Im Schatten von Jena. Die Bedeutung des lokal-spezifischen Wissens zur Restrukturierung der Leitindustrien in Gera seit der Wiedervereinigung


Masterarbeit, 2011

118 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Problemstellung
1.1 Restrukturierung und Verwertung des Wissens in Ostdeutschland
1.2 Fragestellung
1.3 Perspektive und Aufbau der Arbeit

2 Themenspezifische Theorieansätze
2.1 Einordnung des Fachbegriffes Wissen
2.1.1 Wissensbegriff und Wissensgenerierung
2.1.2 Das SECI-Modell nach Nonaka und Takeuchi
2.2 Evolutionäre Ökonomik, relationale Wirtschaftsgeographie und die Bedeutung von embeddedness
2.2.1 Evolutionäre Ökonomik
2.2.2 Relationale Wirtschaftsgeographie
2.2.3 Embeddedness
2.3 Wissen in der Wirtschaftsgeographie:Das Konzept der localized capabilities
2.3.1 Der Erklärungsansatz
2.3.2 Kritik
2.4 Der Clusteransatz
2.4.1 Clustertheorie
2.4.2 Clusterdimensionen
2.4.3 Clustergrenze
2.4.4 Temporäre Cluster
2.4.5 Kritik
2.5 Individualisierungsschub
2.6 Gesamtübersicht des Theoriekomplexes

3 Methodische Überlegungen
3.1 Empirische Zielstellung und Materialsammlung
3.2 Vorstellung des Interviewleitfadens
3.3 Kategorisierung und Auswertung der Daten

4 Entwicklungen in Ostdeutschland und Gera seit der Wiedervereinigung.
4.1 Entwicklungen in Ostdeutschland
4.1.1 Transformationsprozess
4.1.2 Statistische Kennzahlen
4.2 Gera - Entwicklungen und Kennzahlen einer Großstadt
4.2.1 Industriehistorie
4.2.2 Bevölkerungs- und Wirtschaftskennzahlen der Stadt Gera

5 Ergebnisse einer Unternehmerbefragung
5.1 Das lokal-spezifische Wissen in Gera
5.1.1 Einführung -localized capabilitiesin der Empirie
5.1.2Localized capabilitieswährend der Transformation und ihre aktuelle Bedeutung .
5.1.3 Nicht vorhandenes Wissen
5.1.4 Weitergabe des impliziten Wissens und verlorenes Wissen
5.1.5 Dielocalized capabilitiesheute
5.2 Formen der Zusammenarbeit und Wissensgenerierung
5.2.1 Standortinterne Zusammenarbeit der Unternehmer
5.2.2 Standortexterne Zusammenarbeit
5.2.3 Standortinterne und -externe Wissensgenerierung
5.2.4 Konkurrenzsituation
5.3 Die Wirtschaftssituation am Standort Gera
5.3.1 Wirtschaftliche Rahmenbedingungen aus Sicht der Interviewpartner
5.3.2 Fehlentwicklungen aus Sicht der Interviewpartner
5.3.3 Die Akteurssicht auf die Entwicklung Jenas

6 Schlussbetrachtungen
6.1 Schlussfolgerungen
6.2 Ausblicke

Literaturverzeichnis

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abb.1: Gera - Lage im Land Thüringen

Abb.2: Aufbau der Arbeit

Abb.3: SECI-Modell der Wissensgenerierung

Abb.4: Wesentliche Konzepte und ihre Kategorisierung in Raum-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften

Abb.5: Kategorisierung im Analyseprogramm MAXQDA

Abb.6: Bruttoproduktion ausgewählter Wirtschaftszweige in Thüringen

Abb.7: Bruttoinlandsprodukt von 1991 bis

Abb.8: Gesamtentwicklung des BIP in Thüringen von 1981 bis

Abb.9: Bevölkerungs- und Erwerbstätigenentwicklung in Gera und Jena

Abb.10: SQ der Beschäftigten und des Umsatzes im Textilgewerbe Geras

Abb.11: SQ nach Umsatz im Maschinenbau für die Städte Erfurt, Gera, Jena

Abb.12: SQ nach Beschäftigten in Medizin-, Mess-, Steuer- und Regelungstechnik,Optik, Herstellung von Uhren

Abb.13: Gesamtumsatz aller Branchen in Gera und Jena

Abb.14: SECI-Wissensmodell anhand von Ankerzitaten

Abb.15: Netzwerkbeziehungen der Geraer Textilindustrie

Abb.16: Standortbedingungen Gera

Tabellenverzeichnis

Tab.1: Vorstellung der Interviewpartner

Tab.2: Erwerbsquote und Abhängigkeitsindex

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Problemstellung

1.1 Restrukturierung und Verwertung des Wissens in Ostdeutschland

„ In der H ü lle des Alten entfaltet sich qualitativ Neues" (DÖRRE & RÖTTGER 2006:60).

Anfang der 1990er Jahre fand in den neuen Bundesländern ein struktureller Wandel statt, der im europäischen Vergleich seines gleichen sucht (DÖRRE & RÖTTGER 2006:50). Der Optimismus rasch ‚blühender Landschaften‘ mündete in weniger als zwei Jahren nach der Wiedervereinigung in Ernüchterung. Der erhoffte Aufschwung blieb aus und es wurde von einer fehleingeschätzten Wirtschaftskraft der einstigen DDR ge- sprochen, denn die Realität zeigte sich erst nach der Grenzöffnung (DER SPIEGEL 1992a/b). Viele Kombinate1 waren anachronistisch, erodiert und befanden sich in einer prekären Wirtschaftslage. Im Vergleich zu den alten Bundesländern lag die Produktivi- tät je Arbeitskraft bei weniger als einem Drittel (BUSCH et al. 2009:17). Die gegründete Treuhandanstalt (THA) sollte die wettbewerbsunfähige Wirtschaft innerhalb von fünf Jahren an das Westniveau angleichen (BRUCH-KRUMBEIN & HOCHMUTH 2000:7). Aller- dings versagte das Treuhandkonzept und es setzte eine beispiellose, zeitrafferartige Deindustrialisierung und Destabilisierung der vorhandenen Strukturen ein (BUSCH et al. 2009:11)2. Nahezu vier Millionen Menschen verloren in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung ihren Arbeitsplatz (LUTZ & GRÜNERT 2001:139). 20 Jahre nach der Deutschen Einheit liegt die Wirtschaftsproduktivität der neuen Bundesländer bei zwei Drittel des Westniveaus (DESTATIS 2010b:o.S.). Aufgrund dessen ist es nicht verwun- derlich, dass in Literatur und Medien vielfach vom Scheitern der deutschen Einheit in sozialer sowie wirtschaftlicher Hinsicht disputiert wird3. Jedoch wird ausgeblendet, dass in Ostdeutschland während eines weitaus geringerem Zeitraums das geschehen ist, was in den westlichen Altindustrien seit den 1970er Jahren geschieht - die industrielle Restrukturierung (BRINKMANN 1996:217).

Nach DÖRRE & RÖTTGER (2006:31) sind die Megatrends der industriellen Restrukturierung der letzten 40 Jahre „die Globalisierung der wirtschaftlichen Aus-tauschbeziehungen“, der Übergang zur „wissensgestützten Dienstleistungsökonomie“ sowie die Entstehung einer informationsbestimmenden Ökonomie. Diese Megatrends setzen die Investitionsbereitschaft für eine Wissensinfrastruktur voraus (ebd.). Wissen, Knowhow, Innovation und ähnliche Synonyme werden als Leitlinien aktueller Standortdebatten benutzt4. Mittlerweile zählt das „Wissen, ‚das Kapital in den Köpfen‘, zum wichtigsten Produktionsfaktor“ (DOHSE & SOLTWEDEL 2003:3).

Neben wenigen Ausnahmen waren viele der maroden Kombinate nicht mehr wettbewerbsfähig. Trotz, oder gerade wegen des darauffolgenden radikalen Abbaus der Altindustrien, entwickelte sich bis heute - 20 Jahre nach der Wiedervereinigung - nur in wenigen Regionen5 der Megatrend zur aufstrebenden, wissensgestützten sowie infor- mationsbestimmenden Dienstleistungsökonomie (ebd.:20). Dieses Faktum wirft die Fragen auf, was mit dem sogenannten ‚Kapital in den Köpfen‘ der massenhaft entlas- senen Arbeiter geschehen ist und inwiefern das in den ehemaligen DDR-Betrieben kumulierte Wissen dazu beitragen konnte, diese zu restrukturieren oder neue Unter- nehmen zu gründen? Mitunter solche Fragen werden in folgender Arbeit am Beispiel von Unternehmen in der Stadt Gera analysiert.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1: Gera - Lage im Land Thüringen

(SCHMIDT-ROSSIWAL & AEHNLICH 2002:9)

Weniger als 50 Kilometer vom Hightech-Standort Jena entfernt liegt die weitaus weniger bekannte ostthüringische (Groß)Stadt Gera (Abb.1). Trotz ähnlicher Einwoh- nerzahl (rund 100.000) sowie einer langen und bedeutenden Industriegeschichte bis in die 1980er Jahre, verlief die Entwicklung nach der Wiedervereinigung aufgrund eines radikalen Prozesses der Deindustrialisierung und dem einhergehenden demografischen Wandel, im Vergleich zur Stadt Jena prekär. Gera verfügte bis Ende der 1980er Jahre über einen diversifizierten Besatz an Wirtschaftszweigen. Die Leitindustrien waren der Uranbergbau, der Schwermaschinen- und Textilmaschinenbau, die Textil- und Beklei- dungsindustrie, die Feinmechanik und Optoelektronik, die Elektrotechnik und Mikro- elektronik (TAUCHERT 2010). Bis Ende 1989 dominierte, wie in der gesamten DDR, die Vollbeschäftigung (KIRSTEN & HOFFMANN 2001:4). Seit der Wiedervereinigung wurden nahezu alle Großbetriebe abgewickelt oder gingen insolvent (ebd.:5). Ein kleiner Besatz blieb aufgrund erfolgreicher MBOs durch die Mitarbeiter, Geschäftsleitung, Betriebs- räte oder Investoren aus den alten Bundesländern erhalten und schaffte den Übergang in die soziale Marktwirtschaft. Dennoch verlor Gera die Funktion einer bedeutenden Industrie- und Arbeiterstadt und steckt in einem Selbstfindungsprozess. Entsprechend dieser Problemstellung wird im Verlauf der Arbeit die Weiterverwertung des kon- textualisierten Wissens der Arbeiter aus der wissensbasierten Industrie6 und der Einfluss auf die Stadt Gera nach der Wiedervereinigung untersucht.

1.2 Fragestellung

Die Untersuchung der Fragestellung wird auf zwei Ebenen stattfinden. In der Mikroebene geht es um die Weiterverwertung des in den tradierten DDR-Betrieben kumulierten, kontextualisierten Wissens und in der Mesoebene um den Einfluss des lokal spezifischen Wissens auf den ökonomischen, strukturellen Entwicklungspfad der Stadt Gera. Die unterschiedliche Verwertung des kontextualisierten Wissens sowie die Entwicklung Geras werden mit Hilfe qualitativer Interviews von Wirtschaftsakteuren mit der leitenden Fragestellung ermittelt und ausgewertet:

Inwieweit wurde das kontextualisierte Wissen aus den tradierten DDR- Betrieben der Stadt Gera nach der Wiedervereinigung zur Neuaus- richtung sowie -gr ü ndung von Unternehmen weiterverwertet und in wel- chem Ma ß e hat das lokal-spezifische Wissen zu einer industriellen Restrukturierung des Standortes beigetragen?

Diesbezüglich wird herausgearbeitet, welchen Stellenwert das kontextualisierte Wissen aus den DDR-Betrieben in den neu gegründeten oder -ausgerichteten Unterneh- men seit der Wiedervereinigung hatte. Da es sich hierbei um eine evolutionäre Be- trachtungsweise handelt, werden die heutigen Bedingungen der Stadt Gera einen wei- teren Bestandteil dieser Arbeit bilden. Hierzu wird untersucht, in welcher Form das einstige kontextualisierte Wissen in die soziale Marktwirtschaft übertragen wurde, wie es den Standort geprägt hat und was an Wissen verloren gegangen ist. Der wirt- schaftstheoretische Ansatz ist relational und demnach gelten das ökonomische Handeln und resultierende Wissen als standortprägender Faktor. Um unterschiedliche Entwick- lungspfade von Städten in Ostdeutschland aufzuzeigen, werden bei einigen Punkten vergleichende Daten zum Universitäts- und Hightech-Standort Jena herangezogen. Der Vergleich der benachbarten Städte ist angebracht, da Einwohnerzahl, Flächengröße und Wirtschaftsdaten bis und während der Wiedervereinigung konvergierten. Die folgenden Unterfragen, bezogen auf die Stadt Gera, ergänzen die Hauptfragestellung:

- Wie verlief die Entwicklung der wissensbasierten Industrie seit der Wiederver-einigung? Gibt es aktuelle Branchenkonzentrationen?
- Hat sich in den letzten 20 Jahren der Besatz der Leitindustrien ge ä ndert?
- Konnte bei Unternehmensneugr ü ndungen an das vorhandene lokal-spezifische Wissen angekn ü pft werden oder wurde es obsolet?
- Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit standortintern sowie -extern? Gibt es formelle oder informelle Zusammenarbeit zwischen den Unternehmern und Ein richtungen und inwiefern wird dabei neues Wissen generiert?
- Wie agieren die Unternehmer (in Konkurrenz) zur wissensbasierten Industrie in Jena?
- Warum entwickelte sich die Wirtschaft seit der Wiedervereinigung schw ä cher als in Jena? Wie können die aktuellen, unterschiedlichen Strukturdaten erkl ä rt werden?

1.3 Perspektive und Aufbau der Arbeit

Die wissenschaftliche Grundperspektive ist ein evolutionärer, erkenntnistheoretischer, kritischer Realismus. Dies bedeutet, gegenwärtige Zustände sind Bedingungen von Handlungsentscheidungen in der Vergangenheit. Diese Handlungen werden durch den Erkenntnisfortschritt beeinflusst. Das Wahrnehmungs- sowie Aufnahmevermögen der Individuen werden evolutions-historisch als begrenzt betrachtet und sind nicht als stets rational zu erklären (PORSTMANN 2004:150). Die Fragestellung wurde deduktiv aus den Erkenntnissen der erarbeiteten Problemstellung sowie induktiv, aus bereits vorhandenen Erfahrungen generiert. Das weitere Vorgehen (s. Abb.2) und die Generierung der empi- rischen Zielstellung sind theoriegeleitet. Daraus folgt, nach der Darstellung der einlei- tenden Problem- und Fragestellung wird ein theoretischer Rahmen behandelt. Bei der themenspezifischen Theoriefundierung erfolgt die Bestimmung und Einordnung von Wissen. Anschließend bildet die evolution ä re Ö konomik die Basis für die Konzepte der relationalen Wirtschaftsgeographie, des embeddedness-Ansatzes, der localized capa- bilities und der Clustertheorie. Im dritten Abschnitt werden die Untersuchungsziele und

-instrumente aufgeführt. Dahingehend wird auf die Auswahl der befragten Unternehmer sowie die verwendeten Daten eingegangen. Der vierte Abschnitt bildet den deskriptiven Übergang vom theoretischen zum empirischen Rahmen, beginnend mit der Analyse des Transformation sbegriffes im Fokus der Ereignisse um 1989/90 in Ostdeutschland. Dem anknüpfend wird auf die Industriehistorie von Gera eingegangen. Weiterhin werden aktuelle Strukturdaten, welche für den weiteren Verlauf der Arbeit notwendig sind, dar- gelegt. Im empirischen Abschnitt werden die Untersuchungsergebnisse mittels der aus- gewerteten Interviews aufbereitet. Hierbei sind die drei grundlegenden Themenbe- reiche:

I. Ereignisse während der Wiedervereinigung und die Bedeutung des lokal-spezifischen Wissens für die Restrukturierung oder Gründung von Unternehmen,

II. Formen der Zusammenarbeit und Wissensgenerierung,

III. die aktuelle Wirtschaftssituation am Standort Gera.

Übergeordnet zu diesen drei Teilbereichen wird stets die Hauptfragestellung stehen. Zum Abschluss ist eine Zusammenfassung der Ergebnisse in Form einer Schlussfolgerung ausgearbeitet. Ein Ausblick auf weiterführende Themenbereiche schließt die Arbeit ab.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.2: Aufbau der Arbeit

2 Themenspezifische Theorieansätze

2.1 Einordnung des Fachbegriffes Wissen

2.1.1 Wissensbegriff und Wissensgenerierung

Wesentliche Aussagen dieser Arbeit sind an den Begriff Wissen geknüpft. Diesbezüglich ist ein tieferes Verständnis eng mit dem Bedeutungsgehalt des Begriffes verbunden. Leider erschwert die Definitionsvielfalt in der jeweiligen Literatur eine allgemeingültige Bestimmung (s. Kritik SCHREYÖGG & GEIGER 2001). Aufgrund dessen gilt es für diese Arbeit das kontextualisierte beziehungsweise implizite Wissen zu spezifizieren sowie den Unterschied zum expliziten, ubiquitären Wissen herauszuarbeiten.

Die Wissensgenerierung entsteht in erster Linie auf human-kognitiver7 Ebene durch die Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen. Das Verständnis über die wahr- genommenen Reize und die darauffolgende logische und selektive Verarbeitung führt zum subjektbezogenem Wissen (BLÜMM 2002:8f.). In Verbindung mit dem logischen Denken wird die Fähigkeit zum Handeln in unserer Umwelt hergestellt (ebd.:11). Han- deln kann als „geistige Tätigkeit“ (z.B. Denken) und „äußerliche Tätigkeit“ (z.B. Umgang mit Maschine) unterschieden werden (WERLEN 2004:384f.). Die Wissensan- eignung geschieht im Prozess der Sozialisation. Dieser selektive Aneignungsprozess wird evolutionär durch den historisch kumulierten „Nährboden“ bestimmt (WALTER 2003:114). Demnach ist das grundsätzliche, kodifizierte Wissen durch die vorhandene Kultur sowie vom Wertesystem bestimmt (MOKYR 1998 zit. in WALTER 2003:114, WERLEN 2004:387). Aufgrund einer Vielzahl unterschiedlicher Lernprozesse8 eignen sich Individuen im Verlauf ihrer evolutionären Entwicklung einen Besatz an explizitem (allgemein verfügbar, artikulierbar) und implizitem (spezifisch und kontextualisiert, je nach Literatur nicht oder teilweise artikulierbar) Wissen an (WINKEL et al. 2006:37 & 211). Vor allem das subjektbezogene implizite Wissen spezifiziert sich nach der allge- meinen Entwicklung im Kindesalter. In diesem Kontext wird häufig von ‚Knowhow‘ gesprochen, was als spezielles, zweckgebundenes, für konkrete Problemstellungen an- wendbares Wissen gilt (kontextualisiertes Wissen) (BLÜMM 2002:13). Eben dieses im Verlauf des Arbeitslebens schwer ersetzbare, konditionierte, kontextualisierte, implizite Wissen sowie die ökonomische Verwertung dessen nach der Wiedervereinigung, steht im Mittelpunkt der Untersuchung. Ein häufig verwendeter Anglizismus des impliziten Wissens ist ‚tacit knowledge‘. Der von POLANYI (1985), begründete Begriff des „tacit knowledge“ bedeutet allerdings unbewusstes, nicht übertragbares Wissen und ist als implizites Wissen in vielen Nachfolgetexten nicht richtig übersetzt worden. Beispiels- weise mildern NONAKA & TAKEUCHI (1995) in ihrem SECI-Modell die scharfe Tren- nung zwischen implizitem und explizitem Wissen ab, erweitern gar das implizite Wissen um kognitive sowie technische Elemente und ermöglichen in einem weiteren Schritt die Artikulierbarkeit. Mit dem Terminus human-kognitiven Vermögens werden die bewussten und unbewussten Fähigkeiten zusammengefasst. Dementsprechend ist dieser Wissensbegriff die Vereinigung des impliziten, kontextualisierten sowie expliziten, kodifizierten Wissens.

2.1.2 Das SECI-Modell nach Nonaka und Takeuchi

Modellbeschreibung

Das sogenannte SECI-Modell (Socialization, Externalization, Combination, Interna- lization) ist ein Wissensmanagement-Tool nach NONAKA & TAKEUCHI (1995), was den Prozess der Epistemologie im Unternehmen simuliert. Grundsätzlich wird in diesem der japanischen Kultur angelegten Konzept davon ausgegangen, dass implizites und expli- zites Wissen keine völlig unterschiedlichen Dimensionen darstellen. Von Bedeutung ist jedoch die epistemologische und ontologische Unterscheidung des Wissens (ebd.:9). Im ontologischen Kontext wird Wissen ausschließlich vom Individuum selbst erzeugt und Unternehmen gelten als die unterstützende Organisation zur Wissensgenerierung (ebd.:59). Im epistemologischen Kontext wird - nach Polanyis Ansatz - zwischen im- plizitem und explizitem Wissen unterschieden. Das implizite Wissen wird als schwer formalisierbar und tief im Individuum verankert definiert. Es kann in eine physisch- technische (Fertigkeiten, Knowhow) sowie in eine psychisch-kognitive Ebene (Auffas- sungen, Glaube und Überzeugungen) unterteilt werden (ebd.:8, 59f.). Dagegen ist das explizite Wissen in Worten und Zahlen ausdrück-, speicher- und übertragbar (ebd.:60). Der Prozess der Wissensentstehung und -übertragung wird nach NONAKA & TAKEUCHI (1995:12ff.) als ein Wechselspiel von implizitem und explizitem Wissen verstanden, was stetig zur Generierung neuer Ideen und Innovationen führt. Diesen Prozess veran- schaulichen die Autoren im SECI-Modell der Wissensgenerierung (Abb.3).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.3: SECI-Modell der Wissensgenerierung nach NONAKA & TAKEUCHI (1995:7 & 72)

Zu Beginn des Modells steht die Sozialisation und damit ist die „[verbale und nonverbale] Übertragung von implizitem Wissen durch Interaktionen zwischen Indivi- duen gemeint“ (LIN 2010:14). Als Beispiel schematisieren NONAKA & TAKEUCHI (1995:63) die teilnehmende Beobachtung und Nachahmung (sympathized knowledge) des Lehrlings vom Meister. Im Prozess der Externalisierung wird durch die Expli- zierung von Konzepten (conceptual knowledge), Metaphern und Analogien aus dem impliziten Wissen explizites. Dieser Prozess wird durch gemeinsames Nachdenken und Dialoge mit Mitarbeitern initiiert (ebd.:64f.). In Anbetracht der Eigenschaft der Sub- jektabhängigkeit des impliziten Wissens, kann dieser Wissenstransfer nie vollständig sein. Durch die systematische (systemic knowledge) Kombination von unterschied- lichem explizitem Wissen der einzelnen Akteure wird neues explizites Wissen kreiert (ebd.:67f.). Explizites Wissen kann nicht quantitativ kumuliert, sondern lediglich an andere Akteure weitergereicht werden, wie beispielsweise beim Lehrer-Schüler- Verhältnis (ebd.:68). Der vierte Prozess ist die Internalisierung. Durch Lernen, Übungen und Routinen wird das vorhandene explizite Wissen verinnerlicht beziehungsweise operationalisiert (operational knowledge) und mit den individuellen Eigenschaften implizit (ebd.:69). Der Prozess der Verinnerlichung ist demnach nichts anderes als „ learning-by-doing “ (ebd.).

Diese Überlegungen entnehmen NONAKA & TAKEUCHI (1995:62ff.) aus Unter- nehmensbeispielen und erstellen hierzu ein Modell der Wissensspirale (Abb.3 Pfeile). Das SECI-Modell ist demnach ein andauernder Prozess, welcher mit der Sozialisation stetig neu beginnt. Sozialisation geschieht in Unternehmen durch die mentale Reflektion in Form von unterschiedlichen Interaktionen der Akteure. Daran anknüpfend folgen Dialoge (dialogue) und kollektive Reflektionen in Form von Metaphern und Analogien, sodass individuelles implizites Wissen einzelner Akteure auf alle Mitarbeiter übertragen werden kann und explizit wird (linking explicit knowledge). Im nächsten Schritt wird das explizite Wissen mit dem aus anderen Abteilungen oder Unternehmen zur Schaf- fung neuer Produkte oder Serviceleistungen, verknüpft. Durch den learning-by-doing - Prozess wird dieses verinnerlicht, um nachfolgend im Prozess der Sozialisation neue Interaktionen zu erzeugen (field building) (ebd.:70f.). Während des gesamten Kreis- laufes gilt, Unternehmen schaffen kein Wissen, sondern nur das implizite Wissen der einzelnen Individuen führt bei gezielter Förderung zu einer Wissenskumulation.

Modellkritik und Anwendung

Nonaka und Takeuchi setzen in ihrem Modell stets die Interaktionen zweier Akteure voraus um Wissen neu zu generieren. Dabei wird ausgeblendet, dass sich Individuen ebenfalls alleine sogenannte tazite „skills“ aneignen können (GOURLAY 2008:8). Über- dies wird von unterschiedlichen Autoren die unscharfe Definition des impliziten Wissens gegenüber der Ursprungsdefinition von Polanyi kritisiert (s. SCHREYÖGG & GEIGER 2001:10f., GOURLAY 2008:10f.). POLANYI (1985:25) grenzt das explizite vom impliziten Wissen soweit ab, dass letzteres nicht externalisierbar sprich, nicht artikulierbar und somit nicht übertragbar ist9. Nonaka und Takeuchi setzen jedoch voraus, dass es anhand von Metaphern und Analogien eine Möglichkeit der Artikulation von implizitem Wissen gibt. Das ist für diese Arbeit insofern praktikabel, da im empi- rischen Abschnitt eine mögliche Weiterverwertung des impliziten Wissens aus den DDR-Betrieben in der sozialen Marktwirtschaft analysiert und nachverfolgt werden kann.

2.2 Evolutionäre Ökonomik, relationale Wirtschaftsgeo- graphie und die Bedeutung von embeddedness

2.2.1 Evolutionäre Ökonomik

In den Wirtschaftswissenschaften sind evolutionäre Ansätze aufgrund von Kritiken an der deterministischen neoklassischen Ökonomik entstanden (s. NELSON & WINTERS 1982, BERNDT & GLÜCKLER 2006). Das Streben nach ökonomischer Effizienz als die einzige Intention von Individuen schränkt die Aussagekraft über Wahlmöglichkeiten, Entscheidungen sowie opportunistischem Verhalten ein und ist nicht mit reellen Erfahrungen von Ökonomen vereinbar (NELSON & WINTERS 1982:25). Darüber hinaus erklären neoklassische Ansätze nicht, welche Möglichkeiten und Mittel für den ökonomischen Wandel bei Problemen und Spannungen bestehen (ebd.).

Der Grundgedanke der Evolutionsökonomik ist, dass auf der Mikroebene jeg- liche Handlungen von Akteuren und auf der Makroebene jeder Zustand eines Systems, auf frühere Handlungen und Entscheidungen zurückgehen (DOSI 2000:53ff.). In diesem Zusammenhang werden die Begriffe der Pfadabhängigkeit (Trajektorien) sowie Kon- textspezifität eingeführt. Entscheidende Aufgaben der evolutionären Ökonomie sind die Analyse und der Vergleich existierender Strukturen und das Aufzeigen möglicher, bes- serer Alternativstrukturen. Es ist demnach möglich, den technischen Wandel durch Innovationen als Ergebnis „menschlicher Kreativität und interaktiver Such- und Experimentierprozesse“ (BATHELT & GLÜCKLER 2002:237) zu bestimmen und zu beur- teilen. Ein evolutionärer Fokus ermöglicht den vollständigen Einblick in die Tätigkeiten eines ökonomischen Systems (NELSON & WINTERS 1982:402). Unternehmen, Behörden und Institutionen10 sind diesbezüglich keine starren sondern komplexe, dynamische, vielfältige Systeme an denen Änderungseffekte - z.B. der politischen Struktur - kontextspezifisch und systematisch analysiert werden können (ebd.:402f., PORTER 1995:240).

2.2.2 Relationale Wirtschaftsgeographie

Diese Änderungseffekte und deren Beziehungsgeflechte sind in räumlicher Perspektive beobachtbar und bilden den Gegenstand der relationalen Wirtschaftsgeographie (BATHELT & GLÜCKLER 2002:33f.). Der zu beobachtende Gegenstand ist demnach das ökonomische Handeln und die Beziehungen in räumlicher Perspektive sprich, das „Ver- hältnis von Raum und Wirtschaft“ (ebd. 2003:68). Dahingehend können lokale Wir- kungen, Vergleiche verschiedener Ortschaften und interregionale Interaktionen analy- siert werden (ebd. 2002:34). Raum11 wird im Gegensatz zu neoklassischen Ansätzen nicht mehr als bestimmender Faktor betrachtet, sondern handelnde Individuen sind die eigentlichen Raumgestalter. Sogleich bedeutet dies, dass das Agieren der Unternehmer, die Region beeinflusst und nicht umgekehrt (WERLEN 2005:393). Das ökonomische Handeln umfasst „Prozesse des institutionellen Lernens, der ökonomischen Innovation und unternehmensübergreifenden Organisationen“, welche sowohl kontextualisiert als auch evolutionär zu betrachten sind (BATHELT & GLÜCKLER 2002:34). Diese werden ins Beziehungsgeflecht der Akteure gesetzt, so dass das Verständnis eines übersoziali- sierten, methodologischen und atomistischen Individualismus (WERLEN 1999:42f., GLÜCKLER 2001a:261) in Richtung relationales Handeln der Akteure (GRANOVETTER 1985:505f.) gerückt wird. Die pfadabhängige, kontextuelle Perspektive der evoluti- onären Ökonomik wird im Verständnis der Erkenntnistheorie mit dem Prinzip der Kon- tingenz erweitert. Entwicklungspfade verlaufen daher nicht nach bekannten Mustern, sondern sind als offen zu akzeptieren (BATHELT & GLÜCKLER 2002:36). Kurzum beschreibt das Konzept der relationalen Wirtschaftsgeographie die „evolutionäre Dynamik ökonomischen Handelns in räumlicher Perspektive“ (BATHELT 2008:o.S.).

Anknüpfend an das Grundverständnis der Kontextualität, Pfadabhängigkeit und Kontingenz sowie an die „holy trinity“ (Organisation, Technologie, Territorium) der regionalen Ökonomie nach STORPER (1997), formulieren BATHELT & GLÜCKLER (2002:36ff.) die vier Ionen - Organisation, Evolution, Innovation und Interaktion - der relationalen Wirtschaftsgeographie. Diese Ionen bilden ein Netzwerk von Strukturen und Beziehungen, welche sich nach dem relationalen Verständnis aus dem sozialen Handeln ableiten lassen (ebd. 2003:70). Darüber hinaus sollen sie dazu beitragen mögli- che wirtschaftsgeographische Forschungsfragen zu bearbeiten (BATHELT 2008:o.S.). Im Ion der Organisation ist das Forschungsinteresse des eigenen Unternehmens, zwischen Instituten und Behörden sowie externen Unternehmen „Ausgangspunkt von ökono- mischen Interaktionen“ (ebd.). Dieser Prozess der Interaktionen führt in Organisationen zu Innovationen, welche evolution ä r betrachtet sich rückwirkend auf die vorhandenen Organisations- und Interaktionsprozesse auswirken. Da die Prozesse durch Institutionen geprägt sind, welche gleichzeitig weiterentwickelt sowie neugeschaffen werden, wird die Möglichkeit eingeräumt, Institutionen als fünftes Ion und Analyseinstrument einzu- setzen (ebd.).

2.2.3 Embeddedness

Anhand der Kritik, dass sich ökonomisches Handeln zwischen zwei isolierten Akteuren unabhängig vom sozialen Handeln vollzieht, wurde der embeddedness-Ansatz im Bereich der new economic sociology formuliert, welcher beide Paradigmen - ökono-misches und soziales Handeln - vereint. GRANOVETTER (1985:487ff.) postuliert, dass Akteure Entscheidungen nicht ohne einen sozialen Kontext treffen, sondern soziale Strukturen ihre Handlungen, und dadurch ökonomische Entscheidungen, beeinflussen. In seinen Studien stellt er fest, dass kleine Unternehmen besser die Marktkräfte über- stehen, wenn sie in einem dichten Netz, nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch sozialen Beziehungen eingebunden sind. Daher bildet der Ansatz eine Verknüpfung aus soziologischer und ökonomischer Theorie sowie die Lücke zwischen Struktur- (struk- turelle embeddedness) und Handlungsperspektive (relationale embeddedness) wird geschlossen (ebd.:507). Im relationalen Kontext werden Hintergründe von Akteursbe- ziehungen analysiert und dadurch eine „evolutionäre Dynamik ökonomischen Handelns impliziert“ (GLÜCKLER 2001b:215). Zudem ist es möglich, aus der Struktur der Bezie- hungen von Akteuren, Aussagen über potentielles Handeln zu treffen (MIZRUCHI zit. in GLÜCKLER 2001a:262). Die Struktur, welche aus den sozialen Beziehungen der han- delnden Akteure entsteht, wird als Netzwerk bezeichnet (GRANOVETTER 1985:507). Unternehmensnetzwerke werden als gering formal regulierte und flexible Kooperations- form verstanden (GLÜCKLER 2001b:212). Solche Netzwerke schaffen unter den Akteuren die informelle und soziale Institution des Vertrauens (ebd.:215)12.

2.3 Wissen in der Wirtschaftsgeographie - Das Konzept der

localized capabilities

2.3.1 Der Erklärungsansatz

Der Ausgangspunkt für das Konzept der localized capabilities war die Frage, welche Produktionsfaktoren aufgrund der Globalisierung ubiquitär sind, das heißt, überall zu selben Kosten und Qualitäten herstellbar. Und im Gegenzug, welche Produkte lassen sich nur schwer imitieren und übertragen (MASKELL & MALMBERG 2005:2). Die Auto- ren MASKELL & MALMBERG (1995, 1999, 2005) gehen in ihrem Konzept davon aus, dass sich regional vorhandene Fähigkeiten in Form von implizitem Wissen, welches durch lokale Institutionen beeinflusst ist, nur schwer durch die Ubiquitification determi- nieren lassen. Die Idee des lokalen Lernens erklärt darüber hinaus, warum regionale Ökonomien oft spezialisiert auf eine Branche sind und branchenverwandte Unter- nehmen dazu neigen, sich gemeinsam anzusiedeln und somit Cluster ausbilden (s. Kap.2.4) (ebd. 2005:1). Nach MEUSBURGER (2006:280) sind lokal-spezifische Strukturen mit ihren impliziten Funktionen sowie symbolischen Bedeutungen, der Grund für eine räumliche Verwurzelung von Individuen und ihren Ideen. Daraus folgt, die gegenwärtig vorhandene Wissensausstattung einer Region, ist ein Resultat der wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung. Demnach kann der Ansatz zur evolutionären Ökonomik eingeordnet werden, denn die localized capabilities sind pfadabhängig (MASKELL & MALMBERG 1995:13f.).

Der localized capabilities Ansatz umfasst human-physisches (Menschen) und human-kognitives (Wissen) Vermögen sowie physisch-materielle (Industriegebäude, Infrastruktur) und institutionell-immaterielle (u.a. Industriestandards, Regeln, Routinen, Kultur) Ressourcen in einer Region (ebd. 1995:13). Die physisch-materielle Ausstattung ist verknüpft mit dem vorhandenen human-kognitiven und -physischen Vermögen und dessen Fähigkeiten die Gegebenheiten, wie Fabrikgebäude und Infrastruktur, zu er- schaffen (ebd.:12). Die institutionell-immaterielle Ausstattung ist ebenfalls mit dem human-kognitiven Vermögen verbunden und ein Ausdruck der evolutionär kumulierten Elemente der verschiedenen Epochen, wie Glaube, Werte, kombiniert mit ehemaligen Industriestandards und Regulatoren (ebd.). Die institutionell-immaterielle Ausstattung trägt zur effektiven Wissensakkumulation in den Unternehmen und im Umkehrschluss wiederum zur Attraktivitätssteigerung der Institutionen bei (ebd.:14). Das human- kognitive Vermögen ist persistent und überdauert die physisch-materiellen und institutionell-immateriellen Strukturen in denen es kreiert wurde. Baufällige Gebäude, ausgelaufene Strukturen oder veraltete Institutionen werden stetig angepasst, aber das Wissen und die Fähigkeiten, welche in diesen Anlagen geschaffen wurden, bleiben er- halten, werden weiter kumuliert und erzeugen neue, den marktwirtschaftlichen Bedin- gungen angepasste physisch-materielle und institutionell-immaterielle Strukturen (ebd.:23). So ist plausibel, dass sich eine ehemals auf Feinmechanik spezialisierte Region auf materieller und immaterieller Ebene Richtung Mikrochiptechnologie restrukturieren kann (ebd.). Denn der ständige Prozess eines konsistenten Austauschs vorhandener Fähigkeiten in Form des lokalen aber auch globalen Lernens, führt zur ste- tigen Kumulierung neuer und angepasster Fähigkeiten (ebd. 2005:4). Zusammenfassend betrachtet wird im localized capabilities Ansatz die Verbindung des lokal-spezifischen, human-kognitiven Vermögens mit den materiellen und immateriellen Ressourcen einer Region sowie deren evolutionärer Zusammenhang analysiert.

Insbesondere das implizite Wissen fokussieren die Autoren in ihrem Ansatz. Das wesentliche Argument für eine hohe Bedeutung von implizitem Wissen ist die nicht ortsabhängige Eigenschaft des expliziten Wissens, welches durch die Globalisierung weltweit verbreitet werden kann13. Demgegenüber sind die lokal-spezifischen, impli- ziten Fertigkeiten, welche sich über viele Jahre formiert haben, Errungenschaften, die sich schwer auf andere Regionen übertragen lassen (ebd. 1999:12). Anhand des localized capabilities Konzeptes wird verständlich, warum erfolgreiche Regionen nicht eins-zu-eins imitiert werden können. Es ist nicht möglich die spezifischen pfadabhängigen, ökonomischen Entwicklungen einer erfolgreichen Region zu assimi- lieren. Neben dem human-kognitiven Vermögen ist auch die institutionell-immaterielle Ausstattung raumgebunden (ebd. 1995:21). Eine erfolgreiche Region zeichnet eine über Jahrhundert gewachsene komplexe Verknüpfung nationaler, regionaler und lokaler Institutionen aus. Dies ist gekennzeichnet von einem tazitem, vertrauensvollem Um- gang, welcher hinter den sichtbaren Interaktionen der Akteure stattfindet (ebd.:22). Dieses implizite Akteursvertrauen kann nicht auf andere Regionen übertragen werden.

Aufgrund der ausgeprägten Globalisierung kann es dennoch passieren, unab- hängig der Pfadabhängigkeit und Akteursbeziehungen, dass essentielle Teile einer lokalen Fertigkeit auf irgendeine Art und Weise ubiquitär, das heißt, überall verwendbar werden14. Das hätte zur Folge, dass rückwirkend dieses einstige lokal-spezifische Wis- sen global zur Verfügung steht und die Standort-Nutzen-Kosten an Bedeutung verlieren. Dementsprechend ist die localized capability gefährdet, falls lokale Fähigkeiten ubi- quitär werden (ebd. 1999:12). Diesen Ansatz übertragen auf global agierende Unter- nehmen bedeutet, dass diese nicht ausschließlich durch globale Marktstrukturen, sondern zusätzlich durch vorhandene Ressourcen, Strukturen und Institutionen der regi- onalen Ebene beeinflusst werden (ebd.:10). Unternehmen werden nicht als statische sondern dynamische Organisationen verstanden, welche fortdauernd Wissen kreieren müssen, um mehr Kompetenzen aufzuweisen als die Konkurrenz. Somit ist das primäre Ziel nicht die Kostenreduzierung, sondern das Anhäufen von Wissen und Innovationen (ebd. 1995:3). Dies muss weitestgehend heterogen gegenüber konkurrierenden Unter- nehmen geschehen, denn lediglich die unabhängige Spezialisierung sorgt für Varia- tionen am Markt (ebd.:6). Alle ökonomischen Prozesse, wie auch die Anhäufung des Wissens, werden nach GRANOVETTER (1985) als socially embedded verstanden. Märkte sind sozial konstruiert und eingebettet in lokal-spezifischen Institutionen, in denen gewisse Eigentumsrechte zugesprochen und ökonomische Transaktionen ermöglicht werden (MASKELL & MALMBERG 1999:10).

Mit dem Ansatz der localized capabilities kann das Phänomen der Industriekon- zentrationen - z.B. der Lederindustrie in einem kleinen Gebiet Norditaliens - erklärt werden (ebd. 1995:15). Es etablieren sich diese Regionen, in denen Unternehmer ihre alten Produktionslinien erfolgreich an aktuelle Bedingungen anpassen können und da- rüber hinaus die anschließenden Modifikationen der lokal-spezifischen Fähigkeiten und Institutionen neue Firmen anzieht (ebd. 2005). Die Ansiedlung in solche Regionen er- möglicht räumlich näher an die spezifischen Qualifikationen und Erfahrungen zu gelangen (ebd. 1999:10). Schließlich ist, wie bereits erwähnt, das implizite Wissen raumgebunden (MEUSBURGER 2006). Der Raum ist dabei als Element der sozialen Kommunikation zu verstehen, denn die wichtigen Beziehungen oder Begegnungen über Face-to-Face Kontakte sind nur im räumlichen Kontext möglich (ebd.:272, 280). Ferner haben MASKELL & MALMBERG (1995:16) festgestellt, dass selbst Finanzinstitute im regionsspezifischen Hauptsektor mehr Kompetenzen aufweisen, als Banken anderer Regionen im gleichen Sektor. Daraus folgt, die localized capabilities aus den Leitin- dustrien können weitere Sektoren einer Region beeinflussen.

Es ist anzumerken, dass der localized capability Ansatz insbesondere in altindustriell strukturierte Regionen nachweisbar ist. Voraussetzungen für eine positive Entwicklung des lokal-spezifischen Wissens sind das wechselseitige, vernetzte Lernen um stets neues Wissen reproduzieren zu können sowie eine Anzahl von großen, gewachsenen Unternehmen als Leitindustrien (ebd.:27).

2.3.2 Kritik

Zum empirisch noch wenig genutzten Konzept der localized capabilities ist hinzuzu- fügen, dass zwar die Globalisierung als Gefahr der Ubiquitification des lokal-spezi- fischen, human-kognitiven Vermögens gilt, aber zuerst von MASKELL & MALMBERG (1995) gar nicht und später nur allgemein (1999/2005) beschrieben worden ist. Das ökonomische Wachsen der Schwellenländer führt zum Anstieg der Bildungsqualität und ‚Bildungshungers‘ in diesen Ländern. Durch die Anpassung und Internationalisierung des Bildungswesens mit gleichzeitigem Einkommenswachstum in den Schwellenlän- dern, wächst zugleich die Mobilität. Eine essentielle Gefahr der Globalisierung ist daher, dass die lokal-spezifischen Fähigkeiten am Ursprungsstandort erlernt (z.B. durch Auslandssemester) und in Schwellenländer übertragen werden, um diese dann kosten- sparender umzusetzen. Weiterhin ist bekannt, dass mitunter deutsche Unternehmer in ostasiatischen Niederlassungen hiesige Fachkräfte ausbilden. Dadurch steigt signifikant die Gefahr, dass die erlernten Fertigkeiten in die lokalen Unternehmen kopiert werden. Sobald ein Unternehmen seinen Produktionsstandort aus einer Kernregion mit beson- deren localized capabilities verlagert, steigt die Wahrscheinlichkeit der Ubiquitification. Demzufolge ist nicht die Globalisierung allein für die Verbreitung eines einstigen localized capability verantwortlich, sondern zusätzlich der Unternehmer, welcher den Produktionsstandort wechselt und somit ungewollte Spillover-Effekte provoziert.

2.4 Der Clusteransatz

2.4.1 Clustertheorie

Ob relationale Wirtschaftsgeographie, der embeddedness-Ansatz oder die localized capabilities, alle geschilderten Ansätze haben mindestens die eine Gemeinsamkeit, dass durch eine räumliche Konzentration von branchenspezifischen Unternehmen mit kom- plementären Behörden sowie Instituten, positive ökonomische Effekte ausgehen. Die Rede ist von Clustern - nach PORTER (2003:254) eine geographisch dichte Gruppe von miteinander verknüpften Unternehmen sowie assoziativen Einrichtungen einer be- stimmten Branche. Ab einer kritischen Masse an wettbewerbsfähigen und branchen- ähnlichen Unternehmen in einer Region wird von einem Cluster gesprochen (PORTER 1998:78). Diese kritische Masse kann beispielsweise über den Standortquotienten er- mittelt werden. Der Standortquotient (SQ) vergleicht den Anteil einer Branche in einer Region mit dem Anteil, den diese Branche am Gesamtraum hat (BATHELT & GLÜCKLER 2002:86), wie dieses Formelbeispiel zeigt:

SQ Branche X

Anteil Branche X in Region Y

Anteil aller Branchen in Region Y

:

Anteil Branche X gesamt Anteil aller Branchen gesamt Beträgt der SQ über eins, wird eine gewisse Konzentration der Branche in der Untersuchungsregion angenommen. Je höher der errechnete SQ ist, desto stärker ist die Konzentration der untersuchten Branche in einer Region (ebd.).

Cluster entstehen und wachsen aufgrund der Eigenschaft, dass Unternehmer dazu neigen sich in bestimmten Kernregionen anzusiedeln, in denen angepasste ökono- mische Strukturen vorherrschen (MASKELL & MALMBERG 2002:430). Die bekanntesten Cluster sind u.a. das Silicon Valley (Computer), Hollywood (Filmindustrie) und Detroit (Autoindustrie) sowie in Mitteldeutschland beispielsweise das Biotechcluster Leipzig/ Halle oder das Optikcluster Jena. In einer globalisierten Welt sind es nicht mehr die absoluten Faktoren wie Infrastruktur, Nähe zu Rohstoffen oder Kunden, sondern spezi- fisch lokale, inkulturierte Eigenschaften, wie Wissen (s. localized capabilities), Bezie- hungen, Interaktionen (s. embeddedness-Ansatz) und Motivationen, welche diesen Regionen Wettbewerbsvorteile verschaffen (PORTER 1998:78). Daher scheint es nicht paradox, dass der globale Wirtschaftserfolg oft von lokalen Ressourcen stammt. BATHELT (2004:94) stellt heraus, dass die Wettbewerbsfähigkeit von Clustern in der Globalisierung durch zwei Prozesse gestützt wird. Erstens Ubiquitification, als Prozess der Kodifizierung von implizitem Wissen mit der einhergehenden globalen Übertra- gungsmöglichkeit aufgrund moderner Kommunikationsmöglichkeiten. Wie im localized capabilities Ansatz beschrieben, geht hierbei das spezifische Wissen einer Region ver- loren und wird ubiquitär. Zweitens Kontextualisierung, als gegensätzlicher Prozess, bei dem unspezifische Ressourcen von Wissen implizit werden. Sprich, die Diffusion der neusten Technologien in einem Cluster führt dazu, dass Unternehmen stets an das ak- tuellste Wissen gelangen und dieses für sich spezifizieren. Die Kontextualisierung ermöglicht neues lokal-spezifisches Wissen zu erzeugen und somit eine Region, ein Cluster wettbewerbsfähig zu halten.

Cluster zeichnen sich durch eine enge Verknüpfung von Endprodukt-, Zulie- ferer-, Dienstleistungs- oder Finanzunternehmen sowie staatlichen als auch privaten Forschungseinrichtungen und weiteren entsprechenden branchenzugehörigen Instituten aus (PORTER 2003:254). Diese Faktoren konzentriert auf eine Region, führen zu sinken- den Kosten und steigenden Wettbewerbsvorteilen (ebd. 1998:81). Die räumliche sowie die einhergehende soziale Nähe reduziert die formelle Hemmschwelle und führt, wie beim embeddedness-Ansatz aufgeführt, zu engen sozialen Kontakten. Die eigentlich formelle Beziehung der Produzenten-Zuliefer-Kunden-Ebene wird informell. Infolge- dessen werden intensivere Produktgespräche und Kostensenkungen möglich. Weiterhin entsteht durch räumliche Nähe und interaktives Handeln ein „permanenter Lernprozess“ (PIEPER 2007:6). Die enge Akteursvernetzung setzt fortdauernde Innovationsprozesse in Gang, welche im Umkehrschluss das Cluster im internationalen Marktgeschehen wettbewerbsfähig macht (PORTER 2003:260). BATHELT (2004:97f) bezeichnet auf Grundlage weiterer Autoren diese Akteursvernetzung und die damit einhergehende Zir- kulation von Wissen und Informationen als „Rauschen“ im Cluster. Dieses „Rauschen“ umfasst das Entstehen von vielfältigen Informationsflüssen und unterschiedlichen Lern- prozessen aufgrund von geplanten und ungeplanten Treffen der Akteure (ebd.:98).

Neben der branchenspezifischen Eigenschaft einer Region sind ebenfalls die lokalen Bedingungen für wirtschaftliche Aktivitäten ein Grund für die Entstehung eines Clusters. Egal ob Textil- oder Optikindustrie, ohne eine hochwertige Technik- und Wissensinfrastruktur sowie an die Wirtschaft angepasste Institutionen, bildet sich kaum ein Cluster aus (PORTER 1998:80). Diese Bedingungen sind lokal-spezifische, evolu- tionär gewachsene Errungenschaften und somit schwer auf andere Regionen übertrag- bar. Daher ist, wie im localized capabilities Ansatz beschrieben, das Kopieren eines erfolgreichen Clusters auf eine andere Region kaum umsetzbar. Clusterpolitik soll somit einen Beitrag zur Stärkung schon vorhandener Branchenkonzentrationen leisten (BRUCH-KRUMBEIN & HOCHMUTH 2000:69f.). Das heißt, Cluster sind pfadabhängige Branchenentwicklungen einer Region, welche beispielsweise durch den Ausbau von (Wissens-)Infrastruktur und Technologiebereitstellung, unterstützt, gefestigt und wett- bewerbsfähiger gemacht werden (FROMHOLD-EISEBITH & EISEBITH 2008:81).

2.4.2 Clusterdimensionen

Anhand der vorangegangenen Erläuterungen kann der Clusteransatz in vier Dimen- sionen eingeteilt werden (BATHELT & JENTSCH 2002, BATHELT 2004). Die horizontale Clusterdimension umfasst Unternehmen, welche ähnliche Produkte herstellen oder Dienstleistungen anbieten und somit in Konkurrenz stehen. Dies hat den Vorteil, dass der stetige Wettbewerb und einhergehende Ansporn dazu führt, dass die Unternehmen kontinuierlich neue und effektivere Produkte entwickeln sowie den Innovations- und Lernprozess ausbauen. Zudem sind sie über Produkte und Innovationstätigkeiten der Konkurrenzunternehmen im Cluster besser informiert, als außerhalb (BATHELT & JENTSCH 2002:34f.). Der allgemeine Unterschied zwischen horizontaler und vertikaler Clusterdimension ist, dass erstere Unternehmen mit ähnlichen Fertigungslinien sowie Tätigkeiten und letzteres Unternehmen mit unterschiedlichen aber komplementären Eigenschaften, beschreibt (MASKELL 2001:927). Damit ist bei der vertikalen Clusterdi- mension die klassische Kunden-Dienstleister-Zulieferer-Produzenten Kette gemeint. Ein Cluster beherbergt neben den Hauptproduzenten von Primärgütern eine Anzahl von Komplementärdiensten wie beispielswiese Zulieferunternehmen, Unternehmen mit spezialisierten Dienstleistungen, Technologien, Maschinen und dazugehörigen Service- angeboten (MALMBERG 2009:6). Durch diese Kombination an Produzenten und Dienst- leistern werden die Verbundeffekte gebessert sowie die Transportkosten verringert. Aufgrund der engen Unternehmensverknüpfungen können entstehende Probleme direkt entlang der Wertschöpfungskette gelöst werden, sodass ein stetiger Lern- und Innovati- onsprozess entsteht (MASKELL 2001:931). Aber nicht nur ökonomische Gegebenheiten sind maßgebend für die Ansiedlung innerhalb eines Clusters sondern auch die sozialen Errungenschaften15. Dies bedeutet, auch qualitative Eigenschaften wie institutionelle Bedingungen, Kommunikation, Vertrauen sowie interaktive Lern- und Innovationspro- zesse einer Region, sind ausschlaggebend für Unternehmensansiedlungen (MALMBERG 2009:5, WROBEL 2009:89). Dies beinhaltet zugleich die institutionelle Clusterdimen- sion. Denn „Institutionen sind sowohl das Ergebnis fortlaufender sozialer Beziehungen als auch Voraussetzung für zukünftige Interaktionen“ (BATHELT & JENTSCH 2002:36). Institutionen sind evolutionär während des Ballungs- und Spezialisierungsprozesses entstanden. Lokal-spezifische Normen und Regelsysteme haben sich im Laufe der Ent- wicklung zu Institutionen verankert. Diese sind unterteilt in formelle und informelle Kommunikation und bestimmen den kollektiven Austausch von Informationen, Lern- prozessen sowie gemeinsamen Problemlösungen (ebd.:37). Da diese lokale Geschlos- senheit die Gefahr einer Lock-in-Situation oder over-embeddedness birgt, wird in der vierten Clusterdimension die Offenheit zu externen Märkten und Technologien beschrieben. In erfolgreichen Clustern sind die Unternehmensverknüpfungen locker, sodass diese nicht zur Abschottung der Außenwelt führen (MALMBERG 2009:13). Der Grad der Offenheit eines Clusters muss groß genug sein, damit „ein Maximum an externen Innovations- und Wachstumsimpulsen“ (BATHELT & JENTSCH 2002:38) mög- lich ist. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass die externen Clusterbeziehungen die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmer steigert. Daher werden gezielt „translokale Beziehungen“, sogenannte „Pipelines“, aufgebaut (BATHELT 2004:99). Diese „Pipe- lines“ zu externen Wirtschaftsakteuren haben den Vorteil, dass Veränderungen am Markt oder Technologiesprünge schneller wahrgenommen werden und stetig neue Informationen über Innovationen in das Cluster gelangen (ebd.:100).

2.4.3 Clustergrenze

Die Grenzen von Clustern werden nicht durch administrative Festlegungen, wie Stadt- oder Landesgrenzen bestimmt, sondern durch die Verflechtung der Unternehmen und komplementären Einrichtungen. Das heißt, ein Cluster kann auch länderübergreifend entstehen (z.B. Deutsch-Schweizerisches Chemie-Cluster) (PORTER 1998:79). Dies ver- deutlicht die Schwierigkeit der Eingrenzung eines Clusters (ebd. 2003:255). MASKELL (2001:934) nimmt an, dass jedes Cluster ein spezifisches Set an Institutionen beher- bergt, welches die speziellen Auflagen bestimmt. Die ökonomisch-institutionellen Strukturen eines Clusters sind voneinander abhängig und haben sich evolutionär ent- wickelt. Daher differieren diese Strukturen von Cluster zu Cluster und unterscheiden sich genauso, wie das Set an Unternehmen und komplementären Einrichtungen (ebd.). Die Grenzen eines Clusters lassen sich beschreiben indem zum einem die Unternehmen, welche in einem Verbund komplementäre, ökonomische Tätigkeiten ausführen und zum anderem die Verbreitung der speziell entwickelten institutionellen Ausstattung, welche sich evolutionär an die bestimmte Tätigkeit angepasst hat, definiert werden (ebd.:936). Der SQ zur Bestimmung einer Branchenkonzentration müsste dementsprechend ange- passt werden, was aufgrund der Erhebungsform der statistischen Daten (nach Land- kreisen), schwierig ist.

2.4.4 Temporäre Cluster

MASKELL et al. (2004) beschreiben in einem Aufsatz eine zeitlich begrenzte Version eines Clusters. Damit sind branchenspezifische Konventionen, Kongresse oder Konfe- renzen gemeint. Diese werden von Branchenkennern besucht und ein reger Austausch von aktuellem Knowhow findet statt. Die Autoren bezeichnen diese Zusammenkünfte als zeitlich begrenzte „hotspots of co-located knowledge exchange“ (ebd.:2). Es werden neue Produkte vorgestellt, Podiumsdiskussionen über Innovationen geführt und neue Kooperationen oder Aufträge beschlossen. Dies führt dazu, dass die horizontale sowie vertikale Clusterdimension aufeinander prallen und ein gemeinsamer Wissensaustausch stattfindet (ebd.). Grundvoraussetzung für das Funktionieren eines zeitlich und lokal begrenzten Hotspots des Wissensaustauschs ist ein allgemeingültiger Code - eine akzeptierte Sprache beziehungsweise Institution.

Schlussfolgernd betrachtet hat solch ein zeitlich begrenztes Cluster identische Charakteristika, wie permanente Cluster. Kongresse ermöglichen das systematische umwerben von Konkurrenten, Zulieferern und Kunden. Darüber hinaus können wichtige Informationen, neue komplementäre Partner, neues Vertrauen und neue Forschungskooperationen akquiriert werden (ebd.:8).

2.4.5 Kritik

Kritisch am Clusterkonzept nach Porter ist die ungenaue Trennung zwischen rein funk- tionellem oder räumlichem Phänomen. Cluster sind ursprünglich als ein zusammenhän- gendes, in sich gekehrtes Industriesystem beschrieben worden, in welchem die räum- liche Agglomeration die Wirtschaftsdynamik und Innovationstätigkeiten stärkt. MALMBERG (2009:8) kritisiert diesen „diffusen“ Ansatz und versucht eine Verknüpfung zwischen räumlicher Nähe, Lernprozessen sowie Innovationstätigkeiten herzustellen. Weiterhin haben Cluster eine umfassende globale Verbindung zu anderen Innovations- systemen, was eine räumliche Identifizierung und Eingrenzung der Innovationstätig- keiten innerhalb einer bestimmten Region unmöglich macht. MALMBERG (2009:10) stellt dahingehend fest, dass erfolgreiche Cluster oft weniger lokal verbunden sind. Ganz im Gegenteil profitieren sie von globalen Verbindungen, denn je mehr die globa- len Pipelines entwickelt sind, desto besser agieren Clusterakteure im internationalen Wettbewerb (ebd.:13, WROBEL 2009:96).

Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die horizontale Clusterdimension. In unterschiedlichen Studien konnte nachgewiesen werden, dass wissensbasierte Unter- nehmen bewusst andere Standorte wählen, um wettbewerbsschwächeren Konkurrenten aus dem Weg zu gehen. Der theoretische Vorteil des Wissens über die Innovationstätig- keiten von Konkurrenzunternehmen wird umgangen (s. WROBEL 2009:94f.), denn für die wissensbasierten Unternehmen birgt die Clusteransiedlung keine eigenen Vorteile. Ganz im Gegenteil würden die schwächeren Unternehmen davon profitieren und zu stärkeren Konkurrenten heranwachsen. Damit muss die Annahme, dass sich Unter- nehmen nach Branchenzugehörigkeit ballen, in Frage gestellt werden (ebd.:95). Darüber hinaus stellen MALMBERG et al. (1996:87) fest, dass ein Großteil der Unternehmer nur eine geringe oder gar keine Handelsbeziehungen mit branchenähnlichen Unternehmen pflegen, wenn sie in räumlicher Nähe situiert sind. Dies lässt den Schluss zu, dass die genannten Vorteile einer horizontalen Clusterdimension in Realität nicht erkannt werden oder gar keine sind. BATHELT (2004:96f.) stellt diesbezüglich fest, dass hohe Kostennachteile für Unternehmen entstehen, wenn sie sich in einem Cluster ansiedeln. Er konnte nachweisen, dass im Cluster Mieten, Löhne und Steuern im Vergleich zu anderen Regionen weitaus höher liegen.

Es existieren zwar erfolgreiche Clusterregionen, aber aus ihren spezifischen Eigenschaften können keine allgemeingültigen Erfolgsfaktoren abgeleitet werden (s. SAUTTER 2004:72, WROBEL 2009:99f.). Dies stellt kein Scheitern des Clusterkonzept an sich dar sondern zeigt lediglich, dass Cluster lokal-spezifische, evolutionär entwi- ckelte Formationen sind. Infolgedessen ist keine allgemeingültige Theorie für alle Clusterformationen formulierbar und das Kopieren auf andere Regionen begrenzt möglich.

2.5 Individualisierungsschub

Neben Wissens- und Wirtschaftsprozessen muss abschließend das Verständnis des Indi- vidualisierungsbegriffes geklärt werden. Wie bereits in der Einleitung angedeutet, war die Wiedervereinigung für einen Großteil der ostdeutschen Bevölkerung eine Zäsur des vorherigen alltäglichen Lebens. Vor allem die Phänomene der Massenentlassungen und anschließenden Massenarbeitslosigkeit können als eine Voraussetzung für einen Indivi- dualisierungsschub gesehen werden (s. SCHELLER 2005). In diesem Zusammenhang ist mit Individualisierung nicht nur die freie Entfaltung der Persönlichkeit gemeint16, son- dern der Weg in die Selbstständigkeit, die Gründung eines eigenen oder die Fortführung eines bestehenden Unternehmens. Dementsprechend wird davon ausgegangen, dass in Folge der Wiedervereinigung „vielschichtige Mobilitätsprozesse ausgelöst“ wurden, welche einen „Individualisierungsdruck“ bedingten (ebd.:21ff., SOPP 1997:125).

Als Individualisierung definierten schon Max Weber, Emile Durkheim und George Simmel sinngemäß den „Übergang in die Moderne als Prozess der Freisetzung der Menschen aus traditionalen Bindungen und als Zunahme des Entscheidungsspiel- raums des Einzelnen“ (SCHELLER 2005:22). Mit der Transformation17 wurde die tra- dierte Planwirtschaft durch die soziale Marktwirtschaft in kurzer Zeit ersetzt. Ein Pro- zess der Freisetzung des regulierten Arbeitssystems begann (ebd.:116). Die Anpassung der Wirtschaftsstruktur durch Privatisierung und Überkapazitätenabbau hatte jedoch einen beispiellosen Arbeitsplatzabbau zur Folge. Die einstige DDR-Bevölkerung stand unter „hohem Mobilitätsdruck“ in Konfrontation der westlichen Muster (SOPP 1997:131). Die Chancen der Selbstständigkeit, das heißt, ein neues Unternehmen zu gründen oder einen tradierten DDR-Betrieb an die neuen Marktbedingungen anzupas- sen, stiegen. Eben diese Personengruppe bildet in den qualitativen Befragungen einen Teil der Empirie.

2.6 Gesamtübersicht des Theoriekomplexes

In den letzten fünf Kapiteln wurden die für diese Studie wesentlichen Theorien erarbeitet. In Abbildung 4 sind die Konzepte kategorisiert, welche für die komplexe Fragestellung notwendig sind.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.4: Wesentliche Konzepte und ihre Kategorisierung in Raum-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (verändert nach THOMI & STERNBERG 2008:74)

Aus der Fragestellung heraus - inwieweit das kontextualisierte Wissen aus den tradierten DDR-Betrieben zur Restrukturierung sowie Neugründung von Geraer Unter- nehmen beitrug - wurde der Wissensbegriff spezifiziert und mittels des SECI-Modells nach NONAKA & TAKEUCHI (1995) eine Variante des Wissensschaffungs- sowie - weitergabeprozesses in Unternehmen vorgestellt. Die Begriffsbestimmung des impli- ziten Wissens (tacit knowledge) im SECI-Modell basiert auf den sozialen Ansatz nach POLANYI (1985). Dieses Managementtool ist für diese Arbeit insofern von Interesse, da es Möglichkeiten der Übertragung des nach Polanyi nicht artikulierbaren impliziten Wissens aufzeigt. In diesem Sinne kann anhand des SECI-Modells analysiert werden, wie und ob eine Übertragung des impliziten Wissens nach der Wiedervereinigung in die restrukturierten Unternehmen gelungen ist.

Da die gesamte Arbeit auf einer relationalen und evolutionären Basis aufgebaut ist, wurden kongruente Konzeptionen dargestellt. Das Grundgerüst bildet die evolu- tion ä re Ö konomik. Dementsprechend werden die gegenwärtig beobachtbaren Zustände als Bedingungen von vergangenen Handlungsentscheidungen verstanden (Pfadabhän- gigkeit). Die Handlungsentscheidungen werden mitunter durch limitierte Forschungs-

[...]


1 Ein Kombinat ist eine wirtschaftliche Organisationsform in der mehrere Betriebe vereinigt sind um zumeist die horizontale und vertikale Wertschöpfungskette abzudecken (weitere Informationen in SCHREIBER et al. 2002:24ff.).

2 hierzu auch die Frontal 21-Dokumentation Beutezug Ost (ZDF 2010)

3 nachzulesen u.a. ZDF 2010, BUSCH et al. 2009, DIE WELT 2008, BAHRMANN & LINKS 2005, KOLLMORGEN 2005, SINN 2005

4 u.a. in DICKEN (2003:115ff.), LO & SCHAMP (2003), SAUER (1999:11ff.)

5 Region wird in dieser Arbeit als eine Kombination von räumlichen und sachlichen Kriterien verstanden. Das räumliche Kriterium beschreibt die Lage und Umgrenzung des sachlichen Kriteriums, was die Unterscheidung zu anderen Ausschnitten charakterisiert (WERLEN 2004:393).

6 Die wissensbasierte Industrie schafft durch ihre innovativen Produkte eigene Märkte. Das (implizite)

Wissen oder Knowhow sowie dessen stetige Kumulierung ist der inhärente Bestandteil. Wissensbasierte

7 weitere Informationen zu Kognition unter WINKEL et al. (2006:296).

8 ausführliche Informationen zum Thema Lernen und Lernprozesse in WINKEL et al. (2006).

9 POLANYI (1985:25) meint, implizites Wissen ist der Modus, „in welchem wir mehr wissen, als wir aussprechen können“.

10 Institutionen sind im Verständnis dieser Arbeit aus der Sozialisation heraus standardisierte, verfestigte Handlungsmuster, die sich in Form von Handlungsrechten oder -pflichten manifestiert haben und einen normativen Geltungsbereich besitzen (WERLEN 2004:386).

11 Raum wird in dieser Arbeit als die Arena der verschiedenen Aktionen und als soziales Konstrukt aufgrund des Handelns von Subjekten verstanden (s. SCHROER 2006:162, WERLEN 2004:305ff.).

12 siehe Kap. 2.4.2, Clusterdimension: ‚Institution‘

13 Z.B. beschreiben BATHELT et al. (2004:32): tacit (implizites Wissen) als lokal und codified (explizites Wissen) als global.

14 Z.B. über moderne digitale Medien - siehe hierzu auch Kapitel 2.3.2 Kritik.

15 weiterführend zum Thema das Konzept der untraded interdependencies (STORPER 2000)

16 hierzu ausführlicher Diskurs in BECK & SOPP (1997)

17 ausführlich im Kapitel 4.1.1

Ende der Leseprobe aus 118 Seiten

Details

Titel
Im Schatten von Jena. Die Bedeutung des lokal-spezifischen Wissens zur Restrukturierung der Leitindustrien in Gera seit der Wiedervereinigung
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Institut für Geographie)
Veranstaltung
Masterarbeit
Note
1,7
Autor
Jahr
2011
Seiten
118
Katalognummer
V277526
ISBN (eBook)
9783656704058
ISBN (Buch)
9783656709893
Dateigröße
2925 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lokal spezifisches Wissen, Wissen, localized capabilities, local capability, Cluster, SECI-Modell, relationale Wirtschaftsgeographie, embeddedness, Geographie, Raum, Ostdeuschland, Wiedervereinigung, Gera, Jena
Arbeit zitieren
M.Sc. Sebastian Behr (Autor:in), 2011, Im Schatten von Jena. Die Bedeutung des lokal-spezifischen Wissens zur Restrukturierung der Leitindustrien in Gera seit der Wiedervereinigung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/277526

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