünsch, S.234). Bei der Frage nach der Funktion der Intertextualität ist das spezifische Sprach- und Weltwissen des Rezipienten gefordert. Ihm obliegt die Unterscheidung ob es sich um eine Parodie handelt, die sich gegen seinen Bezugstext selbst richtet oder um eine, die sich über den Referenztext auf einen anderen als bekannt vorausgesetzten Text mit sozialen oder politischen Missständen auseinandersetzt (vgl. Holthuis, 1993, s. 121).

Es wird zwischen verschiedenen Intentionen der Parodie unterschieden. Freund unterscheidet zwischen der seriösen und trivialen Parodie. Bei der seriösen Parodie handelt es sich um eine kritisch negierende Auseinandersetzung mit bornierten Bewusstseinsgehalten. Das Angriffsziel stellt jegliche Form intoleranter, fanatischer und autoritärer Beschränkungen dar. Das Ziel der seriösen Parodie liegt in der erneuten Flexibilität des Bewusstseins und der allseitigen Öffnung. Es handelt sich um einen Akt der produktiven Rezeption (vgl. S.14 f). Die kritische Zielsetzung richtet sich gegen Stereotypen, Manier, Konventionen einer Gattung und damit gegen das Abgenutzte und Formelhafte (vgl. Karrer, 1977, S.39). Karrer unterscheidet weiterhin zwischen kritischer und polemischer Parodie. Die Kritik am Original wird von der Kritik am Original-Autor getrennt (vgl. S.36). Die Kritik der Parodie kann literarischer, ideologischer oder weltanschaulicher Art sein (vgl. Wünsch, S.125). Die triviale Parodie dagegen sucht nicht die kritische Auseinandersetzung. Ihr Hauptziel besteht in der Belustigung. Sie versucht das beschränkte Bewusstsein der Rezipienten vergessen zu machen und holt das Herausgehobene und Intellektuelle in den allgemeinmenschlichen Durchschnitt und die Alltäglichkeit zurück. Die triviale Parodie vermittelt lediglich die Illusion der geistigen Bewältigung (vgl. Freund, S.15 f). Durch Humor und Scherz wird eine gewisse Distanz zum Original geschaffen und sein Anspruch relativiert, ohne das die Vorlage allzu deutlich herabgesetzt, dauerhaft geschädigt oder gar destruiert wird (vgl. Wünsch, S.124). Müller unterscheidet darüber hinaus die Defensive und Aggressive Parodie (vgl. 1994, S.228). Eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit besteht in dem Umfang der Parodie. Es gibt Stilparodien und Parodien, die neben dem Stil auch den Inhalt parodieren. Außerdem wird zwischen der direkten, indirekten und fiktiven Parodie differenziert. Das Erste bezieht sich auf einen Einzeltext, das Zweite auf mehrere Texte und das Dritte entspricht der Systemreferenz (vgl. Müller, S.229). Das Verhältnis zwischen Vorlage und parodisti scher Rezeption kann total oder auch nur partiell-instrumentalisierend sein. Die totale Parodie ist gegen Sinn, Stil und Struktur der Vorlage gerichtet. Bei der partiell-instrumentalisierenden dient die Vorlage nur als strukturelles Medium für eine darüber hinausverweisende kritische Intention (vgl. Freund, s.15). Dadurch erhält die kritische Ausrichtung der Parodie eine weitere mögliche Dimension (vgl. Müller, s.229). Total oder partiell können sich auf folgende Aspekte beziehen: Anzahl oder Umfang der durch Modifikationen betroffenen Textebenen, quantitative beziehungsweise qualitative Durchführung der Änderungen, absolute Länge der Parodie im Vergleich zum Original (vgl. Wünsch, S.202 ff.).

Die Änderungstechniken können sämtliche Textebenen des Originals betreffen. Auf der inhaltlichen Ebene werden Ideen, Wertvorstellungen, Themen, Stoffe, Motive und Charaktere verändert und auf der formalen Ebene sämtliche Aspekte des Stils, Argumentationsmuster, Figurenkonstellation und Handlungsstrukturen (vgl. Wünsch, S.146). Es gibt ein sehr breites Spektrum an Möglichkeiten einen Text zu einem anderen in Bezug zu setzen. Man unterscheidet dabei zwischen Änderungstechniken, die von außen unpassende neue Elemente einfügen und welche die die Vorlage intern mit ihren eigenen Mitteln ad absurdum führen (vgl. Wünsch, S.154). Imitation und Variation nehmen dabei eine entscheidende Rolle ein. Sie dienen der Analogiebildung und Differenzerzeugung (vgl. Müller, S.219). Durch Reproduktion, Variation und Innovation entsteht Inkongruenz. Dies stellt einen Oberbegriff für eine Reihe von potentiell komischen Phänomenen dar (vgl. Freund, S.224). Die Parodie bedient sich der Isotopievariation, um unversöhnliche Oppositionsstrukturen aufzubauen. Die Gegensätze äußern sich in der syntagmarischen Abfolge des parodisti sehen Textes und dienen in diesem Kontext als Intertextualitätssignale. Es gilt, wenn auf der semantischen Ebene die Gemeinsamkeiten mit der Vorlage überwiegen, werden auf der syntaktischen Ebene vor allem Unterschiede betont oder anders herum (vgl. Freund, S.226 f). Bei der semantischen Modifikation entsteht ein Widerstreit zwischen dem Originalsinn des Zitierten und dem neu beigelegten Sinn. Durch die Modifikation der Signifikanten ändert sich auch der

Signifikatzusammenhang. Die Signifikate des Originals treten in neue Relationen ein. Neue und alte Relationierungen von Signifikaten überlagern sich und interferieren miteinander. Dadurch kommt es zu einer semantischen Verdoppelung und Überlagerung. Die Signifikanten tragen neue Signifikate und die neuen Signifikanten tragen neben ihren eigenen Signifikaten auch Entsprechungen zu den Signifikaten der ausgewechselten Wörter (vgl. Karrer, S.82 f.). Die Relation zwischen neuen und beibehaltenen Signifikaten ist inkongruent. Weitere Parodietechniken sind die Substitution auf morphologischer Ebene, die Detraktion auf der syntaktischen Ebene, die Adj ekti on auf der semantischen Ebene und die Ironie als Substitution auf der logischen Ebene (vgl. Karrer, S.90). Bei der Substitution werden grundsätzlich Elemente ersetzt, die der Autor der Vorlage selbst nicht verwendet hätte. Dadurch entsteht Kontrast und Diskrepanz zwischen Neben- und Gegeneinander von alten und neuen Textbestandteilen (vgl. Wünsch, S.162). Eine weitere Technik ist die Adjektion. Dabei werden fremde und unpassende Elemente hinzugefügt.

Diese ersetzen allerdings keine anderen wie bei der Substitution. Das Original wird somit in einen anderen Kontext gesetzt, was zur Destruktion oder komischen Relativierung führt (vgl. Wünsch, S.170). Die Isolierung simplifiziert die Vorlage, da sie diese auf wenige, meist besonders charakteristische Merkmale reduziert (vgl. Wünsch, S.176). Die Übertreibung kann partiell oder total sein. Des Weiteren wird zwischen einer quantitativen und einer qualitativen Übertreibung unterschieden. Bei der quantitativen Übertreibung werden dieselben Textmerkmale wie im Original verwendet, nur in einer besonders großen Menge. Bei der qualitativen dagegen werden die Eigenheiten des Originals in sich gesteigert (vgl. Wünsch, S.179). Die rein mechanische Kürzung des Textumfangs durch Auslassung von Elementen nennt man Detraktion (vgl. Wünsch, S.186). Die Raffung verkürzt einen Text im Gegensatz zur Detraktion in sich selbst. Die Merkmale werden konzentriert, so dass die gleiche Anzahl unterschiedlicher Phänomene auf weniger Raum Platz findet (vgl. Wünsch, S.189). Bei der Dehnung erweitert sich das Original in sich durch stilistische Ausschmückungen und vertiefende Exkurse über eigene Themen. Die Dehnung tritt häufig mit der Adjektion auf (vgl. Wünsch, S.193). Eine weitere Technik der Parodie ist die Transmutation. Dabei treten die Elemente der Vorlage durch spezifische Rekombination in ungewöhnliche Beziehungen ein (vgl. Wünsch, S.196).

3. Das Referenzobjekt ״Märchen“

Für das Verständnis einer Parodie ist es notwendig die Gattung zu kennen, auf die sie sich bezieht. In diesem Fall handelt es sich bei dem parodierten Text um ein Märchen. Um die parodisti sehen Verfahren und die Dekonstruktion deutlich zu machen, muss die behandelte Gattung dargestellt werden. Aus diesem Grund wird im Folgenden das Referenzobjekt Märchen sprachwissenschaftlich erläutert, von anderen Gattungen abgegrenzt und schließlich seine spezifischen Merkmale und Besonderheiten herausgestellt.

Der Begriff Märchen wird auf unterschiedlichste Weisen definiert. Amades bezeichnet Märchen, als ״leichte, für Kinder gedachte Erzählung, die von wunderbarer und übernatürlicher Sinnhaftigkeit sind.“(Kariinger, 1973, S.194). Panzer definiert Märchen als ״eine kurze, ausschließlich der Unterhaltung dienende Erzählung von phantastisch­wunderbaren Begebenheiten, die sich in Wahrheit nicht ereignet haben und nie ereignen konnten, weil sie, in wechselndem Umfange, Naturgesetzen widerstreiten.“ (1961, S.84)

Zutreffend ist beides, doch geht der Märchenbegriff weit über diese Definitionen hinaus. Das Märchen befindet sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Tatsächlichem und Phantastischem. Dies lässt sich bereits an der Wortbildung erkennen. Die Grundlage des Wortes bilden zwei althochdeutsche Substantive und zwar märi, was Kunde, Nachricht, Erzählung, bedeutet, und märi, was Ruhm, Berühmtheit, Gerücht, bedeutet. Der mittelhochdeutsche Begriff maere, galt im Mittelalter als Erzählinhalt mit Bedeutung. Das Frühneuhochdeutsche verzeichnet das Wort Mär zwischen 1350 und 1600 in der Bedeutung einer spannenden Prosadarstellung mit Abenteuern und Neuigkeiten. Die althochdeutsche Bildung märi-sagäri in der Bedeutung ״Verbreiter von Gerüchten“ hebt die Unsicherheit und Fiktionalität des Stoffes zusätzlich heraus. Die Form Mär nahm später im Neutrum und besonders in der Pluralform, die Bedeutung von Ruf, Gerücht und einer bestimmten Kunde an. Märchen ist die Diminutivbildung von Mär. Diese Wortbildung unterstützt die Bedeutung als kürzere Erzählform mit emotionaler Nähe (vgl. Pöge-Alder, 2011, S.24 f). Ein Märchen ist im eigentlichen Sinne eine Nachricht oder eine Botschaft einer Sache, die berühmt ist oder es verdient berühmt zu werden (vgl. Rölleke, 1986, S.9).

Das Märchen grenzt sich von anderen Gattungen ab. Bloßen Kurzphantasien hat es die Ausgliederung in mehrere Episoden voraus und sein künstlicher und fiktiver Charakter unterscheidet es von Berichten über Gesehenes, Gehörtes, Erlebtes oder Geglaubtes. Das Spielerische und seine Leichtigkeit grenzen es von den verwandten Gattungen Sage, Legende und Mythos ab. Die geringe Bedeutung des belehrenden Elements unterscheidet es von Fabeln und Exempeln und das Zusammenspiel von Wirklichkeit und Nicht­Wirklichkeit von erfundenen Erzählungen mit realistischem Anspruch wie Novellen, Romanen und Science Fiction (vgl. Lüthi, 2004, S.3).

Innerhalb der Gattung Märchen wird zwischen Volks- und Kunstmärchen unterschieden. Das Volksmärchen ist die ursprüngliche und mündlich überlieferte Form des Märchens. Durch die übersymbolisierung entstand das Kunstmärchen, wobei das kollektive Element des Volksmärchens verschwand. Kunstmärchen wurden von einem Dichter kreiert und nur selten abgewandelt (vgl. Woeller; Woeller, s. 191). Volksmärchen wurden längere Zeit in mündlicher Tradition überliefert und von ihr geformt. Bei Kunstmärchen handelt es sich um Individualliteratur. Es kann sich an ein vom Volksmärchen vertrautes Schema halten, es kann aber auch eine völlige freie fantastische Geschichte erfinden (vgl. Lüthi, S.5). Für die vorliegende Arbeit ist nur das Volksmärchen von Interesse, weswegen nicht weiter auf die Besonderheiten des Kunstmärchens eingegangen wird.

Der Gattungskomplex der Volksmärchen gliedert sich in Tier-, Novellen-, Schwank-, Legenden-, Rätsel-, Warn- und Zaubermärchen (vgl. Pöge-Alder, S.28). Nach Lüthi gelten Zauber- oder Wundermärchen als eigentliche Volksmärchen (vgl. S.2). Der gute Ausgang ist ein entscheidendes Charakteristikum des Volksmärchens. Es ist von vorneherein durch sein Ende bestimmt (vgl. Bausinger, 1984, S.36). Im Volksmärchen kommen die wesentlichsten menschlichen Verhaltensweisen zur Darstellung und zwar der

"Kampf, Stellen und Lösen von Aufgaben, Intrige und Hilfe, Schädigung und Heilung, Mord, Gefangensetzung, Vergewaltigung und Erlösung, Befreiung, Rettung [...] sowie Berührung mit einer den profanen Alltag überschreitenden Welt, mit zauberischen jenseitigen Mächten." (vgl. Lüthi, S.25).

Die Volksmärchenform folgt bestimmten Merkmalen. Eines davon ist die Eindimensionalität. Die Helden gehen mit den Jenseitigen so um, als ob diese derselben Gattung angehören. Der Held wundert sich nicht über sie. Das Gefühl des Absonderlichen fehlt ihm, für ihn gehört alles zur selben Dimension. Das Wunderbare ist in dem Märchen nicht fragwürdiger als das Natürliche. Das Diesseitige und das Jenseitige steht nebeneinander (vgl. Lüthi, 1981, S.9 ff). Ein weiteres Merkmal ist die Flächenhaftigkeit. Die dargestellten Figuren im Märchen haben keine Innenwelt oder Umwelt. Ihnen fehlt die Beziehung zur Zeit und zum Ort. Das Märchen zeigt lineare Figuren. Die Dinge bleiben starr und unveränderlich und werden nur einmal für eine ganz bestimmte Situation gebraucht. Sie bleiben in sich selbst isoliert. Den Menschen und Tieren fehlt die körperliche und seelische Tiefe (vgl. Lüthi, S.13 f). Das Märchen ersetzt so oft wie möglich Inneres durch Äußeres. Das Ziel des Märchens besteht darin, den Helden zu isolieren und ihn zum Wanderer zu machen (vgl. Lüthi, S.18). Das Voreinander und Nacheinander wird in ein Nebeneinander gebracht (vgl. Lüthi, S.23). Der abstrakte Stil ist ebenfalls bezeichnend für die Märchengattung. Durch seine Flächenhaftigkeit wirkt das Märchen wirklichkeitsfern. Das Ziel besteht nicht darin, die Welt in all ihren Dimensionen zu erfassen. Die Figuren heben sich auf der Fläche durch scharfe Konturen und klare Farben ab. Die Dinge werden nicht geschildert, sondern bloß benannt. Es wird nur erwähnt was handlungswichtig ist (vgl. Lüthi, S.25 f). Die Handlung verläuft entlang einer scharf bestimmten Linie. Es gibt entweder extreme Belohnungen oder extreme Bestrafungen und die Märchenhelden treten immer mit den Wesen in Kontakt, die das Wissen besitzen, das sie benötigen (vgl. Lüthi, S.29 f). Im Märchen klappt alles. Dinge und Situationen passen genau aufeinander und jede Aufgabe wird fristgerecht erfüllt (vgl. Lüthi, S.32). Mit der Isolation und Allverbundenheit wird ein weiteres Märchenmerkmal angesprochen. Die Märchenfigur ist isoliert. Sie besitzt keine Vor- oder Nachgeschichte und auch keine Innenwelt. Die Darstellung der Handlung ist aufgrund der fehlenden Schilderungen isolierend, genauso wie die Episoden isoliert betrachtet werden und kein Bezug zu einer vorhergehenden hergestellt wird (vgl. Lüthi, S.37 f). Warum etwas so ist und jemand entsprechend handelt wird nicht berichtet, sondern als selbstverständlich hingestellt (vgl. Lüthi, S.44). Die sichtbare Isolation führt zu einer unsichtbaren Allverbundenheit. Der Held erlangt allseitige Beziehungsfähigkeit aufgrund seiner isolierten Stellung (vgl. Lüthi, S.49). Im Märchen gibt es keinen Zufall, der Zusammenfall der Dinge wirkt natürlich aufgrund der Isolation und der universalen Beziehungsfähigkeit (vgl. Lüthi, S.52). Die Märchenhandlung erscheint in sich geschlossen und doch abhängig von einem unsichtbaren Gefüge. Es strebt nicht nach Systematik. Die Handlungselemente sind scharf bestimmt, doch die Fäden, die zu ihnen hin- und wegführen, bleiben im Unklaren (vgl. Lüthi, S.56). Der Blick ist ausschließlich auf die Handlung gerichtet in die der Held verflochten ist. Es wird lediglich auf eine Welt hingewiesen, die nicht versucht wird als Ganzes darzustellen (vgl. Lüthi, S.60). Das letzte Merkmal der Märchenform ist die Sublimation und Welthaltigkeit. Die Motive, die im Märchen enthalten sind, sind nicht im Märchen entstanden (vgl. Lüthi, S.63). Denn Märchen gehören zu unseren ältesten geistigen Eigentümern. Sie zeigen, über Länder und Völker hinweg, noch Vorstellungen einer Frühzeit auf (vgl. Röhrich, 1974, S.4). Es handelt sich häufig um Gemeinschaftsmotive, die profanes Geschehen darstellen. Neben den profanen Motiven tauchen numinose und magische auf. Diese sind entmachtet und zum bloßen Formelement geworden, um die extreme Präzision darzustellen (vgl. Lüthi, s.63 f). Die Entleerung der Motive im Märchen ist zugleich Sublimierung. Die Elemente werden durchscheinend und fügen sich in ein Zusammenspiel indem alle wichtigen Motive der menschlichen Existenz dargestellt werden. Dadurch entsteht die Welthaltigkeit. Die entliehenen Motive aus Sagen und der Wirklichkeit werden durch Isolation, Sublimierung und Entleerung in Märchenmotive umgewandelt (vgl. Lüthi, S.69). Die Elemente des Märchens sind selber keine Realitäten mehr, aber sie repräsentieren sie (vgl. Lüthi, S.75).

Durch die Industrialisierung erfolgte eine rasante Veränderung der Familienstruktur sowie der Lebensgewohnheiten und der Verbreitung der Lesefähigkeit. Dadurch wurde der mündlichen Tradierung der Platz im Leben genommen. Das Feld des Erzählens wurde sachlich, räumlich und zeitlich eingeschränkt. Diese Faktoren wirkten förderlich auf die Märchensammlung der Brüder Grimm ein. Die Märchensammlung im Jahre 1812 vollzog die Wandlung vom mündlich erzählten Märchen zum Buchmärchen mit eigenen Gattungskriterien und Stilkriterien (vgl. Rölleke, S.24). Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm sammelten die bis dahin nur mündlich überlieferten Märchen (vgl. Awersson, 2006, s.ll). Dafür wurden die bekanntesten Märchenerzähler aufgesucht. Die Fülle des Materials konnten die Brüder nur mit Hilfe von Freunden Zusammentragen und auswerten (Woeller; Woeller, S.178). Es wurden öfter mehrere Fassungen in eine Fassung verarbeitet um eine möglichst vollständige Erzählung zu erhalten. Wilhelm Grimms Eigentum ist die sprachliche Formung (vgl. Panzer, S.127). Durch die Vorreden in ihren Märchenbüchern waren die Grundsteine für die Märchenforschung gelegt (Woeller; Woeller, S.180). Sie haben die Märchen stofflich rein und treu aufgezeichnet und wissenschaftlich gewürdigt (vgl. Panzer, S.126).

3.1 ״Hansel und Gretel“ als Volksmärchen

״Hansel und Gretel“ gehört zu den bekanntesten Volksmärchen der Brüder Grimm. Es handelt sich um ein Zaubermärchen, das heißt ein Märchen mit übernatürlichem Gegner (vgl. Lüthi, S.17). Die Abkehr vom Elternhaus ist das zentrale Motiv. Das Märchen hat ein glückliches Ende und beginnt in der diesseitigen Welt. Es erfüllt die Merkmale eines Volksmärchens nach Lüthi. Es ist eindimensional, denn Hansel und Gretel verkehren mit der Hexe auf einer Ebene und betrachten sie nicht als etwas Einnatürliches. Darüber hinaus trägt eine Ente sie über das Wasser, was ebenfalls als normal wahrgenommen wird (vgl. Grimm, 1985, S.80). Es ist flächenhaft, da die Figuren keine Innenwelt oder Umwelt haben und von ihren Eltern isoliert auf den Weg geschickt werden. Beziehungen werden durch Handlungen sichtbar, wie in der Szene als Hansel seine Schwester Trost spendet (vgl. Grimm, S.73). Es verfügt über den abstrakten Stil. Die Kinder begeben sich von einem Handlungspunkt zum nächsten ohne dass die Umgebung geschildert wird. Das Haus der Hexe setzt sich scharf von der Umgebung ab. Das Märchen bedient sich der extremen Strafe durch den Tod der Hexe und der Mutter, während die Kinder extrem belohnt werden. Hansel und Gretel treffen auf die Wesen, die sie brauchen, um gestellte Aufgaben zu lösen (vgl. Grimm, s.80). Fristen werden komplett ausgenutzt, denn Gretel vernichtet die Hexe erst unmittelbar bevor diese Hansel verspeisen will (vgl. Grimm, S.79). Darüber hinaus wird das dreigliedrige Handlungsschema angewandt. Die Kinder werden aufgrund einer Notsituation im Wald ausgesetzt, kehren wieder zurück und werden daraufhin erneut ausgesetzt. Nachdem sie den Kampf mit der Hexe bewältigt haben, kehren sie in ihr Elternhaus zurück. Die Märchenform demonstriert die Isolation und die Allverbundenheit. Hansel und Gretel werden isoliert dargestellt. Der Rezipient erfährt weder etwas über ihre Vor- noch über ihre Nachgeschichte. Die einzelnen Episoden sind ebenfalls isoliert. Das erneute Aussetzen der Kinder wird von Mutter und Vater mit beinahe identischen Sätzen kommentiert (vgl. Grimm, S.76). Es wird nur der Weg der Kinder verfolgt. Darüber wie es den Eltern ergeht, erhält man keine Informationen. Die Allverbundenheit der Kinder äußert sich in dem Umgang mit der Hexe und den Vögeln sowie bei dem übersetzen durch die Ente. Der Aspekt der Sublimation und Weithaitigkeit ist ebenfalls in diesem Volksmärchen enthalten. Die Personen sind entindividualisiert und weisen auf den Entwicklungsprozess hin. Die Entwicklung der Geschwister steht im Mittelpunkt und wird schlussendlich durch den erworbenen Reichtum symbolisch dargestellt. Das Märchen spiegelt die kindliche Realität wieder und ihre Angst von ihren Eltern verlassen zu werden.

4. Referenzen und signifikante Abweichungen

Der komische Effekt der Parodie entsteht aufgrund von Diskrepanz zwischen übemomme- nen inhaltlichen und strukturellen Merkmalen und der Verzerrung anderer. Inwieweit Wal­ter Moers direkt auf ״Hansel und Gretel“ referiert und welche Elemente er mit Hilfe der Parodietechniken verändert, wird im folgenden Abschnitt dargestellt. Die Dekonstruktion des Märchens vollzieht sich auf der Ebene der Raumdarstellung, der Handlungsstruktur und der Figurenkonzeption. Es handelt sich um eine absolute Parodie, das heißt, dass so­wohl auf der semantischen als auch auf der strukturellen Ebene Verzerrungen auftreten. Die Veränderungen hängen eng mit der Intention der Parodie zusammen, die in diesem Zusammenhang ebenfalls erläutert wird.

4.1 Die Transformationsprozesse innerhalb des narrativen Modells

״Ensel und Krete“ ist in drei Teile unterteilt. Damit übernimmt Moers die dem Märchenstil eigene Bedeutung der Dreizahl und übertreibt diese quantitativ. Eine relevante Veränderung der Parodie liegt in der HandlungsverSchiebung von der realen Welt in ״Hansel und Gretel“ auf den fiktiven Kontinent Zamonien. Die Motive und Figuren sind den Verhältnissen Zamoniens angepasst, wo durch sich die Interaktionen unter den Figuren und der Verlauf innerhalb der einzelnen Handlunsstränge verändert. Der grobe Handlungsablauf von ״Hansel und Gretel“ bleibt erhalten, wird allerdings auf der Mikroebene dekonstruiert. Die einzelnen Handlungsabschnitte werden auf der narrativen Ebene diminuiert, substituiert oder augmentiert um die altvertraute Märchenrezeption zu verändern und Kritik auszuüben, sowie zu belustigen. Die Handlungselemente werden beibehalten, allerdings wird die Reihenfolge, in der sie auftreten, verändert. Sie treten in neue Zusammenhänge und semantische Relationen ein, wodurch Diskrepanz zum Original entsteht. Die Handlungen werden motiviert und Handlungsabläufe plausibili siert. Es werden neue Mythen geschaffen, denen der Leser allerdings genauso wenig trauen kann, wie den alten und somit die Verlässlichkeit des Textes dekonstruiert. Inwieweit die Handlung Abwege betritt, welche Transmutationen eintreten und welche Auswirkungen dies auf die Rezeption hat, wird in den nachfolgenden Punkten dargestellt.

4.1.1 Die Entmoralisierung der Handlungsmotivation

Die Exposition bei ״Hansel und Gretel“ liegt in der Realität. Der Nahrungsmangel und das daraus resultierende Hungerleiden der Familie stellt eine typische Notsituation der damaligen Zeit dar (vgl. Grimm, S.73). Die Eltern sehen keine andere Möglichkeit, als die Kinder auszusetzen, um ihr eigenes überleben zu ermöglichen. Dieser Gedanke wird von der Stiefmutter initiiert. Allein gelassen zu werden gehört zu den schlimmsten kindlichen Ängsten. Das Aussetzen wird zum wichtigsten Handlungselement, da es die Kinder von ihren Eltern isoliert und zu Handelnden werden lässt. Am nächsten Morgen werden die Kinder von den Eltern in den Wald geführt. Hansel dreht sich immer wieder um, um eine Spur mit Kieselsteinen zu hinterlegen. Diese suggerieren eine gewisse Stabilität und Starrheit. Er hat sich weniger von seinen Eltern gelöst als seine Schwester, was durch das häufige zurückschauen signalisiert wird. Das weiße Kätzchen, auf das er als Grund für sein Verhalten referiert, steht für die kindliche Unschuld. Außerdem handelt es sich bei der Katze zwar um ein freies, aber dennoch domestiziertes Tier, dadurch steht es symbolhaft für die Nähe von Hansel zu seinem Elternhaus. Die Kinder werden bei einem Feuer zurückgelassen und hinterfragen diese Tatsache nicht. Sie warten geduldig auf ihre Eltern, obwohl sie sich bewusst sind, dass diese nicht zurückkehren werden. Dadurch, dass sie die Axt hören, werden sie in ihrer kindlichen Vorstellung bestärkt nicht verlassen worden zu sein. Das Ablösen von der Mutter ist relevant für die Entwicklung von Kindern und wird für Hansel und Gretel durch die böse Stiefmutter erleichtert. Das Aussetzen steht für die Ablösung von den Eltern, die jedes Kind erfolgreich durchlaufen muss um eine positive Entwicklung zu erfahren, (vgl. Grimm, S.74) Es stellt hier eine notwendige Grausamkeit dar.

[...]

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Walter Moers "Ensel und Krete". Märchenparodie und Dekonstruktion
Hochschule
Universität Passau
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
72
Katalognummer
V277348
ISBN (eBook)
9783668704848
ISBN (Buch)
9783668704855
Dateigröße
770 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Märchen, Parodie, Walter Moers, Dekonstruktion
Arbeit zitieren
Sabine Ginster (Autor:in), 2013, Walter Moers "Ensel und Krete". Märchenparodie und Dekonstruktion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/277348

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