Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Der Bystander-Effekt
2.2 Verantwortungsdiffusion, pluralistische Ignoranz, Bewertungsangst
2.3 Das Fünf-Stufen-Modell des Interventionsprozesses
3 Reduktion des Bystander-Effekts anhand des Fünf-Stufen-Modells
3.1 1. Schritt: Ereignis bemerken
3.2 2. Schritt: Interpretation als Notfall
3.3 3. Schritt: Wahrnehmung einer persönlichen Verantwortung
3.4 4. Schritt: Mögliches Hilfeverhalten
3.5 5. Schritt: Eingreifen
4 Diskussion
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Die folgende Seminararbeit zeigt verschiedene Faktoren auf, welche in empirischen Untersuchungen den Bystander-Effekt zu reduzieren oder gar zu verhindern vermochten. Als Bystander-Effekt bezeichnet man das Phänomen, dass mit zunehmender Anzahl Beobachter eines Vorfalls (häufig Notsituationen oder potenziell gefährliche Umstände) die Wahrscheinlichkeit einer Intervention bei jedem einzelnen Beobachter sinkt. Die Präsentation der Studien erfolgt in Anlehnung an das Fünf-Stufen-Modell des Interventionsprozesses von Latané und Darley (1970). Das Ziel der Arbeit ist es, verschiedene Faktoren zu identifizieren, die den Bystander-Effekt verringern können, und damit eine Grundlage für Anwendungen in der Praxis zu schaffen.
2 Theoretischer Hintergrund
Im folgenden Kapitel werden die wichtigsten theoretischen Konzepte und Konstrukte erklärt sowie das Fünf-Stufen-Modell des Interventionsprozesses (Latané & Darley, 1970) vorgestellt.
2.1 Der Bystander-Effekt
Was heute unter dem Bystander-Effekt verstanden wird, wurde 1970 von Latané und Darley im folgenden Satz beschrieben: „Die Anwesenheit anderer Leute hemmt den Impuls zu helfen“ (Latané & Darley, 1970, S. 38).
Aufgerüttelt durch ein Verbrechen, das 1964 an einer jungen Frau namens Catherine „Kitty“ Genovese begangen wurde und traurige Berühmtheit erlangte, führten Latané und Darley einige Experimente durch und schufen auf diese Weise eine Basis für die Erforschung dieses Phänomens (Levine, 2012).
Das Ziel der Untersuchungen von Latané und Darley (1968, 1970) war nicht nur, das Auftreten des Effekts zu untersuchen, sondern auch Erklärungen dafür zu finden. Eine mögliche Ursache für das Auftreten des Bystander-Effekts sahen die Wissenschaftler in der Verantwortungsdiffusion. Andere Erklärungen, die Latané und Darley (1968, 1970) nannten, waren pluralistische Ignoranz (sozialer Einfluss) sowie Bewertungsangst. Diese Begriffe werden im folgenden Abschnitt kurz erklärt.
2.2 Verantwortungsdiffusion, pluralistische Ignoranz, Bewertungsangst
Eine Person, die als Einzige eine Notfallsituation beobachtet, ist alleine verantwortlich für das Eingreifen. Beobachten hingegen mehrere Personen einen Notfall (oder glaubt eine Person, dass noch andere Personen anwesend sind), verteilt sich die gefühlte Verantwortung auf alle anwesenden Personen, wodurch die Wahrscheinlichkeit des Eingreifens für jeden Einzelnen sinkt (Latané & Darley, 1968). Dieses Phänomen wird als Verantwortungsdiffusion bezeichnet.
Pluralistische Ignoranz (von Latané und Darley (1968) auch sozialer Einfluss genannt) wiederum entwickelt sich aus der Beobachtung der Reaktion der weiteren anwesenden Personen auf ein Ereignis. Bleiben alle Zeugen eines Vorfalls ruhig und reagieren als wäre nichts Ernsthaftes geschehen, beeinflusst dies die Wahrnehmung und Interpretation anderer Personen. Diese schliessen aus der Reaktion anderer Anwesender, dass das Ereignis tatsächlich nicht schlimm und ein Eingreifen nicht nötig ist (Latané & Darley, 1968).
Bewertungsangst, auch bekannt unter den Begriffen Hemmung durch das Publikum und Furcht, sich zu blamieren, bezeichnet die Furcht eines Individuums, dass sein Verhalten von beobachtenden Personen negativ bewertet wird. Insbesondere in unvertrauten und/oder mehrdeutigen Situationen wächst die Angst, sich mit einer falschen Reaktion zu blamieren, wodurch die Wahrscheinlichkeit des Eingreifens (bzw. jeglicher Aktion) verringert wird (Latané & Nida, 1981).
2.3 Das Fünf-Stufen-Modell des Interventionsprozesses
Latané und Darley schlugen 1970 ein fünfstufiges Modell zum Ablauf des Eingreifens in einer Notfallsituation vor.
Die dem Modell zugrunde liegende Idee war, dass ein Individuum vor dem Eingreifen in einer Notsituation nicht nur eine einzige, sondern gleich mehrere Entscheidungen treffen muss. Die fünf Schritte, die eine Person nach Latané und Darley (1970) durchschreiten muss, um einzugreifen, verlaufen seriell, d.h. nacheinander, und haben eine bestimmte Reihenfolge. Eine negative Antwort auf irgendeine dieser Entscheidungen führt zu keinem Eingreifen.
Als Erstes muss ein Individuum ein bestimmtes Ereignis überhaupt bemerken. Der Vorfall muss seine Aufmerksamkeit und seinen Blick auf sich ziehen und sich in seine Gedanken drängen. In einem zweiten Schritt muss die Person das Ereignis als Notfall interpretieren. Das bedeutet, die Person muss entscheiden, ob das Geschehen ein normales Vorkommnis oder eine aussergewöhnliche Situation ist. Hat die Person das Geschehen als Notfall beurteilt, muss sie abwiegen, ob sie sich persönlich verantwortlich fühlt für ein Eingreifen (dritter Schritt). Hat die Person beschlossen zu intervenieren, muss sie im vierten Schritt überlegen welche Art von Unterstützung sie geben kann und ob diese hilfreich ist. Als letzter Schritt muss die Person ihr Vorhaben schliesslich umsetzen (Latané & Darley, 1970). Das gesamte Modell ist in Abbildung 1 dargestellt.
Abbildung 1. Das Fünf-Stufen-Modell des Interventionsprozesses
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1. Ablauf des Eingreifens nach dem Fünf-Stufen-Modell des Interventionsprozesses. Nach „ The unresponsive bystander: Why doesn’t he help? “ von B. Latané und John M. Darley, 1970, S. 31-32.
Bei jedem der genannten fünf Schritte gibt es Faktoren, die die Entscheidung, die getroffen werden muss, beeinflussen. Beispielsweise kann eine unbekannte Umgebung für ein Individuum so viele neue Eindrücke bereithalten, dass ein ungewöhnliches Ereignis gar nicht bemerkt wird. Oder es gibt Normen, die ein Individuum davon abhalten, andere Personen genau anzuschauen und sich in ihre Angelegenheiten einzumischen. Solche Normen können die Wahrscheinlichkeit einer Intervention beispielsweise beim ersten oder beim dritten Schritt des Modells verringern.
Auch die im vorhergehenden Teil der Arbeit erwähnten Phänomene – Verantwortungsdiffusion, pluralistische Ignoranz, Bewertungsangst – können bei mehreren Stufen des Modells auf eine Person einwirken und so ein Eingreifen weniger wahrscheinlich machen. Während sich Verantwortungsdiffusion insbesondere auf den dritten Schritt (Wahrnehmung einer persönlichen Verantwortung) auswirkt, hat pluralistische Ignoranz vor allem auf die ersten zwei Schritte des Modells einen Einfluss. Verhalten sich alle Zuschauer so als wäre nichts Ernsthaftes passiert, bemerkt eine andere Person das Ereignis möglicherweise gar nicht. Und selbst wenn diese Person den Vorfall wahrnimmt, wird sie es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht als Notfall interpretieren, wenn sich alle anderen Beobachter unauffällig und ruhig verhalten. Bewertungsangst schliesslich kann sich auf den vierten und fünften Schritt im Modell des Interventionsprozesses auswirken. Möglicherweise fühlt sich eine Person durch die Präsenz anderer Zuschauer so abgelenkt, dass ihr gewisse Handlungsalternativen gar nicht einfallen. Oder sie traut sich nicht eine schlecht geübte Verhaltensweise (was Eingriffe in Notsituationen häufig sind) auszuüben.
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