David Humes skeptischer Zweifel und das Induktionsproblem

Sind unsere Vorstellungen über Kausalität und unser Vertrauen in wissenschaftliche Prognosen rational begründbar?


Hausarbeit, 2010

53 Seiten, Note: 1.5


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Aufbau der Analyse

3. Fragestellung

4. Warum Erfahrung nicht begründen kann, was Erfahrung begründen können soll
4.1. Zwei Erkenntnisarten und deren Gewissheit
4.2. Die Erweiterung des unmittelbaren Realitätsumfanges
4.3. Genese und Geltung des Kausalitätsbegriffes
4.4. Aufdeckung eines ‹selbstverständlichen› Zirkelschlusses

5. Konsequenzen von Humes Überlegungen
5.1. Kausalität und wissenschaftliche Prognosen
5.2. Lebensweltliche Konsequenzen
5.3. Unterminierter Wahrscheinlichkeitsbegriff
5.4. Erkenntnistheorie und Logik: Vom Zweifel zum Induktionsproblem
5.4.1. Was sind induktive und deduktive Schlüsse?
5.4.2. Nutzen und Gewissheit induktiver Schlüsse
5.4.3. Nutzen und Gewissheit deduktiver Schlüsse

6. Fazit

7. Literaturliste

1. Einleitung

«[...] Humes Fragen bedeuten einen epochalen Einschnitt in der Geschichte der Philosophie, und seine Antwort behält als systematische These ihre ungebrochene Überzeugungskraft: Alles Wissen über die Welt ist durch Erfahrung begründet, doch Erfahrung kann ihre Fähigkeit zur Begründung selbst nicht begründen.»[1]

Mit diesem Fazit endet die Einleitung des Kommentars von Lambert Wiesing zu Humes Werk Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Tatsächlich, auch nach über 260 Jahren, nachdem David Humes dieses Werk geschrieben hat, sind die Fragen, die er dabei direkt oder indirekt aufgeworfen hat, immer noch Teil des philosophischen und wissenschaftsphilosophischen (z. T. auch wissenschaftstheoretischen) Diskurses. Insbesondere seine Fragen über die Gewissheit der Ableitbarkeit unserer Erfahrungen und die damit zusammenhängende Problematik der Induktion und Kausalität werden bis heute diskutiert: «From his lifetime down to the present, no aspect of Hume’s philosophy has attracted more attention then the things that he says about the related notions of causality, necessity, and induction.»[2]

Warum können solch ‹alte Gedanken›, die im Jahre 1748 niedergeschrieben wurden, denn nach all den wissenschaftlichen Fortschritten der letzen 250 Jahre bis heute überhaupt relevant sein? Brian Skyrms stellt fest, dass Hume dem «traditionellen Problem der Induktion» dadurch Brisanz verlieh, dass er Argumente vorbrachte, die zeigen sollten, dass keine rationale Begründung induktiven Schliessens möglich sei, «[...] gleichgültig, wie ein wissenschaftliches System der induktiven Logik im einzelnen aussehen mag.»[3]

Hume war nach Andrea Feiner auch der erste, der das Problem der Begründung induktiver Schlüsse systematisch thematisierte und in aller Deutlichkeit zur Sprache brachte.[4] Deshalb beschäftigt sich der philosophische Diskurs über induktive Logik «[...] seit Hume zu einem grossen Teil mit den Versuchen, die Schwierigkeiten zu umgehen, die er herausschälte.»[5]

Doch die Fragen, die Hume aufwarf, betreffen nicht etwa nur die scheinbar ‹alltagsferne› induktive Logik. Humes «skeptische Zweifel» sind auch in ihrer lebensweltlichen Konsequenz gravierend: denn aufgrund dieser Zweifel gibt es keine rationale Begründung für Voraussagen über die Zukunft! Demnach haben auch Voraussagen, die dem «gesunden Menschenverstand» als gewiss gelten, wie bspw. dass auch morgen die Sonne aufgehen wird, letztlich keine rationale Grundlage. Und die Argumente, die Hume für diese dem «common sense» widersprechenden und ungewohnt starken Zweifel aufbringt, sind nach Gerhard Streminger «messerscharf» und schwer zu widerlegen.[6]

Inwiefern hängt nun aber die Frage, ob es eine rationale Begründung für «induktives Schliessen» gibt, mit derjenigen zusammen, ob die Feststellung, dass seit Menschengedenken die Sonne am Morgen ‹aufgegangen› sei, eine rationale Grundlage für die Voraussage ist, dass auch morgen die Sonne aufgehen wird? Und wenn es keine rationale Begründung für die Voraussage von Ereignissen gibt, wir aber streng genommen jeden Moment über unmittelbar eintreffende Geschehnisse urteilen müssen, ist dann all unser Wissen blosse Wahrscheinlichkeit – oder noch weniger als das? Im Zusammenhang mit der Erörterung des «Skeptischen Zweifels» Humes werde ich auf diese Fragen näher eingehen. Die Grundlage für diese Arbeit bildet deshalb in erster Linie der vierte und fünfte Abschnitt seines Werkes Eine Untersuchung über den Menschlichen Verstand sowie dessen Rezeption in der Sekundärliteratur. Bezüglich des Induktionsproblems gehe ich auf einführende Literatur der induktiven Logik ein .

2. Aufbau der Analyse

In einem ersten Schritt (Kapitel 4) werde ich Humes «skeptischen Zweifel» zunächst aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive erörtern und auch dessen Rezeption in der Sekundärliteratur diskutieren. Dabei werde ich auf das epistemische Prinzip eingehen, welches nach Hume das Fundament unseres Versuches bildet, um über den Umfang der Realität bloss momentaner Sinneseindrücke hinauszugelangen: unser Kausalitätsbegriff. Auf seiner Grundlage verknüpfen wir bestimmte Ereignisfolgen als «Ursache und Wirkung» und schliessen so von unmittelbar Beobachtetem auf zeitlich oder räumlich Abwesendes.

Die Erörterung der Genese des Kausalitätsbegriffes führt dann zur Frage über dessen Geltung. Schliesslich werde ich auf den Kausalitätsbegriff im Zusammenhang mit Voraussagen eingehen und dabei aufzeigen, dass unsere Prognosen auf einer Gleichförmigkeitsprämisse bzw. einem Zirkelschluss basieren.

Im zweiten Schritt dieser Analyse (Kapitel 5) werde ich auf die philosophische Leistung der «Untersuchungen» Humes eingehen. Was sind die Konsequenzen der «skeptischen Zweifel» Humes und welche wissenschaftstheoretischen Probleme hat er damit aufgeworfen? Diese Frage werde ich zuerst anhand der Problematik des Kausalitätsbegriffes bzw. den daraus folgenden Implikationen für die empirischen Wissenschaften angehen. Daraufhin werde ich untersuchen, ob auch unser Wahrscheinlichkeitsbegriff durch die Fragen, die Hume aufwarf, problematisch sein könnte.

Sodann werde ich die lebensweltlichen, d.h., die auf unseren Alltag bezogenen Konsequenzen, von Humes Zweifel beleuchten. In diesem Zusammenhang werde ich auf das Problem der Gewissheitsgrenzen von erkenntniserweiternden Schlüssen eingehen.

Schliesslich werde ich auf die Frage der Gewissheit von induktiven und deduktiven Schlüssen eingehen und dabei untersuchen, inwiefern der «skeptische Zweifel» mit dem Induktionsproblem zusammenhängt.

Im Rahmen dieser Arbeit gehe ich jedoch nicht direkt auf die zahlreichen Lösungsversuche des Induktionsproblems ein. Brian Skyrms und Andrea Feiner erläutern in ihren Werken induktivistische, pragmatische, probabilistische, deduktivistische und analytische Lösungsversuche sowie die «normative Theorie der personellen Wahrscheinlichkeit» und die «induktive Logik» von Rudolf Carnap.[7] Daneben gibt es nach Brian Skyrms auch drei verschiedene Weisen von Versuchen, «das Induktionsproblem in Nichts aufzulösen».[8]

3. Fragestellung

Wie kann Hume überhaupt an den «Gesetzen der Kausalität» zweifeln, die doch in unserem täglichen Leben und im Feld wissenschaftlicher empirischer Forschungen als selbstverständlich vorausgesetzt werden? Könnte sogar unser Wahrscheinlichkeitsbegriff durch die Probleme, die Hume aufwarf, fragwürdig sein?

Inwiefern hängt die Frage, ob es eine rationale Begründung für «induktives Schliessen» gibt, mit derjenigen zusammen, ob es eine rationale Grundlage für die Voraussage aufgrund von Beobachtungen gibt? Was sind induktive Schlüsse? Was deduktive? Worin besteht ihr Zweck? Worin ihre Problematik? Welche Schlüsse können als gewiss gelten? Gibt es dabei bestimmte ‹Grade von Gewissheit›? Und worin besteht das so genannte «Induktionsproblem»? Im Zusammenhang mit der Erörterung des «Skeptischen Zweifels» Humes besteht diese Arbeit also aus folgenden Hauptfragen:

1. Worin besteht Humes «skeptischer Zweifel» und welche erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Probleme hat er mit ihm aufgeworfen?
2. Tangieren seine Zweifel unser Alltagsverständnis von der Welt?
3. Inwiefern hängt der «skeptische Zweifel» mit dem Induktionsproblem zusammen?
4. Worin bestehen der Nutzen und die Gewissheit induktiver und deduktiver Schlüsse?

4. Warum Erfahrung nicht begründen kann, was Erfahrung begründen können soll

Als Empirist zieht uns Hume gleichsam «den Teppich unter den Füssen weg», weil er die sinnliche Erfahrung, die uns vielleicht in einer Welt von zahllosen Meinungen noch als etwas vom Verlässlichsten scheinen mag, nicht mehr als Garant für Gewissheit gelten lässt. Er behauptet nämlich, dass «[...] jede Erfahrung nutzlos und [...] zu keinem Ableiten oder Schliessen Veranlassung geben»[9] würde, sobald wir den Verdacht hegen, dass sich der Naturlauf je ändern könnte.

Eigentlich wollte Hume ein Fundament finden, auf dem er eine von Gewissheit getragene empiristische Theorie aufbauen hätte können. Doch «[...] die Erfahrung, die bisher als das Allheilmittel galt, bei dem die Untersuchung sich beruhigte, ist jetzt zum unauflöslichen Problem geworden. Ihre Geltung wird nicht länger naiv vorausgesetzt, sondern sie bildet das eigentliche Rätsel.»[10] Nach Lambert Wiesing wollte Hume mit seiner «Untersuchung über den menschlichen Verstand» ein Werk schreiben, um philosophische Konzepte und Spekulationen zu verbannen, die nicht durch sinnliche Erfahrung begründet werden können. «Doch durch die Berufung auf Erfahrung werden nicht nur Probleme gelöst, sondern die Berufung auf Erfahrung ist selbst problematisch – zumindest problematischer, als es der Empirismus vor Hume ahnt.»[11]

Im Entdecken dieser Probleme liegt m. E. aber genau die philosophische Leistung der «Untersuchungen» Humes. Auch wenn er zunächst nur eine «verneinende Antwort»[12] auf die Frage hat, was die rationale Grundlage aller Schlüsse aus unserer Erfahrung sein könnte: «Ich behaupte also, dass, selbst nachdem wir den Ablauf von Ursache und Wirkung erfahren haben, unsere Schlüsse aus dieser Erfahrung nicht auf einem Denkakt oder sonst irgend einem Verstandesvorgang beruhen.»[13]

Warum bezweifelt Hume also, die für uns so selbstverständlich scheinende Annahme dass «[...] in der Vergangenheit [...] die Regel für die Zukunft enthalten sei [...]»[14] ? Und wie kann er behaupten, dass unsere Verknüpfungen zwischen dem, was wir als ‹Ursache› und dem, was wir als ‹Wirkung› bezeichnen (und somit auch unsere Erwägungen über zukünftige Ereignisse) nicht rational begründbar seien? Um Humes Gedankengänge nachvollziehen zu können ist es am besten bei seiner Erkenntnistheorie zu beginnen:

4.1. Zwei Erkenntnisarten und deren Gewissheit

Humes Hauptthesen seiner Erkenntnistheorie beziehen sich nach Lambert Wiesing insbesondere auf die Induktion, die Kausalität, die Gewohnheit und die Überzeugungsbildung.[15] Die Basis der Erkenntnistheorie Humes bildet seine kategoriale Unterscheidung zweier Erkenntnisarten. Die daraus folgende Zweiteilung des Wissens ist als «Hume’s Fork»[16] in die Geschichte der Philosophie eingegangen:

«Alle Gegenstände der menschlichen Vernunft und Forschung lassen sich naturgemäss in zwei Arten zerlegen, nämlich in Beziehungen von Vorstellungen und in Tatsachen. Von der ersten Art sind die Wissenschaften der Geometrie, Algebra und Arithmetik; und kurz gesagt, jede Behauptung von entweder intuitiver oder demonstrativer Gewissheit. [...] Tatsachen, der zweite Gegenstand der menschlichen Vernunft sind nicht in gleicher Weise als gewiss verbürgt [...]».[17]

In dieser Zweiteilung formuliert Humes bereits skizzenhaft worin also seine «Skeptischen Zweifel in Betreff der Verstandestätigkeiten» bestehen: Tatsachen sollen « nicht in gleicher Weise gewiss» sein, wie «intuitive oder demonstrative Gewissheiten», die nach Hume durch «reine Tätigkeit des Denkens» gewonnen werden.[18] Demonstrative Gewissheit, die Hume als «erste Art des Wissens» bezeichnet, ist folglich von «keinem Dasein», also von keinem empirischen Gegenstand der Welt abhängig: «Wenn es auch niemals einen Kreis oder ein Dreieck in der Natur gegeben hätte, so würden doch die von Euklid demonstrierten Wahrheiten für immer ihre Gewissheit und Evidenz behalten.»[19]

Nicht in gleicher Weise unbezweifelbar seien jedoch Erkenntnisgegenstände der «zweiten Art», also empirisches Wissen: «Das Gegenteil jeder Tatsache bleibt immer möglich [...] es kann niemals einen Widerspruch in sich schliessen und wird vom Geist mit derselben Leichtigkeit und Deutlichkeit vorgestellt [...]»[20], wie Tatsachen, welche mit der momentanen Wirklichkeit übereinstimmen. Denn die Vorstellung, dass ab morgen der Regen einen Pfefferminzgeschmack hat, wirkt zwar absurd, bildet jedoch keinen solchen (demonstrativen) Widerspruch in sich, wie bspw. die Behauptung, dass es Dreiecke mit nur zwei Winkeln gebe. Pfefferminzregen wird es zwar wohl kaum je geben, dennoch ist diese Vorstellung – im Gegensatz zu einem Dreieck mit zwei Ecken – nicht demonstrativ falsch. Wenn hingegen eine Behauptung demonstrativ falsch ist, so enthält sie einen Widerspruch in sich selbst, deshalb kann man sich eine solche Aussage nicht einmal vorstellen.

Bereits an dieser Stelle, schon auf der ersten und zweiten Seite des vierten Abschnitts der «Untersuchungen» wird klar, was für Humes das Prinzip bildet, mit welchem sich die Wahrheit von Aussagen der ersten Erkenntnisart, der Beziehungen von Vorstellungen beurteilen lässt. Nämlich allein der Nachweis einer widerspruchsfreien Denkbarkeit. Lambert Wiesing kritisiert diese etwas schnelle epistemologische Vorgehensweise folgendermassen:

«Mit diesen Überlegungen zur Kontingenz der empirischen Welt ist Hume in seiner Argumentation [...] noch einen entscheidenden Schritt weitergegangen: Er hat ohne jede Begründung das Prinzip genannt, wie sich die Wahrheit von Aussagen über ‹relations of ideas› begründen lässt [...]. Logische und mathematische Erkenntnisse werden für Hume einzig nach dem Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch bewiesen..»[21]

Im Fall einer Behauptung über Beziehungen von Vorstellungen («relations of ideas») – d. h. bei logischen bzw. mathematischen Aussagen – genügt also für Hume der Nachweis einer widerspruchsfreien Denkbarkeit um deren Wahrheit zu begründen.

Tatsachen hingegen bzw. deren Existenz sind für Hume nur in dem Augenblick gewiss, in welchem sie wahrgenommen werden. Die Existenz von Tatsachen ist nach ihm also ausschliesslich durch deren unmittelbare sinnliche Erfahrung gewiss. Das heisst, dass empirische Tatsachen, um gewiss zu sein, weder zeitlich noch räumlich abwesend sein dürfen . Dieser Anspruch bildet m. E. die epistemologische Verbindung zum Induktionsproblem, welches ich weiter unten erläutern werde (siehe Abschnitt 5.4).

Warum aber sollen Tatsachen nur im Augenblick ihrer unmittelbaren Erfahrung gewiss sein? Und ist Widerspruchsfreiheit wirklich das einzige Kriterium für Gewissheit? Gibt es nicht auch bestimmte Gewissheiten über zeitlich und räumlich Abwesendes aufgrund von Erfahrungswerten (die wir durch vorherige Erfahrungen mit dem momentan Abwesenden erworben haben)? Sind Erfahrungstatsachen mit denen wir auf Zukünftiges schliessen können, nicht ebenso evident, wie widerspruchsfreie mathematische Tatsachen?

Jedes Kind weiss doch aus Erfahrung, dass, wenn es einen Stein in einen Teich wirft, dieser Wellen erzeugen wird und dass es nass werden wird, wenn es im Regen steht. Sind solche und zahllose andere Voraussagen, die wir aufgrund von Erfahrung machen, nicht ein evidenter und unverzichtbarer Bestandteil unseres Daseins?

4.2. Die Erweiterung des unmittelbaren Realitätsumfanges

Auch Hume war sich der (scheinbaren) Evidenz dieser Behauptungen und der Überzeugung bewusst, die wir im Hinblick auf jene alltäglichen Voraussagen über Zukünftiges haben. Deshalb stellte er sich die Frage, wodurch sich diese Evidenz, auch wenn sie noch so charakteristisch und alltäglich für den Menschen sein mag, denn eigentlich rechtfertigen lässt: «Es dürfte also des Interesses wert sein, die Natur jener Evidenz zu erforschen, die uns jede wirkliche Existenz und Tatsache sicherstellt, welche über das gegenwärtige Zeugnis der Sinne oder die Angaben unseres Gedächtnisses hinausgehen.»[22]

Hume stellt also erstens die Frage, warum unsere Schlussfolgerungen, die über das unmittelbar Gegebene hinausgehen, so evident erscheinen. Zweitens untersucht er, in welchen Arten von Erwägungen über Tatsachen wir mit diesem Prinzip operieren.

Seine Antwort auf die erste Frage ist, dass ein gewohnheitsmässiger Glaube an die Gleichförmigkeit der Natur bzw. unser implizite Begriff von «stabilen Kausalgesetzen» das Wesen dieser vermeintlichen Evidenz bildet. Freilich denken wir nicht bei jeder Erwartung über etwas Zukünftiges (z. B. die Wirkung eines Steinwurfes) explizit an Kausalgesetze.

Humes Analyse zeigt aber auf – und das ist seine Antwort auf die zweite Frage – dass wir bei all unseren Erwägungen über Tatsachen, welche «über das gegenwärtige Zeugnis der Sinne hinausgehen», auf einen Kausalbegriff rekurrieren. Denn bei allen Antizipationen über zeitlich und räumlich abwesende Gegebenheiten unterstellen wir eine gleichförmige Beziehung zwischen Ursache und Wirkung: «Alle Denkakte, die Tatsachen betreffen, scheinen sich auf die Beziehung von Ursache und Wirkung zu gründen. Einzig mit Hilfe dieser Beziehung können wir über die Evidenz unseres Gedächtnisses und unserer Sinne hinausgehen[23] Wollen wir über den Umfang der Realität momentaner Sinneseindrücke hinausgelangen, hilft uns also nur ein Wissen über Kausalitätsgesetze.

Nach Wiesing kann sich dank einem solchen Wissen unser Realitätsumfang des bloss Unmittelbaren in drei Richtungen erweitern: In die Vergangenheit, in die Zukunft und in räumlich Abwesendes.[24] Berücksichtigt man die Häufigkeit der Denkakte, die sich in eine dieser drei Richtungen erstrecken, so kann der Kausalitätsbegriff geradezu als «Fundament» fast all unserer Reflexionen über Tatsachen gesehen werden.[25] Beispielsweise denken wir implizit kausal, wenn wir aufgrund von menschlichen Fussabdrücken im Sand darauf schliessen, dass vor uns jemand am Strand entlang lief (Schluss über die Vergangenheit). Beobachten wir einen Felssturz in den See, befürchten wir, dass bald hohe Wellen unser Schiff zum Kentern bringen könnten (Schluss über Zukünftiges). Erhalten wir ein Paket von einer Freundin aus Athen, so gehen wir natürlich davon aus, dass sie sich (zumindest zum Zeitpunkt des Absendedatums) in Athen aufhielt (Schluss über räumlich bzw. zeitlich Abwesendes).

4.3. Genese und Geltung des Kausalitätsbegriffes

Drittens fragt Hume, was die Genese dieses Prinzips ist und viertens, ob solche Denkakte, die das Unmittelbare ‹überschreiten›, eigentlich zulässig sind. Wie gelangen wir eigentlich zum Kausalitätsbegriff? Ist es möglich, an den Eigenschaften eines Gegenstandes seine kausalen Wirkungen zu erkennen? Wenn ja, dann bräuchten wir für unser Kausalitätswissen keinerlei Erfahrung. Denn dann wäre es möglich, mit unserer Vernunft (a priori) aus den Eigenschaften eines Dinges zu folgern, welche kausalen Wirkungen von diesem bewirkt werden. In diesem Fall wären beispielsweise aus den Eigenschaften eines Steines alle seine Wirkungen analytisch deduzierbar (z. B. könnten wir anhand der Eigenschaften eines Steines folgern, dass er in bestimmten Medien Wellen erzeugen wird). Humes Antwort auf die dritte Frage ist jedoch, dass dies nicht zutrifft: «Kein Gegenstand enthüllt jemals durch die Eigenschaften, die den Sinnen erscheinen, die Ursachen, die ihn hervorgebracht haben, noch die Wirkungen, die aus ihm entspringen werden [...]»[26] Denn Wirkungen sind völlig anders als ihre Ursache: Beispielsweise ist einem Stein, wenn man diesen nur ‹an sich› betrachten würde und nie Erfahrung mit seinen Wirkungen gemacht hätte, weder anzusehen, dass dieser, wenn man ihn loslässt, nach unten fliegen würde, noch dass mit ihm Funken erzeugt werden können und auch nicht, dass er Wellen in einem Teich erzeugen kann. An den Eigenschaften eines Steines ‹an sich› lassen sich, lapidar gesagt, ‹weder das Potenzial zu Funken, zum Fallen noch zu Wellen finden›. Nur in der Beobachtung der Wirkungsweise des Steines mit anderen Gegenständen lassen sich Ereignisfolgen feststellen, die wir dann als ‹Wirkungen des Steines› bezeichnen. Hier mag man einwenden, dass doch bspw. allein die Eigenschaft des Gewichtes eines Steines uns darauf schliessen lässt, dass dieser auf den Boden fallen wird, wenn wir ihn loslassen, oder dass seine Härte und Schwere in einem Teich Wellen erzeugen muss. Bei diesem und ähnlichen Einwänden wird jedoch oft übersehen, dass jene «Eigenschaften» bereits Wirkungen darstellen, die wir aus unseren Erfahrungen über die Interaktion des Steines mit anderen Gegenständen ableiteten: Beispielsweise ist die vermeintliche «Eigenschaft des Gewichtes» eine durch unsere Erfahrung erschlossene Wirkungsweise der Interaktion des Steines mit der Erde, welche aufgrund ihrer Gravitationskraft den Stein anzieht.

[...]


[1] Wiesing, Lambert: David Hume. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Frankfurt am Main: Suhrkamp Studienbibliothek 2007, S. 215.

[2] Fogelin, Robert J: «Hume’s scepticism», in: The Cambridge Companion to Hume, Norton, David Fate [Hrsg.], Cambridge: Cambridge University Press 1993, S. 94.

[3] Skyrms, Brian: Einführung in die induktive Logik, Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang 1989, S. 55.

[4] Vgl.: Feiner, Andrea: Einführung in das Induktionsproblem. Humes induktive Skepsis und moderne Antworten, Der Andere Verlag 2005, S. 31.

[5] Skyrms, Brian: Einführung in die induktive Logik, Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang 1989, S. 55.

[6] Streminger Gerhard: David Hume: ‹Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand›. Ein einführender Kommentar, Paderborn: UTB Für Wissenschaft 1995, S. 123.

[7] Vgl: Feiner, Andrea: Einführung in das Induktionsproblem. Humes induktive Skepsis und moderne Antworten, Der Andere Verlag 2005, S. 77ff sowie Skyrms, Brian: Einführung in die induktive Logik, Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang 1989, S. 65-84.

[8] 1. Induktive Stärke als selbstständiger, legitimer Standard (Deduktion sei nicht einziger Standart). 2. Induktives Schliessen als nicht wegzudenken von Rationalität. 3. Es sei sinnlos eine Begründung der Induktion zu verlangen, da dies die Grenzen des sinnvoll Begründbaren überschreite. Vgl: Skyrms, Brian: Einführung in die induktive Logik, Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang 1989, S. 85-94.

[9] Hume, David: Eine Untersuchung über den Menschlichen Verstand, ([zuerst 1748]/ Richter, Raoul [Hrsg.] 1920) Leipzig: Felix Meiner Verlag, S. 49 [Hervorhebung des Verfassers].

[10] Cassirer, S. 262. Zitiert nach: Streminger Gerhard: David Hume: ‹Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand›. Ein einführender Kommentar, Paderborn: UTB Für Wissenschaft 1995, S. 123.

[11] Wiesing, Lambert: David Hume. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Kommentar von Lambert Wiesing, Frankfurt am Main: Suhrkamp Studienbibliothek 2007, S. 214 -215.

[12] Hume, David: Eine Untersuchung über den Menschlichen Verstand, ([zuerst 1748]/ Richter, Raoul [Hrsg.] 1920) Leipzig: Felix Meiner Verlag, S. 43.

[13] Ebenda [Hervorhebung des Verfassers].

[14] Hume, David: Eine Untersuchung über den Menschlichen Verstand, ([zuerst 1748]/ Richter, Raoul [Hrsg.] 1920) Leipzig: Felix Meiner Verlag, S. 49.

[15] Wiesing, Lambert: David Hume. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Kommentar von Lambert Wiesing, Frankfurt am Main: Suhrkamp Studienbibliothek 2007, S. 219.

[16] Dieser Begriff geht nach Lambert Wiesing auf Antony Flew zurück: Flew, Antony: Hume’s Philosophy of Belief: A Study of his First Inquiry, London 1961, S. 53. [Zitiert nach Wiesing, Lambert: David Hume. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Kommentar von Lambert Wiesing, Frankfurt am Main: Suhrkamp Studienbibliothek 2007, S. 282.]

[17] Hume, David: Eine Untersuchung über den Menschlichen Verstand, ([zuerst 1748]/ Richter, Raoul [Hrsg.] 1920) Leipzig: Felix Meiner Verlag, S. 35 [Hervorhebung im Original].

[18] Ebenda.

[19] Hume, David: Eine Untersuchung über den Menschlichen Verstand, ([zuerst 1748]/ Richter, Raoul [Hrsg.] 1920) Leipzig: Felix Meiner Verlag, S. 35.

[20] A.a.O., S. 35 -36 [Hervorhebung des Verfassers].

[21] Wiesing, Lambert: David Hume. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Kommentar von Lambert Wiesing, Frankfurt am Main: Suhrkamp Studienbibliothek 2007, S. 287 [Hervorhebung des Verfassers. Die kursive Hervorhebung, die Lambert Wiesing für den Begriff ‹relations of ideas› verwendete, habe ich durch einfache Anführungszeichen ersetzt. Bei allen weiteren Zitaten, in welchen Wiesing englische Begriffe kursiv schreibt, werde ich dies analog tun. ]

[22] Hume, David: Eine Untersuchung über den Menschlichen Verstand, ([zuerst 1748]/ Richter, Raoul [Hrsg.] 1920) Leipzig: Felix Meiner Verlag, S. 36 [Hervorhebung des Verfassers].

[23] Ebenda [Hervorhebung des Verfassers].

[24] Wiesing, Lambert: David Hume. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Kommentar von Lambert Wiesing, Frankfurt am Main: Suhrkamp Studienbibliothek 2007, S. 293.

[25] Streminger Gerhard: David Hume: ‹Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand›. Ein einführender Kommentar, Paderborn: UTB Für Wissenschaft 1995, S. 113.

[26] Hume, David: Eine Untersuchung über den Menschlichen Verstand, ([zuerst 1748]/ Richter, Raoul [Hrsg.] 1920) Leipzig: Felix Meiner Verlag, S. 38.

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
David Humes skeptischer Zweifel und das Induktionsproblem
Untertitel
Sind unsere Vorstellungen über Kausalität und unser Vertrauen in wissenschaftliche Prognosen rational begründbar?
Hochschule
Universität Luzern  (Kultur- und sozialwissenschaftliche Fakultät)
Veranstaltung
Essay
Note
1.5
Autor
Jahr
2010
Seiten
53
Katalognummer
V277671
ISBN (eBook)
9783656705024
ISBN (Buch)
9783656709145
Dateigröße
716 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Hume, Zweifel, Kausalität, wissenschaftliche Prognosen, Wissenschaftstheorie, Induktionsproblem, Skepsis, Philosophie, wissenschaftliches Weltbild, alltägliches Handeln und Vorraussagen, induktive und deduktive Schlüsse, Wahrscheinlichkeit, Schlussfolgerungen im Alltag, Gewohnheitsglaube, Glaube und Wissen, Gewissheit
Arbeit zitieren
M.A. (Master of Arts) Edwin Egeter (Autor:in), 2010, David Humes skeptischer Zweifel und das Induktionsproblem, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/277671

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