Die Temperamentenlehre im Mittelalter

Versuch einer Einordnung der Artusfigur im „Garel von dem blühenden Tal“ des Pleier


Hausarbeit, 2013

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Humoralpathologie
2.1 Die Viersäftelehre der Antike
2.2 Übergang zur Temperamentenlehre des Mittelalters

3 Artus - Zwischen Ruhe und Klage
3.1 Pleiers Artusfigur im ÄGarel“
3.2 Das arthurische Temperament im System der Humoralpathologie

4 Abschlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Sekundärliteratur

1 Einleitung

Das Äӕvum medium“, das mittlere Zeitalter, wird häufig als eine Zeit der Stagnati- on und des Übergangs von der Antike und der Völkerwanderung bis wiederum zum Aufkeimen einer zivilisierten Kultur, der Renaissance, betrachtet. Voller Be- geisterung und mit großer Freude stürzen sich Wissenschaftler auf die Überreste der römischen und griechischen, ja sogar der arabischen Schriften und rezipieren, strukturieren, rezitieren, kollationieren und traktieren sie unaufhörlich und unnach- giebig. Errungenschaften des Mittelalters? Fehlanzeige. Allenfalls die Literaturge- schichte, Kunsthistorik und Religionswissenschaften können ein relativ ausführli- ches Bild zeichnen, auch im technischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich laufen die Untersuchungen der Geschichte des Mittelalters nebenher. Die Medi- zingeschichte jedoch ist ein bisweilen eher unerforschtes Gebiet mit einer gerin- gen Publikationsrate. Was das Mittelalter betrifft, kann durchaus von einer Statik des Wissenskanons gesprochen werden, doch bedeutet Statik auch System und Struktur. Und diese Solidität hat eine Dynamik in anderen, soziokulturellen Berei- chen initiiert: So sind die großen Errungenschaften der Medizin des Mittelalters zum Ersten die Öffnung der Heilkunde für die Allgemeinheit in Form eines öffentli- chen medizinischen Pflegedienstes, zum Zweiten begann die Entwicklung eines Krankenhauses im heutigen Sinne, auch wenn die Wohlsituierten natürlich den Arzt nach Hause kommen ließen und durch das Hospital eher das hoffnungslose Dahinvegetieren der Unterschicht abgefangen werden sollte, und zum Dritten hielt die Medizin Einzug in die Universitäten und bekam damit eine ungeheure Aufwer- tung.1

Doch wie sieht nun dieses mittelalterliche Bild der Medizin auf den Menschen aus? In welchem Zusammenhang stehen dabei die Begriffe Humoralpathologie und Viersäftelehre. Und was hat nun der Charakter eines Menschen mit seiner physischen Beschaffenheit zu tun?

Im Folgenden soll ausführlich und schlüssig dargelegt werden, mit was sich die Humoralpathologie im Mittelalter beschäftigt, um davon ausgehend die mediävisti- sche Temperamentenlehre zu erklären. Beispielhaft soll schließlich die Artusfigur des Schriftstellers, der sich selbst ÄPleier“ nannte, in seinem Werk ÄGarel von dem blühenden Tal“ zur Untersuchung herangezogen werden. Dabei erfolgt eine Einordnung und Bewertung des Temperamentes der vorliegenden Figur im Kontext der mittelalterlichen viergeteilten Charakterlehre.

2 Die Humoralpathologie

Das folgende Kapitel soll zunächst die Viersäftelehre als Grundlage der Temperamentenlehre in ihrem Ursprung darstellen. Ein Zurückgehen in die Antike ist dabei unerlässlich. Im Anschluss daran wird der Bogen zum Mittelalter gespannt, um sodann in die Lehre des Charakters einzuführen.

2.1 Die Viersäftelehre der Antike

Untrennbar mit der Entwicklung der Humoralpathologie ist der wohl bedeutendste altgriechische Arzt Hippokrates von Kos (ca. 460 bis 370 v. Chr.) zu nennen. Sein umfangreiches Werk, das Corpus Hippocraticum2, beeinflusst noch heute die Me- dizin, und noch immer gilt der Hippokratische Eid als ethisch-moralischer Verhal- tenskodex im Sinne einer inoffiziellen Richtlinie für Ärzte. Er kann damit als wis- senschaftlich anerkannt betrachtet werden, wenngleich seine Haupttheorie, die Lehre von den Körpersäften, noch immer zwischen Wissenschaft und Hokuspokus pendelt. Im Kontext der Zeit wird aber gerade die Bewegung hin zur Rationalität und weg vom Mystisch-Religiösen der Heilkunde im Werk Hippokrates‘ gewürdigt.3 ÄSeine Arbeit kann als der Versuch angesehen werden, die unterschiedlichen Strömungen der damaligen Philosophie, Naturphilosophie und Medizin zu einem Konzept zusammenzuführen.“4 Schwager geht sogar davon aus, dass Hippokra- tes die medizinischen Theorien fremder Völker, wie etwa der Mesopotamier oder Ägypter, in seine Ansichten einfließen lassen hat, kann es jedoch nicht belegen.5

Grundannahme seiner Humoralpathologie ist, dass der Organismus des Men- schen sich aus vier essentiellen Körpersäften zusammensetzt. Gäbe es nur einen Saft, dann würde der Mensch nicht krank werden bzw. dann gäbe es nur ein mög- liches Heilmittel.6 Diese vier Säfte - Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle - bewirken, dass der Mensch krank oder gesund ist. Entscheidend ist dabei nicht nur ihr Mischungsverhältnis zueinander, sondern auch ihre Qualität und Quanti- tät.7 Krankheit resultiert also aus einer Disharmonie der Körpersäfte (dyskrasie), welche wieder ins Gleichgewicht (eukrasie) gebracht werden muss. Ebenso be- achtet er, dass ein bloßer Ausgleich der Flüssigkeiten keine Gesundung erzwin- gen kann, sondern dass diese durch die ganze Lebensführung beeinflusst wird, was er in der Diätetik aufnimmt.8 Vorrangig gelten bei ihm die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme sowie die Abgabe von Stoffen, etwa durch Aderlass, Erbre- chen oder Förderung des Stuhlgangs, als Therapiemaßnahmen.9 Zudem schreibt er jedem Saft bestimmte Qualitäten sowie Jahreszeiten zu, in denen die jeweilige Flüssigkeit überwiegt: So ist der Schleim kalt und feucht und wird dem Winter zu- geordnet, beispielhaft sei nur die Zunahme der schleimigen Schnupfenerkrankun- gen angeführt. Das Blut ist warm und feucht und entspricht dem Frühjahr, da unter anderem Darmkatarrhe und Nasenbluten verstärkt beobachtet werden. Der Som- mer ist warm und trocken und wird der gelben Galle zugeschrieben, der Herbst wiederum ist kalt und trocken und bewirkt ein Übermaß an schwarzer Galle.10 In ähnlicher Art und Weise teilt er den Körpersäften auch noch Lebensalter und Far- ben zu - nebst vieler und detaillierter Therapiemaßnahmen.11 Das bedeutet, dass immer die Begleitumstände berücksichtigt werden müssen und eine völlige eukra- sie nicht herzustellen ist, da etwa durch Alter oder Wetter immer bestimmte Säfte überwiegen.

Der Eklektiker Galenus von Pergamon12 (ca. 130 bis 200 n. Chr.) überarbeitete und erweiterte die hippokratischen Ansichten. ÄMan kann ihn und Hippokrates als die beiden glänzenden Angelsterne dieses kosmischen humoralpathologischen Systems betrachten […]“13, wenngleich viele Wissenschaftler, wie zum Beispiel Aristoteles, zwischen ihnen liegen und das theoretische Gebilde zu interpretieren und zu entwickeln versuchten, wodurch in vielen Fällen eine eindeutige Zuordnung der tatsächlichen Urheberschaft schwerfällt. Doch zweifelsohne kann Galen die Vollendung der Humoralpathologie zugeschrieben werden. Er entwarf das Leitbild der Medizin, wie es bis in die Frühe Neuzeit Gültigkeit und Anerkennung besaß. Er entwickelte weitere therapeutische - evakuierende und diätetische - Maßnahmen zur Behandlung der dyskrasie und integrierte bzw. erweiterte verschiedene Diag- nostiken, wie etwa die der Pulsbeobachtung oder der Uroskopie (Harnschau). Ga- len verband nützliche Komponenten anderer Konzepte schlüssig und auf nahezu alles anwendbar. Er schuf ein medizinisches Konzept, welches über anderthalb Jahrtausende, durch allerhand Epigonen getragen, an der Spitze der Wissen- schaft stand.14

Der Kern des galenischen Systems kann wie folgt dargestellt werden:15

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Daraus wird ersichtlich, dass viele Komponenten bei therapeutischen Überlegungen berücksichtigt werden müssen und ein Ungleichgewicht der Körpersäfte nicht zwangsweise eine Krankheit zur Folge haben muss.

2.2 Übergang zur Temperamentenlehre des Mittelalters

Erstaunlicherweise gelangte die Lehre von den Körpersäften neben der praktischen Weitergabe durch römische Militärärzte vor allem in arabischen Übersetzungen bis ins Mittelalter. Bis dahin blieb die Heilkunde in den Händen des Klerus, welcher sich als wenig begabt in der Entwicklung einer rational begründeten Medizin erwies.16 Grund dafür war das Bestreben der Dogmatiker, die Theologie und damit Gott als oberste Instanz in allen Belangen zu rechtfertigen, wodurch der medizinische Erkenntnisgewinn zugunsten der christlichen Lehre eher gering ausfiel. Ä[D]as ‚wahre Wissen‘ über den Körper und seine Krankheiten […] musste vielmehr rational begründet und verteidigt werden.“17

Die Temperamentenlehre wird nun häufig Galen zugeschrieben, tatsächlich je- doch ist davon erstmals explizit im 12. Jahrhundert bei Honorius von Autun die Rede. Galen ordnet den Säften lediglich geistig-seelische Eigenschaften zu, die aber nicht mit späteren Ansichten kongruieren.18 Nach den Ansichten der christli- chen Mediziner des Abendlandes tritt bei jedem Menschen einer der vier Körper- säfte verstärkt hervor. Dieser spiegelt sich dann in seinem Charakter, also seinem Temperament, wider und umgekehrt kann aus diesem auch abgelesen werden, welche Flüssigkeit überwiegt. Aus der Humoralpathologie heraus entstand die Lehre von den vier Temperamenten (lateinisch: Mischungsverhältnissen): Man unterteilte in den Typ des Phlegmatikers (Schleim), des Sanguinikers (Blut), des Cholerikers (gelbe Galle) und des Melancholikers (schwarze Galle).19

Der Phlegmatiker ist durch das Dominieren des Schleimes langsamer als seine Mitmenschen und man kann ihn als schwerfällig oder träge bezeichnen. Er zögert häufig, ist eher desinteressiert an seiner Umgebung, das Meiste im Leben ist ihm egal, es erregt ihn nicht. Frei nach einem alten griechischen Gleichnis kann man sich einen Wanderer vorstellen, dem ein großer Stein im Weg liegt. Ein Phlegma- tiker geht diesem aus dem Weg, ohne sich besonders angestrengt zu haben.20

Das Temperament des Sanguinikers ist durch Blutüberschuss geprägt, sodass er auch einmal erregt und gereizt sein kann. Jedoch sieht er in allem das Schönste, ist immerzu fröhlich und lebhaft. Er lebt alle Emotionen aus, aber in Maßen. So kann er zwar Trauer empfinden, verzweifelt aber nicht, er genießt das Leben, gibt sich aber nicht völlig hin. Im Allgemeinen ist der Sanguiniker also ein angenehmer Zeitgenosse, dem man das Attribut des Gesunden zuschreiben kann. Den Stein im Gleichnis würde er fröhlich hüpfend oder schreitend überqueren.21

Das Übermaß an gelber Galle sorgt beim Choleriker dafür, dass er sehr leicht, schnell und vor allem heftig auf seine Umwelt reagiert. Er ist aufbrausend und jäh- zornig. Seine überschüssige Kraft muss er vollkommen aus sich herauslassen und in aggressiver Art und Weise zur Schau stellen, um seinen Unmut zu äußern und seinen Willen durchzusetzen, komme, was wolle. Er würde den Stein wutentbrannt hinfortschleudern.22

Der Melancholiker schließlich ist ob der überschüssigen schwarzen Galle ein trau- riger Gesell. Aus mangelndem Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein ist er zö- gerlich und hat sogar Angst vor Problemen, woraus resultiert, dass er keine Wag- nisse eingeht. Er denkt zumeist nur an sich und seine Sorgen, Nöte und (pessi- mistischen) Gefühle. Liegt ihm ein Stein im Weg, so würden ihm alle Sünden in den Sinn kommen, er würde trauern, zweifeln, sich selbst bemitleiden und schließ- lich umkehren.23

Es folgt nun ein Kriterienkatalog24, welcher in Anlehnung an obige Tabelle und im Sinne der mittelalterlichen Viersäftelehre Anwendung finden könnte. Die Katego- rien in der Spalte ganz links dienen dabei als hinweisgebende, indikative, aber keinesfalls reliable Anhaltspunkte zur Einschätzung eines über dem Gleichmaß stehenden Vorhandenseins eines Körpersaftes. Letztendlich unterliegt eine Beur- teilung dessen hermeneutisch-interpretativer Methoden und kann von Fall zu Fall abweichen.

[...]


1 Vgl. Schipperges, Heinrich: Der Garten der Gesundheit. Medizin im Mittelalter. München 1990, S. 9-10.

2 Es wurde nie eindeutig festgestellt, ob Hippokrates alle Schriften selbst verfasste. Es ist jedoch anzunehmen, dass einige nicht aus seiner Feder stammen, aber auf seinen Theorien beruhen.

3 Eleftheriadis, Anastassia: Die Struktur der hippokratischen Theorie der Medizin. Logischer Auf- bau und dynamische Entwicklung der Humoralpathologie. Frankfurt am Main 1991 (Europäi- sche Hochschulschriften Philosophie, Bd. 330), S. 10-11.

4 Manzei, Alexandra: Körper - Technik - Grenzen. Kritische Anthropologie am Beispiel der Transplantationsmedizin. Hg. v. Hans-Martin Sass. Münster u. a. 2003 (Ethik in der Praxis, Bd. 13), S. 42.

5 Schwager, Carlos: Die therapeutische Reinigung in der heutigen Naturheilkunde und ihre be- grifflichen Grundlagen in der Geschichte der Humoralpathologie. Dresden 1937, S. 8.

6 Schöner, Erich: Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie. Hg. v. Edith Heischkel u. a. Wiesbaden 1964 (Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, H. 4), S. 18.

7 Eleftheriadis, S. 33.

8 Eckart, Wolfgang U.: Geschichte der Medizin. Fakten, Konzepte, Haltungen. Heidelberg 62009, S. 33.

9 Manzei, S. 43.

10 Schöner, S. 18-19.

11 Ebd., S. 19-28.

12 Kurz und in der Folge: Galen

13 Steinheim, Salomon Ludwig: Die Humoralpathologie. Ein kritisch-didaktischer Versuch. Hg. v. Königlichen Taubstummen-Institut. Schleswig 1826, S. 35.

14 Eckart, S. 44-50.

15 Nach Schöner, S. 92.

16 Schwager, S. 12.

17 Manzei, S. 46-47.

18 Schöner, S. 88, S. 93.

19 Sollbach, Gerhard E.: Die mittelalterliche Lehre vom Mikrokosmos und Makrokosmos. Hamburg 1995, S. 26.

20 Vgl. Eckart, S. 46 und Adler, Alfred: Menschenkenntnis (1927). Hg. v. Jürg Rüedi. Göttingen 2007 (Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 5), S. 150.

21 Vgl. Eckart, S. 46 und Adler, S. 149.

22 Eckart, S. 45 und Adler, S. 149.

23 Eckart, S. 45 und Adler, S. 149-150.

24 Schöner trägt in seiner Dissertation eine Vielzahl von über die Jahre von verschiedenen Auto- ren aufgestellten Viererschemata zusammen. Hiermit sei ein großer Teil jener Konkordanzen dargestellt und bei der Rezeption vor allem auf den theologischen Zeitbezug hingewiesen, auf Gott als Genesis und Telos allen Seins.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Temperamentenlehre im Mittelalter
Untertitel
Versuch einer Einordnung der Artusfigur im „Garel von dem blühenden Tal“ des Pleier
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Seminar: Pleier: Garel von dem blühenden Tal
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
18
Katalognummer
V277629
ISBN (eBook)
9783656705123
ISBN (Buch)
9783656706397
Dateigröße
755 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
temperamentenlehre, mittelalter, versuch, einordnung, artusfigur, garel, pleier
Arbeit zitieren
Willy Schlegel (Autor:in), 2013, Die Temperamentenlehre im Mittelalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/277629

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