Leseprobe
Reformpädagogik Allgemein (zwischen 1890 bis 1930)
http://www.wipaed.wiso.uni-goettingen.de/~ppreiss/didaktik/reform96a.html
http://www.paed.unizh.ch/ap/downloads/oelkers/Vortraege/086_GoettingenProblemloesen.pdf
Begriff der Reformpädagogik
(Reform = Umgestaltung, Verbesserung, Neuordnung)
Eine Definition im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Dieser diffuse Begriffe ist ein Syndrom von Hoffnungen und Ansprüchen, Erfahrungen und Konzepten. Man muss sich unter "Reformpädagogik" eine historische Epoche (1890 – 1933) vorstellen, die kein historisches Faktum ist, sondern ein Konstrukt (nicht beobachtbarer Sachverhalt gedanklicher, bzw. theoretischer Natur).
„Die Kreation der Reformpädagogik“ (Tenorth) ist vor allem auf H. Nohl und seine Schüler zurückzuführen, die „aus der Vielfalt von Reformpädagogik die Einheit eines pädagogischen Programms destillieren.“ Sehr viele heterogene Entwicklungen, Ereignisse und Tatbestände werden zu einem pädagogischen Universum verdichtet; unter einen Hut gepackt.
Eine Schwäche des Epochenbegriffs liegt darin, dass man zu seiner Beschreibung das historische Geschehen vereinheitlichen muss und deshalb die Differenzen zugunsten fragwürdiger Typisierungen aufgeben muss. Diese Einheitsbehauptung zwingt zur Bestimmung von Kriterien der Gemeinsamkeit, die sich eigentlich in den vielfältigen Ansätzen nur schwer finden lassen. Eine bestimmte Theoriebewegung setzte ein und zog eine neuartige Praxis nach sich.
Historiographischer Mythos mit vier Charakteristika:
- herausgehobene charismatische Gründungsfiguren,
- den Geist des Neuen,
- einen mit beiden verbundene innovative Praxis,
- pädagogische Bewegungen im Namen der Gründungsfiguren
Die meisten Gründungen sind heute vergessen, was überlebt hat, ist nachträglich durch eine interessierte Geschichtsschreibung hoch gewertet und zu einer herausragenden Epoche stilisiert worden.
BENNER, in OELKERS: Politische Reformpädagogik
Wiederkehrende Wechsel und Übergänge von normalpädagogischen Konzepten in reformpädagogische und umgekehrt.
Normalfall: pädagogische Reformen folgen einer vom Staat ausgehenden, mithin politischen Reform des Bildungssystems nach (Modernisierung)
Sondersituation: pädagogische Reformen folgen nicht einfach staatlichen Reformen nach, sondern folgen älteren normalpädagogischen Phasen (wo sie nicht einen Rückfall in ältere, antiquierte Modelle und Konzepte pädagogischen Handelns darstellen) und gehen künftigen voraus.
Ziel ist es ältere Normalpädagogik auf dem Wege der Reform in eine neue Normalpädagogik zu transformieren. Jede Reformpädagogik strebt ihrerseits danach, die Reformkonzepte, die sie vertritt, zu realisieren und zur Normalpädagogik zu werden, um dann evtl. eine staatliche Reform nach sich zu ziehen.
Politische und gesellschaftliche Entwicklung
- 1871-1918 Deutsches Kaiserreich:
- 1871 - 1890: Zeit des Reichskanzlers Bismarck (Gründer des Deutschen Reiches);
+ Bismarck steht hinter Wilhelm I. (König von Preußen und Deutscher Kaiser von 1871 bis 1888, verheiratet mit Kaiserin Augusta) ó gegen das Parlament
+ Wilhelm I. stirbt 1888; sein Sohn Friedrich III. wird Nachfolger für 99 Tage bis auch er stirbt
+ Wilhelm II., der Enkel Wilhelms I. wird Nachfolger bis 1918
- 1890 - 1918: wilhelminische Epoche und Erster Weltkrieg
- 1918: Novemberrevolution: Monarchie ➔ pluralistische und parlamentarisch-demokratische Republik
- 1918 - 1933: Weimarer Republik
Reichsgründung von 1871 beschleunigte den Modernisierungsprozess. Das 19. Jahrhunderts stand im Zeichen der Industrialisierung (von Petersen am negativsten eingeschätzt) , kapitalistischen Wirtschaft und der Ausdehnung von Verwaltungen. Die technischen Neuerungen machten eine neuartige und höhere Qualifikation der menschlichen Arbeitskraft notwendig.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war in Deutschland die allgemeine Schulpflicht Realität.
Der Besuch eines Gymnasiums war den Kindern der obersten gesellschaftlichen Elite vorbehalten. Das Bürgertum schickt seine Kinder zur Realschule. Für die unteren sozialen Klassen stand die Elementarschule (seit 1920 vierjährige Grundschule) offen, in der kaum mehr als der Katechismus gelernt wurde und die Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen.
Kennzeichen aller Schulformen war eine reine Wissensvermittlung, also ein Auswendiglernen ohne eigenständiges Denken (Buchschule).
Gesellschaftliche Bewegungen brachten das Recht und den Anspruch auf Selbstbestimmung und Mitbestimmung sowie auf Bildung und Arbeit gegenüber dem totalitären wilhelminischen Staat ins Spiel. Die Ideen der Französischen Revolution (1789 – 1799: Monarchie ➔ Republik) fanden zunehmend ihre Konkretisierung: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Nach dem 1. Weltkrieg gab es die ersten Lebensgemeinschaftsschulen in den Großstädten.
Die Weimarer Republik ermöglicht erstmals eine Verbreitung von demokratischem Gedankengut (Gründung von demokratischen Parteien und Vereinen) und der Entwicklung einer starken Frauen-, Jugend- und Arbeiterbewegung (Gewerkschaften). Andererseits waren die Interessen der Industriellen und der Anhänger der Kaiserzeit weiterhin stark verbreitet. Die traditionellen gesellschaftlichen Wertvorstellungen hatten sich durch die Umwälzung auf technischem Gebiet noch nicht geändert.
- Bereits Rousseau sprach von der Phase der Kindheit (1762), aber es kam zu keinem gesamtgesellschaftlichen Umdenken
- Für die entstehende Industriegesellschaft (Anfang des 19. Jh. In Dtl.): andere Sicht auf das Kind, passender für die Anforderungen an die Zukunft
- Ab 1890: dramatische Richtungsänderung der Gedankenentwicklung
- 1900: „Jahrhundert des Kindes“ von Ellen Kay
- „Pädagogik vom Kinde aus“ (M. Montessori)
- Reformpädagogik der 20er Jahre: Klassik der heutigen Pädagogik, Bausteine für weiter zu entwickelnde Modelle
1890 – 1918: Entstehung einzelner Reformideen und –schulen
ab 1918: Konsolidierung (Verstärkung) der neuen Schulgründungen und ihre bildungstheoretische Grundlegung in pädagogischen Gesamtprogrammen ab 1925: kritische Selbstreflexion auf Tragweite und Grenzen der vorgetragenen Entwürfe und Programme (nach Böhm: Wörterbuch der Pädagogik)
Umwandlung des Politiksystems in eine parlamentarische Demokratie bildete den Endpunkt der Entwicklung
Grundmotive / Merkmale der Reformpädagogischen Bewegung
1. Antikapitalistische Kritik (gegen egoistisches Profitstreben, die Ausbeutung der Arbeitskraft, moralische Verfallserscheinungen), bürgerliche Reformpädagogen grenzen sich zwar scharf vom Marxismus ab, aber sie vertreten eine nicht-marxistischen Sozialismus nationaler Tönung. Petersen will den Gegensatz von Kapital und Arbeit in der Volksgemeinschaft aufheben.
2. Jugendbewegung, Kulturkritik und die kritische Auseinandersetzung mit der überkommenen bürgerlichen Bildung und Erziehung standen am Anfang der Reformpädagogik und begleiteten sie (sozial- und gesellschaftskritische Bewegung). In Deutschland wurden zusammen mit ausländischen Einflüssen die antirationale Bildungskritik Nietzsches und der Protest der Jugendbewegung von neuen Wertsetzungen aus besonders wirksam. Bei der "alten Schule" wurden vor allem die herbartianischen Formalstufen, ihre intellektualistische Verengung und Vernachlässigung facheigener Strukturen, ihr autoritärer Lern- und Unterrichtsstil und die Kluft zwischen Schule und Leben Ansatzpunkte der pädagogischen Kritik.
3. Den pädagogischen Kern bildet eine neue vermeintliche Pädagogik vom Kinde aus (naive Utopie), die im Gegensatz stand zu den bis dahin die Erziehung bestimmenden Forderungen und Maßstäben der Erwachsenen als Träger ihrer gesellschaftlichen Ordnung.
Menschliche, kindgerechte und demokratische Alternative zu den hierarchisch gegliederten Schulen (früher waren Gesellschaft, Bildungsinhalte und die Erwachsenen bestimmend, nun sollte das Kind bestimmend sein)
➔ Geringachtung des Kindes hin zur Achtung des Kindes als Individuum
Mischung von kindzentrierten pädagogischen Ideen und schülerorientierter pädagogischer Praxis
4. Die Reformpädagogik verstand Erziehung vorwiegend als ein Sichanschließen an die natürliche Selbstentwicklung des Heranwachsenden in seiner Umwelt. Die spontanen geistigen Äußerungen, die aufbrechenden Interessen des Heranwachsenden nahm sie zu Ansatzpunkten ihrer bildenden Bemühungen. Wenn sie dabei das "Wachsenlassen" der geistigen Kräfte besonders betonte, lag die Sorge zu Grunde, dass Zwang, feste Führung und Autorität der freien natürlichen Entwicklung Schaden zufügen könnte.
5. Diesen Prinzipien der Freiheit entsprachen a) für das Kleinkindalter und darüber hinaus: die positive Einschätzung des Spiels als eines wichtigen, natürlichen, freien Selbstbildungsmittel und b) für das Schulalter: die didaktische Neuentdeckung der musischen Bereiche.
6. Die Erkenntnis der im Kind angelegten Kreativität, Spontaneität und Aktivität und seines Dranges nach Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit begründete die sogenannte Arbeitsschule. Lernen mit Kopf, Herz und Hand, Anschauung ist das Fundament aller Erkenntnis (Pestalozzi 1746 – 1827)
7. Der Ansatzpunkt der Reformpädagogik beim einzelnen Kind, aus dem sich die weitreichende Forderung nach Individualisierung ergab, wurde durch das pädagogische Gemeinschaftsprinzip ergänzt. Dies meint:
a) dass Erziehung sich immer in der Gesellschaft vollzieht
b) dass sie sich durch die Gemeinschaft vollzieht, indem deren Glieder sich gegenseitig erziehen
c) dass Gemeinschaft ein Hauptziel der Erziehung darstellt.
8. Von sozialen und politischen Intentionen war die Einheitsschulbewegung motiviert, die bestimmte Spaltungen im Schulwesen abschaffen wollte: die schulische Trennung nach Geschlechtern sollte durch eine Schule der Koedukation aufgehoben werden. Allein Begabung und schulische Tüchtigkeit sollten für das Weiterkommen des einzelnen maßgebend sein.
9. In der Reformpädagogik ist die Person des Erziehers und Lehrers in allen Erziehungs- und Bildungsbereichen den methodischen und organisatorischen Fragen gegenüber übergeordnet. Ihrem dialogischen Erziehungsverständis entsprach das Erzieher-Zögling-Verhältnis als die eigentliche erzieherische Wirkungskraft. Im Gespräch sah sie die Grundform aller Erziehung.
Folgen: Die Reformpädagogik war durch ihre Entwürfe und ständige Reflexion ein Werk der Praxis, das von einer kraftvollen, auch die Öffentlichkeit alarmierende Bewegung getragen wurde. Zugleich hat sie wesentlich zur Herausbildung einer neuen erziehungswissenschaftlichen Theorie auf den Universitäten beigetragen. Sie begründete die Pädagogik als eigene Universitätsdisziplin. Bleibende Bedeutung der reformpädagogische Bewegung: Ausdifferenzierung der pädagogischen Praxis in pädagogische Berufe (Professionalisierung)
Die Reformpädagogik brachte grundsätzlich gültige pädagogische Einsichten und zahlreiche Ansätze für weiter zu entwickelnde pädagogische Reformen hervor. Für die Pädagogik unserer Zeit sind allerdings andere Gesichtspunkte in den Vordergrund getreten, z.B. ihre gesellschaftliche Funktion, und dass heute eine stärkere Berücksichtigung der Rationalität im Bildungsprozess notwendig erscheint.
Neue schulische Formen
- Gesamtunterricht, freies/offenes Gespräch, Schülermitverwaltung (B. Otto)
- Gruppenunterricht (Ferrière)
- Arbeitsschule, staatsbürgerliche Erziehung (G. Kerschensteiner, Gaudig)
- Waldorfschule (R. Steiner)
- AGs
- Werken
- Gymnastik
Zwei Hauptgruppierungen
1. bürgerlich-konservative Reformer und
2. aufgeklärt-demokratische Reformer (gewisse Nähe zu sozialistischen Ideen)
zu 1. (besonders Petersen)
Dem industriellen Aufstieg folgt ein kultureller Verfall
- Bedrohung der Volksgemeinschaft
- Pluralismus als Auflösung der nationalen Kultur- und Bildungseinheit
- moralisch-sittliche Verfallserscheinungen, Unsittlichkeit (Petersen schätzt, dass schon mehr als die Hälfte der Bürger zu dem „Eingeweide-Typ“ gehören)
- Auflösung des ständischen Systems (wies jedem Stand organisch seinen Platz und seine Aufgabe im Ganzen zu, harmonisierte Interessenkonflikte)
Primäre Ursache: Ausbreitung des Intellektualismus und der Vernunftideologie ➔ Schuldzuweisung an die Aufklärung
Die konservative Reformpädagogik betrieb eine Modernisierung der Erziehung im Dienste der Anti-Moderne gegen einseitigen Unterricht und Wissensweitergabe
Zu 2.
- „moderne“ Reformer
- positive Wertung von Rationalität und Aufklärung
- positive Wertung der Modernisierung der Lebenspraxis
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