Die Darstellung des Todes in den "Contemplations" von Victor Hugo


Examensarbeit, 2012

88 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

Stand der Forschung

1. Die Contemplations als Werk der Romantik

2. Hugos Contemplations in der literaturhistorischen Tradition

3. Die Architektur der Contemplations

4. Das Eroffnungsgedicht als theologisch-anthropologische Grundlage

5. Autobiographischer Hintergrund als existentielle Grundlage der To- desdarstellung

6. Umgang mit dem Tode vor ,,Pauca mes“
6.1 „Aurore“
6.2 „L'ame en fleur“
6.3 ,,Les luttes et les reves“

7. Der Tod in ,,Pauca mes“

8. Der Tod nach ,,Pauca mes“
8.1 „En marche“
8.2 ,,Au bord de l'infini“
8.3 ,,A celle qui est restee en France“

9. Fazit

10. Ausblick

Bibliographie

Einleitung

Einleitung ,,Der Tod gehort zum Leben“ ist ein bekanntes Sprichwort, was paradox erschei- nen mag, zumal der Tod noch heutzutage vielerorts als Tabu-Thema gilt[1]. Der Verlust eines Kindes verursacht, weil er als widernaturlich erachtet werden kann, noch tiefere Trauer als andere Todesfalle. Entsprechende Selbsthilfegruppen be- klagen, dass sie Schwierigkeiten haben, den Tod von Kindern zu enttabuisieren[2]. Der Bundesverband Verwaiste Eltern in Deutschland e.V. nimmt sogar an, dass ein solcher Trauerfall oftmals mit Schuldgefuhlen einhergehe, die die Gesundheit der Betreffenden gefahrden konnen[3]. Victor Hugo wurde funffacher Vater und musste einen solchen Schicksalsschlag viermal erleiden. Nur eines seiner Kinder, die Tochter Adele, deren Leben erst in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts allmahlich erforscht wurde und das nur bruchstuckhaft[4], hat ihren Vater uberlebt. Sie war seine einzige Hoffnung[5], nachdem der erste Sohn Leopold im Jahre 1823 wenige Monate nach seiner Geburt an einer Meningitis starb[6], die Tochter Leopol- dine im Jahre 1843 im Alter von 19 Jahren in der Seine ertrank[7] und die beiden Sohne Charles und Frangois-Victor an Typhus starben[8]. Hugo, der uber 200 Jah­re nach seiner Geburt noch weltweit fur seine Werke beruhmt ist, nach dem allein in Frankreich uber 1.600 StraRen benannt sind[9] und dessen Literatur heutzutage noch in aller Welt, bis hin zu Ostasien, diskutiert wird[10], hat vor allem den Tod sei­ner Tochter Leopoldine poetisch verarbeitet. In seiner Gedichtsammlung Les Contemplations ist neben haufig wiederkehrenden Anspielungen allein diesem Schicksalsschlag ein ganzes Buch zur direkten Verarbeitung gewidmet[11]. Gleich- wohl thematisiert Victor Hugo den Tod auch an anderer Stelle und unter anderen Aspekten in seinem Werk. Schon vor dem Buch, das eigens den Verlust der Tochter behandelt, finden sich mehrere Andeutungen. Den Tod literarisch zu ver- arbeiten war typisch in einer Epoche, die einerseits von Weltuntergangsphantasi- en und deren Poetisierung sowie andererseits der Suche nach einer zeitlosen Schonheit gepragt war[12]. Die vorliegende Arbeit wird nach einem Uberblick uber die Epoche die Art und Weise darstellen, in der Victor Hugo mit dem Tod als Mo- tiv in seinen Contemplations umgeht. Hierbei soll vor allem beobachtet werden, wie sich die Betrachtungsweise im Laufe des Werkes entwickelt und Victor Hugo diese insbesondere im Hinblick auf seinen im Jahre 1843 erlittenen Verlust[13] ver- andert. Im Hinblick auf den Kampf zwischen Leben und Tod durchlauft das Werk eine frappierende Entwicklung, die ebenso Untersuchungsgegenstand sein soll. Als weiteres Ziel der Untersuchung soll analysiert werden, ob und inwiefern der Tod oder das Leben als Sieger aus diesem Kampf hervorgeht.

Der Schwerpunkt hierbei wird auf dem zentralen Buch ,,Pauca me^“ liegen, weil in diesem der Tod der Tochter direkt und unubersehbar verarbeitet wird. ,,Pauca mes“ bildet den Mittelpunkt der Gedichtsammlung, sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich seiner Positionierung im Werk. Dieses Buch behandelt ausschlieRlich den Tod Leopoldines. Die vorliegende Untersuchung wird zeigen, dass der Ver­lust von Kindern auch anderen Gedichten in den Contemplations zugrunde liegt, doch im vierten Buch ist die Trauer das einzige Thema. Metaphern oder Symbo- le, die mit dem Tod zusammenhangen, tauchen in Hugos Contemplations so hau­fig auf, dass insgesamt weniger von solchen als vielmehr von einem Motivkom- plex ausgegangen werden kann. Voraussetzung fur die Verwendung dieses Be­griffes ist, dass eine bestimmte Begebenheit sich standig wiederholt[14] und als ide- eller Beweggrund dient. Alternativ kann die Begebenheit die Stoffwahl in einem li- terarischen Werk zentral bestimmen und somit eine herausragende Rolle in der Erlebnis- und Erfahrungswelt inne haben[15]. Der betreffende Stoff ist dabei sehr fest gefugt[16] und tritt in additiver Weise auf, ohne dass jedes einzelne Auftreten eine eigene inhaltliche Funktion hatte[17]. Im Sinne der Defintion Werner Habichts soll der Tod als Situations- und Kernmotiv, d.h. als Hauptaspekt des Begriffes Mo- tiv dienen. Die Zeit und dabei vor allem die Morgen- und Abenddammerung sind das Fullmotiv, d.h. der Aspekt der unterstutzenden Detailbildung[18]. Vor allem das Todesmotiv ist in den Contemplations weit verbreitet und bedarf daher einer eige- nen Untersuchung. Ein weiterer Grund fur die Notwendigkeit, dieses Thema zu behandeln, besteht in der Wandlung der Sichtweisen. Die Untersuchung wird zei- gen, dass der Tod zunachst als Bedrohung, der der Mensch nur angstlich gegen- uber stehen kann, auftritt, dann als Teil des unausweichlichen Schicksals und ge- gen Ende zunehmend akzeptiert wird. Somit eroffnet die Gedichtsammlung Hu­gos viele verschiedene Moglichkeiten, Schicksalsschlage zu verarbeiten und sich danach ein neues Leben aufzubauen. Ebenso kann jeder Leser aus den ver- schiedenen Bewaltigungsstrategien eine fur sich geeignete herauslesen und ggf. bei einem eigenen Trauerfall anwenden. Allein deshalb bedarf das Phanomen Tod einer genauen Betrachtung.

Stand der Forschung

Bisherige Veroffentlichungen zu den Contemplations legen ,,Pauca mes“ als Tief- punkt der Stimmung im Werk zugrunde[19], in dem alle Hoffnungen auf ein besse- res Leben zunichte gemacht werden und nach dem sie wieder aufkeimen. In sei­ner Brutalitat kann derTod der Kinder als notwendiges Ubel angesehen werden[20], das die Voraussetzung fur das bessere Leben in der Ewigkeit darstellt[21]. Diverse Bezuge auf die Bibel mit dem Ziel, wieder hoffen und beten zu konnen, werden zur Unterstutzung dieser Vorstellung vermutet[22]. Francis Pruner nimmt die Struk- tur einer Pyramide an[23], auf die in dieser Untersuchung im Kapitel uber die Archi- tektur des Werkes noch eingegangen wird.

Hinsichtlich der Schonheit der Poesie hat Victor Hugo sich nicht nur von seinen Zeitgenossen inspirieren lassen, wovon Samuel Edwards[24] ausgeht, sondern er war an deren Entwicklung aktiv beteiligt. Aufgrund der Themen in den Contemplations nimmt John Frey an, dass es sich um das beste Werk der franzo- sischen Romantik handele, das alle in derselben Epoche entstandenen Werke in den Schatten stelle[25]. Philippe Lejeune vertritt die Auffassung, dass Hugo in die- sem Werk seine Bestimmung, nach der er marschieren musste, zum Ausdruck bringen wollte[26]. Hauptachse des ersten Bandes sei die Metamorphose des Lichtes zum Schatten und im zweiten Band triumphiere das Leben in dem Zweikampf mit dem Tode[27]. Die Veroffentlichung durch den Verleger Hetzel erfolgte auf dessen Initiative hin, nachdem Hugo selbst durch die Trauerfalle langere Zeit wie gelahmt war. D.h. der Verleger musste ihm Mut machen und ihn nachdrucklich bitten, zwecks Veroffentlichung fertig zu werden[28]. Pierre Moreau deutet den Verlust Leopoldines als gleichzeitigen Verlust einer wichtigen Inspiration, die Hugo oftmals zu originellen Einfallen verholfen habe. Daher habe ihr Tod ihn lange Zeit vom erfolgreichen Arbeiten abgehalten[29]. Auf dem Hintergrund dieser Interpretation wirkt es paradox, dass auch ihr Tod spater zur Inspiration fur Hugo wurde.

1. Die Contemplations als Werk der Romantik

Die Gedichtsammlung Victor Hugos wurde 1856 veroffentlicht[30] und somit 67 Jah- re nach der Franzosischen Revolution von 1789, die als Epochenschwelle, d.h. als eindeutig datierbarer Beginn der Epoche, anzusehen ist[31]. Die Veroffentli- chung erfolgte somit in einer Phase, in der die franzosische Romantik bereits im Ausklingen begriffen war, denn ab der Jahrhundertmitte bildete sich laut Engler bereits die sog. „Gegenromantik“ als Gegenstromung heraus. Fur diese gibt es kein so eindeutiges Stichdatum wie die Epochenschwelle zu Beginn[32]. Dennoch konnen die Contemplations der Romantik zugerechnet werden, da sie an sich fru- her entstanden sind und Victor Hugo sie hauptsachlich deshalb spater veroffent- lichte, weil er seinerzeit an mehreren Projekten gleichzeitig beschaftigt war[33]. Victor Hugo hat sowohl poetische Werke als auch Dramen oder Romane ver- fasst. Das war unublich, denn traditionsgemaR sollte ein Autor, der Theaterstucke schrieb, das sein Leben lang tun[34]. Da Victor Hugo erst spater erkannte, dass das Theater nicht seine Berufung war und die dafur investierte Zeit als Verlust emp- fand[35], kann die Veroffentlichung der Contemplations als Versuch verstanden werden, diesen auszugleichen[36]. Somit erlebte und gestaltete Hugo den vollstan- digen Bruch im Wertesystem aller Gattungen, denn ein Kennzeichen der Roman- tik war es, dass die Regeln der Aristotelischen Poetik einer konsequenten Oppo­sition aus raison und deraison Platz machten, die eine neue Art Schonheit erga- ben[37]. Am Ende vieler Gedichte gibt Hugo ein Datum an, an dem er das jeweilige Gedicht verfasst haben will. Diese Daten sind jedoch zumeist aus Grunden der Wirkungsabsicht nachtraglich von Hugo geandert worden. Zwischen den Anga- ben der diversen Editionen und dem erhalten gebliebenen Manuskript liegen hau- fig frappierende Unterschiede vor[38]. Fur den weiteren Gang der Untersuchung ist im Buch „Pauca me^“ jeweils ein Vergleich der Daten erforderlich, der vor allem autobiographische Bezuge zu den jeweiligen Gedichten aufzeigen wird. Unab- hangig davon kann vorausgesetzt werden, dass Hugo einen groRen Teil seiner Gedichtsammlung nach der Hochphase der Romantik verfasst hat, sofern die im Manuskript angegebenen Daten stimmen[39].

Die Romantik war speziell in Frankreich von der Enttauschung uber eine Revolu­tion, die das Ziel der vollstandigen individuellen Freiheit verfehlt hatte, gepragt[40].

In dieser Phase trat die wahrend der Aufklarung und der Franzosischen Revoluti­on oftmals verdrangte und bekampfte Religiositat wieder als Thema der Literatur zu Tage. Hierbei wurde teilweise auf christliche Glaubensinhalte Bezug genom- men, teilweise waren auch Hexen- und Teufelsspuk Thema literarischer Werke, die dann die Schattenseite der Romantik darstellen[41]. Die Bibel war oftmals die Quelle der Inspiration fur die Themen[42]. Den Tod literarisch zu behandeln war ub- liche Praxis. Er wurde zusammen mit dem Weltschmerz, den viele Autoren be­handeln, oftmals thematisiert. Dasselbe gilt fur den Niedergang der Natur, die Holle und die Einsamkeit sowie Gefuhle der Sinnlosigkeit, der Wert- und Haltlo- sigkeit, der Ziellosigkeit des Lebens und Vereinsamung oder eine Langeweile, die zum Abgrund fuhren konnte und vielen Autoren gar Selbstmordgedanken verur- sachte[43]. Weitere Themen der Literatur der Romantik waren der freie Ausdruck der Gefuhle, der Pantheismus, der Heldenkult, Unterdruckung und Verfolgung so- wie der Zeitdruck[44]. Zunachst einmal stellte die Romantik eine Art und Weise dar, zu fuhlen und zu reagieren[45]. Zwar kann unter diesem Aspekt in nahezu jeder Epoche ein Autor gefunden werden, der als Romantiker gelten konnte[46], als Kon- sequenz der Franzosischen Revolution war die Romantik jedoch zeitlich be- schrankt[47]. Als Hilfe in einer Phase der Sinn- und Orientierungskrise wurde die entsprechende Literatur schon bald nach der Franzosischen Revolution ge- braucht. Als Ideal der modernen burgerlichen Kunst, die Baudelaire als ,,expressi- on de la societe moderne" bezeichnete, trat sie jedoch erst in den 1830er Jahren vermehrt zu Tage[48]. Insgesamt kann von den Jahren 1800 bis 1870 als haupt- sachliche Epoche der Romantik ausgegangen werden[49]. Den Beginn markiert da- bei die Etablierung des napoleonischen Systems. Mit dem Ende der Revolution kam es auch zu Diskussionen um neue, romantische Literatur. Diese konnte sich nicht sofort durchsetzen, da das napoleonische System die dahin gehenden Ten- denzen unterband. Erst in der Restauration ab 1820 kam es in der Lyrik zu den ersten Erfolgen. Sodann kann die Phase von 1800 bis 1815 als Fruhromantik und als vorbereitende Phase bezeichnet werden[50]. Die Lyrik war in der Romantik schon seit langerem eine anerkannte Gattung, die jedoch aufgrund einer Aktuali- sierung als erneute Errungenschaft der Epoche gelten kann[51]. Gegen Ende der 1820er Jahre kam es zur Vereinigung der konservativen und liberalen Krafte zur neuen Schule, die sich etablierte und fur die Epoche als dominant angesehen werden konnte, bis durch den Staatsstreich Napoleons III. im Jahre 1852 allen Hoffnungen auf vollstandige soziale und kulturelle Innovationen ein Ende gesetzt wurde[52]. Die koharente Stromung hatte somit keine Grundlage mehr, aber einige Autoren wollten ihr noch weiter treu bleiben. Das trifft beispielsweise fur Victor Hugo zu, der als einer der wenigen Vertreter die ganze Epoche erlebte und auch nach ihrem eigentlichen Ende noch am Leben war[53]. Daher ist es moglich, dass Hugo gegen Ende der Arbeit an den Contemplations auch deshalb unter Druck stand, sie bald zu veroffentlichen.

Hugo passte sich insofern der Modeerscheinung der Romantik an, als dass er in den Contemplations alles Positive auf der Erde als verganglich darstellte und sich von der Melancholie des Herbstes und einem Gefuhl, trotz offensichtlicher Ju- gend alt zu sein, leiten lieR[54]. Bei ihm hatte die Asthetik der Darstellung einen Selbstzweck, ohne dass der Leser sich darin wiederfinden musste[55]. Ebenso war es ublich, die eigene Person bzw. das eigene Leben in den Mittelpunkt der Be- trachtung zu stellen und zu be- oder verarbeiten[56]. Das tat Victor Hugo laut Bru- netiere in nahezu all seinen Werken[57], egal, ob es sich dabei um den Tod, politi- sche Angelegenheiten oder die Liebe handelte[58]. Speziell in den Contemplations verschwimmt daher das ublicherweise in der Poesie vorhandene lyrische Ich mit der Person des Schriftstellers, d.h. der Autor ruckt in die Position des lyrischen Ichs. Die Darstellung von Leidenschaft und Liebe war genauso epochentypisch wie auch die Bestrebung nach Harmonie und Symmetrie, die eine eigene Asthe­tik transportieren sollten. Insofern ist die Zweiteilung der Gedichtsammlung in die Bucher „Autrefois“ und „Aujourd'hui“, zwischen denen ein starker thematischer Bruch erfolgt, in ihrem literaturhistorischen Kontext als typisch anzusehen[59]. Das- selbe gilt fur den Versuch Victor Hugos, die Unendlichkeit zu betrachten und die letztlich bewaltigte Trauer sein Werk vollenden zu lassen[60], wenngleich er in dem Werk die positive Erwartung auRert, wieder vom Grabe seiner Tochter zuruckzu- kommen[61]. Eine weitere Besonderheit der Epoche war die Bestrebung, mit der Poesie als Kunst uber die rationale Vorstellungskraft des Menschen hinauszuge- hen. D.h. Ubersinnliches wurde behandelt mit dem Ziel, das eigene Leben zu schildern[62] und mit der Sprache eine neuartige, der Musik ahnlichen Eleganz an- zustreben[63]. Vor diesem Hintergrund sowie unter dem Umstand, dass die Lyrik ei- niger Autoren sich dem Gesang bis zur Verschmelzung annahert[64], kann ange- nommen werden, dass in den Contemplations beispielsweise das Buch ,,Pauca me^“ neben der Poesie auch einen Trauergesang verkorpert. Die Idee wird da- durch verstarkt, dass schon der Titel dieses Buches eine Anspielung auf die zehnte Ekloge Vergils darstellt. Vergil trauert darin um seinen Freund Gallus mit den Worten: ,,pauca meo Gallo [...] carmina sunt dicenda“[65]. Epochentypisch fur die Romantik war auch der Versuch, speziell in der Poesie mit der Trennung der Toten und der Lebenden zu brechen und somit einen Dialog mit den Verstorbe- nen zu ermoglichen[66]. Das versucht Victor Hugo im Umgang mit seiner Tochter Leopoldine. Die insgesamt von starken Gefuhlen inspirierten Gedichte stellen ins- besondere wegen derTrauer, des Argers, der betrubten Erinnerung und auch der stellenweise geauRerten Einbildung, das verstorbene Kind sei noch anwesend[67], ein fur die Epoche sehr typisches Werk dar, dessen Titel jedoch keine Neuheit ist.

2. Hugos Contemplations in der literaturhistorischen Tradition

Der Begriff Contemplation leitet sich vom lateinischen Substantiv fur Ansehen, Beschauen oder Erblicken ab[68] und konnte daher als neutrale Betrachtung ver- standen werden. In diesem Kontext ist jedoch eher von der Gebetshandlung ei- ner Person auszugehen, die den Versuch unternimmt, Ruhe zu finden und zu- gleich Gott zu erleben. Hierbei kann das Ziel der betreffenden Person sein, eine innere Reinigung mit dem Ergebnis des Trostes und neuer Freuden im Leben zu erfahren. Die Zielsetzung kann sogar so weit gehen, Gott selbst zu sehen[69]. Der entsprechende Blick zum Himmel war schon zur Zeit Ciceros[70], im ersten Jahr- hundert vor Christus, bekannt[71]. Augustinus, der im vierten und funften Jahrhun- dert nach Christus lebte[72], griff die Idee, zum Himmel zu schauen, wiederum auf, sah den Blick jedoch als Synonym fur das Lebensende an[73]. Dieser konnte auch als geistiger Blick, der mit der korperlichen Handlung, nach oben zu schauen, gar nichts zu tun hatte, verstanden werden[74]. In jedem Falle handelte es sich um einen Versuch, zu philosophischer Erkenntnis und Wahrheit zu gelangen[75]. Einen Hohepunkt erlebten die Lehre von der Kontemplation und die entsprechende Ta- tigkeit im 12. Jahrhundert; Bernhard von Clairvaux ging seinerzeit ebenfalls von einer Suche nach Wahrheit aus. Er setzte dabei einen ekstatischen Zustand vor- aus, der durch Eifer und starkes Verlangen erreicht wird. Zudem wird darin die Kontemplation als Gottesgeschenk zum Lohn fur den Eifer erreicht. Meditation, Gottesehrfurcht, gezieltes Nachdenken sowie der Einsatz von Verstand und Intel- ligenz spielten fur ihn eine entsprechend groRe Rolle. Diese Auffassung teilte Ala- nus ab Insulis[76]. In derselben Phase wurde der Begriff auch erstmalig in der fran- zosischen Sprache dokumentiert. Um das Jahr 1174 bezeichnete Thomas von Aquin die Kontemplation als Handlung und akzentuierte, dass die angestrebte Ekstase eine Vorstufe und Bedingung, nicht jedoch die Kontemplation selbst sein konne[77]. Das Streben nach Erkenntnis ist nach diesem Verstandnis noch nicht das Ziel, sondern eine Bedingung fur die Angleichung an Gott, die das eigentliche Ziel der Kontemplation darstellt[78]. Daher spielen sowohl diskursives Denken als auch Lebensgluck sowie der eigene Intellekt eine Rolle bei der Kontemplation im gangigen Sinne. Das Zusammenwirken dieser Aspekte soll nach dem Verstandnis von Thomas von Aquin letztlich zum Erfolg bei der Suche nach Gluck fuhren[79]. Eine weitere Definition, die um 1275 belegt wurde, sieht in der Kontemplation eine ,,profonde application de l'esprit", bei der es sich also auch um tiefgrundige Uberlegungen handeln muss[80]. Im theologischen Sinne ist die Kontemplation jeder anderen weitgehend ahnlich. Ein wesentlicher Unterschied besteht in der erweiterten Zielrichtung: Es wird eine ubernaturliche, d.h. gottliche, Wahrheit angestrebt[81]. Diese Bestrebung liegt auch in einigen Gedichten Hugos zugrunde, wie die Untersuchung noch zeigen wird.

Im Kontext der franzosischen Romantik kann zusatzlich zu den Aspekten des Strebens nach Gluck der Versuch zugrunde gelegt werden, die Welt zu betrach- ten und alles, was in ihr zu finden ist, zu dechiffrieren. In allem sollte also ein tieferer Sinn, der um seiner selbst Willen zu betrachten war, erkannt werden. Das stellte einen weiteren Grund fur das Interesse der Poeten am Ubernaturlichen als hoher geordnete Instanz dar[82], neben dem Umstand, dass die Poesie die Harmo- nie der Welt aufzeigen und herstellen sollte. Da die Kontemplation im romanti- schen Sinne zur Ekstase fuhren sollte, die ein Glaubensgeheimnis darstellt, ist sie als Steigerung von Meditation und Traumerei anzusehen[83] und speziell von der Traumerei abzugrenzen[84]. Bei der Kontemplation im romantischen Sinne spielten vor allem die unsichtbare Realitat aller Dinge sowie der Versuch, diese sichtbar zu machen, eine zentrale Rolle[85]. Dies kann ebenfalls als ein Ziel von Victor Hugos Contemplations verstanden werden[86]. Die eigentliche Verantwor- tung fur das Herstellen der Realitat lag speziell in der Romantik jedoch beim Le- ser, der in den Gedichten neue Normen finden sollte[87]. Ziel des Dichters ist es da- bei, seine eigenen Erfahrungen mittels einer an Schonheit orientierter Sprache und einer geordneten Klangfolge fur den Leser nachvollziehbar zu machen[88]. Dass der Poet als Schopfer der Welt angesehen werden kann oder will, war hin- gegen auch zur Zeit Victor Hugos schon langer traditionell verankert[89], ebenso wie die Vorstellung, dass der Kontemplator mit seinen Betrachtungen die Absicht verfolgen sollte, voranzukommen. Er wollte der Welt, die er betrachtete, damit gleichzeitig zum Fortschritt zu verhelfen[90]. Dieses Ziel beinhaltete auch die Ge- fahr eines Fehlschlages, zumal der genaue Blick auf die Dinge der Welt nicht im- mer zu einer Anderung der Sichtweise fuhren muss[91]. Gleichwohl kann die Medi­tation auch bei Hugo teilweise als ein Versuch, der Welt zu entfliehen, erachtet werden[92]. Hugo war ebenso wie sein Zeitgenosse Baudelaire, mit dem er aus- fuhrlichen Schriftverkehr hatte, uberzeugt, dass eine bessere Welt existiere und fur den Menschen erreichbar sei[93].

Da es im Deutschen kein genau gleichbedeutendes Verb fur das franzosische „contempler“ gibt, soll in dieser Untersuchung im weiteren Verlauf behelfsmaRig das Verb „betrachten“ verwendet und im Sinne von „contempler“ verstanden wer- den.

3. Die Architekturder Contemplations

Francis Pruner nimmt die Struktur einer Pyramide an, die in den Contemplations in mehrerer Hinsicht vorliege: Sowohl hinsichtlich der Liebe zum Detail, die in die- sem Werk verwirklicht wurde, als habe ein Architekt es geplant als auch in der Hinsicht, dass die Pyramide dem Zweck einer Grabstatte diene[94]. Gleichzeitig sei es als Bauwerk angelegt, in dem die Schonheit den Tod, der im Zentrum stehe, umgebe[95]. Die Darstellung des Todes mit dem hochstmoglichen MaR an Schon- heit ergebe hier die Kombination, die zum Grotesken fuhre. In demselben MaRe konne der Tod im irdischen Leben den Ubergang in die bessere Welt darstellen und als Beginn des Neuen erachtet werden[96]. Letzteres Paradoxon gilt auch fur den Blick auf die Dinge, denn nach Einschatzung von Francis Pruner muss man korperlich blind sein, um das Wesentliche des Lebens sehen zu konnen. Diese Kombination sei in den ganzen Contemplations zu finden[97], jedoch habe die Py­ramide bei all ihrer Schonheit auch immer mindestens eine Seite, die der Be- trachter nicht sehen konne[98]. Fur die Betrachtung des Lebens heiRt dies, dass auch dabei immer eine Seite unsichtbar bleibt: die des Lebens nach dem Tode. In den Contemplations kann der Tod folglich nur selbst dargestellt werden und nicht das, was danach kommt. Das Leben nach dem Tod bleibt selbst in ,,Aujourd'hui“ nur das Ziel, dessen Erreichen in der Gedichtsammlung selbst nicht auftaucht.

Bei der Wahl der Titel der Bucher fallt auf, dass ,,Pauca mes“ sich durch den la- teinischen Titel von allen anderen Buchern abhebt. Bezuglich des Themas als und des Umgangs damit stellt ,,Pauca mes“ einen Tiefpunkt dar, der symbolisch fur den Tiefpunkt in Hugos Leben gedeutet werden kann". Derselbe Eindruck entsteht auch durch die Anzahl der Gedichte pro Buch. Selbst ein Leser ohnejeg- liche Vorkenntnis wird die frappierenden Unterschiede diesbezuglich bemerken:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[99] [100]

Moglicherweise waren die Beeintrachtigungen, unter denen Victor Hugo anlass- lich des Todes Leopoldines litt, so stark, dass er nicht mehr dazu sagen konnte oder wollte. In den drei vorangehenden Buchern beginnt Hugo mit der Morgen- stunde („Aurore“), also einem Hoffnung evozierenden Titel. Das zweite Buch, „L'ame en fleur“, kann als eine Reifung der Schopfung verstanden werden, bevor im dritten Buch gekampft werden muss („Les luttes et les reves“). Hier verfallt Hugo teilweise in Fluche, bevor es dann im vierten Buch zu der Verarbeitung der Trauer, dem absoluten Tiefpunkt in Hugos Leben, kommt. Im funften Buch hat Hugo dann wiederum genugend Energie, sich in seinem Leben weiter zu bewe- gen („En marche“). Er bewegt sich an die Schwelle zur Unendlichkeit, d.h. in die Nahe Gottes, die das ubliche Ziel aller Kontemplationen ist. Zugleich kann der Tod Leopoldines als notwendiges Ubel verstanden werden, das letztlich zum Ziel, dem neuen Leben, fuhrt[101]. Sollte Hugo diese Struktur seines Werkes deshalb so gewahlt haben, entsprache das seiner religiosen Uberzeugung, die lange Zeit vor dem Ungluck eine christliche war, wenngleich Hugo die etablierten Kirchen und vor allem den Katholizismus besonders nach seinen Trauerfallen vollstandig ab- lehnte[102].

Die knappe Autobiografie von Victor Hugo deutet darauf hin, dass er nach der Heirat und dem wenige Monate danach folgenden Tod Leopoldines acht Jahre nicht in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen[103] und selbst eine Todes- sehnsucht entwickelte[104]. So auRerte er etwa die Idee, er werde nur noch gele- gentlich wach, um an seiner ,,eternelle contemplation" weiter zu schreiben[105]. Das deutet darauf hin, dass Hugo zeitweilig gar an die Contemplations als Ewigkeits- werk gedacht oder in Erwagung gezogen hat, sie konnten unvollendet bleiben. Ein erlosendes Ende der Arbeit war nicht in Sicht. Auch bat er Gott darum, ihn noch mit seiner Arbeit fertig werden und danach sterben zu lassen[106]. Dass frem- de Menschen, die er auf der Strafe traf, ihn schon tot geglaubt hatten, wunderte ihn angesichts seiner tiefen Traurigkeit nicht[107]. Wenngleich er an Tote gewandt sagte, dass sie in seinem Herzen weiterlebten, hatte er den Eindruck, dass der Tod bei ihm selbst geklopft habe[108].

Hier ist zu erkennen, dass die zahlreichen Trauerfalle, die Victor Hugo erlitten hat, ihn lange und intensiv beschaftigt haben. Zudem wird deutlich, dass Hugo der Tod Leopoldines wohl wegen seiner Abwesenheit an dem betreffenden Tag naher ging. Sein Schmerz war dann auch wegen des bereits zuvor erlittenen Ver- lustes starker. Auch der Tod der Kinder von George Sand riss Hugos eigene Wunden wiederum auf[109]. Damit ist gut zu erklaren, weshalb er sich - passend zu der Hoffnung auf ein neues, besseres Leben - den eigenen Tod regelrecht herbei sehnte[110].

4. Das Eroffnungsgedicht als theologisch-anthropologische Grundlage

Trauer ist die uberwiegende Stimmung in seinen Ansichten der Welt[111]. So ist be- reits im ersten Gedicht der Sammlung, vor dem eigentlichen Beginn des ersten Buches[112], die Rede vom Meer als Reservoir an Ideen fur einen Poeten (v. 11 f.). Das Meer wird im Guten wie im Schlechten (v. 13) zusammen mit Wind und Ge- stirn dargestellt als der Herr (v. 13-15) uber den Menschen, der seinerseits das Schiff ist (v. 16). Dabei ist der Begriff „Seigneur“ mit einer Majuskel versehen und somit die Bezeichnung fur Gott. Diese Anschauung ist deshalb so zu verstehen, dass der Mensch keinen Einfluss auf sein Geschick hat. Diesen hat nach der Stimmung, die dieses erste Gedicht in sich tragt, ausschlieRlich Gott als hohere Gewalt. Das deutet auf eine gottesfurchtige Grundhaltung Victor Hugos hin und kann so gemeint sein, dass Gott dem Poeten die Ideen eingibt, zumal die Rede von Ideen ist, die aus dem Meer gezogen werden (v. 11). Dass in dem Gedicht Einfalle aus tiefen Wellen gezogen werden (v. 12), ist hingegen ein Hinweis dar- auf, dass Poeten nach Auffassung Victor Hugos tiefgrundige Texte entwickeln sol- len. In diesem Sinne ist das erste Gedicht sehrwahrscheinlich auch als Motto der Contemplations anzusehen. Bezuglich des Datums fallt hier auf, dass dieses Ge­dicht sowohl in der Edition als auch im Manuskript[113] vom 15. Juni 1839 datiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass es tatsachlich an diesem Tag entstanden ist, ist da- durch hoch. Indem im Eroffnungsgedicht die Rollenverteilung zwischen Gott und Mensch geklart wird, setzt es zugleich den Rahmen im anthropologischen und theologischen Sinne. Der Mensch muss dieser Vorstellung entsprechend alles, was von Gott kommt, als Teil des Schicksals und somit als Einfluss hoherer Machte hinnehmen. Diese Metapher wird sich vor allem in den ersten drei Bu- chern auch wiederholen. Zudem wird hier, wie in der Romantik ublich, zugrunde gelegt, dass die Poesie gottlichen Ursprungs sei und somit jeder Poet im Sinne und im Auftrag Gottes handele[114].

5. Autobiographischer Hintergrund als existentielle Grundlage der Todesdarstel- Jung

Victor Hugo hat vier Kinder verloren und nur einen dieser Schicksalsschlage so ausfuhrlich poetisch bearbeitet wie den Verlust Leopoldines. Bereits ihre Heirat empfand der Poet als einen Verlust. Er musste erst uberzeugt werden, um damit einverstanden zu sein[115]. Selbst bei der Hochzeitsfeier war Victor Hugo schlecht gelaunt[116] und entschied wenige Tage danach, im Sommer eine langere Reise mit seiner Geliebten Juliette Drouet durch den Sudwesten Frankreichs sowie die Py- renaen zu unternehmen[117]. Mit Juliette Drouet fuhrte er bereits uber zehn Jahre eine auRereheliche Beziehung, die von seiner Familie toleriert wurde[118]. In den Monaten vor dieser Reise hatte Hugo noch brieflichen Kontakt mit seiner Toch- ter[119] und schrieb ihr im Juni 1843 nochmals von seinem Vorhaben, die Reise zu unternehmen[120]. Nachdem sich das Ungluck in der Seine am 4. September 1843 ereignete[121], erhielt Hugo noch zwei Tage danach einen Brief von Leopoldine[122] und erfuhr erst vier weitere Tage spater von dem Ungluck. Er befand sich bereits zusammen mit seiner Geliebten auf der Ruckreise und musste die Nachricht aus einer Zeitung erfahren, die er bei einem langeren Aufenthalt in einem Bahnhofs- cafe las. Seine Abwesenheit zum Zeitpunkt des Todes fuhrte dazu, dass Victor Hugo sich spater groRe Selbstvorwurfe machte und sich in einem kurzen Brief an seine Frau fragte, was er ihr angetan habe[123]. Gemeint ist damit, dass seine Frau zunachst mit der Trauer und bei der Beerdigung ohne ihren Mann auskommen musste. Diese Selbstvorwurfe ruhrten auch aus dem Umstand, dass Victor Hugo ursprunglich vorgesehen hatte, in der Phase, in der er mit Juliette verreist war, mit seiner Tochter zu verreisen. Danach dachte er, dass der Unfall andernfalls hatte vermieden werden konnen[124]. Des Weiteren war Leopoldine zum Zeitpunkt ihres Todes schwanger[125], so dass Hugo zusatzlich seinen ungeborenen Enkel verlor. Das verstarkte die Bitterkeit dieses Trauerfalles und fuhrte spater dazu, dass er sich Stuck um Stuck von seinem bis dahin christlichen Glauben distan- zierte[126]. So ist es auch zu erklaren, dass er schon wahrend der Zugruckfahrt am 12. September einen Vers verfasste, der spater in dem Gedicht ,,A Charles Vac- querie" Verwendung fand[127]. Er befurchtete, dass es sich bei diesem Todesfall um eine Sanktion Gottes handele. Ebenso wird der Umstand, dass Victor Hugo nicht einmal bei der Beerdigung seiner Tochter anwesend sein konnte, gedeutet[128]. Wegen der besonders groRen Trauer platzierte Victor Hugo das Buch uber den Tod seiner Tochter im Zentrum der Gedichtsammlung, so dass dieser nicht ein Thema von mehreren behandelt, sondern Hauptachse und Mittelpunkt der Con­templations darstellt[129]. Gerard Gengembre geht gar soweit, von einer schlei- chenden Wandlung des lyrischen Ichs zum Poeten zu sprechen[130]. Folgt man die­ser Auffassung, so ist es folgerichtig, anzunehmen, dass spatestens ab dem vier- ten Buch keinerlei Trennung zwischen dem Poeten und dem lyrischen Ich mehr vorliegt. Gleichwohl soll nachfolgend aus Grunden der Vereinfachung die Anwe- senheit eines lyrischen Ichs angenommen werden.

Hugo versuchte zunachst, die Trauer mit spiritistischen Seancen zu bewaltigen, in denen Kontakt mit den Toten hergestellt werden sollte. Nachdem diese Sean­cen das Ziel, die Schmerzen zu verwinden, nicht erreichten und zudem einer der Teilnehmer gar mit einem Amoklauf drohte[131], begann er, seine Schlaflosigkeit durch das Schreiben zu uberbrucken[132]. Allmahlich fiel er von seinem christlichen Glauben ab und bezeichnete sich 1854 erstmalig als Atheisten[133]. Diese Untersu- chung wird jedoch zeigen, dass Hugo einige Jahre danach wieder zum Glauben zuruck fand, nachdem er den Verlust als Teil seines eigenen Lebens akzeptiert hatte. Nichtsdestotrotz markierte der Verlust einen Tiefpunkt im Leben Victor Hu­gos, nach dem es nur noch aufwarts gehen konnte. Denn auch in seiner Eigen- schaft als Kunstler hatte Victor Hugo vor Leopoldines Tod Misserfolge erlitten, etwa das Scheitern des Dramas Les Burgraves im Jahre 1841[134]. Nach einer mehrjahrigen Schaffenspause, die von politischen Aktivitaten gepragt war, nahm er das Schreiben wieder auf[135]. Auch insofern kann der Tod die Chance zum Ein- stieg in ein neues Leben bedeuten. Der Verlust Leopoldines war fur Victor Hugo jedoch deshalb besonders bitter, weil er die Hoffnung gehegt hatte, Leopoldine werde ihren verstorbenen Bruder ersetzen[136]. Das kann auch der Grund sein, weshalb Hugo sich schon bei der Hochzeit seiner Tochter unwohl fuhlte und dies in seiner Rede erkennen lieR[137]. Nach dem Verlust Leopoldines hingegen musste Victor Hugo sich vom Tod regelrecht eingekreist sehen, wenngleich er noch pha- senweise die Hoffnung aufein neues Leben im christlichen Sinne hegte[138]. Bei ei­ner erneuten Spanienreise mit Juliette im Jahre 1845, die vor allem dem Zweck diente, der sozialen Isolation, in der Hugo sich befand, zu entkommen[139], musste er dennoch mit dem Gedanken leben, dass ihre Tochter krank war und sich den Tod als Erlosung wunschte[140]. Auch ihren Tod, der schlieRlich im Mai 1846 ein- trat[141], verarbeitete Hugo in seinem Werk, wenn auch nicht in unmittelbarer Nahe zu ,,Pauca me*“.

[...]


[1] Homepage der Hessischen Messefur Bestattungskultur: http://www.messe-pax.de/presse/presse- mitteilungen/detail/Detail/2011/Maerz/der-tod-gehoert-zum-leben-die-abschaffung-eines-tabus.html [10. Dezember 2011].

[2] Homepage des Vereins Leben ohne dich e.V.: http://www.leben-ohne-dich.de/ [10. Dezember 2011].

[3] Homepage des Bundesverbandes Verwaiste Eltern in Deutschland e.V.: http://www.veid.de/hilfe-fuer- betroffene/einzelansicht/article/16-punkte-um-mit-trauer-zu-leben-1.html? tx_ttnews[backPid]=110&cHash=919431d36cd5bcec01008372f4a376de [10. Dezember 2011].

[4] Henri Gourdin: ,,Adele, l'autre fille de Victor Hugo“, Paris 2003, S. 12 f.

[5] Ebd., S. 90.

[6] Max Gallo: ,,Victor Hugo, tome II: ... Je serai celui-la!“,ohne Ort 2001, S. 176.

[7] Homepage ,,Ala lettre“: http://www.alalettre.com/victor-hugo-biographie.php [10. Dezember 2011].

[8] Gallo, Tome II, S. 44.

[9] Homepage der franzosischen Post: http://www.laposte.fr/sna/article.php3?id_article=285 [10. Dezember 2011].

[10] Yi Kyu-sik: ,,Une etude sur la reception de Victor Hugo en Coree“, in: Haruhisa Kato (Hrsg.): ,,La modernite franfaise dans l'Asie litteraire: Chine, Coree, Japon“, Paris 2004, S. 214.

[11] Jacques Seebacher et al. (Hrsg.): ,,Victor Hugo - ffiuvres completes: Poesie II“, Paris 2002, S. 395 - 418. Seitenzahlen und Versnummem werden sich im Folgenden auf diese Edition beziehen.

[12] Jurgen Grimm: ,,Franzosische Literaturgeschichte“, 4. Auflage, Stuttgart 1999, S. 267.

[13] Suzanne Nash: „Les Contemplations of Victor Hugo - An Allegory of the Creative Process^, Princeton 1976, S. 52.

[14] Werner Habicht (Hrsg.): ,,Der Literatur-Brockhaus - Zweiter Band: Fu - OfMannheim 1988, S. 648.

[15] Gero von Wilpert: ,,Sachworterbuch der Literatur‘, 7. Auflage, Stuttgart 1988, S. 591.

[16] Elisabeth Frenzel: ,,Stoff- und Motivgeschichte‘, 2. Auflage, Berlin 1974 (= Grundlagen der Germanistik 3), S. 12.

[17] Dies.: ,,Stoff-, Motiv- und Symbolforschung“, 4. Auflage, Stuttgart 1978, S. 29.

[18] Habicht, S. 648.

[19] Nash, S. 34.

[20] Ebd., S. 35.

[21] Ebd., S. 37.

[22] Ebd.

[23] Francis Pruner: „Les Contemplations, pyramide - temple: ebauche pour un principe d'explication“, Paris 1962, S. 9.

[24] Samuel Edwards: ,,Victor Hugo - a biography“ hrsg. von Noel B. Gerson, Holborn 1975, S. 6.

[25] John Frey: ,,Les Contemplations41, in: Ders.: „A Victor Hugo Encyclopedia11, Westport 1999, S.71.

[26] Philippe Lejeune: „L'ombre et la lumiere dans Les Contemplations de Victor Hugo11, Paris 1968 (= Archives des lettres modernes 96), S. 59.

[27] Ebd., S. 60.

[28] Sheila Gaudon: Preface, in: Dies. (Hrsg.): „Victor Hugo et Pierre- Jules Hetzel: Correspondance, tome II: janvier 1854 - avril 1857: Victor Hugo publie Les Contemplations et les Discours de l'exil“, Paris 2004, S. 10 f.

[29] Jean-Pierre Moreau: ,,Les Contemplations ou le Temps retrouve“, Paris 1962 (= Archives des lettres modemes 41), S. 30 f.

[30] SheilaGaudon, S. 15.

[31] Winfried Engler: ,,Die franzosische Romantik“, Tubingen 2003, S. 11.

[32] Ebd.

[33] Pierre Laforgue: ,,Poesie, prose, roman et romanesque chez Victor Hugo en 1860“, in: Agnes Spiquel (Hrsg.): „ Hugo et le romanesque“, ohne Ort 2005, S. 180.

[34] Ferdinand Brunetiere: ,,L’evolution d’un poete: Victor Hugo“, in: Ders.: ,,Etudes critiques sur l’histoire de la litterature franfaise, tome 7“, dritte Auflage, Paris 1912, S. 206.

[35] Moreau, S. 14.

[36] Brunetiere, S. 210.

[37] Engler, S. 12.

[38] Maurice Souriau: ,,Histoire du romantisme en France, Tome II: La decadence du romantisme“, Paris 1927, S. 272.

[39] Rene Journet und Guy Robert: ,,Le manuscrit des Contemplations“, Paris 1956, S. 6.

[40] Pierre Barberis: ,,Structures et dynamismes du romantisme“, in: Pierre Abraham und Roland Desne (Hrsg.): ,,Manuel d'histoire litteraire de la France, tome IV: 1789 - 1848, premiere partie“, Paris 1972, S. 477 f.

[41] Franz Rauhut: ,,Die klassizistische und romantische Lyrik der Franzosen im kulturellen Zusammenhang der Epoche 1780 - 1850; mitkommentierter Anthologie“, Heidelberg 1977, S. 18. , S. 39 f.

[42] Ebd., S. 41.

[43] Ebd., S.41f.

[44] Luc Decaunes: ,,Lapoesie romantique franfaise^, Paris 1973, S. 6.

[45] Ebd., S. 9.

[46] Ebd., S. 10.

[47] Ebd., S. 6.

[48] Grimm, S. 233.

[49] Ebd., S. 234.

[50] Ebd.

[51] Karlheinrich Biermann: ,,Literarisch-politische Avantgarde inFrankreich, 1830 - 1870 : Hugo, Sand, Bau­delaire u.a.“, Stuttgart 1982, S. 34.

[52] Grimm, S. 234 f.

[53] Homepage des Musee VictorHugo in Vianden: http://victor-hugo.lu/cgi-bin/baseportal.pl?htx=/vh&cap=vie [10. Dezember 2011].

[54] Rauhut, S. 42 f.

[55] Engler, S. 61.

[56] Rauhut, S. 46.

[57] Brunetiere, S. 211.

[58] Bernhard Gros: ,,Victor Hugo - le visionnaire de Guernesey“, Paris 1975, S. 28 f.

[59] Sourlau, S. 273.

[60] Ebd., S. 277.

[61] Ebd., S. 278.

[62] Decaunes, S. 23.

[63] Ebd., S. 26.

[64] Rauhut, S.71.

[65] Michael von Albrecht: ,,Vergil - Eine Einfuhrung: Bucolica, Georgia, Aeneis“, 2. Auflage, Heidelberg 2007, S. 36 f.

[66] Jean-Franfois Hamel: ,,Les uchronies fantomes - Poetique de l'histoire et melancolie du progres chez Louis Sebastian Mercier et Victor Hugo“, in: Poetique 36, Paris 2005, S. 434.

[67] Andre Lagarde und Laurent Michard: ,,XIXeme siecle - Les grands auteurs franfais du programmed Paris 1962, S. 172 f.

[68] Manfred Joachim Lossau et al.: „Thesaurus linguae latinae, Band IV“, 5. Auflage, ohne Ort 1990, Sp. 647.

[69] Ebd.

[70] Ebd.

[71] Jurgen Ritter et al.: „ Historisches Worterbuch der Philosophie“, Neuauflage von Rudolf Eisler,

4. Band, Basel 1976, S. 1024.

[72] Homepage „InternetEncyclopediaof Philosophy“: http://www.iep.utm.edu/augustin/ [10. Dezember2011].

[73] Ritter etal., S. 1024.

[74] Lossau, Sp. 647.

[75] Ebd., Sp. 648.

[76] Ritter etal., S. 1025.

[77] Paul Imbs (Hrsg.): ,,Tresor de la langue franfaise - dictionnaire de la langue du XlXeme et du XXeme siecle (1789 - I960), Tome sixieme“, ohne Ort 1978, S. 30.

[78] Ritter etal., S. 1025.

[79] Ebd..

[80] Imbs, S. 30.

[81] Marie-Eugene Grialou: ,,Ich will Gott schauen - Wege des Getauften mit den Meistern des Karmel“, 2. korrigierte Auflage, Freiburg 2006, S. 501 f.

[82] Hermine B. Riffaterre: ,,L'orphisme dans la poesie romantique - Themes et styles surnaturalistes“, Paris 1970, S. 8.

[83] Marcel Raymond: „Romantisme etreverie“, Paris 1978, S. 15.

[84] Ebd., S. 18.

[85] Riffaterre, S.9.

[86] Ebd., S. 10.

[87] Michael Backes: Die Figuren der romantischen Vision - Victor Hugo als Paradigma“, Tubingen 1994 ( = Romanica Monacensia 45), S. 181.

[88] Ebd., S. 189.

[89] Ebd., S. 178.

[90] Jean Gaudon: ,,Le temps de la Contemplation: L'rnuvre poetique de Victor Hugo des Miseres au Seuil du gouffre (1845 - 1856)“, Paris 1969, S. 314.

[91] Ebd., S. 320.

[92] Ebd.

[93] Ebd., S. 330.

[94] SieheFufinote23.

[95] Pruner 1962, S. 10.

[96] Ebd., S. 12.

[97] Ebd., S. 29.

[98] Ebd., S. 30.

[99] Nash, S. 34.

[100] Inhaltsverzeichnis im Anhang von Seebacher, S. 1104- 1107. Wenn man „A celle qui est restee en France^ mit zahlt, beinhaltet der letzte Band 27 Gedichte.

[101] Ebd., S. 36 f.

[102] Didier Fournet: ,,Victor Hugo, ,Les Contemplations' Rosny 2001, S.71.

[103] Victor Hugo: „Post-scriptum de mavie“, hrsg. von Henri Guillemin, Neuchatel 1961, S. 37 f.

[104] Ebd., S. 40.

[105] Ebd., S. 43.

[106] Ebd., S. 44.

[107] Ebd., S. 46.

[108] Ebd., S. 51.

[109] Gallo, Tome II, S. 176.

[110] Ebd., S. 169.

[111] Helen Temple Patterson: ,,Petites clefs de grands mysteres“, in: ,,Revue de litterature contemporaine XXV“, Paris 1951, S. 91.

[112] Seebacher, S. 253.

[113] Journet und Robert 1956, S. 9.

[114] Engler, S. 68.

[115] Sandrine Fillipetti: ,,Victor Hugo“, ohne Ort 2011, S. 144.

[116] Ebd., S. 145.

[117] Ebd., S. 145 f.

[118] RalfNestmeyer: ,,Franzosische Dichter und ihre Hauser“, FrankfUrt am Main und Leipzig 2005, S. 34 f.

[119] Hubert Juin: ,,Victor Hugo, tome I: 1802 - 1843“, Paris 1980, S. 864.

[120] Ebd., S. 866.

[121] Ebd., S. 870.

[122] Ebd., S. 871.

[123] Ebd., S. 871 f.

[124] Alain Decaux et al.: ,,Les plus beaux masucrits de Victor Hugo“, Paris 2001, S. 89.

[125] Ebd., S. 91.

[126] Souriau, Tome I, deuxieme partie, S. 167.

[127] Juin, S. 873.

[128] Ebd., S. 876.

[129] Helen Temple Patterson: „New light on dark genius: The influence ofLoui-Sebastien Mercier on the Con­templations' ofVictor Hugo“, in: Modern language review 43, Cambridge 1948, S. 475.

[130] Gerard Gengembre: „Hugo poete - Texte etudie: ,Les Contemplations' “, Paris 1994, S. 47.

[131] Jorg Rademacher: ,,Victor Hugo“, Munchen 2002, S. 127.

[132] Ebd., S. 128.

[133] Ebd., S. 129.

[134] Didier Fournet, S.17.

[135] Ebd., S. 18 f.

[136] Max Gallo: ,,Victor Hugo, Tome I: Je suis une force qui va!“, ohne Ort 2001, S. 229 f.

[137] Ebd., S. 461-463.

[138] Gallo, Tome II, S. 13.

[139] Ebd., S. 25.

[140] Ebd., S. 26.

[141] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Die Darstellung des Todes in den "Contemplations" von Victor Hugo
Hochschule
Universität Trier  (Romanistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
88
Katalognummer
V277933
ISBN (eBook)
9783656704607
ISBN (Buch)
9783656710349
Dateigröße
782 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Examensarbeit, Abschlussarbeit, Romantik, Romanistik, Victor, Hugo, Contemplations, Trauer, Verlust, von, Kindern, Tod, der, Tochter, Poesie, Gedichte, Lyrik, Trauerfall, Todesfall
Arbeit zitieren
Philipp Jakobs (Autor:in), 2012, Die Darstellung des Todes in den "Contemplations" von Victor Hugo, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/277933

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