Artus und Gawein zur Sicherung der Artusidee in Heinrichs "Diu Crône"


Hausarbeit, 2014

32 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

II Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. ÄDiu Crône“ - der Äetwas andere“ Artusroman
2.1 Dichter und Entstehungszeit
2.2 ÄDiu Crône“ im Vergleich zum Äklassischen“ Artusroman

3. K|nig Artus und seine Funktion in ÄDiu Crône“
3.1 Stoffliche Herkunft der Artus-Thematik
3.2 Artus zu Beginn der ÄKrone“
3.3 Artus als aktiver Held?
3.4 Artus als ruhender Herrscher

4. Der Musterritter Gawein
4.1 Auswirkungen des krisenlosen Helden
4.2 Gawein als Wiederhersteller der Ordnung am Artushof
4.3 Gawein als Gralserlöser
4.4 Gawein im Schutz der Saelde

5. Funktion und Bedeutung von Artus und Gawein am Exempel der Hirschjagdszene
5.1 Die Hirschjagdszene im ÄErec“ zum Vergleich
5.2 Die Hirschjagdszene in ÄDiu Crône“

6. Zusammenfassende Worte

7. Literaturverzeichnis
7.1 Quellen
7.2 Forschungsliteratur

II Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erwies sich die Forschungsliteratur der deutschen, mittelalterlichen Artusepik als ÄZwei-Klassen-Gesellschaft“ (Roßnagel 1996: 8). Während die ÄKlassiker“ von Hart- mann von Aue oder Wolfram von Eschenbach von Beginn an großes Interesse und Begeisterung weckten, schenkte man den Änachklassischen“ Artusromanen wenig Beachtung bzw. deklarierte sie als ÄNachahmungsversuche untalentierter Imitatoren“ (Roßnagel 1996: 5). Seit den 1970er Jahren bemüh- te sich eine neue Generation von Literaturwissenschaftlern um eine von den Äklassischen“ Artusromanen losgel|ste, objektivere Beurteilung und Auseinandersetzung der Änachklassischen“ Artusromane von Autoren wie Wirnt von Grafenberg, Der Stricker, der Pleier und Heinrich von dem Türlin, der ich mich mit dieser Arbeit anschließen möchte. Gerade die zwiespältigen Reaktionen, die ÄDiu Crône“ des Heinrich von dem Türlin aufgrund ihrer Andersartigkeit hervorruft, macht sie zum interessanten Forschungsgegenstand und fordert dazu auf, sie mit unterschiedlichen literatur- und kul- turwissenschaftlichen Fragestellungen zu untersuchen. Das Werk Heinrichs von dem Türlin eröffnet innerhalb des Genres des Artusromans neue Dimensionen und Möglichkeiten der Deutungen durch ihre einzigartige Umsetzung der Artus-Thematik. In bewusster Anlehnung an die ÄKlassiker“, aber auch bewusster Losl|sung von etablierten Formen und Normen spaltet Heinrichs ÄKrone“ die Mei- nungen. Untersuchungen am Artusroman ÄDiu Crône“ führten sowohl in der früheren als auch moder- nen literaturwissenschaftlichen Forschung zu einem breit gefächerten Spektrum von Interpretationen. Während z.B. Dick die ÄKrone“ als ersten fantastischen Roman, als Beginn der Fantasy-Dichtung, hervorhebt und Wolf über eine Äfestliche Bestätigung des Rittertums“ (Vollmann 2008: 1) spricht, sieht Jillings in ihm eine Satire, einen Anti-Parzival, Anti-Gralsroman und Anti-Lancelot, also einen Roman mit Anti-Struktur. Durch die Komplexität der ÄKrone“ wirkt sie teilweise chaotisch, struktur- los und episodenhaft durch die Reihung von âventiure an âventiure. Ulrich Wyss sagte über Heinrichs Werk: ÄUns nachträglichen Lesern fällt es schwer, dieses Buch anders als ein Experiment aufzufassen, von dem wir nicht wissen, ob wir in seiner Extravaganz froh werden sollen.“ (Wyss 1993: 271) Ob- wohl ÄDiu Crône“ nur kurze Zeit nach den ÄKlassikern“ der Gattung der Artusromane entstand, ist sie dennoch anders organisiert und konfrontiert den Rezipienten mit seiner von zeitgenössischen Prätex- ten gefestigten Erwartungshaltung, die dann in vielerlei Hinsicht gebrochen wird. Der Roman er- scheint als eine Bild-in-Bild-Konstruktion, in der sich der Leser bzw. Hörer selbst Sinn und Ordnung stiften muss. ÄAngesichts [der] fehlenden Übereinstimmung der Forschung bezüglich der qualitativen Beurteilung der ‚Crône‘ ergibt sich also auch heute noch für den einzelnen Leser die Notwendigkeit - oder besser gesagt: die Möglichkeit -, sich sein eigenes Urteil über das Werk zu bilden.“ (Wennerhold 2005: 233) Diese Äinterpretatorisch nur schwer zu fassende Offenheit des Textes [kann] als Chance begriffen werden“ (Gutwald 2000: 18), die ich mit dem Verfassen dieser Arbeit gern nutzen möchte.

Zu Beginn sollen einige Eigenheiten bzw. Besonderheiten der ÄKrone“ gegenüber Äklassischen“ Artusromanen aufgezeigt werden, auf dessen Grundlage dann die zwei Haupthelden Artus und Gawein näher beleuchtet werden sollen. Dabei wird die These untersucht, dass sowohl der ruhende Herrscher Artus als auch der fahrende Aventiureritter Gawein als Institutionen mit unterschiedlichen Funktionen existenziell sind für den ewigen Fortbestand der Artusidee, was exemplarisch an der Hirschjagdszene im Vergleich zu Hartmanns von Aue ÄErec“ aufgezeigt werden soll.

2. ÄDiu Crône“ - der Äetwas andere“ Artusroman

2.1 Dichter und Entstehungszeit

Über den Dichter der ÄKrone“, den mittelhochdeutschen Epiker des 13. Jahrhunderts Heinrich von dem Türlin, sind nahezu keine gesicherten Daten bekannt. ÄDiu Crône“ gilt als einziges, ihm sicher zuweisbares Werk, in dem er sich selbst dreimal nennt sowie ein Akrostichon im Prolog integriert: HEINRICH VON DEM TVRLIN HAT MICH GETIHTET (Cr. V 182-216).1 Die Datierung der ÄKrone“ erstreckt sich über einen Entstehungszeitraum von ca. 30 Jahren. Der terminus post quem um 1210 ergibt sich aus dem Nachruf, den Heinrich Hartmann von Aue nach dessen Tod in ÄDiu Crône“ wid- met. Der terminus ante quem resultiert aus der Nennung der ÄKrone“ in Rudolfs von Ems Alexanderroman, dessen Entstehungszeit zwischen 1230 bis 1240 eingeordnet wird.

Die Überlieferungssituation erweist sich als problematisch, denn das Werk ist neben sechs Fragmenten in nur einer vollständigen Handschrift in allemannisch-fränkischem Schreibdialekt aus dem Jahr 1479 überliefert, also gut 200 Jahre nach seiner Entstehungszeit, was die literaturwissenschaftliche Forschung vor zusätzliche Herausforderungen stellt.

2.2 ÄDiu Crône“ im Vergleich zum Äklassischen“ Artusroman

Um die Andersartigkeit der ÄKrone“ herausstellen zu k|nnen, muss vorher kurz auf den Äklassischen“ Artusroman eingegangen werden. Obwohl ÄDiu Crône“ als Einzelkunstwerk zu betrachten ist, Ämüs- sen Dynamik und Prozessualität eines literarischen Diskurses [dennoch] angemessen berücksichtigt werden“ (Ringeler 2000: 3). Der französische Epiker Chrétien de Troyes gilt als Begründer der Gat- tung der Artusromane mit seinem um 1170 entstandenen Werk ÄErec et Enide“. In diesem er|ffnet er ein neues stoffliches, von Traditionen unbelastetes Themengebiet, das um den mustergültigen König Artus und seine Ritter der Tafelrunde kreist. Dabei werden zentrale, stark miteinander verknüpfte

Themen wie minne und âventiure des Hofs als neuen kulturellen Träger und literarisches Zentrum angesprochen. Sie haben den Anspruch, Äeine im wesentlichen vorbildhafte oder gar ideale höfische Welt abzubilden“ (Gutwald 2000: 15). Vor allem innerhalb der Werke des Franzosen Chrétien und des deutschen Autors Hartmann von Aue konnte die Struktur eines doppelten Cursus, der sich aus zwei Handlungszyklen zusammensetzt und durch Szenen am Artushof gerahmt wird, festgestellt werden und wurde programmatisch für die Gattung der Artusromane. Die einzelnen âventiuren sind logisch aufeinander bezogen, eingebunden in der Doppelwegstruktur. So erlangt der prototypische Protagonist aus Hartmanns ÄErec“ im ersten Handlungszyklus großes Ansehen und êre, indem er mehrere Aben- teuer besteht und schließlich Enite zur Frau und Herrschaft über das Reich Karnant gewinnt. Dort begeht der Held einen Fehler, vernachlässigt zu Gunsten der minne seine gesellschaftlichen Verpflich- tungen als Herrscher und verlac (E. V 2971)2 sich. In einem zweiten Handlungszyklus muss Erec diese Krise überwinden und seine Artuswürdigkeit in zahlreichen âventiuren wiedererlangen, die sich mit jeder bestandenen Bewährungsprobe steigert. Schlussendlich wird seine êre am Artushof vor der Ta- felrunde durch König Artus, der das Ideal eines vollkommenen, höfischen Ritters repräsentiert, erneut bestätigt. Die Aventiurefahrt wird zum Mittel der Selbsterfahrung, Wertefindung und Erziehungsmaß- nahme für den jungen Ritter, der dadurch Gelegenheit hat, seine Kräfte zu erproben, die Welt kennen zu lernen und seine zukünftige Frau zu erobern. Diese Erfahrungen lassen ihn schließlich mit einem erweiterten Bewusstsein an den Artushof zurückkehren, an dem er nun als artuswürdiges Mitglied der Hofgesellschaft akzeptiert wird. ÄDer Held bestreitet den aktiven Part und richtet sich dabei nach den in der Artusgesellschaft geltenden Normen. Indem er immer wieder [zum Artushof] zurückkehrt, zeigt er sich abhängig von der |ffentlichen Bestätigung dort.“ (Cormeau/ St|rmer 2007: 176). Der Artushof bleibt mit seinem gattungstypischen Personal, wie z.B. Gawein, Kay, Erec und Ginover, stets präsent. Am Ende des Äklassischen“ Artusromans gehen die Protagonisten dem Artushof jedoch verloren, in- dem sie sich nach ihrem Entwicklungsweg mit erfolgreich bewältigter äußerer und inner Krise auf Frau und Landesherrschaft konzentrieren. Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle sagen, dass der König Artus als passiver Herrscher und Bezugspunkt fungiert, während ein Ritter der Tafelrunde zum Held des Äklassischen“ Artusromans wird und âventiuren auf seinem Entwicklungsweg besteht. Dabei kehrt er immer wieder an den Artushof zurück, nach dessen gesellschaftlichen Werten und anerkann- ten höfischen Tugenden er sein ritterliches Handeln ausrichtet.

Hinter dieser durchdachten Konstruktion des doppelten Cursus mit zwei Handlungszyklen verbirgt sich ein wirkmächtiges Denkmuster, durch das Inhalt und Struktur virtuosenhaft miteinander ver- knüpft werden. Kann nun dieses Schema des sinnstiftenden Verhältnisses von Inhalt und Struktur auch auf ÄDiu Crône“ übertragen werden, die sich trotz ihrer ÄEigenwilligkeit“ zur Gattung der Artusromane zählt? Neben einigen literaturwissenschaftlichen Versuchen der Gliederung (vgl. Gutwald 2000: 24-26 und Roßnagel 1996: 120f) der ÄKrone“ konnte Singer 1895 einen zweiteiligen Aufbau mit rahmenden Szenen am Artushof der ÄKrone“ feststellen (Vollmann 2008: 12), dessen Zweiteiligkeitsthese auch von der neueren Forschung größtenteils übernommen wird. Der erste Hand- lungsstrang setzt sich aus der Gasozein-Handlung und Armurfina-Handlung zusammen, nach deren Abschluss der zweite Handlungszyklus mit der Saelde-Handlung und Gralshandlung neu einsetzt und am Ende der ÄKrone“ mit einem großen Fest am Artushof endet. Beide Romanteile enthalten jeweils eine Tugendprobe, in denen die Ritter der Tafelrunde und ihre Damen auf ihre Tugendhaftigkeit hin geprüft werden. Nach Jillings besteht eine gewisse ÄParallelität im Aufbau beider Romanteile“ (Voll- mann 2008: 16), was der typischen Struktur eines Artusromans entspräche, jedoch kritisch hinterfragt werden sollte. Teilweise entsteht der Eindruck des zwanghaften Versuchs der mediävistischen, litera- turwissenschaftlichen Forschung, ÄDiu Crône“ in die Äklassische Schablone pressen“ (Roßnagel 1996: 129) zu wollen, wobei die Gefahr besteht, den Blick für die Eigenheit des literarischen Werks zu ver- lieren. In der ÄKrone“ ist nicht immer ein logischer Zusammenhang der âventiuren ersichtlich, wes- halb abgeleitet werden kann, dass jeder einzelnen von ihnen eine größere Bedeutung zuzuschreiben ist, was allerdings den Gesamtüberblick erschwert. Der verwirrende Eindruck durch die kaum zu überblickende Fülle an Abenteuern, der sich durch den gesamten Leseprozess der ÄKrone“ zieht, l|st sich auch bis zum Schluss nicht auf. Der ÄKrone“ wird sogar unterstellt, Äes handle sich dabei letztlich um nichts anderes als um ein komplikatorisches Mammutkonstrukt, das zwar in Einzelheiten durchaus gelungen sei, das jedoch über die Freude am breit ausgemalten Detail jedes Maß vermissen lasse; die durchdachte Symbolstruktur der ‚Klassiker‘ sei hier aufgegeben zugunsten einer gedankenlosen Rei- hung unzähliger Episoden“ (Gutwald 2000: 24). Die Kritik an Heinrichs wohl mangelnder Struktur im Aufbau der ÄKrone“ ergibt sich demnach vor allem aus dem Vergleich zu anderen Äklassischen“ Artusromanen, wie die von Chrétien oder Hartmann von Aue, könnte im Gegenteil aber auch als eine große Innovation angesehen werden, die dem Rezipienten viel größeren, interpretatorischen Freiraum lässt bzw. ihn deshalb zum reflektierenden Nachdenken und zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Werk anregt.

Heinrichs Werk gehört, wie bereits erwähnt, zu den so genannten Änachklassischen“ Artusromanen, die nach dem ÄParzival“ von Wolfram von Eschenbach im 13. Jahrhundert im deutschen Sprachraum entstanden sind und sich in Bezug auf ihre Vorgänger auch in folgendem Aspekt unterscheiden: So ist nach Haug der Änachklassische“ Artusroman durch einen krisenlosen Helden gekennzeichnet, dessen âventiuren gerade nicht als ÄQualifikationsbeweise“ (Mertens 2007: 189) dienen, und er bezeichnet dies als ÄEntproblematisierung des Chrétienschen Erzählmodells“ (Vollmann 2008: 23). Während der Protagonist in den ÄKlassikern“ zu Beginn als Äpotentielles Exempel für innere und äußere Vorbild- lichkeit“ (Roßnagel 1996: 21) eingeführt wird und diesen Anspruch durch seinen Entwicklungsweg am Ende festigt und beweist, wird dem Hauptheld Gawein in ÄDiu Crône“ dieser Status von Anfang an fest zugeschrieben und immer wieder bestätigt. Somit stellt allein die Wahl des Protagonisten Ga- wein, der aus den früheren Artusromanen noch nicht als ÄTitelheld“ bekannt ist, eine Neuerung ge- genüber den ÄKlassikern“ dar, dessen fehlende Entwicklung durch die zu bestehenden Abenteuer Konsequenzen für die ÄKrone“ in Aufbau und Wirkung hat. So verläuft beispielsweise die Zeit nicht immer im natürlichen Sinne chronologisch, was sich z.B. am plötzlichen Wechsel von Jahreszeiten zeigt. Die Figuren der ÄKrone“ sind dem linearen Verlauf der Zeit nicht unterworfen. Verschiedene Szenen erhalten ihre eigenen räumlichen und zeitlichen Gesetze, was erneut bestätigt, dass sie ihre Bedeutung nicht im Gesamtzusammenhang, sondern innerhalb einzelner âventiuren bekommen. Die Möglichkeit des Austauschs bzw. auch Weglassens oder Herauslösens einzelner Abenteuer könnte einen Hinweis auf die semi-orale Vortragssituation geben, bei der die Texte zwar schriftlich festgehal- ten sind, jedoch mündlich vorgetragen werden. Das Mittelalter gilt als eine Oralitätskultur, in dem der Prozess der Verschriftlichung erst zunehmend einsetzte und die volkssprachliche Literatur in wechsel- seitiger Weise beeinflusste. Die Texte sind sowohl auf einen mündlichen Vortrag vor höfischem Pub- likum hin angelegt, was man z.B. an den Publikumsansprachen in einer intendierten Aufführungssitua- tion erkennen kann, als auch durch mündlich überlieferte Sagen und Geschichten geprägt, die sie zu fixieren versuchen. ÄDiu Crône“ k|nnte demnach auch als Ansammlung verschiedener Geschichten verstanden werden, die zwar - wenn auch mit einiger Anstrengung verbunden - in einen kohärenten Gesamtzusammenhang gebracht werden können, aber nicht nur darauf abzielen, sondern auch den einzelnen âventiuren ihren speziellen Wert lässt. Somit könnten diese auch isoliert vom Werk erzählt werden.

Eine weitere Besonderheit des Änachklassischen“ Artusromans stellt die Fülle an Prätexten dar, auf die zurückgegriffen wird. ÄUnter dem Terminus ‚literarische Anspielung‘ versteht man eine vom Verfas- ser intendierte Bezugnahme auf Personen, Sachen, Situationen oder Begebenheiten eines anderen lite- rarischen Textes, die dem eigenen Text eine funktionelle Aussagekraft gewinnt.“ (Roßnagel 1996: 155) Der ÄUmgang mit intertextuellen Verweisformen [wird] gewissermaßen zum konstitutiven Bau- prinzip“ (Gutwald 2000: 21). Während die Äklassischen“ Autoren des deutschen Sprachraums eher nach einem französischen Vorbild dichten, kann in den späteren Artusromanen eine Autonomisierung des Stoffes festgestellt werden. Heinrich ergreift die in diesem Ausmaß bisher ungenutzte Möglichkeit und beruft sich nicht nur auf Prätexte, Ä[…], die er auf virtuose Art und Weise miteinander kombi- niert“ (Vollmann 2008: 8), sondern erweitert diese, deutet sie um, reflektiert sie kritisch und spielt auch in ironischer Art und Weise auf sie im emanzipierten Umgang mit seinen Quellen an. Seine dich- terische Leistung besteht also sowohl im Auffinden und Filtern von Stoffen, Vorlagen und Geschich- ten, als auch in deren Anordnung und Anreicherung. ÄDiu Crône“ erweist sich als Ävielseitig vernetz- tes motivliches Spiel in der Benutzung von und der Referenz auf nahezu das gesamte arthurische Er- zählen vorher“ (Mertens 2007: 204). Er erwartet von Seiten der Rezipienten deren Kenntnisse als Vo- raussetzung des Umgangs mit seinem Werk und spielt so mit der Tradition für ein informiertes Publi- kum. ÄDie literarische Anspielung fordert das Publikum direkt auf, am Text zu partizipieren; es tritt aus seiner traditionellen Rolle des reinen Rezipienten heraus, indem es angeregt wird, intertextuale Sinnbezüge zu [re-]konstruieren und das Werk, auf das verwiesen wird, in einen bestimmten Bezug zu setzen zum aktuellen“ (Roßnagel: 1996: 155). So lassen sich unter anderem Bezüge zu Chrétiens ÄErec“, ÄYvain“, ÄLancelot“ und ÄParceval“ sowie zu ihren deutschen Entsprechungen von Hartmann und Wolfram, ebenso zu Wirnts von Grafenberg ÄWigalois“ und kleineren franz|sischen Erzählungen finden, auf die in einzelnen Handlungssträngen auch gleichzeitig zurück gegriffen wird. Diese literari- schen Verweise auf Prätexte bedeuten jedoch keine ÄUnterordnung unter die früheren Texte, so wie es die ältere Geschichtsschreibung angenommen hat“ (Ringeler 2000: 6), sondern werden zum konstitu- tiven Merkmal des Änachklassischen“ Artusromans und müssen als stilistisches Mittel berücksichtigt werden. Von Heinrichs umfangreichem Werk, das in seiner Komplexität sowie Art und Weise der Eingliederung intertextueller Bezüge innerhalb der Gattung der Artusromane einzigartig bleibt, lassen sich auch einige Fakten über ihn als Autor ableiten. Heinrich von dem Türlin wird demnach eine um- fangreiche Sprachbildung zugeschrieben, die von Mittelhochdeutsch über Latein und Französisch bis hin zu Italienisch reicht. Ihm waren sowohl die lateinische Literatur wie beispielsweise Ovid als auch biblische Texte sowie die zeitgen|ssischen deutschen und franz|sischen Werke bekannt. ÄDiu Crône“ zeigt sich als ÄLiteraturquiz“, in dem sich die literarische Tradition gebündelt zu haben scheint, was den Umgang aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten der Deutungen mit ihr erschwert, worauf der Leser jedoch bereits im Prolog hingewiesen wird. In diesem Punkt herrscht innerhalb der Forschung im Großen und Ganzen Einigkeit: der Prolog gilt als gelungen, gut aufgebaut und aussagekräftig. Konventionell angelegt, beginnt dieser mit einer Lebensweisheit. Der Autor stellt sich selbst vor und führt im Anschluss König Artus in seinen Roman ein. Heinrich spricht in einer metaphorischen Hinleitung zum Werk von der Reichskrone, mit der er ÄDiu Crône“ vergleicht und somit den Leser bzw. H|rer auf die Beschaffenheit des Romans hin Äwarnt“. Auch die Reichskrone bestünde nicht nur aus Smaragden und dem edelsten Stein der Weisen, sondern auch aus anderen, nicht so wertvollen Materialien, wie Kupfer, Blei, Silber, Kristall und Messing, die jedoch erst in ihrer Gesamtheit ihre Kraft entfalten und die Krone zusammenhalten können. Trotz der Ungleichheit und dem Nebeneinan- der von Wertvollem und eher Wertlosem ergibt das Gleichnis der Krone ein großes Ganzes. Die unter- schiedlichen Steine der Krone könnten als zeitgenössische Artusromane gedeutet werden, die Hein- rich, wie bereits erwähnt, reflektierend, modifiziert, umgedeutet und teilweise kritisierend und ironi- sierend in sein Werk einfließen lässt, das sich letztendlich über die anderen als Krone der Gattung der Artusromane erhebt. ÄHeinrich stellt sein Werk zu den vorangegangenen Vertretern der Gattung, aber nicht als Perle oder Edelstein einer Kette, sondern als die selbstgeschmiedete Krone, in der alle ande- ren Pretiosen ihren Platz finden […].“(Achnitz 2012: 227). Eine andere M|glichkeit der Auslegung stellt der Vergleich mit den Artusrittern selbst dar. Wie sich in der ÄKrone“ herausstellen wird, zeigen die idealisierten Ritter der Tafelrunde und selbst König Artus Schwächen auf, die gemeinsam jedoch das Bestehen des Artushofs sichern können.

Zwei Rollen innerhalb des Artus-Stoffgebiets erweisen sich als besonders bedeutungstragend, die auch beide in der ÄKrone“ eine übergeordnete Stellung erhalten. Die literaturwissenschaftliche Forschung konnte nicht eindeutig klären, ob nun Artus, der im Äklassischen“ Sinne in seiner traditionell passiven Rolle verharrt, oder Gawein als Held der ÄKrone“ angesehen werden soll. Gawein tritt als Handlungsträger erst recht spät in Erscheinung, steht aber in Hinblick auf das Gesamtwerk durch seine vielen âventiuren deutlich im Vordergrund. Später soll in dieser Arbeit die der ÄKrone“ unterstellte Aktivität der Figur Artus zu Beginn des Romans kritisch hinterfragt werden und ob sein Eingreifen in die Handlung letztendlich doch nur als handlungsauslösende Aktion für den Hauptheld Gawein angesehen werden kann. Eindeutig zu erkennen ist, dass beide Figuren konstitutiv für das Fortbestehen des Artushofs sind, wie an anderer Stelle noch aufgezeigt werden soll.

Das Herausstellen einiger Unterschiede zu früheren Äklassischen“ Artusromanen sollte zur Be- wusstmachung der Besonderheiten im rezeptionellen Umgang mit Heinrichs ÄKrone“ beitragen. In der mediävistischen Forschung gibt es viele verschiedene Annahmen, Auslegungen und Hypothesen, je- doch keine eindeutigen Beweise für eine klare Deutungsweise. Die ÄKrone“ umkreist sich im meta- phorischen Sinne ihrer Form entsprechend immer wieder selbst und widerspricht sich in ihren Aussa- gen. Während die einen eine in Heinrichs Roman fixierte Idealisierung eines vorbildlichen Gesell- schaftssystems am Bsp. des Artushofs sehen, meinen die anderen, dass genau dieses im Aufzeigen der Schwächen seiner Mitglieder und Repräsentanten kritisiert wird. So kompliziert ÄDiu Crône“ auch erscheinen mag, desto spannender wird der Umgang mit ihr, bei dem sich immer wieder neue Deu- tungsmöglichkeiten entdecken lassen. Im Folgenden sollen nun die Funktion von Artus in Heinrichs Werk, Gaweins Status als Musterritter, aber auch seine Stellung als zweiter Garant für das Fortbeste- hen des Artushofs beleuchtet und dies im Anschluss reflektierend auf die konkrete Episode der Hirsch- jagdszene im Vergleich zu Hartmanns ÄErec“ als Äklassischer“ Artusroman bezogen werden.

3. Der K|nig Artus und seine Funktion in ÄDiu Crône“

3.1 Stoffliche Herkunft der Artus-Thematik

Bevor die Funktion des Artus in Heinrichs von dem Türlin ÄDiu Crône“ näher beleuchtet werden kann, muss vorerst kurz auf den stofflichen Ursprung eingegangen werden. Chrétien de Troyes gilt mit seinem Werk ÄErec et Enide“ als Begründer der Gattung der Artusromane. Diesem ersten Artusroman gehen jedoch stoffliche Grundlagen voraus, denn Chrétien selbst weist in seinem Prolog auf mündli- che Erzählungen über Artus hin. Artus wird in den höfischen Romanen nicht als geschichtlicher König verstanden, obwohl er in der zeitgenössischen historischen Literatur noch als ein solcher dargestellt ist. So zielt die ÄHistoria regum Britanniae“ von Geoffrey von Monmouth, die ca. zwischen 1130 bis 1136 entstanden sein muss, auf eine nationale Geschichtsmythologie ab. Er entwickelt ein Geschichts- konzept über die Könige Britanniens zur Herrschaftslegitimation. Arthur wird als Repräsentant des alten Britentums und zugleich als neues Herrscherideal dargestellt, der vorher vor allem aus der ano- nymen ÄHistoria Britonium“ aus dem neunten Jahrhundert bekannt war. In dieser hat sich nach ein- heimischen Sagen um Wales der bretonische Kriegsheld und Heerführer König Artus um 500 als dux bellorum in zwölf siegreichen Schlachten gegen die heidnischen Sachsen durchgesetzt. Geoffrey ge- lingt eine ÄAktualisierung einer vordem nur schattenhaft gezeichneten Gestalt eines keltischen Nationalheros als britische[…] Identifikationsfigur“ (Mertens 2007: 15). Der Autor berichtet von ei- nem Hoffest in Carlion, von Spielen, Turnieren und einem Festmahl und listet eine Reihe von Rittern und Damen auf, was sich auch später als typisches Merkmal in den Artusromanen wiederfindet. So zählt Hartmann von Aue im ÄErec“ beispielsweise über 100 Ritter der Tafelrunde auf (E. V 1629- 1695). Die erste Erwähnung der Tafelrunde zur Vermeidung von Rangstreitigkeiten findet sich im ÄRoman de Brut“ von Wace, entstanden um 1155 bis 1160. Dieser transformiert in einer Äweiterge- triebenen H|fisierung des Artusbildes“ (Mertens 2007: 19) Artus zum bons reis, zum Idealkönig, und erhebt Gaweins Status zum Musterritter par excellence. Wace sagte, Ädaß die Geschichten über Arthur weder alle Lügen sind, noch alle wahr“ (Ó Riain-Raedel 1978: 18). Chrétien löst Artus schließlich aus seiner geschichtlichen Fixierung als Held und Eroberer der Briten und überformt ihn zum gesellschaft- lichen Ideal und Bezugspunkt, den Hartmann von Aue so auch im ersten deutschsprachigen Artusroman ÄErec“ aus der matiére de Bretagne übernimmt. Die Historie des bretonischen Erzählfun- dus wird vom Märchenhaften, Sagenhaften und Mythischen überformt und im Sinne höfischer Gesell- schaftsideale in Rittertum und Liebe ausgestaltet. ÄIm Kern ist die Figur also wohl eine historische Gestalt, die in der mündlichen Tradition fortlebt und als heroische Figur kollektiven Geschichtsbe- wußtseins […] vermittelt wird.“ (Cormeau 2007: 164) Der h|fische Ritter und die h|fische Dame fungieren als Leitbilder einer Gesellschaft, das ÄMiteinander von Rittern und Edelfrauen ist durch institutionalisierte Verhaltensweisen gekennzeichnet […]“ (Mertens 2007: 10). Der mittelalterliche Adel zeigte großes Interesse am potentiellen Bildungsgut der Artusromane und unterstützte die Auto- ren als Gönner, um die gesellschaftlich-politische Komponente zur Rechtfertigung der eigenen An- sprüche und Bestrebungen sowie zur ÄSelbstdarstellung der Führungsschicht als kulturelle Avantgar- de“ (Mertens 2007: 13) zu nutzen. Die heroisch-sentimentale Stilisierung des Rittertums wird zum idealen Ausdruck eines besonderen Lebensgefühls.

Artus stellt als Mittelpunkt des sozialen Systems Artushof den idealen, gerechten, höfischen Herrscher dar. Seine Vorbildlichkeit gilt in den Artusromanen als gegeben. So wird er z.B. von Hartmann von Aue im ÄIwein“-Prolog mit folgenden Worten eingeführt:

er hât bî sînen ziten

gelebet alsô schône

daz er der êren krône

[...]


1 Ich zitiere die mittelhochdeutschen Textstellen auch im Folgenden nach: Heinrich von dem Türlin. Diu Crône von Heinrich von dem Türlin zum ersten Male. Hrsg. von Gottlob Heinrich Friedrich Scholl. Stuttgart: Literarischer Verein 1852. (Kennzeichnung mit Cr.)

2 Ich zitiere die mittelhochdeutschen Textstellen auch im Folgenden nach: Hartmann von Aue. Erec. Hrsg. von Volker Mertens. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG 2008. (Kennzeichnung E.)

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Artus und Gawein zur Sicherung der Artusidee in Heinrichs "Diu Crône"
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Institut für Germanistik und Literaturwissenschaften)
Veranstaltung
Seminar: Heinrich von dem Türlin: "Diu Crône"
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
32
Katalognummer
V278805
ISBN (eBook)
9783656715870
ISBN (Buch)
9783656715931
Dateigröße
624 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
artus, gawein, sicherung, artusidee, heinrichs, crône
Arbeit zitieren
Elisa Dambeck (Autor:in), 2014, Artus und Gawein zur Sicherung der Artusidee in Heinrichs "Diu Crône", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/278805

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