Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definition und Charakteristika „Klinischer Sozialarbeit“
3. Wissenschaftstheoretische Modelle und Konzepte der Klinischen Sozialarbeit
3.1 Das bio-psycho-soziale Modell
3.2 Das Modell der Salutogenese
3.3 Das Konzept der Sozialen Unterstützung
3.4 Das Konzept des Person-in-Environment – Person-in-Situation
4. Psycho-soziale Behandlung als spezifisches Instrument klinisch-sozialarbeiterischen Handelns
4.1 Psycho-soziale Diagnostik
4.1.1 Exkurs USA: Das Person-In-Environment System (PIE)
4.1.2 Bio-psycho-soziale Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe
4.2 Psycho-soziale Beratung
4.3 Klinisches Case Management
4.4 Soziale Therapie
5. Bedarf an Klinischer Sozialarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe
6. Spannungsfeld zwischen Klinischer Sozialarbeit und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
7. Fazit: Bedeutung Klinischer Sozialarbeit für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Quellenverzeichnis
1. Einleitung
In der heutigen Zeit wird der Rolle der Gesundheit eine immer größere Bedeutung beigemessen. Gesundheit ist das wohl wichtigste menschliche Gut und sie bildet die Grundlage für ein langes und glückliches Leben.
Psychische Befindlichkeiten erhalten eine zunehmende Bedeutung und Anerkennung. Mittlerweile kann das komplexe menschliche Leben von einer Vielzahl psycho-sozialer Problemlagen und belastender Lebensereignisse geprägt sein, welche das System der Familie vollends umspannen, dauerhaft belasten und überfordern können.
Der heutige Mensch sieht sich mit steigenden Sorgen, Nöten und Unsicherheiten konfrontiert, die es zu bewältigen gilt. Beispielsweise prekäre Jobsituationen, chronischer Stress, Armut und Arbeitslosigkeit oder familiäre Probleme wie chronische Disharmonie, häusliche Gewalt, Scheidungen, Krankheiten und Todesfälle, um nur einige aufzuzählen.
Vor solchen oft unvorhersehbaren sozialen Veränderungen und Ereignissen, mit zum Teil traumatischem Gehalt, sind Kinder und Jugendliche, eingebettet in ihre familiären Strukturen, nicht immer gefeit. Besonders Kinder nehmen Nuancen familiärer Veränderung sensibel wahr und reagieren auf Belastungen gehäuft emotional mit Verhaltensauffälligkeiten und anderen psychischen Störungsbildern.
In einer Pressemitteilung des Berufsverbandes der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychiatrie und Psychosomatik e.V., vom September 2012, wurde die eklatante Unterversorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen thematisiert. Kritisiert werden die derzeitige Versorgungsdichte, als auch zum Teil längere Wartezeiten auf eine Behandlung, im Kontext steigender psychischer Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen. Erste Einschätzungen benennen einen Versorgungsgrad von 1:80.000 Einwohnern je Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, welcher jedoch nur in Regionen mit „überdurchschnittlich vielen“ Fachkräften erzielt wird.[1]
In der Kurzfassung der Ergebnisbroschüre zur ersten Basiserhebung (2003 – 2006) der KiGGS-Studie (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland) des Robert Koch-Instituts, die im Dezemberheft 2006 in der Zeitschrift „Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz“ veröffentlicht wurde, ist Folgendes über die psychische Gesundheit (Modulstudie „BELLA“) in Deutschland lebender Kinder und Jugendlicher zu entnehmen. Für die BELLA-Studie wurden 2863 Familien mit Kindern im Alter von 7 – 17 Jahren mittels eines standardisierten computerassistierten Telefoninterview (CATI) und einer direkt im Anschluss folgenden postalischen schriftlichen Befragung befragt. Mit dem Ergebnis, dass bei 22 % der untersuchten Kinder und Jugendlichen Hinweise auf eine psychische Auffälligkeit vorliegen und 10 % der Kinder und Jugendlichen, im engeren Sinn betrachtet, als psychisch auffällig beurteilt werden müssen. Die drei häufigsten psychischen Auffälligkeiten sind Störungen des Sozialverhaltens (10 %), Ängste (7,6 %) und Depressionen (5,4 %). Ein konfliktgeladenes ungünstiges Familienklima und ein niedriger sozioökonomischer Status erhöhen die Wahrscheinlichkeit psychischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Die BELLA-Studie schlussfolgert daraus, dass die vorhandenen personalen, familiären und sozialen Ressourcen von Kindern und Jugendlichen einbezogen und gestärkt werden müssen. Die Mobilisierung dieser Ressourcen bilden das wesentliche Ziel von Prävention und Intervention.[2]
Vor dem Hintergrund dieses steigenden Bedarfs im deutschen Gesundheitssystem und unter Berücksichtigung der sozialen Risikofaktoren, bietet sich eine unterstützende Sozialarbeit mit klinischen Kompetenzen an, um für dauerhafte Entlastung zu sorgen bzw. eine bessere Versorgung psychisch auffälliger Kinder und Jugendlicher zu erzielen. Um die Bedeutung Klinischer Sozialarbeit für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie zu erfassen, gilt es zu ergründen, wie die Klinische Sozialarbeit in ihrem Grundverständnis arbeitet. Dazu werden im dritten Punkt wissenschaftstheoretische Modelle und Konzepte der Klinischen Sozialarbeit dargeboten. Anschließend werden die verschiedenen Grundelemente der psycho-sozialen Behandlung als spezifische Instrumente klinisch-sozialarbeiterischen Handelns vorgestellt. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt dabei im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe. Der fünfte Punkt beschäftigt sich mit dem Bedarf klinisch ausgebildeter Sozialarbeiter in der Kinder- und Jugendhilfe. Im sechsten Punkt wird der Blick auf das Spannungsfeld zwischen Sozialarbeit und Psychotherapie gerichtet. Abschließend wird im Fazit versucht die Bedeutung der Klinischen Sozialarbeit für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie abzuleiten.
2. Definition und Charakteristika „Klinischer Sozialarbeit“
Terminologisch betrachtet, bedeutet die Bezeichnung „klinisch“ keineswegs, dass sich Klinische Sozialarbeit ausschließlich auf stationäre Krankenhaus-Settings oder auf Soziale Arbeit im Gesundheitswesen bzw. Kliniken bezieht. Der Wortzusatz „klinisch“ richtet sich vielmehr auf den beratend-behandelnden Charakter dieser gesundheitsdienlichen Fachsozialarbeit, unabhängig ob diese Tätigkeit in Praxen, ambulanten Beratungsstellen, Tageseinrichtungen oder stationär in Kliniken und Langzeiteinrichtungen erfolgt.[3]
Wolf Rainer Wendt, Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA), definiert die Begrifflichkeit der „Klinischen Sozialarbeit“ im „Fachlexikon der Sozialen Arbeit“ folgendermaßen: „ Klinische Sozialarbeit bezeichnet behandelnde oder in Behandlungskontexten erfolgende professionelle soziale Arbeit mit und für Menschen bei Krankheit, Behinderung oder psychosozialen Krisen. “[4]
Demzufolge ist das generelle Ziel der Klinischen Sozialarbeit, nach der Zentralstelle für Klinische Sozialarbeit (ZKS), „[…] die Einbeziehung der sozialen und psycho-sozialen Aspekte in die Beratung, (sozio-)therapeutische Behandlung und psycho-pädagogische Unterstützung von gesundheitlich gefährdeten, erkrankten und (vorübergehend oder dauerhaft) behinderten Menschen.“ [5]
Nach Geißler-Piltz kann die Klinische Sozialarbeit im Rahmen von Versorgungsnetzwerken in interdisziplinärer Kooperation bereits zu Beginn einer primär somatischen und dann psychologisch organisierten Behandlungskette bedeutsam mitwirken:
- in der Kinder- und Jugendhilfe mit ihren zunehmenden Aufgaben an Schnittstellen zur Kinder- und Jugendpsychiatrie wie auch zu den Schulen (u.a. intensive Einzelfallhilfe, Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft, Kinder- und Jugendlichentherapie, Schulsozialarbeit)
- in der psycho-sozialen Beratung und Therapie verschiedenster ambulanter Beratungseinrichtungen (insbesondere Erziehungsberatung, Familienberatung, Partner-, Familien- und Lebensberatung, Schwangerschaftskonfliktberatung, Sexualberatung)
- in Kern- und Vorfeldern der Psychiatrie
- in ambulanter und stationärer Suchtbehandlung
- in Fach- und Akutkrankenhäusern
- in Einrichtungen des Maßregelvollzuges und der Resozialisierung
- in der gerontologischen Arbeit, in der Geriatrie und Gerontopsychiatrie.[6]
Klinische Sozialarbeiter müssen sich in ihrem enorm umfassenden Tätigkeitsfeld theoretisch und praktisch mit einer Vielzahl an komplexen Problemkonstellationen, wie etwa mit psychischen Erkrankungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, mit Folgen sexueller Gewalt, mit Folgen von Migration, mit Suizidversuchen, mit chronischen physischen und psychischen Leiden, mit Alkoholismus und Drogenmissbrauch, mit posttraumatischen Belastungsstörungen und psychiatrischen Erkrankungen und gerontopsychiatrischen Aufgabenstellungen auseinandersetzen.[7] Sie betreuen, beraten, begleiten und behandeln in den unterschiedlichsten ambulanten, teilstationären und stationären Einrichtungen. Dazu zählen Wohnheime, berufliche Rehabilitations- und Fortbildungszentren, Beratungsstellen, sozialpsychiatrische Dienste, Jugendämter, Gesundheitsämter, der Allgemeine Soziale Dienst, Justizvollzugsanstalten, Tageskliniken und Krankenhäuser.[8]
Grundsätzlich ist die Klinische Sozialarbeit niedrigschwellig angelegt, da sie ebenso an Orten praktiziert, wo Menschen leben und Hilfe benötigen. Mit dieser aufsuchenden Hilfe erreicht sie auch diejenigen Menschen, die von sich aus nicht allein das Sozial- und Krankheitsversorgungssystem aufsuchen würden. Fortfahrend ist die Klinische Sozialarbeit lösungs- und ressourcenorientiert ausgerichtet. Sie rückt persönliche und soziale Ressourcen in den Vordergrund, um Selbsthilfe- und Selbstheilungspotenziale der Menschen zu mobilisieren und zu fördern. Dazu arbeitet sie familienorientiert. Sie berücksichtigt die sozial wirksamen Aspekte der Gesundheit und Krankheit in Familien und familienähnlichen sozialen Netzwerken. In Bezug auf chronifizierte gesundheitliche Problemlagen, umfasst die Klinische Sozialarbeit neben Akutbehandlungen (z.B. Kriseninterventionen) insbesondere auch länger angelegte Hilfen in Form von Langzeitbehandlungen, -beratungen, -betreuungen und -begleitungen. Klinische Sozialarbeit sieht sich als Partnerin aller gesundheitsorientierten Disziplinen und schließt folglich die Kooperation mit anderen Berufsgruppen im Sinne einer integrierten Gesundheitsversorgung ein.[9] Methodisches Kernelement der Klinischen Sozialarbeit ist dabei die psycho-soziale Beratung, verstanden als eine reflektierte Intervention, in Form von Beziehungsarbeit.[10]
Um den Anforderungen eines Klinischen Sozialarbeiters gerecht zu werden, werden folgende Fähigkeiten und Fertigkeiten konkretisiert:
1. Fähigkeit zum Aufbau einer personalen Arbeitsbeziehung zu Klienten und Patienten in schwierigen Lebenslagen.
2. Fähigkeit zur Etablierung angemessener Rahmenbedingungen für diese Arbeit.
3. Fähigkeit zur Abklärung (Assessment, Diagnose) und differenzierten psycho-sozialen Indikations- und Prognosestellung, einschließlich Abgrenzung und Einleitung notwendiger Maßnahmen anderer Fachdisziplinen (wie Psychiatrie, Psychologie, Pädagogik, Medizin, Recht, Pflege) – also Kooperation im multiprofessionellen Team.
4. Fähigkeit zur Auswahl und Anwendung (ggfs. auch Vermittlung) geeigneter Beratungs- und Therapieverfahren im Setting psycho-sozialer Anwendungen.
5. Fähigkeit zur Einbeziehung des sozialen Umfeldes mittels direkter und indirekter Interventionen, zum Aufbau eines Netzes sozialer Unterstützung und zur Integration des klinisch-sozialarbeiterischen Beitrages in das vorhandene professionelle Behandlungsnetz, – verbunden mit der Fähigkeit zur fachgerechten interdisziplinären bzw. multiprofessionellen Kommunikation.
6. Fähigkeit zur Nutzung des Systems sozialer Sicherung im Gesundheitsbereich mit entsprechenden rechtlichen, ökonomischen und sozialpolitischen Kenntnissen und Netzwerkkompetenzen sowie wirtschaftlichem (d.h. ressourcenschonendem) Vorgehen.
7. Fähigkeit zur Anwendung eines kompetenten Unterstützungs- bzw. Case Managements, gesundheitsdienlichen Sozialmanagements und klienten- bzw. patientenbezogener sozialer Anwaltschaft.
8. Fähigkeit zur empirischen Forschung im Hinblick auf Grundlagen, Methodik und Wirksamkeit klinisch-sozialarbeiterischer Interventionen.
9. Fähigkeit zu prozessbegleitender Evaluation.
10. Insgesamt: Die Fähigkeit zur Beratung, Unterstützung und Behandlung von Menschen in krisenhaften Situationen im Sinne einer geplanten, zielgerichteten, theoriegeleiteten und methodenbewussten psychosozialen Arbeit. [11]
3. Wissenschaftstheoretische Modelle und Konzepte der Klinischen Sozialarbeit
3.1 Das bio-psycho-soziale Modell
Die Klinische Sozialarbeit betrachtet den Menschen als bio-psycho-soziale Gesamtheit, wobei sich die biologischen, psychischen und sozialen Faktoren wechselseitig beeinflussen. Sie ist somit auf Ganzheitlichkeit ausgerichtet. Daraus ergibt sich bei der Erklärung zur Entstehung von Krankheiten eine neue Betrachtungsweise, die als Krankheitsursache neben den rein physischen auch soziale und psychische Komponenten in Betracht zieht und als gleichrangig wahrnimmt.[12]
„Anfälligkeit für Krise, Störung und Krankheit ist aus bio-psycho-sozialer Perspektive das Ergebnis einer Störung des Zusammenspiels von sozialem Zusammenleben (und sozialen Regeln) mit dem individuellen (psychologischen) Erleben und Verhalten und der leiblichen (biologischen) Existenz.“ [13]
Jede menschliche Befindlichkeit (mit ihren Gehirnzuständen) ist eine Funktion sozialer Erfahrung, in deren Einfassung sich die Person bildet.[14] Klinische Sozialarbeit platziert die bio-physiologischen und neuro-psychologischen Zusammenhänge des Menschen in ein soziales Bezugssystem. Die gesundheitswissenschaftliche Forschung belegt, dass die besten Schutzfaktoren vor physischer und psychischer Erkrankung die psycho-soziale Integration und soziale Unterstützung ist. Die Wiedergewinnung der Gesundheit bedeutet immer eine Integration bzw. Reintegration in die soziale Umgebung und das Erlangen bzw. Wiedererlangen psychischen und sozialen Wohlbefindens.[15]
Aus dem bio-psycho-sozialen Modell lässt sich ableiten, dass soziale Bedingungen Erkrankungen verursachen und ihren Verlauf verschlechtern oder verbessern können, da sie Einfluss nehmen auf Körper und Psyche eines Menschen. Demzufolge tragen positiv empfundene soziale Bedingungen maßgeblich zur Gesunderhaltung von Psyche und Körper bei und beschleunigen den Heilungsprozess.[16]
3.2 Das Modell der Salutogenese
Neben der Gleichwertigkeit biologischer, psychischer und sozialer Komponenten des Menschen, bildet die Salutogenese von Aaron Antonovsky ein weiteres wichtiges Grundlagenmodell für die Klinische Sozialarbeit im Sinne des Empowerment.
Antonovsky missfällt die einseitig fixierte pathogene Sichtweise und die starre bio-medizinischen Annahme, dass Krankheit die Abweichung von der Norm und somit die Abwesenheit von Gesundheit sei.[17] Deswegen beschreibt Antonovskys Salutogenese-Modell Gesundheit und Krankheit als keine absoluten Zustände, sondern als ein Gesundheits-Krankheits-Kontinuum. Folglich ist ein Mensch nie hundertprozentig als gesund oder krank zu charakterisieren, vielmehr ist er dem Gesundheitspol bzw. dem Krankheitspol mal mehr und mal weniger zugewandt. Aus dieser erweiterten Sichtweise heraus betrachtet, liegt das Hauptaugenmerk auf den gesundheitsfördernden und -erhaltenden Ressourcen eines Menschen, wagt einen Blick über die Bekämpfung der Erkrankung hinaus auf den Menschen und berücksichtigt deren Lebensgeschichte und Lebensverhältnisse.[18]
Das Modell geht davon aus, dass Menschen ständig mit belastenden Lebenssituationen konfrontiert werden und somit belastende Reize (Stressoren) den allgemeinen Widerstandsressourcen gegenüberstehen. Diese allgemeinen Widerstandsressourcen beziehen sich auf soziokulturelle, interpersonale, psychische, physische, persönliche und materielle Ressourcen. Ob ein Mensch seine vorhandenen Ressourcen in ihrer vollen Wirksamkeit mobilisieren und entfalten kann, hängt vom Kohärenzgefühl ab, eine Art Vertrauen in die eigene Person, mit der inhaltlichen Auffassung, dass[19]
- die Anforderungen es wert sind, sich dafür anzustrengen und zu engagieren (Sinnebene);
- die Ressourcen verfügbar sind, die man dazu braucht, um den gestellten Anforderungen gerecht zu werden (Bewältigungsebene); und
- die Ereignisse der inneren und äußeren Umwelt strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind (Verstehensebene). [20]
Der Kohärenzsinn ist schlussfolgernd ein verinnerlichtes positives Bild eines Menschen in Bezug auf seine eigene Handlungsfähigkeit, getragen von dem Gefühl der Bewältigbarkeit und Gestaltbarkeit seiner Lebensbedingungen im sozialen Gefüge.[21]
3.3 Das Konzept der Sozialen Unterstützung
Das Konzept der Sozialen Unterstützung richtet seinen Blick auf Faktoren, welche sich in sozialen Netzwerken positiv auswirken. Netzwerkarbeit spielt hierbei eine entscheidende Rolle im Aufbau neuer oder im Auffrischen alter, sich förderlich auswirkender Vernetzungen und ressourcenreicher sozialer Beziehungen. Das Erleben sozialen Rückhalts steigert einerseits das Wohlbefinden (Haupteffekt) und dient andererseits als Puffereffekt zwischen Stress und Belastungssituation. Unter soziale Unterstützung fallen zentrale psycho-soziale Bedürfnisse wie Zuneigung, Anerkennung, Identität, Zugehörigkeit und Sicherheit sowie informativ-beratende, praktisch-instrumentelle und interpretativ-deutende Unterstützung. Gelingt der Einbezug sozialer Unterstützung in den Hilfeprozess, können professionelle Strukturen vorsichtig abgebaut und durch informelle Netzwerke ersetzt werden.[22]
Eltern bilden die Hauptressource eines jeden Kindes. Ihnen unterliegt die Verantwortung, ein familiäres Klima zu schaffen, in welchem das Kind einen liebevollen, geschützten, entwicklungs- und gesundheitsfördernden Rahmen erfährt. Besonders Kinder und Jugendliche sind auf soziale Unterstützung aus der Familie, als primäre Erziehungsinstanz, angewiesen. In schwierigen familiären Konstellationen oder in Multiproblemfamilien sind soziale Unterstützungsleistungen für Kinder und Jugendliche, ob in emotionaler oder materieller Hinsicht und aufgrund der Fülle an Problemlagen, oft nicht in ausreichendem Maße gegeben. Deshalb wird fortfahrend der Fokus primär auf Bedürfnisse gerichtet, die explizit Heranwachsende für eine produktive Lebensbewältigung benötigen.
Die Entwicklung von Urvertrauen ist für jedes Kind von fundamentaler Bedeutung. Dabei entscheidet die Art und Weise der frühkindlichen emotional-affektiven Erlebnisse darüber, ob es zur Ausprägung des Urvertrauens bei einem Menschen kommt.[23] Das entwickelte Vertrauen eines Kindes zu seinen Eltern ist für seine seelische Stabilität unabdingbar. Die Beziehung zu den Eltern prägt das generelle Sicherheitsgefühl von Kindheit an bis ins Erwachsenenleben hinein. Wird dieses Sicherheitsgefühl nicht genügend aufgebaut, bestimmt Angst das Leben in den unterschiedlichsten Formen und Facetten.[24] Kindliche Bindungserfahrungen sind bei der Entwicklung von Fremd- und Selbstregulation, bei der Affekt- und Impulskontrolle und bei der Steuerung von Aufmerksamkeit und Verhalten maßgeblich beteiligt und beeinflussen das spätere erwachsene Bindungsmuster.
Nach der physiologischen Bedürfnistheorie von Maslow besteht neben dem oben beschriebenen Bedürfnis nach Sicherheit, Geborgenheit und Angstfreiheit (1), das Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung (2). Dabei handelt es sich um Selbstachtungs- und Selbstwertbedürfnisse. Das dritte Bedürfnis und eigentlicher Kern von Maslows Theorie, ist das Bedürfnis nach Selbststeuerung, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung (3). Diese drei Grundbedürfnisse sind hierarchisch geordnet und bauen aufeinander auf, sodass die höhere Ebene nur wirksam werden kann, wenn die jeweils niedere befriedigt ist. Maslow beschreibt zusätzlich zwei Motivationstypen, die Mangel-Motivation und die Wachstums-Motivation. Die physiologischen Bedürfnisse nach Sicherheit, Liebe und Selbstwert sind als Mangelmotive anzusehen, da ihre Nichtbefriedigung schmerzt und bei zu langer Deprivation zu physischen und psychischen Erkrankungen führen kann. Im Gegenzug kann elterliche Überbehütung zu kindlicher Unlust führen. Das Bedürfnis der Selbstverwirklichung unterliegt der Wachstums-Motivation und führt ausschließlich zu vermehrten psychischen Wohlbefinden. Ein Mangel an Selbstverwirklichung führt somit maximal zu einem unausgefüllten Leben, aber nicht zu Krankheit.[25]
Deci/Ryan gruppieren menschliche Bedürfnisse anders und ohne zeitliche Abfolge. Sie nennen drei angeborene psychische Bedürfnisse. Darunter das Bedürfnis nach Kompetenzerfahrung (1), nach Autonomieerfahrung (2) und nach sozialer Eingebundenheit (3). Kinder und Jugendliche wollen eigene Aufgaben bewältigen und sich als handlungsfähig erleben. Wiederholte Erfahrungen von Selbstwirksamkeit sind Voraussetzung für das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten (1). Des Weiteren wollen Kinder und Jugendliche eigeninitiativ handeln, Wahlmöglichkeiten in der Bestimmung ihrer Ziele und Vorgehensweisen haben und altersgerechte Verantwortung tragen. Bereits sehr kleine Kinder kämpfen um das „Selbermachen“ (2). Das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit mündet in dem Bestreben nach befriedigenden Sozialkontakten. Kinder und Jugendliche möchten von ihren Bezugspersonen, von Freunden, Gleichaltrigen und Autoritäten anerkannt und geschätzt werden (3).[26]
Die Aufgabe professioneller Sozialer Dienste liegt deshalb vor allem auch darin, den Zugang zu nicht ausreichend befriedigten Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen bzw. zu fehlenden Ressourcen zu verbessern.
3.4 Das Konzept des Person-in-Environment – Person-in-Situation
Das Konzept des „Person-in-Environment“ zielt auf einen doppelten Fokus, eine bifokale Betrachtung von individuellen Verhalten und sozialen Verhältnissen. Der gleichzeitige Blick sowohl auf psychische (personenbezogene) als auch auf soziale (umfeldbezogene) Probleme, ergibt die psycho-soziale Perspektive. Sie betrachtet zum Erhalt und zur Verbesserung von Gesundheit den Klienten in und mit seiner gesamten Lebenswelt, um Verhaltensmuster nachvollziehen und Lösungsansätze finden zu können. Demgegenüber richten sich Interventionen zusätzlich auch auf die Änderung persönlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse, um Voraussetzungen für eine effektive nachhaltige Verhaltensänderung zu schaffen und somit ebenfalls die Gesundheit und das Wohlbefinden des Klienten zu steigern. Das Konzept des „Person-in-Environment“ erlaubt eine systematische Diagnostik und Zuordnung psycho-sozialer Probleme, woraus sich anschließend gezielte sozialarbeiterische Interventionen ableiten lassen. Die Analyse und Bewertung der Situation des Klienten, seiner Ressourcen und Problemlagen, dienen als Grundlage für die gesamte Hilfeplanung.[27]
Hier besteht ein wesentlicher Unterschied in der Arbeitsweise der Klinischen Sozialarbeit gegenüber zur vorrangig individuumszentriert arbeitenden Psychotherapie. Klinische Sozialarbeit ist darauf bedacht, psycho-soziale Probleme direkt in den jeweilig vorherrschenden familiären Strukturen und umliegenden Systemen zu bearbeiten, zu lösen und unterstützend und stabilisierend zu wirken. Somit macht sie sich ein klares Bild von der Lebensrealität der Menschen und legt den Fokus, im Vergleich zur Psychotherapie, verstärkt auf die Sozialsystemorientierung, denn Bezugsperson und Lebensraum sind zwei fundamental wichtige Bestandteile im Leben problembelasteter, psychisch erkrankter oder traumatisierter Kinder und Jugendliche.
„Sozialarbeit (unterscheidet sich) methodisch von klassischer Psychotherapie gerade dadurch, dass sie versucht, psycho-soziale Probleme nicht nur zu individualisieren; vielmehr wird in der sozialarbeiterischen Interaktion seit jeher – stärker als in der Psychotherapie – der soziale Kontext markiert, um Probleme aus ihrem sozialen Bedingungsgefüge heraus zu verstehen und sie in ihrem sozial-ökologischen Zusammenhang zu beeinflussen.“ [28]
Gerade bei extrem schwerwiegenden psychischen Störungsbildern verfolgt eine Kombination aus individuumszentriert arbeitender Psychotherapie und alltagsorientierter bzw. lebenspraktisch arbeitender und unterstützender Sozialarbeit einen ganzheitlicheren Ansatz. Dazu braucht es ein kooperatives Verständnis zwischen (Klinischer) Sozialarbeit und Psychotherapie.
„Nachhaltige Veränderung verlangt […] reale Erfahrungen, was mehr beinhaltet als bloße kommunikative Problembewältigung. Befinden sich Klienten in einem positiven emotionalen und motivalen „Annährungszustand“ müssen positive Erfahrungen initiiert werden. Insofern geht es auch darum, den Klienten gemäß seinen psychischen und sozialen Möglichkeiten Dinge selbst in die Hand nehmen zu lassen und lediglich die Rolle des Unterstützers ernst zu nehmen um Selbsthilfekompetenzen und nicht Hilflosigkeit weiter zu fördern.“ [29]
[...]
[1] Vgl. www.dgkjp.de, abgerufen am 21.04.2014.
[2] Vgl. Ravens-Sieberer, U. et al. (2006): „Modul Psychische Gesundheit (Bella-Studie)“, Zeitschrift „Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz“, S. 1057f. Und online im Internet: URL: http://edoc.rki.de/oa/articles/reM448dvGvyWk/PDF/29X0drea2iA.pdf, abgerufen am 21.04.2014.
[3] Vgl. Pauls, H. (2011), S. 16.
[4] Wendt, W. R. (2007), S. 564.
[5] www.klinische-sozialarbeit.de, abgerufen am 25.04.2014.
[6] Geißler-Piltz, B. (2005), S. 12f.
[7] Vgl. ebd., S. 13.
[8] Vgl. Pauls, H. (2011), S. 18.
[9] Vgl. Schaub, H.-A. (2008), S. 22f.
[10] Vgl. Geißler-Piltz, B. (2005), S. 21.
[11] www.dgsainfo.de, abgerufen am 02.06.2014.
[12] Vgl. Wahren, J. (2008), S. 180f.
[13] Pauls, H. (2011), S. 32.
[14] Vgl. ebd., S. 39.
[15] Vgl. ebd., S. 32.
[16] Vgl. Wahren, J. (2008), S. 181.
[17] Vgl. Pauls, H. (2011), S. 102.
[18] Vgl. Wahren, J. (2008), S. 179f.
[19] Vgl. Keupp, H. (2009), S. 97.
[20] Ebd., S. 97f.
[21] Vgl. Keupp, H. (2009), S. 98.
[22] Vgl. Wahren, J. (2008), S. 180.
[23] Vgl. Hobmair, H. et al. (1997), S. 296.
[24] Vgl. Röhr, H.-P- (2006), S. 29
[25] Vgl. Harnach, V. (2007), S. 53f.
[26] Vgl. Harnach, V. (2007), S. 54f.
[27] Vgl. Wahren, J. (2008), S. 179.
[28] Pauls, H. (2011), S. 125.
[29] Ebd., S. 55.