Die Arisierung jüdischen Besitzes in Stralsund


Examensarbeit, 2003

75 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Gliederung

I. Einleitung
Zum Begriff
Zum Forschungsstand
Die Quellenlage
Antisemitismus vor 1933?
Stralsunder Juden im Dritten Reich

II. Hauptteil
Chronologie der Arisierung in Stralsund
April-Boykott 1933
Die ersten Arisierung en: Die Stralsunder Warenhäuser
Das Jahr 1935 und die Nürnberger Gesetze
Das Jahr 1938
Auswirkungen der Boykottmaßnahmen
Die Ausschaltung der Stralsunder Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit
Aufgabe jüdischer Geschäfte
Die Reichspogromnacht und das Ende des jüdischen Geschäftslebens
Arisierung der jüdischen Geschäfte in Stralsund
Die Abwickler
Veräußerung der jüdischen Warenlager
Städtisches Interesse an jüdisch versippten Geschäften
Arisierung der jüdischen Grundstücke in Stralsund
Wohnungseinrichtungen der Grundstücke
Zahlung der Grundstücke
Gewährung von Wohnrecht
Städtisches Interesse an jüdisch versippten Grundstücken
Staatliche Einziehung des verbliebenen jüdischen Grundbesitzes
nach den Deportationen
Unterschiede von Geschäfts- und Grundstücks- Arisierung en
Arisierungsbeispiele
Beispiel: Familie Cohn Knaben- und Herrenbekleidungsgeschäft
Ossenreyerstraße 21/22
Beispiel: Fischkonservenfabrik S. Cassel
Großer Diebsteig 2 und Kleiner Diebsteig 8b

III. Schluss

IV. Quellen und Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Einleitung

Durch die Wiedervereinigung wurde im Einigungsvertrag das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen als partielles Bundesrecht übernommen. Bei dem Vermögensgesetz handelt es sich um ein Gesetz, das noch zu DDR-Zeiten erlassen worden und am 29.09.1990 in Kraft getreten ist. Vorläufer dieses Gesetzes war die gemeinsame Erklärung der beiden Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 15.06.1990. Darin wurden Eckdaten für die zukünftige Regelung der offenen Vermögensfragen festgeschrieben. Im § 1 Absatz 6 des Vermögensgesetzes wurde bestimmt, dass die Regelung des Vermögensgesetzes entsprechend Anwendung auf vermögensrechtliche Ansprüche von Bürgern und Vereinigungen finden wird, die in der Zeit vom 30.01.1933 bis zum 8.05.1945 aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden und deshalb ihr Vermögen in Folge von Zwangskäufen, Enteignungen oder auf andere Weise verloren haben.[1] Hintergrund dieser Regelung war, dass anders als in den drei westlichen Besatzungszonen in der sowjetischen Besatzungszone keine Rückerstattung arisierten Vermögens durchgeführt worden ist. Die drei westlichen Militärregierungen hatten in ihren drei Zonen Rückerstattungsgesetze und in den drei westlichen Zonen Berlins eine Rückerstattungsanordnung erlassen, wonach grundsätzlich arisiertes Vermögen an die Erben und im Falle der Nichterben an jüdische Organisationen zurückzuerstatten war. Die Anwendung des § 1 Absatz 6 führte zunächst zu Schwierigkeiten, da die Verfolgungsbedingtheit und ihr Nachweis nicht geregelt waren. Aus diesem Grund wurde im Jahr 1992 durch das 2. Vermögensrechtsänderungsgesetz im § 1 Absatz 6 ein Satz 2 eingefügt mit folgendem Wortlaut: Zu Gunsten des Berechtigten wird ein verfolgungsbedingter Vermögensverlust nach Maßgabe des zweiten Abschnitts der Anordnung BK/O(49)180 der Alliierten Kommandantur Berlin vom 26.07.1949 vermutet.[2] Durch diese Vermutungsregelung sollte die Beweislastschwierigkeit, welche die Deportierten und Überlebenden grundsätzlich durch Unterlagen nachzuweisen hatten, beseitigt werden. Das bedeutet im Grundsätzlichen, dass Verkäufe von Juden grundsätzlich als verfolgungsbedingt angesehen wurden und der Ariseur diesen Beweis der Vermutung der Verfolgungsbedingtheit nur dadurch wiederlegen konnte, dass er nachwies, dass ein angemessener Kaufpreis gezahlt worden ist, der in die freie Verfügung des Verkäufers gelangte und außerdem das Rechtsgeschäft auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus abgeschlossen worden wäre, wenn der Kauf nach den Rassengesetzen vom 15.09.1935 abgeschlossen worden war. Durch den Verweis auf die Alliierte Rückerstattungsanordnung ergibt sich nach der Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass grundsätzlich die Rechtsregeln und Interpretationen des Rückerstattungsrechts der Alliierten entsprechend in den Fällen des § 1 Absatz 6 des Vermögensgesetzes anwendbar sind. Aus diesem Grund werden zum einen bei der Anwendung des Vermögensgesetzes die Rechtssprechungssammlungen und die Kommentarliteratur wieder aktuell und zum anderen sind die historischen Umstände der Arisierung en in der DDR zu recherchieren. Die Rückerstattung der arisierten Vermögenswerte nach Ablauf von über fünf Jahrzehnten ist nicht ganz unproblematisch, da die jetzigen Eigentümer häufig die Erbeserben der Ariseure sind, die von dem Rechtsgeschäft ihrer Vorfahren keine exakte historische Kenntnis haben. Unter anderem liegt das offensichtlich auch daran, dass sich in den Familien selbstverständlich niemand als Ariseur dargestellt hat, der die Zwangslage der Juden ausgenutzt haben könnte.

Die in den 90er Jahren geschaffene Rechtsgrundlage, löste eine Flut von Nachfragen Deportierter, Überlebender und ihrer Erben nach ihren arisierten Grundstücken und Vermögen auf dem Gebiet der neuen Bundesländer aus. Sich näher mit den Geschehnissen der Jahre zwischen 1933, dem Jahr der Machtübernahme, und 1939 auseinander zusetzen, ist demnach naheliegend und hat zudem nach wie vor Aktualität, vor allem auch in Anbetracht der derzeitigen politischen und kulturellen Entwicklungen, z.B. der Streit um das Holocaustdenkmal in Berlin. Eine zeitliche Eingrenzung ist mit den Jahren 1933 und 1939 bereits gegeben. Da sich der Prozess der Arisierung auf das gesamte Altreich bezog, wird in der Arbeit eine territoriale Eingrenzung vorgenommen, die sich auf Stralsund erstreckt. Zum besseren Verständnis der Situation der Juden und der generellen Vorgehensweise einer Arisierung ist der Arbeit in chronologischer Reihenfolge eine Darstellung der schrittweisen Entrechtung der Juden vorangestellt. Das beinhaltet sowohl die Frage nach dem Antisemitismus in Pommern vor 1933 als auch die Rechtsbestimmungen gegen Juden und deren tatsächliche Umsetzung. Am Beispiel der Juden in Stralsund zeigt die Arbeit, wie Arisierung en in der Praxis durchgeführt worden sind. Es werden Statistiken aufgestellt, wie sich die jüdische Bevölkerung in der Stadt durch Boykottierung, Arisierung, Emigration und Deportation dezimierte. Unter Arisierung wird innerhalb der Arbeit noch einmal unterschieden zwischen Arisierung jüdischer Geschäfte und Arisierung jüdischer Grundstücke in Stralsund. Während der Quellenrecherche ergab sich die Frage, ob Arisierungen auch als Mittel angesehen wurden, sich selbst zu bereichern oder eigene Interessen, z.B. Interessen der Stadt Stralsund, durchzusetzen, wie das Beispiel zweier arischer Witwen, die mit Juden verheiratet waren, die bereits vor der Machtübernahme Hitlers verstorben sind, zeigen wird. Teilweise wurde mit zweierlei Maß gemessen. Ferner wird die Examensarbeit darlegen, dass es zwischen der Geschäftsarisierung und der Arisierung von Grundstücken Unterschiede gab.

Zum Begriff

Unter Arisierung ist heute die Enteignung der Juden in Deutschland in der NS-Zeit zu verstehen. Im Sprachgebrauch des Dritten Reiches stand der Begriff meistens für die Überführung eines jüdischen Grundstücks oder eines jüdischen Betriebes in arische Hände.

Der nationalsozialistische Begriff Arisierung bezeichnet den Prozess der Entfernung der deutschen Juden aus dem Wirtschafts- und Berufsleben. Die Arisierung umfasste sowohl die Enteignung jüdischen Besitzes und Vermögens zugunsten von Nichtjuden als auch die Einschränkung jüdischer Erwerbstätigkeit und den direkten Zugriff auf jüdisches Vermögen. Sie vollzog sich in drei Phasen und betraf Handwerk, Industrie und Handel in unterschiedlichem Maße.[3]

Während die Arisierung zwischen 1933 und 1937 ohne juristische Grundlage erfolgte, systematisierte der Vierjahresplan und der Anschluss Österreichs die Entjudung um die Jahreswende 1937/38. Die Reichspogromnacht 1938 bot den Nationalsozialisten Anlass zur Radikalisierung der Entjudung mit dem Ziel einer entschädigungslosen staatlichen Zwangsenteignung jüdischer Unternehmen, bis zur völligen Entjudung des Reiches. Den Abschluss der Arisierungen bildeten die 11. und 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz, vom November 1941 und Juli 1943, nach denen das gesamte Vermögen der nach Osten deportierten bzw. der verstorbenen Juden dem Dritten Reich zufiel.

Der Begriff Arisierung wurde seit 1938 zwar im Amtsdeutsch verwendet, aber nie klar definiert. In der Ungangssprache konnte er sich als Terminus für die Entjudung der Wirtschaft nicht durchsetzen.

Zum Forschungsstand

Bei der historischen Aufarbeitung der Vorgänge im Dritten Reich bildet in den vergangenen Jahrzehnten die Judenpolitik einen Schwerpunkt. Diesem Interesse verdanken wir eine breite Literatur, die sich mit Themen wie dem `Holocaust´ oder dem `Alltag der Juden im Dritten Reich´ beschäftigt.[4] Insbesondere die Lokal- und Regionalgeschichtsschreibung hat sich der Geschichte jüdischer Menschen der jeweiligen Städte und Regionen angenommen.

Ein Teilgebiet der Judenpolitik im Dritten Reich steht erst seit ca. einem Jahrzehnt im Mittelpunkt des historischen Interesses. Im Laufe der letzten Jahre war die Arisierung, die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft, Gegenstand solcher Arbeiten. Allerdings konnte es aufgrund der Aktenlage in der Forschung kaum zu einer flächendeckenden Analyse der Arisierungs -Fälle kommen, so dass Erkenntnisse in dieser Hinsicht zwangsläufig nur durch stichprobenartige Fallbeispiele vermittelt werden können, die in erster Linie nur für Großstädte wie Berlin, Hamburg und Bremen ermittelt wurden. Vereinzelt wurde auch der Ausschluss der Juden aus der Wirtschaft in kleineren Städten untersucht, vgl. Händler-Lachmann/Werther für Marburg 1992.[5] Für die Hansestadt Stralsund gibt es solche Untersuchungen bislang nicht. Ansatzweise finden sich Analysen in der Literatur zur allgemeinen Geschichte der Juden in Stralsund.[6]

Die Quellenlage

Mit den zugänglichen Akten des Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen Mecklenburg-Vorpommern und des Amtes zur Regelung offener Vermögensfragen Nordvorpommern kann die Forschung auf einen wichtigen Quellenbestand zur Forschung der jüdischen Geschichte der Regionen Mecklenburg und Vorpommern zurückgreifen. Bei diesen vereinzelt nicht sehr ergiebigen Akten handelt es sich um Wiedergutmachungs- oder Entschädigungsansprüche von jüdischen Überlebenden oder ihren Verwandten.

Wurden Rückerstattungsansprüche von jüdischen Überlebenden oder von ihren Rechtsnachfolgern nicht geltend gemacht, wurden sie von der Conference on Jewish Material Claims against Germany (kurz Jewish Claims Conference) gestellt. Während in den alten Bundesländern die Anträge nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges gestellt wurden, setzte das Wiedergutmachungsverfahren für das Gebiet der neuen Bundesländer durch das Vermögensgesetz Anfang der 90er Jahre ein. Da die Frist der Anträge 1992 auslief, stellte die Jewish Claims Conference einen Globalantrag für jüdisches Vermögen in der Region. In den nachfolgenden Jahren folgten Präzisierungsanträge auf Rückübertragung oder Entschädigung jüdischen Eigentums. Für die Stadt Stralsund ist davon auszugehen, dass alle Anträge für jüdischen Besitz beantragt wurden.

Die Rückerstattungsverfahrensakten geben einen recht vollständigen Aufschluss über die Besitzverhältnisse und die Rahmendaten der Arisierungen. In diesen Akten befinden sich zudem die Anträge auf Entschädigungen aus den vergangenen Jahrzehnten, die von Überlebenden oder ihren Verwandten gestellt wurden. Es handelt sich hierbei meist auf Zeugenaussagen gestützte Aussagen, da die Juden in vielen Fällen über keine Beweismittel in Form von Dokumenten verfügten. Diese Zeugenaussagen geben z.T. Auskunft über den weiteren Verbleib der jüdischen Bürger nach ihrem Wegzug oder Deportation aus Stralsund. Bei vielen Schriftstücken handelt es sich nur um Abschriften, auf denen kein Datum vermerkt wurde.

Als Ergänzung wurden Akten aus dem Stralsunder Stadtarchiv herangezogen. Hierbei handelt es sich ausschließlich um Dokumente aus der NS-Zeit. Sie umfassen Synagogenlisten, Abwicklungsberichte, Verordnungen usw.

Die Anzahl der jüdischen Geschäfte und Grundstücke im Jahr 1933 wurde mit Hilfe eines Vergleichs der Namen von jüdischen Synagogenlisten und Aussagen von Zeitzeugen mit dem Verzeichnis sämtlicher Häuser mit ihren Eigentümern im Stralsunder Adressbuch von 1933 ermittelt. Da es eine vollständige Namensaufnahme der jüdischen Bürger in Stralsund nicht gibt, kann von einer vollständigen Erfassung, insbesondere des Grundbesitzes, der vor 1938 veräußert wurde, nicht ausgegangen werden.

Antisemitismus vor 1933?

Inwiefern die Hansestadt Stralsund vor der Machtübergreifung der NSDAP am 30.01.1933 antisemitische Züge besaß, ist teilweise umstritten. Zeitzeugen schildern, dass es jüdische Bürger in der Hansestadt nicht leicht hatten. „Die [vielen] Gutsbesitzer aus der Umgebung und die sogenannten `besseren´ Leute machten aus ihrer Abneigung keinen Hehl.“[7] Die politischen Verhältnisse wurden durch die Vielzahl der Gutsbesitzer stark vom Konservatismus beeinflusst. „Ein deutlicher Ausdruck dieses Einflusses war die exponierte Stellung konservativer Interessenvertretungen, die Deutschnationale Volkspartei, der Pommerscher Landbund, der Stahlhelmbund und die hinterpommersche Grenzschutzorganisation.“[8]

Aufgestachelt von arischen Elternteilen hatten jüdische Kinder z.T. unter dem antisemitischen Verhalten ihrer nichtjüdischen Mitschüler in der Schule zu leiden. Zudem war ihnen die Mitgliedschaft zu einigen Gemeinschaften versagt, u.a. wurde Rosemarie Joseph, Tochter des Geschäftsinhabers eines Putz- und Modegeschäftes, die Aufnahme im einzigen Tennisclub in Stralsund aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit verwehrt.

Nach Aussagen der Zeitzeugen galt Pommern schon in den zwanziger Jahren als Hochburg des Antisemitismus in Deutschland. Zu Weihnachten erschienen in dem Stralsunder Tagesblatt Anzeigen „Kauft nicht bei Juden“. Doch diese schreckten weder Arier noch überzeugte Antisemiten ab, ihre Weihnachtseinkäufe bei den ortansässigen Juden günstig zu besorgen. Unterstützt werden die Zeugenaussagen von dem BRD-Historiker Richard Grünberger, der in seiner Arbeit `Das zwölfjährige Reich – Der Deutsche Alltag unter Hitler´ die Ursachen des stark ausgeprägten Antisemitismus in Pommern untersuchte.

Andere Zeugen, Nachfahren der in Stralsund lebenden Juden, berichten, dass es kaum antisemitische Anfeindungen gab, alle waren sie Stralsunder. „ Die einen gingen sonntags in die Kirche, die anderen gingen am Freitagabend in die Synagoge. Eine Unterscheidung der Menschen fand nicht aufgrund der Glaubenszugehörigkeit [statt].“[9] Die Zeugin Bärbel Beyer, geb. Cohn, berichtet weiter, dass aber eine Unterscheidung aufgrund ihrer sozialen Stellung bestand. So verkehrten viele der alteingesessenen und wohlhabenden Juden außerhalb der Gemeinde nicht mit den zugewanderten, meist mittellosen Polen.

Diese beiden unterschiedlichen Aussagen der Zeitzeugen müssen keinen Widerspruch beinhalten. Cohn spricht von unterschiedlichen Verhaltensmerkmalen aufgrund ihrer sozialen Stellungen; die Tochter des Kaufmanns gehörte zur wohlhabenden jüdischen Schicht. Diese sozialen Verhältnisse könnten zu Neid in der Bevölkerung geführt haben, welcher in antisemitischen Handlungen seinen Ausdruck fand.

Daneben zeigten sich bei vielen der alteingesessenen jüdischen Bürger starke Assimilierungsprozesse. So waren beispielsweise 1930 elf jüdische Stralsunder mit Christen verheiratet und ließen ihre Kinder, die aus den Ehen hervorgingen, christlich taufen. Zudem waren wohlhabende Juden aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung integrierter und in ihrer Religionsausübung weniger streng. „So wurde schon mal der Sabbat (...) nicht eingehalten, weil dies auch die Geschäfte nicht zuließen.“[10]

Dass es antisemitische Ansichten und Aktionen in der Hansestadt zu jener Zeit gab und heute immer noch gibt, ist nicht von der Hand zu weisen. Eine Umfrage von Schülern des Hansa-Gymnasiums im Rahmen eines Projektunterrichtes, denen drei Kommentare auf die Frage „Was wissen sie über die Juden in Stralsund, und welche Erinnerungen haben sie an die Reichskristallnacht 1938?“ entnommen wurden, sprechen für sich:

Mann, ca. 65 Jahre alt: „Na die jagt man sonst wohin. Mit denen wollen wir nichts mehr zu tun haben.“

Männer, zwischen 70 und 75 Jahre alt: „Da reden wir nicht drüber.“

Mann, Jahrgang `28: „Ich habe nichts gesehen und nichts gehört, aber einige Tage später waren die meisten Juden verschwunden. Wird schon seine Richtigkeit gehabt haben.“

Die kurze Darstellung zeigt, dass das Phänomen Antisemitismus keine Erscheinung des Dritten Reiches ist. Bereits vor 1933 gab es antisemitische Tendenzen in Pommern, so dass auch hier die Ansichten der NSDAP auf fruchtbaren Boden fallen konnten.

Stralsunder Juden im Dritten Reich

In Deutschland lebten im Jahr 1933 etwa 525.000 Juden mosaischen Glaubens, dies entsprach einem Reichsdurchschnitt von ca. 1,5 Prozent der Bevölkerung. In der Stadt Stralsund, in der 43.630 Personen lebten, bekannten sich 1933 134 Bürger (80 männliche und 54 weibliche Personen) zum Judentum. Damit lag die Hansestadt Stralsund mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 0,31 Prozent unter dem Reichsdurchschnitt.

Galten bis zu dieser Zeit ausschließlich Menschen mit mosaischem Glauben als Juden, brachten die Nürnberger Gesetze 1935 eine neue Definition. Jude im Sinne der nationalsozialistischen Rassenlehre war demgemäß, „wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammte.“[11] Dagegen konnte auch ein von lediglich zwei volljüdischen Großelternteilen abstammender Mischling als Jude gelten, wenn er der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte oder mit einem Juden verheiratet war. Nach dieser rassistischen Gesetzgebung galten etwa 160-170 Stralsunder Bürger als Juden, von denen 157 Personen namentlich nachgewiesen werden können. Jedoch hatten sich viele Stralsunder Juden im Zuge des Assimilierungsprozesses taufen lassen; auch in Folge der antisemitischen Verfolgungen, die nach der Machtübernahme 1933 einsetzten, traten viele Juden zum evangelischen Glauben über.[12] Die Behörden standen vor dem Problem diese getauften Juden ausfindig zu machen. Um die Liste der Juden zu vervollständigen, bat die NSDAP alle Organisationen und Kirchen um ihre Mitarbeit. Die Superintendentur Stralsund weigerte sich ihre Kirchenbücher für die Partei zu öffnen, um getaufte Juden zu entlarven.[13] Sie steht damit in Deutschland nahezu singulär.

Nach einer Volkszählung im Mai 1939 lebten noch 62 jüdische Bürger und 35 Mischlinge 1. Grades in der Hansestadt. In Anbetracht des Rückgangs der jüdischen Einwohnerzahl müssen in dem Zeitraum zwischen 1933 und 1939 mindestens 95 jüdische Bürger Stralsund verlassen haben. Viele versuchten in der Anonymität einer Großstadt unterzutauchen, insbesondere hofften sie in der Hauptstadt Berlin Zuflucht zu einem erträglicheren Leben nehmen zu können. Andere kehrten Deutschland den Rücken. Nachweislich emigrierten 45 Stralsunder nach Holland, Belgien, USA, England, Italien, Spanien, Frankreich und Polen. Für einzelne Bürger bildeten die einzelnen Länder nur eine Zwischenstation in einer langen Odyssee nach Palästina. Tragisch verlief für einige Personen, denen die Flucht aus Deutschland geglückt war, der beginnende Zweite Weltkrieg. Durch die einsetzende Kriegsmaschinerie, die sie einholte, fielen sie der Endlösung in den besetzten Gebieten zum Opfer.

Am 1.01.1940 gab es laut Hauptliste in Stralsund nur noch 50 Juden. Während der Rückgang der jüdischen Bevölkerung von 1933 bis 1940 im Durchschnitt um 54 Prozent zurückging, betrug der Rückgang bereits zu diesem Zeitpunkt in der Hansestadt 70 Prozent.[14] In der Nacht vom 12. zum 13. November wurden alle 40 jüdischen Bürger, die nicht mit einem arischen Partner verheiratet waren zusammen mit Stettiner Juden Richtung Osten deportiert. Der viertätige pommersche Transport in Güterwagen, der ca. 1.000 Menschen umfasste, bildete die erste große Deportation aus dem deutschen Altreich. Gründe für die frühe Verschleppung der pommerschen Juden können in der Militarisierung der pommerschen Wirtschaft, im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der Stettiner Vulcanwerft, liegen, so zumindest stellte es der Vertreter des Generalgouvernements, Seyß-Inquart dar, welcher in einer Rede angab, dass die jüdischen Wohnungen für „kriegswirtschaftliche Zwecke dringend benötigt wurden.“[15]

In einem Bericht ist dagegen zu lesen: „Für die Baltendeutschen, die in Stettin Arbeit gefunden haben, sind Wohnungen vorhanden.“[16] Ebenso galt dies für baltendeutsche Seeleute, denen der Stettiner Hafen eine Arbeitsmöglichkeit bot: „Die Familien derselben haben die freigewordenen Judenwohnungen bezogen.“[17] In seiner Rede vor den Gauleitern begründete Himmler am 29.02.1940: „In einem einzigen Gau habe ich Juden aus dem Altreich in das Generalgouvernement überführt. Das ist im Gau Pommern, und zwar deswegen, weil Pommern für die Baltendeutschen und vor allem auch für die alten Baltendeutschen keinen Platz mehr hatte. Deswegen musste ich hier räumen.“[18] Während die Juden aus dem Land abgeschoben wurden, wurden die Baltendeutschen, sogenannte Volksdeutsche, u.a. mit Versprechen auf Arbeit und Wohnraum heim ins Reich geholt.

Auch der „glühende Ehrgeiz des Gauleiters Schwede-Coburg“, laut Zeugenaussage der damaligen Stettiner Stadträtin Elsa Meyring, „der seine Provinz als erste judenrein machen wollte“,[19] könnte Anlass für die frühe Judendeportation gewesen sein. Zudem stellte der große Umfang des Deportationszuges einen Versuch dar; wie würden die Mitbürger und vor allem das Ausland reagieren? Nur eine ausländische Zeitung, die dänische Politiken, berichtete über die erste Deportation von über 1.000 Juden, auf der viele Juden angesichts der winterlichen Temperaturen in den unbeheizten Güterwagen erfroren.[20]

Nach der Massendeportation hielten sich in Stralsund noch 12 jüdische Bewohner auf. Die Verordnung über die Beschäftigung von Juden vom 3.10.1941 bildete den Auftakt der zunehmenden Schikanen gegen die letzten fünf jüdischen Männer in Stralsund. Edmund Dorn arbeitete in einer Brennerei in Richtenberg, Israel Kotljarski war für einen Schneider tätig. Die anderen drei Männer konnten keine Arbeit angesichts ihrer Krankheiten verrichten: Simon Hirsch war zu 30 Prozent erwerbsunfähig, Felix Gerson litt an Tuberkulose und Isidor Lewkowitz an Leukämie.

Etwa ein Jahr nach der Wannsee-Konferenz, auf der die Endlösung der Judenfrage beschlossen wurde, war Isidor Lewkowitz der erste, den die Repressionen direkt betrafen. Im April 1943 wurde er verhaftet, da er verbotenerweise mit seiner nichtjüdischen Nachbarin ein paar Worte über den Gartenzaun wechselte. Vor dieser Denunziation und ihrer Folgen konnte ihn zu diesem Zeitpunkt auch seine arische Ehefrau nicht mehr schützen. Isidor Lewkowitz wurde in das Arbeitslager Stettin-Pölitz deportiert, in dem er drei Monate später starb.[21]

Ihm folgten im November 1941 die anderen vier jüdischen Stralsunder. Zusammen mit ihnen wurden die Ehefrau und die Tochter Edmund Dorns mit dem Sammeltransport über Stettin und Warschau in die Gaskammern des KZ Auschwitz geschickt. Einige jüdische Stralsunderinnen, z.B. Hedwig Struck oder Frieda Zeeck, entgingen den Deportationen, dank ihrer arischen Ehemänner, mit denen sie in einer sogenannten privilegierten Mischehe lebten, einer Ehe, aus der Kinder hervorgingen und in welcher der Ehemann nach den rassistischen Gesetzen als arisch galt.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges kehrten zwei jüdische Stralsunder aus den Vernichtungslagern in ihre Heimatstadt zurück: Flora Barthel wurde nach 14 Monate im KZ Theresienstadt befreit. Ebenso überlebte Max Kotljarski die KZs Auschwitz und Dachau mithilfe seiner handwerklichen Ausbildung; dank seiner schneiderischen Fähigkeiten konnte er in einer Schneiderwerkstatt unterkommen. 1945 kehrte er nach seiner Befreiung aus dem KZ Dachau in die Hansestadt Stralsund zurück.

II. Hauptteil

Chronologie der Arisierung in Stralsund

Die Verdrängung der Juden begann unmittelbar nach der Machtübernahme Adolf Hitlers 1933 und wurde nach dem Novemberpogrom 1938 abgeschlossen.

April-Boykott 1933

Mit der Umsetzung des nationalsozialistischen Ziels, den Juden ihren Einfluss auf Deutschland zu entziehen und sie damit aus dem deutschen Wirtschaftsleben zu verdrängen, zögerte die Regierung nach ihrer Machtübernahme im 30.01.1933 nicht lange. Die erste zentral geleitete antijüdische Aktion bildete der Boykott jüdischer Geschäfte am 1.04.1933. Für diesen Tag ordnete die NSDAP-Parteileitung an, in jeder Ortsgruppe der NSDAP Aktionskomitees aus Organisationsmitgliedern zu bilden. Am 1. April, 10.00 Uhr, sollten diese Aktionskomitees gegen alle jüdischen Geschäfte, jüdische Ärzte und jüdische Rechtsanwälte vorgehen.

Gruppen von SS und SA in Postenketten stellten sich vor jüdischen Geschäften auf und versuchten Kunden durch Bedrohung daran zu hindern, diese zu betreten. In allen Zeitungen, die zum Teil schon gleichgeschaltet waren, ausgenommen die bürgerliche Presse, wurde zu dieser Aktion aufgerufen. In der Pommerschen Zeitung wurde die Bevölkerung gewarnt, den Boykott zu unterlaufen. Doch trotz der Warnungen erfüllten sich die Hoffnungen der NSDAP in der Hansestadt Stralsund kaum. Die Augenzeugin Käthe Zwiener, ehemalige Personalleiterin des jüdischen Kaufhauses Tietz, beschrieb den Boykott in dieser Form: „Alle jüdischen und nichtjüdischen Angestellten kamen am Tag des Boykotts, dem 1. April, wie an jedem anderen Werktag pünktlich zur Arbeit in unser Warenhaus Tietz. Bis kurz vor 10 Uhr verlief der Geschäftsbetrieb normal. Dann tauchten vor dem Warenhaus sehr viele Neugierige auf und um 10 Uhr rottete sich eine große Anzahl SA-Leute zusammen. Die SA stand nicht einfach herum und verteilte Flugblätter, wie es in der Zeitung zu lesen war, sondern sie bildeten eine doppelte Postenkette vor dem Eingang. Mit Gewalt versuchten die SA-Leute die Kunden am Betreten des Warenhauses zu hindern. Die Käufer, vor allen Dingen Frauen, ließen sich jedoch nicht abhalten, durchbrachen die Postenketten. Vermutlich von der Zwecklosigkeit überzeugt, wurden die SA-Leute sehr bald abgezogen, nur einige Plakatträger blieben zurück. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten Stammkunden auch an diesem Sonnabend ihre Einkäufe in den jüdischen Geschäften getätigt haben. Lediglich die Frauen bzw. Dienstboten einiger Beamter und leitender Nationalsozialisten kamen nicht. Dafür gaben einige Kundinnen telefonische Bestellungen auf und der Lieferwagen des Warenhauses brachte ihnen die Waren ins Haus.“[22]

Auch wenn viele Kunden den jüdischen Geschäften an diesem Tag die Treue hielten, rief der April-Boykott auch die ersten tragischen Schicksalsschläge von Juden hervor. So erlitt Gustav Zimmerspitz, Inhaber eines Lederwarengeschäftes, beim Anblick der SA-Posten, welche die Kunden beim Eintritt in sein Geschäft behinderten, einen Herzinfarkt.[23]

Am 5. April wurde im Bürgerschaftlichen Kollegium der Stadt Stralsund der Beschluss gefasst, „alle geschäftlichen Beziehungen zu Warenhäusern, Konsumvereinen und jüdischen Händlern sofort abzubrechen und [...] neue nicht auf[zu]nehmen.“[24] Mit dieser Verordnung legalisierte die Stadt vier Tage nach Boykott das Vorgehen der SA-Posten stadtpolitisch und stellte sich so gegen die jüdischen Unternehmer in Stralsund. Ebenso durften jüdische Bürger für ihre Geschäfte in gleichgeschalteten Zeitungen nicht mehr werben, so meldete die Stralsunder Zeitung am 9.10.1933, dass Anzeigen jüdischer Firmen nicht mehr aufgenommen werden.

Die ersten Arisierung en: Die Stralsunder Warenhäuser

Die Hansestadt Stralsund besaß drei große Warenhäuser, wovon sich zwei in jüdischem Besitz befanden: die Leonard Tietz AG und die Wertheim GmbH. Die Warenhäuser, welche als „jüdische Erfindung, als Ergebnis unersättlicher jüdischer Machtgier“ nach der NS-Ideologie galten, waren schon Inhalt des am 24.02.1920 veröffentlichten 25-Punkt-Pogramms der NSDAP.[25][26] Das Mittel zur „Schaffung und Erhaltung eines gesunden Mittelstandes“ sah die Partei in der „Kommunalisierung der Großwarenhäuser und ihrer Vermietung zu billigen Preisen an kleine Gewerbebetreibende“ sowie „schärfste Berücksichtigung aller kleinen Gewerbebetreibenden bei Lieferung an den Staat, die Länder oder Gemeinden.“[27] Nach ihrer Machtübernahme versuchten sie den Punkt 16 ihres Parteiprogramms zu realisieren.

Leonard Tietz AG

Der Geschäftsmann Leonard Tietz gründete 1879 sein erstes Warenhaus in Stralsund. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sein Unternehmen auf große Anzahl Verkaufshäuser im gesamten Rheinland und Westfalen herangewachsen. 1929 gehörten zur Firma Leonard Tietz deutschlandweit 43 Warenhäuser. Als sogenanntes Jüdisches Kaufhaus fiel die Leonard Tietz AG als eine der ersten jüdischen Gesellschaften der Enteignung und Zwangs- Arisierung durch die Nationalsozialisten zum Opfer. Bereits ein Jahr nach der Machtübernahme, im September 1934, mussten die letzten jüdischen Aufsichtsratsmitglieder der nun in Westdeutsche Kaufhaus AG umbenannten Gesellschaft ihr Mandat niederlegen.[28] Die Aktien der Familie Tietz im Wert von 24 Millionen RM wurden im Paket für acht Millionen RM angeboten. Damit fiel der Aktienkurs sofort von 100 auf zehn RM je Aktie, und die Banken kauften. Die Familie Tietz erhielt für ihr früher millionenwertes Betriebsvermögen 8.000 RM, bei ihrer Flucht aus Deutschland mussten sie diesen Erlös abgeben.[29]

Wertheim GmbH

Das 1875 in Stralsund von Abraham Wertheim (1819–1891) gegründete Unternehmen nahm nach dem 1883 erfolgten Eintritt seiner Söhne einen raschen Aufschwung. 1902 erwarben sie die Grundstücke Ossenreyerstraße 8-10, auf dem sie am 8.12.1903 ein neugebautes großes Wertheim Kaufhaus eröffneten. In Rostock wurde 1884 die erste Zweigniederlassung gegründet, und schon ein Jahr später eröffneten Wertheims ein Warenhaus in der Hauptstadt Berlin, welches zum Hauptgeschäft ausgebaut wurde. Entscheidend für den Erfolg Wertheims war sein strenges Geschäftsprinzip, dem Kunden billige, aber auch feste Preise zu garantieren. Zu dieser Zeit waren in anderen Geschäften weiterhin ausgehandelte Preise zwischen dem Kunden und Verkäufer üblich. Aufgrund der „Inflation und Wirtschaftskrise und dem damit verbundenen Kaufkraftschwund“ gerieten seit 1932 die Kaufhäuser Wertheim „in die Abhängigkeit von Banken.“[30]

Im Zuge der Arisierung übergaben 1933/34 die jüdischen Angehörigen der Familie Wertheim ihre Geschäftsanteile an Arier. Angesichts der Zeitumstände entschied sich Georg Wertheim seine Geschäftsanteile und nahezu sein gesamtes Vermögen auf seine arische Ehefrau zu übertragen. Nachdem er am 1.01.1937 aus dem Unternehmen austrat, wurde die Firma als deutsch erklärt und im Oktober 1938 in AWAG (Allgemeine Warenhandels-Gesellschaft) umbenannt. Dennoch blieb die Bezeichnung Wertheim weiter in Gebrauch.[31]

Das Jahr 1935 und die Nürnberger Gesetze

Neben den ersten eingeleitenden Arisierung en, verabschiedete der Reichsparteitag der NSDAP am 15.09.1935 die Nürnberger Gesetze, „durch die die Ausgrenzung und Entrechtung der Juden eine neue Dimension erhielt.“[32] Sie enthielten im Wesentlichen keine Bestimmungen über Juden in der deutschen Wirtschaft. Aber sie erschwerten dem Juden, in der weitgefassten Definition der Nürnberger Gesetze, die Ausübung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit.

Elf Tage nach dem Beschluss der Gesetze bekam der erste Stralsunder Jude die Auswirkungen der Bestimmungen zu spüren. Gerhard Gerson, nach den neuen Bestimmungen, als Mischling ersten Grades abgestempelt, war häufig als Schreibmaschinenvertreter außerhalb der Hansestadt tätig. In diesem Händler sah der arischen Vertreter Dittmer eine unliebsame Konkurrenz, die er mithilfe der gegebenen Möglichkeiten aufgrund seiner politischen Stellung auszuschalten versuchte. Im November 1935 besuchte Gerhard Gerson seine Kundschaft in der Kleinstadt Grimmen. In den später aufgenommenen Protokollen, die zur Klärung des Sachverhalts dienen sollten, ist von einem jüdischen Gauner die Rede. „Da wir von dem Juden nichts kaufen wollten, stieß er abfällige Bemerkungen über die nationalsozialistische Wirtschaftsleitung hervor und versuchte uns mit 1000 RM zum Schweigen zu bringen, ganz auf jüdische Manier.“[33] Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam eine andere Version des Geschehens, die der Wahrheit entsprach, an die Öffentlichkeit: Im Laden einer Volkgenossin machte Gerson, provoziert durch die Ladeninhaberin, abfällige Bemerkungen über das Staatsoberhaupt und den Regierungschef Adolf Hitler. Die Denunziantin meldete den Vorfall zwei ihr bekannten Parteimitgliedern, die daraufhin mit ihrem Wissen versuchten Gerhard Gerson zu erpressen. Gerson, entweder aus Zahlungsunfähigkeit oder dem Glauben, dass er auch als Mischling ersten Grades gewisse Rechte in Deutschland besaß, zahlte den geforderten Geldbetrag nicht. Nach dem gescheiterten Erpressungsversuch brachten die Parteigenossen die Beleidigungen gegenüber dem Führer zur Anzeige.[34] Durch seine Verhaftung wurde Gerhard Gerson schmerzlich bewusst, dass er als Mischling ersten Grades in diesem Land keine Rechte mehr besaß. Doch dass das Recht auf sein Leben auch zu einem späteren Zeitpunkt erlöschen würde, konnte er in diesem Augenblick noch nicht erahnen.[35]

Im selben Jahr erschien durch die Gauleitung der NSDAP in Pommern eine Broschüre Gegen Greuel - und Boykotthetze der Juden im Ausland. Das veröffentlichte Heft enthielt 1381 Namen von Juden aus allen Kreisen Pommerns. Offiziell diente es als Beweis dem Ausland gegenüber, dass auch nach dem Jahr 1933 jüdische Ladeninhabern unbehelligt ihren Geschäften nachkommen konnten und nicht durch angeordnete Boykottmaßnahmen zur Geschäftsaufgabe gezwungen wurden. Wörtlich klang die nationalsozialistische Stellungnahme gegen die `ausländischen Lügen´ folgendermaßen: „Noch aber gehen die Juden wie überall so auch in Pommern ihren Geschäften nach und profitieren vom Gelde, das ihnen deutsche Volksgenossen bringen. [...] Es gibt, wie überall in Deutschland, so auch bei uns nicht zerstörte jüdische Läden, keinen Boykott und kein Pogrom. Dieses Büchlein ist ein Beweis dafür. Es soll nicht nur ein solcher sein, um sie vor allen unbewussten Uebertretungen der Anordnung des Stellvertreters des Führers, die allen Parteigenossen jeglicher Verkehr mit Juden untersagt, zu bewahren.“[36]

Die letzten Worte beinhalteten einen zweiten, bedeutenderen Grund für die Entstehung des Heftes. Während in den vergangenen Jahren bisher nur der Boykott von jüdischen Geschäften durch Veröffentlichungen arischer Vertreter vorangetrieben wurde, stellte diese Broschüre erstmals eine Aufstellung aller jüdischen Geschäfte und Beschäftigten dar, damit der nationalsozialistisch gesinnte Kunde sie meiden konnte. Für den Kreis Stralsund sind 61 Namen jüdischer Bürger verzeichnet. Bei zwei Personen steht neben dem Namen und der Angabe ihres Berufes, der Begriff jüdisch versippt; es handelt sich hierbei um Arier, die mit einem jüdischen Bürger verheiratet waren. Bei einer jüdisch versippten Person war der Ehepartner zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren tot, dennoch vermuteten die Macher der Broschüre jüdischen Einfluss in diesem Geschäft.

Das Heft erzielte jedoch nicht den gewünschten Erfolg, wie ein Redakteur der Pommerschen Zeitung desselben Jahres indirekt eingestand: „So manch einer hat heute noch die Aufgabe, seine nationalsozialistische Gesinnung unter Beweis zu stellen. Hier bietet sich eine Gelegenheit! Denn an der Judenfrage scheiden sich die Geister. Hier beweist sich der ganze Nationalsozialist. Und hier liegt auch die natürliche Lösung der Judenfrage.“[37]

Das Jahr 1938

Das Jahr 1938 brachte einen ersten Höhepunkt der Entrechtung und Verfolgung der deutschen Juden. Eine große Verhaftungsaktion im Juni sollte die bis dahin zögernde jüdische Emigration beschleunigen; es wurden ca. 1.500 jüdische Bürger, die vorbestraft waren, einschließlich der zum Beispiel wegen Verkehrsdelikten Beschuldigten, verhaftet und in Konzentrationslager deportiert.[38] Es ergab sich jedoch die Schwierigkeit, dass immer weniger Aufnahmeländer bereit waren, jüdische Auswanderer ohne Vermögen einwandern zu lassen. Die deutschen Behörden verlangten als Gegenzug für eine geglückte Emigration aus Deutschland ein Großteil des restlichen Vermögens der Juden. Begründet sahen die Behörden diese Vermögenseinbehaltung, in der Verringerung der deutschen Steuereinnahmen angesichts der jüdischen Auswanderung.[39] Das praktische Mittel hierzu fanden die Behörden in der schon seit 1931 eingeführten Reichsfluchtsteuer, die ursprünglich in Zeiten der Regierung Brüning während der wirtschaftlichen Krise eine Kapitalflucht ins Ausland verhindern sollte.[40] In der Umsetzung wurde die Steuer allerdings vor allem zum Abpressen von erheblichen Geldbeträgen von ausreisewilligen jüdischen Bürgern erhoben und die steuerpflichtige Vermögensgrenze daher auch im Jahre 1934 von 200.000 RM auf 50.000 RM gesenkt, bei einem Steuersatz von 25 Prozent.[41] Zu diesem Zeitpunkt sollte die Emigration nicht mehr, wie noch 1931, verhindert werden, sondern den Nationalsozialisten einen wirtschaftlichen Nutzen bieten. Hilberg kommt in seiner Berechnung der Reichsfluchtsteuer - Einnahmen auf einen Gesamtgewinn von ca. 900 Millionen RM für das Reich.[42] Zusätzlich erhielt der Jude nicht den Erlös aus seinen Besitzveräußerungen; der Betrag wurde nach den bestehenden Devisengesetzen, auf einem Auswandersperrkonto eingezahlt. Von diesem wiederum waren Transfers in Devisen möglich, allerdings nur unter Hinnahme von horrenden Kursverlusten. Bis 1935 wurden den jüdischen Bürger noch 50 Prozent des offiziellen Reichsmarkkurses in Devisen ausgezahlt. Danach sank die Quote auf 30 Prozent ab, bis sie schließlich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nur noch vier Prozent betrug.[43] Genaue Zahlen über die Beträge, die so an die Reichsbank flossen, sind bis heute noch nicht ermittelt. Angesichts dieser drastischen Abgabenpolitik zögerten bis zur Pogromnacht 1938 viele deutsche Juden auszuwandern und damit einen großen Teil ihres Vermögens aufs Spiel zu setzen. Zudem ließ ihr Glaube an den Kulturstaat Deutschland sie optimistisch in die Zukunft sehen: Schlimmer kann es nicht werden ! Kaum einer der jüdischen Bürger besaß zu diesem Zeitpunkt den Weitblick zu erkennen, dass, sollte die Auswanderung später überhaupt noch glücken, von dem Vermögen so gut wie nichts mehr gerettet werden konnte. Das Jahr 1938 war ein Wendepunkt der antisemitischen Politik; hatte sich die Regierung bisher noch an bestimmte Grenzen gehalten, wurde ihre Vorgehensweise nun offen und brutal.

[...]


[1] VermG 2001. S. 22f.

[2] Ebd. S. 23.

[3] Vgl. Genschel 1966. S. 124.

[4] U.a.: Knopp, Guido: Holocaust. München 2000. Bartusevicius, Vincas (Hrsg.): Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kolloboration im Jahr 1941. Köln 2003. Ginzel, Guenther Bernd: Jüdischer Alltag in Deutschland 19933-1945. Düsseldorf 1993.

[5] Siehe Händler-Lachmann, B.; Werther, Thomas: Vergessene Geschäfte verlorene Geschichte. Jüdisches Wirtschaftsleben in Marburg und seine Vernichtung im Nationalsozialismus. Marburg 1992.

[6] U.a.: Struck, Gitte; Waschk, Thomas (u.a.): Die Keibel-Cohns. Zur Geschichte der Juden in Stralsund. Stralsund 1998. Schiel, Eberhard: Braune Schatten überm Sund. Stralsund 1999.

[7] Jacob 1988. S. 106.

[8] Schröder 1989. S. 31.

[9] Struck 1998. S. 31.

[10] Ebd.

[11] Walk 1996. S. 139. Nr. 46.

[12] Unter ihnen Felix Gerson, der sich aus existentiellen Gründen 1934 evangelisch taufen ließ. In: Privat- archiv Eberhard Schiel.

[13] Eschwege 1991. S. 1174.

[14] Genz 1998. S. 90.

[15] Pätzold 1987. S. 259.

[16] Aly 1998. S. 97.

[17] Ebd.

[18] Smith 1974. S. 139.

[19] Wilhelmus 1996. S. 91.

[20] Privatarchiv Eberhard Schiel.

[21] ARoV NVP 001685/93.

[22] Privatarchiv Eberhard Schiel.

[23] LARoV M.-V. 12/92/083A/021.

[24] STAS Rep. 12, Nr. 29: Abbruch der Beziehungen zu jüdischen Warenhäusern.

[25] Da die Warenhäuser reichsweit verbreitet waren und die Arisierungen nicht beispielhaft für die Stadt Stralsund stehen, soll an dieser Stelle nur kurz auf ihre Arisierung eingegangen werden.

[26] Mönninghoff 2001. S. 70.

[27] Ebd.

[28] LARoV M.-V.12/92/114AW/021.

[29] Mönninghoff 2001. S. 72ff.

[30] Ebd. S. 74. Vgl. auch: ARoV NVP 001948/93.

[31] Ladwig-Winters 1997. S. 109.

[32] Ferk 1993. S. 285

[33] Pommersche Zeitung vom 22.11.1935. S. 6.

[34] Einer der Denunzianten, der Schreibmaschinenhändler und Gestapo-Spitzel Dittmer wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in einem Prozess zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Siehe: Landeszei- tung vom 17.02.1948. S. 4.

[35] Gerhard Gerson befand sich im Februar 1940 unter den Stralsunder Juden, die nach Belzyce bei Lublin deportiert wurden; er starb an Hunger, Kälte und Entkräftung.

[36] Staatsarchiv Stettin, Reg. Stettin, Nr. 12114, 1. Aufl., Stettin Oktober 1935, in: LARoV M.-V. 12/92/085A/021.

[37] Pommersche Zeitung vom 28.03.1935. S. 5.

[38] Rürup 1987. S. 110. Vgl. Walk 1996. S. 227. Nr. 478.

[39] Siehe Walk 1996. S. 42. Nr. 199. Vgl. Leonard Tietz: Die ersten Arisierungen: Die Stralsunder Warenhäuser. S. 14.

[40] Barkai 1988. S. 111.

[41] Walk 1996. S. 81. Nr. 392.

[42] Hilberg 1994. S. 142. Genschel hält diese Summe anhand der Auswanderungsstatistiken zu hoch und beruft sich auf anderen Quellen (Hitler`s ten years war on the Jews. S. 18, nach Frkf. Ttg.) in denen die Reichsfluchtsteuer bis 1937 ca. 70 Mill. Dollar betrug. (Genschel 1966. S. 259)

[43] Barkai 1988. S.112. Ein anderes Mittel, Gelder ins Ausland zu transferieren, war die sogenannten Haavara-Transfer. Dieses Abkommen war aufgrund der seit dem 4.08.1931 bestehenden Devisengesetzen nötig geworden, nach denen ein Transfer in andere Währungen nur beschränkt gestattet war, um angesichts der wirtschaftli- chen Krise eine Kapitalflucht zu verhindern. 1936 wurde der Geldumtausch gänzlich verboten. Das Abkommen zwischen der palästinensischen Zitrus-Pflanzungsgesellschaft Hanotea Ltd. und der deut- schen Regierung sah vor, dass Ausreisewillige Gelder auf ein Sperrkonto der Hanotea überwiesen. Die Hanotea verpflichtete sich, den Einzahlern als Gegenwert ein Haus oder Zitruspflanzung zur Verfü- gung zu stellen. Von dem auf das Sperrkonto eingezahlten Gelder erwarb die Hanotea in Deutschland Waren für ihren eigenen Bedarf (nach Wetzel 1993. S. 464ff.). Die Verluste bei diesem Transfer, ver- bunden mit der Ausreise nach Palästina, waren in den Jahren vor Beginn des Zweiten Weltkrieges geringer als bei dem anderen, beschriebenen Verfahren. (vgl. Barkai 1988. S. 112).

Ende der Leseprobe aus 75 Seiten

Details

Titel
Die Arisierung jüdischen Besitzes in Stralsund
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Geschichte)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
75
Katalognummer
V27809
ISBN (eBook)
9783638297554
Dateigröße
791 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Arisierung, Besitzes, Stralsund
Arbeit zitieren
Katrin Möller (Autor:in), 2003, Die Arisierung jüdischen Besitzes in Stralsund, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27809

Kommentare

  • Gast am 20.2.2005

    arisierung in d.

    gibt es ein verzechnis, in dem alle jüdischen geschäfte stehen, die im rahmen der arisierung im dritten reich übergeben wurden???
    danke
    BZ

Blick ins Buch
Titel: Die Arisierung jüdischen Besitzes in Stralsund



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