Die Literatur des Naturalismus


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2014

26 Seiten


Leseprobe


Gliederung:

1. Einleitender Überblick

2. Der zeitgeschichtliche Hintergrund

3. Die Programmatik des Naturalismus

4. Die literarischen Gattungen im Naturalismus
4.1. Lyrik
4.2. Prosa
4.3. Dramatik

5. Abkehr vom Naturalismus

„We cannot any longer believe that man is the work of a separate act of creation. Man still bears in his bodily frame the indelible stamp of his lowly origin.”

(Charles Darwin: “The Descent of Man”, 1871)

„Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem Siegerwagen

einher, an den wir alle gefesselt sind.“

(Wilhelm Scherer: „Die Geschichte der deutschen Litteratur“, 1883)

„ ... wir müssen mit den Charakteren, den Leidenschaften, den menschlichen und sozialen Handlungen operieren, wie es der Chemiker und der Physiker mit den starren Körpern, der Physiologe mit den lebenden Wesen tut. Der Determinismus beherrscht alles. Die wissenschaftliche Forschung, die experimentelle Urteilsweise besiegen eine nach der andern die Hypothesen der Idealisten und setzen anstelle des Romans der reinen Imagination den Beobachtungs- und Experimentalroman.“

(Emile Zola: „Der Experimentalroman”, 1880)

Der Dichter ist „in seiner Weise ein Experimentator, wie der Chemiker, der allerlei Stoffe mischt, in gewisse Temperaturgrade bringt und den Erfolg beobachtet. Natürlich: der Dichter hat Menschen vor sich,

keine Chemikalien. Aber ... auch diese Menschen fallen ins Gebiet der Naturwissenschaften. Ihre Leidenschaften, ihr Reagieren gegen die äußeren Umstände, das ganze Spiel ihrer Gedanken folgen gewissen Gesetzen, die der Forscher ergründet hat und die der Dichter bei dem freien Experimente so gut zu beachten hat, wie der Chemiker, wenn er etwas Vernünftiges und keinen wertlosen Mischmasch herstellen will, die Kräfte und Wirkungen vorher berechnen muß, ehe er ans Werk geht und Stoffe kombiniert.“

(Wilhelm Bölsche: „Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie“, 1887)

1. Einleitender Überblick

Unter dem Begriff Naturalismus lassen sich allgemein formuliert alle diejenigen künstlerischen Strömungen zusammenfassen, deren Anliegen es ist, die Wirklichkeit naturgetreu wiederzugeben. Im engeren Sinne bezeichnet dieser Begriff eine literarische Strömung, die sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Europa verbreitete. Ihre Anhänger verstanden sich als Repräsentanten der künstlerischen Moderne. Sie wollten die Kunst – und insbesondere die Literatur - revolutionieren. 1

Etwa ab 1880, d. h. rund acht Jahre vor dem Regierungsantritt Kaiser Wilhelms II. (1888), meldete sich in Deutschland eine neue Generation rebellischer Schriftsteller zu Wort. Sie riefen dazu auf, mit einer ihrer Meinung nach überholten traditionellen Kunstauffassung gründlich aufräumen, die das Gute, Wahre und Schöne in der Literatur verherrlicht hatte, anstatt die Wirklichkeit so darzustellen wie sie ist. Nach ihrer Auffassung war die Wirklichkeit ästhetisiert und verklärt worden, beispielsweise bei den von ihnen verachteten „bürgerlichen Realisten“ Gottfried Keller, Theodor Storm, Wilhelm Raabe und Theodor Fontane. Nach ihrem eigenen Verständnis waren sie die „konsequenten Realisten“ (Rinsum 303), die sich von der älteren Generation, die auf halbem Wege stehen geblieben war, um jeden Preis absetzen und einer beschönigenden Wirklichkeitsdarstellung ein für allemal den Riegel vorschieben wollten. Wie die Stürmer und Dränger im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, die gegen die Generation ihrer Väter rebelliert hatten, um sich von einem überkommenen Regelkanon zu befreien, forderten und verkündeten sie eine ästhetische Revolution. Mit Blick auf die Jungdeutschen von 1830, die für den Liberalismus und für demokratische Freiheiten eingetreten waren, bezeichneten sie sich auch als „Jüngstdeutsche“. 2 In ihrem Anspruch, neue Wege einzuschlagen und konsequent zu Ende zu gehen, setzten sich die jungen Naturalisten für eine ungeschminkte und kompromisslose Wirklichkeitsdarstellung ein. Sie sollte das Alltägliche, Gemeine und Hässliche mit einschließen und nicht – wie es Julian Schmidt, der Wortführer des programmatischen Realismus, propagiert hatte – eine vermittelnde Position zwischen den Extremen einnehmen, nach der die zeitgenössische Literatur von den Auswüchsen eines krassen Materialismus bei Georg Büchner, Charles Dickens, Gustave Flaubert oder Emile Zola zu reinigen sei.

Jedoch wird diese Epoche – insbesondere die Zeit von 1880 bis 1900, die als Blütezeit des literarischen Naturalismus angesehen werden kann – durch ein buntes Nebeneinander bzw. rasch aufeinander folgendes Nacheinander vielfältiger Stilrichtungen geprägt. Der Naturalismus spielte eine Schlüsselrolle beim Durchbruch zur „Moderne“, während andere moderne Autoren – zum Beispiel des Symbolismus oder

Impressionismus wie Frank Wedekind („Frühlingserwachen“, 1891) und Hugo von Hofmannsthal („Der Tod des Tizian“, 1892) – sich vom Naturalismus distanzierten, bevor etwas später mit den Expressionisten ein erneuter radikal-modernistischer Vorstoß mit einem ebenfalls kompromisslosen Anspruch erfolgte. Unter Berücksichtigung dieser vielfältigen und einander rasch ablösenden Strömungen kann man nicht von einer einheitlichen literarischen Epoche sprechen, wohl aber davon, dass diese Strömungen dazu beigetragen haben, die Moderne des 20. Jahrhunderts einzuleiten und vorzubereiten. Das verbindende Element bestand im allgemeinen Bewusstsein, am Beginn eines tiefgreifenden Wandels zu stehen, wobei die Bezeichnung „Jahrhundertwende“ eher auf die Begeisterung für einen Aufbruch ins kommende Jahrhundert verweist, während der ebenso häufig verwendete Begriff „Fin de Siècle“ stärker resignativ konnotiert ist und den Schwerpunkt auf das Zu-Ende-Gehen einer Epoche zu legen scheint.

Die von den Naturalisten angestrebte schonungslose Wiedergabe der erlebten Realität sollte auf der Grundlage genauer Beobachtung erfolgen. In dieser Hinsicht fühlte man sich den Methoden der in der zweiten Jahrhunderthälfte aufblühenden Naturwissenschaften verbunden. Nach ihrer Auffassung war der Mensch ein Naturwesen, dessen Leben weitgehend von den großen Formkräften seiner Erbanlagen und seiner gesellschaftlichen Umgebung (Milieu) bestimmt wurde. Im Zuge der mit der zweiten Jahrhunderthälfte stürmisch einsetzenden Industrialisierung und besonders nach der Reichsgründung von 1871 kam es zu einem enormen Städtewachstum, einem stetig anschwellenden Zustrom der Landbevölkerung in die großstädtischen Ballungszentren und, als Folge davon, zu einer Proletarisierung und Verelendung breiter Bevölkerungsschichten. Die naturalistischen Schriftsteller konzentrierten sich in ihren Werken auf die Lebensverhältnisse des großstädtischen Proletariats und die damit zusammenhängenden Probleme von Armut, Alkoholismus, Krankheit, Gewalt und Verbrechen, die sich angesichts eines gleichgültigen und untätigen Bürgertums als unlösbar erwiesen.

Die jungen Naturalisten propagierten also eine ungeschminkte Realitätsdarstellung in der erklärten Absicht, dabei konsequenter vorzugehen als die „bürgerlichen Realisten“ und gerade dem Hässlichen und Abstoßenden in ihren Werken besonderen Vorrang einzuräumen. Sie vertraten eine empirische Ästhetik, nach der das konkret Erfahrbare und exakt Nachprüfbare zum Gegenstand der Kunst wird. Dabei orientierten sie sich an dem durch die Naturwissenschaften ihrer Zeit geprägten Welt- und Menschenbild. Da nach dieser Auffassung das menschliche Leben im wesentlichen durch die Faktoren Milieu und Vererbung bestimmt wird, kann der Mensch von der Verantwortung für sein Handeln weitgehend freigesprochen werden. Durch diese Entwicklung wurde die Philosophie als diejenige Wissenschaft, die dem Menschen die Welt erklärt, zunehmend an den Rand gedrängt. Eine biologisch ausgerichtete Anthropologie mit einer neuen Lehre von der Abstammung des Menschen auf der Grundlage der Darwinschen Evolutionstheorie erlebte einen enormen Aufschwung. Im Gegensatz zum biblischen Schöpfungsbericht erschien der Mensch nun als Glied einer langen Entwicklungskette und nicht etwa als Ergebnis eines einmaligen Schöpfungsaktes und als göttliches Ebenbild.

Im Anschluss an den im 18. Jahrhundert von den englischen Philosophen Hobbes, Locke und Hume entwickelten Empirismus begründete Auguste Comte (1798 – 1857) den Positivismus, nach dem die Erfassung der Wirklichkeit sich ausschließlich auf der Grundlage beobachtbarer Tatsachen und unter Verzicht auf jegliche Form metaphysischer Spekulation vollziehen muss. Der Positivismus kann als das weltanschauliche Fundament des Naturalismus angesehen werden. Seine Vertreter betrachteten den Menschen als Produkt naturgegebener und gesellschaftlicher Bedingungen. Vermutungen über eine vermeintlich göttliche Herkunft und höhere Bestimmung des Menschen wiesen sie mit Entschiedenheit zurück. Auch die von Emile Zola (1840 – 1902) verbreiteten Thesen des französischen Philosophen und Kulturkritikers Hippolyte Taine (1828 – 1893), nach denen der Mensch durch drei Faktoren determiniert wird, die er Rasse (Abstammung und Erbanlagen), Milieu (klimatische und soziale Umwelteinflüsse) und Moment (historischer Zeitpunkt) nannte, hatten einen nachhaltigen Einfluss auf die Literatur des Naturalismus. Als deren bedeutendster Programmatiker entwickelte Zola mit seinem Werk „Le roman expérimental“ die geschlossenste naturalistische Literaturtheorie. Nach seiner Auffassung arbeitet der naturalistische Schriftsteller wie ein Naturwissenschaftler. Er analysiert, beschreibt und dokumentiert die Wirklichkeit auf der Grundlage akribisch gesammelter empirischer Tatsachen und gelangt auf diese Weise in Analogie zu einem wissenschaftlichen Experimentator zu Aussagen, die den Charakter von Gesetzmäßigkeiten aufweisen.

Als „Jüngstdeutsche“ forderten die Naturalisten wie ihre Vorgänger des „Jungen Deutschland“ im sogenannten „Vormärz“ (d. h. in den Jahren vor der Märzrevolution von 1848) einen aufgeklärten und demokratischen Staat auf der Basis von Liberalismus und Republikanismus anstelle eines monarchisch-feudalen Obrigkeitsstaates, der den von ihnen verteidigten Prinzipien zuwiderlief. Ihre Ziele wurden von einer wachsenden Anzahl literarischer Vereine und Zeitschriften unterstützt, die in den großstädtischen Zentren von Berlin und München gegründet wurden. Zu ihnen gehörte beispielsweise die von 1885 bis 1901 durch Michael Georg Conrad in München herausgegebene Zeitschrift „Die Gesellschaft. Realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben“. In ihnen artikulierten die Naturalisten ihre gesellschaftskritischen Positionen und ihre Forderungen nach einer ungeschminkten Darstellung der Wirklichkeit mit allen ihren hässlichen und abstoßenden Seiten. 3 Ein Teil von ihnen vertrat auch sozialistische bzw. anarchistische Auffassungen. Sie wurden von den gesellschaftlichen Eliten – vor allem vom Kaiser und von Angehörigen des Hochadels, die sich als Hüter der Moral betrachteten und die ewig gültigen Ideale Schönheit und Harmonie der klassischen Ästhetik propagierten – als Vertreter einer „Rinnsteinkunst“ angesehen, die mit ihrem zersetzenden Einfluss auf Kunst und Literatur unvergängliche Werte in den Schmutz zogen. (Vgl. Beutin u. a. 346) 4 Obwohl die naturalistischen Schriftsteller keine geschlossene Theorie und kein allgemein verbindliches Programm entwickelten, waren sie sich in ihren sozialkritischen Grundauffassungen und mit ihrer Konzentration auf die Darstellung sozialer Not einig. Sie wurden von Reichskanzler Bismarck, der mit seinem „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ von 1878 (bekannt als „Sozialistengesetz“) der Arbeiterbewegung einen Riegel vorschieben wollte, verdächtigt, Verbündete des Proletariats und der Sozialdemokratie zu sein. 5

Das Drama bzw. das Theater wurde zur eigentlichen Domäne des Naturalismus. In seinem Drama „Vor Sonnenaufgang“ (1889) griff Gerhart Hauptmann ein typisch naturalistisches Thema auf, indem er die verzweifelte Lage der Landbevölkerung in einem schlesischen Kohlerevier, die von einer skrupellosen Schicht von Emporkömmlingen erbarmungslos ausgebeutet wird, zum Gegenstand der Darstellung macht. Anstatt die Wirklichkeit zu idealisieren und zu verklären und das Publikum über seine Alltagssorgen zu erheben, bildet dieses Drama die soziale Misere einer unterdrückten Bevölkerungsschicht ab, während die Bauernfamilie Krause durch ein auf ihrem Eigentum entdecktes Kohlelager über Nacht zu Reichtum gelangt und durch ihre Triebhaftigkeit, ihren Alkoholismus und ihre maßlose Verschwendungssucht zum Paradigma einer moralisch und biologisch verkommenen Gesellschaft wird. Die Uraufführung fand in einer geschlossenen Veranstaltung des im gleichen Jahr gegründeten literarischen Vereins „Die freie Bühne“ in Berlin statt. Hier gab es bereits einen Tumult und anschließend hagelte es empörte Proteste. Nach der zweiten, nunmehr öffentlichen, Aufführung kam es zu einem regelrechten Theaterskandal. Viele Zuschauer empfanden ein solches Stück als grobe Provokation. Aber durch dieses Ereignis gelang der naturalistischen Bewegung der Durchbruch auf dem deutschen Theater.

2. Der zeitgeschichtliche Hintergrund

Bis zur Jahrhundertmitte waren die alte Sozialstrukturen in Deutschland im wesentlichen beibehalten worden. Es gab eine hierarchisch gegliederte Ordnung, die von oben nach unten verlaufend etwa folgende Bevölkerungsschichten umfasste: Adel, Klerus, Bürger, Bauern, Landarbeiter. Nach dem Sieg über Frankreich 1871, der Kaiserproklamation in Versailles und mit den von Frankreich zu leistenden Reparationszahlungen in Höhe von 5 Milliarden Francs stand die zweite Jahrhunderthälfte ganz im Zeichen eines enormen wirtschaftlichen Aufschwungs (der sogenannten „Gründerjahre“). Dadurch kam es zu einer Welle von Unternehmensgründungen und zu Finanzspekulationen bisher unbekannten Ausmaßes. Deutschland entwickelte sich von einem Agrarstaat zu einer industriellen und politischen Großmacht mit modernen Verkehrsmitteln und beschleunigten Kommunikationsmöglichkeiten, z. B. durch Eisenbahn, Telegraf und – ab 1877 – Telefon. Die wirtschaftliche Entwicklung brachte mächtige Industriemagnaten wie den Essener Stahlfabrikanten und Kanonenlieferanten Alfred Krupp oder den „Eisenbahnkönig“ Bethel Henry Strousberg und ein reiches Großbürgertum hervor, das sich am Lebensstil und den gesellschaftlichen Umgangsformen des Adels orientierte. Als Generalbevollmächtigter im Eisenbahnbau leitete Strousberg ein internationales Großunternehmen und trug entscheidend dazu bei, dass sich die Eisenbahn zu einem Motor des industriellen Aufschwungs entwickelte. Wirtschaftsriesen wie Krupp und Strousberg bewirkten mit ihrem enormen Bedarf an Arbeitskräften, die aus dem ländlichen Bereich in die großstädtischen Industriezentren strömten, tiefgreifende Veränderungen in der Sozialstruktur. Durch das große Heer lohnabhängiger Arbeiter entstand hier ein stetig anwachsendes Proletariat, das sich in primitiven Mietskasernen und fabrikeigenen Wohnsiedlungen auf engstem Raum zusammendrängte und zum großen Teil unter menschenunwürdigen Bedingungen dahinvegitierte. Auf der anderen Seite wetteiferte nach dem Regierungsantritt Wilhelms II. (1888) und mit dem Beginn der Ära des sogenannten „Wilhelminismus“ das neureiche Bürgertum mit dem Geltungsbedürfnis und Repräsentationsstil des Kaisers und des Adels. In diesen Kreisen wurden die fortschrittlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, der Arbeiterbewegung und der Naturalisten als suspekt und sogar gefährlich angesehen.

Parallel zu dieser Entwicklung vollzog sich durch den Aufschwung der erfahrungsbezogenen Naturwissenschaften ein tiefgreifender Wandel des Welt- und Menschenbildes. Dadurch wurden die bisher vorherrschenden Geisteswissenschaften und die spekulative Metaphysik ihrer Vormachtstellung enthoben. Im Zuge dieser Veränderungen emanzipierte sich die Psychologie von der Philosophie und eignete sich zunehmend wissenschaftliche Methoden an. Mit Hilfe objektiver Messungen untersuchte beispielsweise Wilhelm Wundt (1832 – 1920) in Leipzig, wo er das Institut für experimentelle Psychologie gründete, psychische Phänomene und erhob die Psychologie in den Rang einer empirischen Wissenschaft. Auf diesem Fundament erklärte er selbstbewusst, dass er sich für spekulative Theorien über die „Seele“ (für ihn ein unwissenschaftlicher Begriff der klassischen Philosophie) nicht interessiere. Folgerichtig formulierte Wolfgang Kirchbach (1857 – 1900), dass diese Methoden und Neuentdeckungen „zu einer völlig veränderten Wirklichkeitserfahrung im Zeichen der naturwissenschaftlichen Welterfassung geführt“ haben. Und er fuhr fort: „Die Wirkung moderner Erfahrungswissenschaften auf den naturalistischen Schriftsteller ist tiefgreifend. Ihr Weltbild wird durch die biologischen, physikalischen und geologischen Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts geformt.“ (Langermann 334)

Mit der Veröffentlichung seiner Schrift „On the origin of species by means of natural selection“ („Über die Entstehung der Arten durch natürliche Auslese“) löste der britische Naturforscher Charles Darwin (1809 – 1882) 1859 einen Skandal aus. Seine These, dass alle Arten – einschließlich die des Menschen – einen gemeinsamen Ursprung aufweisen und sich erst im Laufe eines Jahrtausende dauernden Entwicklungsprozesses differenziert und verändert haben, indem sie sich wechselnden Umweltbedingungen anpassten, stand in krassem Widerspruch zu der bisher vertretenen Vorstellung von der Unveränderlichkeit der Arten. Aufgrund seiner Forschungen und Beobachtungen gelangte er zu der Überzeugung, dass alle lebenden Wesen aus einer langen Evolutionsgeschichte entstanden und nicht etwa das Ergebnis eines singulären Schöpfungsaktes sind. In seiner 1871 erschienenen Abhandlung „The Descent of Man“ („Die Abstammung des Menschen“), die einen Sturm der Entrüstung erzeugte, wies er auf unübersehbare Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier hin:

The main conclusion arrived at in this work, and now held by many naturalists who are well competent to form a sound judgment, is that man is descended from some less highly organized form ... We cannot any longer believe that man is the work of a separate act of creation. We will be forced to admit that the close resemblance of the embryo of man to that, for instance, of a dog … points in the plainest manner to the conclusion that man is the codescendant with other mammals of a common progenitor. (Abrams, M. H. u. a., 1335 f.)

Daher konnte es keinen Zweifel daran geben „that man still bears in his bodily frame the indelible stamp of his lowly origin.“ (Ebd. 1339) Der Autor war sich darüber im Klaren, dass diese Erkenntnisse „highly distasteful to many persons“ (ebd. 1338) sein würden.

Darwins Erkenntnisse mündeten in ein Modell der “ natürlichen Zuchtwahl“ („natural selection“) ein. Danach waren diejenigen Individuen am erfolgreichsten, denen es angesichts der begrenzten Ressourcen ihres natürlichen Lebensraumes gegenüber konkurrierenden Individuen im „Kampf ums Dasein“ („struggle for existence“) gelang, sich den Gegebenheiten am besten anzupassen und damit ihr Überleben zu sichern („survival of the fittest“). In der Anwendung dieser Selektionstheorie auf die menschliche Entwicklung verhielt Darwin sich dagegen zurückhaltend. Dieser Schritt erfolgte etwas später durch den deutschen Zoologen Ernst Haeckel (1834 – 1919). In Erweiterung des Darwinschen Naturbegriffs auf die menschliche Gesellschaft, schaffte Haeckel durch seine Forschungen die Grundlagen für den sogenannten „Sozialdarwinismus“, wonach sich grundsätzlich die „Starken“ gegenüber den „Schwachen“ durchsetzen, die sich entweder unterordnen müssen oder zugrunde gehen. Damit wurde er – ohne es voraussehen zu können - zu einem Wegweiser und Vorbereiter der nationalsozialistischen Rassenideologie, die zu den unmenschlichen Maßnahmen führte, die von den Nationalsozialisten zynisch als „Rassenhygiene“ bezeichnet wurden und mit pseudowissenschaftlichen Begründungen gerechtfertigt erscheinen sollten.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Lehren Darwins und Haeckels zur Rechtfertigung einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung herangezogen und als Argumente ins Feld geführt, um die Ausbeutungspraktiken des Industriezeitalters gegenüber den Massen der lohnabhängigen Arbeiterschaft zu sanktionieren. Bekannt geworden ist Ernst Haeckel auch durch das von ihm formulierte „biogenetische Grundgesetz“, nach dem die individuelle Entwicklung des Menschen (Ontogenese) in einer Art Zeitrafferverfahren als Wiederholung seiner stammesgeschichtlichen Entwicklung (Phylogenese) dargestellt wird. Dadurch wurde seine These untermauert, dass der Mensch das Endprodukt einer langen biologischen Entwicklungskette ist und eine durch Materialismus und Atheismus bestimmte Weltanschauung propagiert.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass diese Theorien mit ihren Schlüsselbegriffen wie „Kampf ums Dasein“ und die bereits in der Einleitung behandelten Begriffe Hippolyte Taines (Vererbung, Rasse, Milieu, Zeitumstände) das zeitgenössische Denken nachhaltig beeinflusst haben. Durch sie wurde ein deterministisches Welt- und Menschenbild und eine Fokussierung der naturalistischen Schriftsteller auf gesellschaftliche Randexistenzen gefördert. Gerade an ihrem Schicksal glaubte man die Bedeutung dieser großen Formkräfte am wirksamsten nachweisen zu können. Auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Forschungsmethoden, so meinte man, müsse es beispielsweise möglich sein, das Verbrechen als Ergebnis beobachtbarer und exakt beschreibbarer Ursachen zu erklären. Auf diese Weise wollte man gesellschaftlich bedingten Determinanten auf die Spur kommen, die zu einem solchen Verhalten führen, um den einzelnen Straftäter damit entlasten zu können und sein Verbrechen zumindest als gesellschaftlich mitverantwortetes Geschehen darzustellen.

Auch der Siegeszug der technisch-industriellen Entwicklung hinterließ deutliche Spuren im zeitgenössischen Denken. Aber der Optimismus seiner Förderer und Befürworter erhielt deutliche Dämpfer. Denn hinter der glänzenden Fassade des Fortschritts zeigte sich das Massenelend der arbeitenden Bevölkerung, hinter den Prachtbauten großbürgerlicher Villenviertel ragten menschenunwürdige Mietskasernen auf, hinter der Idee des sich frei entfaltenden Individuums verbargen sich Unfreiheit, Abhängigkeit und Ausbeutung. Der Germanist Wilhelm Scherer („Die Geschichte der deutschen Litteratur“, 1883) erkannte bereits im Jahre 1870:

Dieselbe Macht, welche Eisenbahnen und Telegrafen zum Leben erweckt, dieselbe Macht regiert auch unser geistiges Leben ... Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem Siegerwagen einher, an den wir alle gefesselt sind. (Zit. nach Bogdahl/Kammler 53)

In dieser Beschreibung zeigt sich die Janusköpfigkeit des technischen Fortschritts. Das hier verwendete Bild vermischt die triumphale Siegerpose des Vielbewunderten mit der an ihn gefesselten und ihm ausgelieferten Menschheit, die er unaufhaltsam mit sich fortzieht. Die Faszination für moderne Technik konnte ihre Schattenseiten nicht übertönen. Das erkennt man beispielsweise in Gemälden wie Adolph Menzels „Eisenwalzwerk“ (1875), mit dem er eine moderne Industrieanlage seiner Zeit darstellte. Auch in den Bildern anderer zeitgenössischen Maler wie Max Liebermann, Hans Baluschek oder Käthe Kollwitz zeigen sich die Nachtseiten der Gesellschaft: das Wohnungselend in den Mietskasernen und Hinterhöfen und die Monotonie im Industriealltag, in dem die Menschen durch gleichförmige Arbeitsvorgänge abgestumpft und zu Anhängseln einer industriellen Verwertungsmaschinerie degradiert werden. In Max Kretzers damals vielgelesenem Roman „Meister Timpe“ (1888) kommt die Doppelgesichtigkeit und zerstörerische Gewalt der modernen Technik deutlich zum

Ausdruck. Der geschäftliche Ruin des Handwerksmeisters Timpe wird durch die großartig inszenierte Eröffnungsfeier der Berliner Stadtbahn konterkariert. Während seine Werkstatt in Flammen aufgeht und er selbst dabei den Tod erleidet, „brauste die Stadtbahn heran, die ihren Siegeszug durch das Steinmeer von Berlin hielt. Die Lokomotive war bekränzt. Aus den Kupeefenstern blickten Beamte des Ministeriums, Leute von der Eisenbahnverwaltung und die geladenen Ehrengäste. Die Herren nickten freundlich herunter und schwenkten Taschentücher. Unter dem brausenden Jubelruf der Menge dampfte der Zug vorüber.“ (Max Kretzer: "Meister Timpe". Berlin: S. Fischer Verlag 1888, S. 327)

[...]


1 Ihre deutschen Wortführer profilierten sich gern mit griffigen Schlagworten und betrachteten sich als Vollstrecker einer „Revolution der Litteratur“, wie zum Beispiel Karl Bleibtreu in seinem gleichnamigen Werk (1885/86). (Vgl. Bark u. a. 23)

2 Der Begriff „Jüngstdeutsche“ wurde von einigen Zeitgenossen manchmal ironisierend verwendet. Führende Sozialdemokraten, denen die Auffassungen junger naturalistischer Autoren wie Bruno Wille und Paul Ernst zu radikal waren, benutzten den Begriff auch in polemischer Absicht. Dies geschah beispielsweise durch Wilhelm Liebknecht auf einem Parteitag der SPD im Jahre 1896 im Rahmen einer Naturalismus-Debatte, wo er den Abdruck von als obszön empfundenen Romanen in einer SPD-Familienzeitschrift anprangerte: „Das jüngste Deutschland hat als Produkt der Décadence, d. h. der Fäulnis der bürgerlichen Gesellschaft, eine gewisse prickelnde Lust, alle sexuellen Dinge auszumalen.“ Man war sich darin einig, dass „die absteigende Bürgerklasse keine große Kunst mehr schaffen kann“ und betrachtete dies als Ansporn für die „aufsteigende Arbeiterklasse“, dereinst selbst große Kunst zu erzeugen. (Vgl. Rothe, Norbert, Hrsg.: "Naturalismus-Debatte 1891 - 1896. Dokumente ..." Berlin 1986, S. 227)

3 Als Begründer dieser Zeitschrift setzte sich M. G. Conrad beispielsweise unermüdlich für die von Emile Zola vertretene Kunstauffassung ein, der in gutbürgerlichen Kreisen als unmoralisch verschrien war und von der konservativen Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ als „Schmutzfink“ beschimpft wurde. (Vgl. Rinsum 304)

4 Wegen der schonungslosen Darstellung sozialen Elends des durch die Industrialisierung hervorgebrachten Proletariats in Gerhart Hauptmanns Drama „Die Weber“ (1892) sahen sich die wilhelminischen Zensurbehörden zu Aufführungsverboten genötigt. Daraufhin kündigte der Kaiser seine Theaterloge in Berlin. (Vgl. Beutin u. a. 346 ) Erst nach einem Gerichtsprozess gelangte das Schauspiel zur öffentlichen Aufführung.

5 Das Verbot dauerte zwölf Jahre und wurde 1890 wieder aufgehoben. Es wirkte sich letztlich bestärkend auf die Arbeiterbewegung aus.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Die Literatur des Naturalismus
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Philosophische Fakultät)
Autor
Jahr
2014
Seiten
26
Katalognummer
V280185
ISBN (eBook)
9783656736615
ISBN (Buch)
9783656736608
Dateigröße
566 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
literatur, naturalismus
Arbeit zitieren
Hans-Georg Wendland (Autor:in), 2014, Die Literatur des Naturalismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/280185

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Literatur des Naturalismus



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden