Hospitalismus


Vordiplomarbeit, 2000

39 Seiten, Note: 3,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Entwicklung des Menschen bis zum 4. Lebensjahr
2.1. Übersicht über die Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensmonaten
2.1.1. körperliches Verhalten und Reflexe
2.1.2. emotionale Entwicklung
2.1.3. Lernprozesse beim Kleinkind
2.1.4. Instinkte
2.1.5. die kognitive Entwicklung, Piaget`s Stufenlehre
2.2. Entwicklung des Menschen vom 2. bis zum 24. Lebensmonat
2.2.1. Veränderungen in der Zeit vom 2. bis 4. Lebensmonat
2.2.2. Veränderungen in der Zeit ab dem 6. Lebensmonat
2.2.3. Veränderungen in der Zeit vom 8. bis 10. Lebensmonat
2.2.4. Veränderungen in der Zeit ab dem 12. Lebensmonat
2.2.5. Veränderungen in der Zeit vom 18. bis 24. Lebensmonat

3. Symptome und Folgen der Mutterentbehrung
3.1. die anaklitische Depression
3.1.1. Spätfolgen
3.1.2. die psychotoxische Mutter
3.2. Hospitalismu

4. Mutterentbehrung und Entwicklung in Institutionen
4.1. Untersuchung von R.A. Spitz
4.2. Heimkinderstudie von M. Meierhofer und W. Keller

5. die Bindungstheorie von J. Bowlby
5.1. zentrale Merkmale der Theorie
5.2. personenspezifische Bindungen im ersten Lebensjahr nach M. Ainsworth

6. Aufarbeitung früherer Deprivationsstörungen
6.1. Mutter- Kind- Dialoge
6.2. therapeutische Maßnahme

7. Elternverlust

8. Ersatzfamilien
8.1. Adoptivfamilien
8.2. Pflegefamilien

9. Zusammenfassung

Quellenverzeichnis

Versicherung

1. Einleitung

In der folgenden Arbeit werden gestörte Mutter- Kind- Beziehungen, speziell die gestörte Entwicklung von Kleinkindern aufgrund von Mutterentbehrung das Thema sein. Vergleichend erläutere ich eine normale Entwicklung. Ohne eine gesunde Beziehung zu einer Bezugs- oder Pflegeperson ist keinem Kind eine positive Entwicklung möglich. Zumeist ist mit Bezugs- und Pflegeperson die Mutter gemeint, denn zu ihr entwickelt ein Säugling im Normalfall seine erste wahre Beziehung. Gerade die Zeit des Stillens ist eine sehr enge, in der das Baby seinen ersten sozialen Erfahrungen begegnet.

Es gibt auf diesem Gebiet eine große Anzahl Forschungsergebnisse und daraus entwickelter kontroverser Standpunkte über die Ursachen der Spätfolgen des Mutterverlustes.

J. Bowlby z. Bsp. führte seine Forschungen durch, ohne Sigmund Freud`s Libidotheorien einzubeziehen (vgl.Göppel 1997, S.152), die als Grundlage der Kindheitsentwicklung galten und stieß damit auf Ablehnung anderer Forscher auf diesem Gebiet, wie z. Bsp. A. Freud; R. A. Spitz; E. Schmalohr; S. Freud; M. Klein. (vgl.Göppel 1997, S.135).

Da Verlust ein weiter Begriff ist, werde ich auf verschiedene Formen und Bedingungen eingehen, dabei hauptsächlich auf die gestörte Entwicklung von Kleinkindern in stationärer Versorgung, da die Syndrome dort am häufigsten auftreten.

Des weiteren werde ich anhand neuester Forschungsergebnisse auf die Schädigung bei Erwachsenen eingehen.

2. Entwicklung des Menschen bis zum 4. Lebensjahr

Um den Unterschied von sich normal entwickelnden Kindern und hospitalisierten Kindern herausarbeiten zu können, muß man vorerst die normale Entwicklung betrachten.

Im Vergleich zu Tieren wird ein Mensch einige Monate zu früh geboren. Er ist lediglich mit Reflexen ausgestattet, in seinen Bewegungen ist er stark eingeschränkt und sein Gehör ist unzureichend entwickelt. Er ist vollkommen hilflos und abhängig von einer Pflegeperson. Unmittelbar nach der Geburt sieht er „erbarmungswert“ (Müller 1992, S.80) aus, aber nach Ablauf der Neugeborenenzeit entspricht er dem Kindchenschema, er hat Fettpölsterchen angesetzt und wirkt dadurch niedlich und liebenswert. Der Forscher K. Lorenz hat herausgefunden, daß bestimmte Körperproportionen bei Müttern den Pflegeinstinkt auslösen – das sogenannte Kindchenschema (vgl.Müller 1992, S.80).

2.1. Übersicht über die Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensmonaten

Das Erste, was ein Neugeborenes beherrscht, ist das Schreien. Es ist eine Möglichkeit, Signale zu geben. Es drückt damit Mangelzustände aus, wie Hunger, Kälte, Nässe, Unwohlsein. Wenn der Mangelzustand behoben wurde oder es auf den Arm genommen wird, hört es auf zu schreien. Es erfährt, daß es auf sein Schreien eine Reaktion bekommt und lernt, daß eine Bedürfnisbefriedigung erfolgt. Das Kind beginnt, seine Stimme gezielt einzusetzen. Es hat also am Erfolg gelernt und behält diese Verhaltensweise bis in die späte Kindheit bei. Heimkinder erhalten diese Reaktionen nicht und der Lerneffekt bleibt bei ihnen aus (vgl. Müller 1992, S.80f.).

2.1.1. körperliches Verhalten und Reflexe

Man kann bei Neugeborenen drei Bewegungsarten erkennen (vgl.Müller 1992, S.83):

Massenbewegungen.... – sie sind ungesteuert, alle Körperteile bewegen sich

Körper- Teilbewegungen – dazu gehören das Kopfdrehen und Kopfanheben

Reflexbewegungen.... – sie sind angeboren und verlaufen immer gleich und werden nur durch bestimmte Reize ausgelöst, z.Bsp. der Greifreflex

Wie gerade erwähnt, sind Babies anfangs hauptsächlich mit Reflexen ausgestattet.

Der überlebenswichtigste ist wohl der Saug- und Suchreflex. Er sichert dem Baby Überleben durch Nahrungsaufnahme - beim Suchreflex dreht das Baby sein Köpfchen so lange, bis es die Brustwarze der Mutter gefunden hat, um zu saugen.

Ein anderer ist der Moro- Reflex, der wahrscheinlich aus der Frühgeschichte des Menschen erhalten geblieben ist. Das Baby macht bei einem lauten Knall unwillkürlich Klammerbewegungen. Dieser Reflex wird im 4. Lebensmonat vom Schreckreflex abgelöst, der lebenslang erhalten bleibt. Bei einem lauten Knall zuckt das Kind zusammen- es erschrickt (vgl.Müller 1992, S.84).

Grundsätzlich verschwinden alle Reflexe, mit denen ein Neugeborenes ausgestattet ist, nach einigen Monaten und werden teilweise durch andere ersetzt (vgl.Müller 1992, S.84).

Das Sehvermögen ist relativ unausgereift; ein Neugeborenes sieht einfache Muster bis zu einer Entfernung von 25 cm, erkennt Farben und bewegte Gesichter (vgl.Oerter; Montada 1995, S.185). Damit sich das Sehvermögen entwickeln kann, braucht das Kind differenzierte Reize, anfangs einfache Muster (Streifen, große Punkte), später vielfältigere Farben und Muster, die nur möglich sind, bei ungehinderter Sicht und Einbezogenwerden in die Umwelt (vgl.Müller 1992, S.84).

2.1.2. emotionale Entwicklung

Die ersten Gefühle, zu denen ein jedes gesunde Baby fähig ist, sind Lust, Ärger und Wut. Mit zwei bis drei Monaten kommt dann die Angst hinzu. Diese kann sich erst entwickeln, wenn das Baby seine Wahrnehmungsfähigkeit ausgebildet hat, was bedeutet, daß Angst ein erlerntes Gefühl ist. Ab dem zweiten Monat beginnt der Säugling, eine gefühlsmäßige Bindung zu seiner Mutter aufzubauen. Dann ist seine stärkste Angst die vor der Trennung von der Mutter. Eine Muttertrennung beginnt demzufolge erst ab dem zweiten, bzw. dritten Monat gefährlich zu werden (vgl.Müller 1992, S.87).

2.1.3. Lernprozesse beim Kleinkind

Um einem Säugling eine normale Entwicklung zu gewährleisten, gehört außer der primären Versorgung und der Schulung der Wahrnehmungsorgane durch Reize auch das Lernen dazu. Ein Kind lernt auf drei verschiedene Arten (vgl.Müller 1992, S.84):

1. durch das Lernen am Erfolg/ instrumentelles Lernen: ein Kind lernt, daß eine bestimmte Reaktion (ein Reflex oder eine Verhaltensweise) eine andere auslöst – ein Beispiel dafür ist das Lächeln. Wird das Kind jedesmal, wenn es lächelt dafür belohnt, zum Beispiel durch Streicheln, wird es immer öfter lächeln. Ein anderes ist das Schreien, wie weiter oben im Text schon erwähnt. Das Kind benutzt das Schreien als Instrument, um seine Wünsche erfüllt zu bekommen, da es gelernt hat, daß auf sein Schreien (im Normalfall) eine Bedürfnisbefriedigung erfolgt
2. Lernen durch Nachahmung: dieses ist erst ab ca. der 4. Woche an möglich, weil erst ab da die Wahrnehmung als Grundvoraussetzung genügend ausgeprägt ist.
Das Kind beginnt Laute und Gesichtsausdrücke nachzuahmen
3. konditionales Lernen: ein bestimmtes Ereignis geht mit einem Reiz einher und erzeugt beim Kind eine Reaktion. Nach einigen Versuchen erfolgt die Reaktion auch ohne Auftreten des Reizes.

2.1.4. Instinkte

Eine Grundlage bei der Verhaltensforschung des Neugeborenen ist die orale Theorie S. Freud`s. Diese kommt u. a. beim Saugverhalten des Babys zum Tragen.

Er betrachtete die Mundlust des Baby`s als eigenständigen Trieb. Seiner Theorie zufolge ist die Mundschleimhaut des Kindes eine erogene Zone, die es zu stimulieren versucht, um Befriedigung zu erleben. Das Saugen wird als frühkindliche Sexualität und sexuelle Betätigung angesehen (vgl.Müller 1992, S.92). Ein Reflex ist die Reaktion der Nerven, Instinkt die unbewußte Reaktion auf ein Ereignis.

Das Saugverhalten ist ein Instinkt, den alle Säugetiere zum Überleben brauchen.

„Instinkt ist ein hierarchisch organisierter nervöser Mechanismus, der auf bestimmte vorwarnende, auslösende und richtende Impulse anspricht und sie mit koordinierten und lebens- bzw. arterhaltenden Bewegungen beantwortet.“(Müller 1992, S. 91)

Voraussetzung eines Instinktes ist ein Trieb oder ein Bedürfnis. Im Fall des Saugens ist es der Hunger, der das Baby so lange suchen läßt, bis es die Brustwarze gefunden hat. Der Auslöser des Instinkts ist ein Reiz, in diesem Fall die Brustwarze, die in der Mundschleimhaut des Kindes eine Erregung verursacht. Das gilt parallel auch für das Mundstück der Flasche. Das Saugverhalten kann bei großem Hunger auch durch andere Reize ausgelöst werden, wie eine Fingerspitze oder ein Stoffzipfel (vgl.Müller 1992, S.91).

2.1.5. die kognitive Entwicklung, Piaget`s Stufenlehre

Ein allgemein gültiges Modell der geistigen Entwicklung ist Piagets Stufenlehre.

Nach seinen Erkenntnissen verläuft die kognitive Entwicklung des Kindes sprunghaft in vier Stufen, die alle aufeinander aufbauen, das bedeutet, keine kann übersprungen oder ausgelassen werden (vgl.Müller 1992, S.153):

1. Stufe der sensumotorischen Intelligenz (von der Geburt bis zum 2. Lebensjahr)

Das Baby bildet aus Wahrnehmung und Motorik einfache Handlungsschemata, die erweitert werden. Diese Schemata sind veränderbar und kombinierbar. Das bedeutet, das Kind lernt Sehen und Greifen zu kombinieren und große und kleine Gegenstände gezielt zu greifen.

Die sensumotorische Phase wiederum ist unterteilt in 6 Stadien (vgl.Rossmann, P. 1996, S.76):

1.Stadium- umfaßt den ersten Lebensmonat: das Kind übt angeborene

Reflexe und differenziert sie

2.Stadium- zweiter bis vierter Monat: das Stadium ist geprägt von primären

Kreisreaktionen – Handlungen mit positivem Erfolg werden...

unbewußt wiederholt, was dem instrumentellen Lernen

entspricht. Weitere Merkmale dieser Phase sind, daß sich das

Baby seiner Umwelt aktiv anpaßt und sein Spiel auf den eigenen

Körper (Daumen) beschränkt

3. Stadium- fünfter bis achter Monat: hier finden sekundäre Kreisreaktionen

statt, damit ist gemeint, daß ein Baby erfährt, daß eine bestimmte

Handlung eine entsprechende Reaktion zur Folge hat und in der

Lage ist, diese Ereignisse in Zusammenhang zu bringen und...

bewußt zu wiederholen

4.Stadium- neunter bis 12. Monat: ein Kind ist jetzt fähig, Gegenständen

eine Funktion zuzuordnen und bekannte Schemata in neuen

Situationen anzuwenden

5.Stadium- 13. bis 18. Monat: es finden tertiäre Kreisreaktionen statt, das...

heißt, ein Kind erforscht aktiv neue Handlungsschemata und

kombiniert diese

6. Stadium- 19. bis 24. Monat: die Intelligenz erwacht. Das zeigt sich darin,

daß das Kind dazu übergeht, sich Handlungen vorzustellen, sie

zu durchdenken und zu verstehen und des weiteren aus

Beobachtungen fremder Handlungen zu lernen.

2. Phase des voroperatorischen anschaulichen Denkens (2. bis 7. Lebensjahr)

Das ist die Stufe, auf der ein Kind sein symbolisches Denken entwickelt. Es teilt einem Gegenstand eine beliebige Funktion zu, die je nach Laune des Kindes wieder verloren geht, bzw. sich verändert.

3. Phase der konkreten Operation (7. bis 11. Lebensjahr)

Auf dieser Stufe beherrscht das Kind einfache Denkoperationen in vorstellbaren Mengen, z.Bsp. Rechenoperationen. Weiterhin erkennt es Teilmerkmale von Gegenständen und kann diese in Beziehung zueinander setzen.

4. Phase der formalen Operation (ab dem 11. Lebensjahr)

Ab nun ist es einem Menschen möglich, Voraussagen zu treffen und Hypothesen aufzustellen, das heißt, er ist in der Lage sein Gehirn voll zu nutzen.

Nach Piaget hat ein Kind zwei Möglichkeiten, Schemata zu verändern:

1.durch Assimilation: Angleichen neuer Wahrnehmungen, Informationen und Erfahrungen an bestehende Schemata, kurz: Einpassen von Neuem an eine bestehende Ordnungsstruktur
2.durch Akkommodation: Umstrukturierung eines Schemas

Diese zwei Vorgänge sind gegenläufig, aber ergänzen sich dabei und sind unerläßlich für die geistige Entwicklung des Menschen, denn Entwicklung der Intelligenz ist das Anpassen an neue Situationen (vgl.Müller 1992, S.146).

2.2. Entwicklung des Menschen vom 2. bis zum 24.Lebensmonat

Ab dem zweiten Lebensmonat ist das Baby kein Neugeborenes mehr und beherrscht schon einige wichtige Verhaltensweisen, die in den folgenden Abschnitten erläutert werden.

2.2.1. Veränderungen in der Zeit vom 2. bis 4. Lebensmonat

In dieser Zeit löst sich das Kind vom Neugeborenenverhalten, verliert seine motorischen Reflexe und verändert seine Körperhaltung und Bewegungen (vgl.Rossmann, P. 1996, S.69). Es kann sein Köpfchen heben; seine Bewegungen werden weicher. Nun beginnt es zu lallen und damit erste Kommunikationsversuche und setzt seine Atmung gezielt ein, vor allem zum Schreien (vgl.Oerter; Montada 1995, S.202). Die Wahrnehmungsfähigkeiten verfeinern sich, es erkennt seine Mutter und schenkt Vertrautem ein freundliches Lächeln (vgl.Oerter; Montada 1995, S.203).

Ab jetzt entspricht es nun beschriebenem „Kindchenschema“ (Müller 1992, S.80).

Es nimmt die Mimik seines Gegenübers wahr und zeigt auch sonst reges Interesse an Gesichtern (vgl.Oerter; Montada 1995, S.203).

2.2.2. Veränderungen in der Zeit ab dem 6. Lebensmonat

(vgl.Oerter; Montada 1995, S.215- 217)

Das Schlafbedürfnis des Babys sinkt, es kann nun sitzen und zielsicher greifen, seine Sehfähigkeit ist ausgereift, bis hin zum 3-D Sehen.

Zwischen beiden Gehirnhälften ist eine Verbindung entstanden, das bedeutet, das Kind kann beide Körperhälften kombiniert einsetzen. Ab dem 6. Lebensmonat ist es in der Lage, Gesichter voneinander zu unterscheiden und leblose Gegenstände von belebten.

2.2.3. Veränderungen in der Zeit vom 8. bis zum 10. Lebensmonat

Mit acht Monaten startet ein Kind seine ersten Fortbewegungsversuche, entwickelt eine Objektpermanenz, das heißt, er versteht nun die unabhängige Existenz von Objekten (vgl.Oerter; Montada 1995, S.223).

Ein Phänomen dieser Periode ist die Acht- Monatsangst, die Angst vor Fremden (auch Fremdenangst). Sie äußert sich in heftigen Reaktionen, wie Schreien, Erstarren und Zurückweichen, wenn Kinder Fremde sehen.

Es existieren verschiedene Ansichten, wie es zu dieser Angst kommt (vgl.Oerter; Montada 1995, S.231):

- es kann eine konditionierte Angst vor Verlassen werden sein:

Es ist eine vorweggenommene Trennungsangst, da ein Weggehen der Mutter

Hunger und Allein- sein bedeuten.

- es kann ein kognitives Diskrepanzerlebnis sein:

Fremde Gesichter weichen von Schemata des Kindes ab, die aus Erfahrungen

aufgebaut werden; das Kind vergleicht seine Wahrnehmung mit seinen

Schemata und findet keine Übereinstimmung. Daraus entsteht eine

Unsicherheit, da das Kind keine Handlungsweisen für den Umgang mit dem

Fremden findet.

- es kann ein Versagen der vorsprachlichen Kommunikation bedeuten:

Mit vertrauten Menschen hat das kleine Kind eine persönliche

Kommunikationsbasis entwickelt, die beiderseits verstanden wird. Bei

Fremden funktioniert diese nicht, wodurch das Kind verängstigt ist.

Einen weiteren Fortschritt bedeutet das gezielte Greifen und das Unterscheiden visueller und tastbarer Eigenschaften von Gegenständen, wie Größe, Form, Gewicht (vgl.Oerter; Montada 1995, S.219).

2.2.4. Veränderungen in der Zeit ab dem 12. Lebensmonat

(vgl.Oerter; Montada 1995, S.236- 239)

Die größte Veränderung ist die Fähigkeit zum freien Laufen. Es ist besonders aktiv und neugierig und beginnt, einen Gegenstand in seiner eigentlichen Funktion zu gebrauchen. Seine Kommunikationsmöglichkeiten erweitern sich, es kennt mehr Worte und Gesten, die ersten Kinder lernen Trennungsangst real kennen, da sie nun alt genug für den Kinderkrippenbesuch sind. Die Angst äußert sich in reduzierter Aktivität, Schreien und schlechter Stimmung.

2.2.5. Veränderung in der Zeit vom 18. bis zum 24.Lebensmonat

(vgl.Oerter; Montada 1995, S.245- 247)

Ab diesem Alter ist ein Kind fähig, zu rennen, Ball zu spielen, es ist allgemein in seinen Bewegungen sicherer. Auch in seiner kognitiven Entwicklung macht es große Fortschritte, indem es zielgerichtet handelt, seine Zielvorstellungen mit tatsächlich erreichten Ergebnissen vergleicht; sein Wortschatz umfangreicher geworden ist. Es versteht die Funktion eines Gegenstandes und deutet sie kurz an, um zu zeigen, daß es sie kennt.

Das Kind interagiert mit der Mutter, spielt Als- Ob- Spiele mit Gleichaltrigen

(Mutter- Vater- Kind) und imitiert andere Personen- es erkennt soziale Rollen

Ein entscheidender Fortschritt zeigt sich darin, daß sich das Kind selbst im Spiegel erkennt und damit gelernt hat, daß etwas zur selben Zeit an zwei Orten sein kann und die Voraussetzung für soziale Identität gegeben ist. Es begreift, daß andere so etwas sind, wie das Kind selbst. Das ist die Voraussetzung für echtes Mitgefühl für andere.

3. Symptome und Folgen der Mutterentbehrung

In diesem Kapitel werde ich einige grundlegende Begriffe definieren und Symptome beschreiben.

Es gibt drei verschiedene Arten der Muttertrennung: 1.die völlige, 2.die zeitweise und 3. die Form der Trennung, bei der die Mutterfigur häufig wechselt und es von daher schwer ist für ein Kind, ein emotionales Band zu ihr zu knüpfen. (vgl.Bowlby 1995, S.47)

3.1. die anaklitische Depression

Dieser Begriff wurde von Spitz geprägt. In der Einleitung seines Buches

„Vom Säugling zum Kleinkind“ erklärt sich Spitz als Anhänger von Sigmund Freud`s Theorien. Daher werden diese ansatzweise genannt, um Spitz` Thesen verständlich zu machen.

Anhand seiner Hospitalismusforschung im Säuglingsheim bemerkte er auffällige Veränderungen an einigen Kindern und versuchte, die Ursachen dafür zu finden. Seine Erkenntnisse werden in diesem Abschnitt erläutert.

Eine Depression entsteht nur bei einer guten Mutter- Kind- Beziehung, da der Wegfall einer deprivierenden (= mangelhaft) Beziehung nicht als Verlust empfunden wird und die Mutter leicht zu ersetzen ist (vgl.Spitz 1989, S.287).

Weiterhin ist die Depression um so ausgeprägter, je besser die Mutter- Kind- Beziehung und je weniger einfühlsam die (zeitweilige) Ersatzmutter ist (vgl.Göppel 1997, S. 93). Allerdings bestehen keine Erkenntnisse über Spätfolgen, da Spitz für derartige Untersuchungen keine Möglichkeiten zur Verfügung standen, da die Kinder nur maximal 18 Monate im Heim verbrachten (vgl.Göppel 1997, S. 93).

Die anaklitische Depression ist ein partieller Entzug affektiver Zufuhr, was bedeutet, daß bestimmte Reize dem Kind nur zeitweise entzogen werden; die Mutter nur eine begrenzte Zeit dem Kind nicht zur Verfügung steht. Die Symptome der anaklitischen Depression halten etwa drei Monate an und haben sich danach so verschlechtert, daß zu erkennen ist, daß das Kind ab jetzt hospitalisiert.

Aus diversen Symptomen leitete Spitz ab, daß es sich um ein klinisches Syndrom handeln muß (vgl.Spitz In: Bittner; Schmid- Cords 1968, S.105). In allen Fällen fielen die Kinder durch ihren physiognomischen Gesichtsausdruck auf, das heißt, sie hatten eine unbewegte Miene, starrten vor sich hin und wirkten abwesend und teilnahmslos. Weitere erkennbare Anzeichen sind Angst, Traurigkeit, Ablehnen von Kontakt und Umwelt, Entwicklungsverzögerung, Gewichtsverlust, Schlaflosigkeit, Verlangsamung der Bewegungen. Das sind viele Merkmale, die nicht notwendigerweise zur selben Zeit, aber doch fast alle während der Depression auftreten (vgl.Spitz In: Bittner; Schmid- Cords 1968, S.108).

Spitz fiel weiterhin auf, daß das Syndrom stets in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres der Heimkinder auftritt. Im ersten Halbjahr sind die Kleinkinder fröhlich, freundlich, aktiv und werden dann abrupt weinerlich, lehnen Kontakte zu anderen Menschen ab und zeigen auch sonst die oben genannten Symptome (vgl.Spitz 1989, S.280).

Mit Ausnahme einiger individueller qualitativer und quantitativer Unterschiede verschlechtert sich der Zustand ab dem dritten Monat seit Auftreten der Depression nochmals. Nun fallen die Kinder in einen Zustand tiefer Apathie, verharren gänzlich in ihrem starren Gesichtsausdruck und die Möglichkeit, in Kontakt mit ihnen zu treten geht gegen Null. Bei einigen wurden die Symptome von autoerotischer Betätigung jeglicher Art begleitet (vgl.Spitz 1989, S.281).

Spitz führte in seiner Arbeit zum Thema einige Fallbeispiele an, die alle damit endeten, daß das Kind mit seiner Mutter wieder zusammengebracht wurde und das Syndrom plötzlich verschwand, vorausgesetzt die Deprivation dauerte nicht länger als bis zu fünf Monaten (vgl.Spitz In: Bittner; Schmid- Cords 1968, S.105ff)...

Dabei haben weder die Rasse, der Entwicklungsstand oder das Geschlecht Einfluß auf das Erscheinen der Krankheit, lediglich das Alter- das Syndrom wurde nur bei Kindern zwischen sechs und elf Monaten beobachtet.

Enormen Einfluß dagegen hat die Anwesenheit der Mutter, bzw. das Vorhandensein eines Liebesobjekts. Die anaklitische Depression hat große Ähnlichkeit mit dem Syndrom der Trauer und Melancholie bei Erwachsenen, das bei diesen durch ein Gefühl der Ungeliebtheit, Liebesunfähigkeit oder von Selbstvorwürfen begleitet wird. Allerdings haben Kleinkinder nicht diese psychischen Möglichkeiten, da bei ihnen nur ein ES entwickelt ist. Sie verfügen kaum über ein ICH und erst recht nicht über ein ÜBER- ICH (vgl.Bittner; Schmid- Cords 1968, S.109- 112).

Laut S. Freud beschreibt das ES die Triebenergien des Menschen und seine Sucht nach sofortiger Befriedigung dieser. Das ICH ist der Vermittler zwischen den Wünschen des ES und den Möglichkeiten der Wirklichkeit, es ist der Träger der personalen Entscheidungen. Das ÜBER- ICH ist das menschliche Gewissen, welches Ver- und Gebote aus Erziehung und Umwelt übernommen hat und damit die Entscheidungen des ICH`s kontrolliert (vgl.Müller 1992, S.178).

Wenn dem Kind nun das Liebesobjekt entzogen wird, ist das ICH- Bild und damit die Vermittlung gestört.

[...]

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Hospitalismus
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Psychologie)
Veranstaltung
Vordiplom
Note
3,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
39
Katalognummer
V2802
ISBN (eBook)
9783638116909
Dateigröße
641 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Vordiplomsarbeit. 84 KB
Schlagworte
Hospitalismus, Vordiplom
Arbeit zitieren
Mandy Schmeißer (Autor:in), 2000, Hospitalismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/2802

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Hospitalismus



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden