Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche ohne eigenen Wohnsitz

Ein Vergleich zwischen Deutschland und Russland


Bachelorarbeit, 2014

48 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Definition: Kinder und Jugendliche ohne eigenen Wohnsitz
2.1 Klassifizierungen
2.2 Schwierigkeiten der Definition

3 Definition: Sozialstaat Deutschland/Russland
3.1 Unterschiede
3.2 Entwicklung der Unterschiede

4 Hilfe und Regularien
4.1 Stattliche Hilfe und Regularien
4.1.1 öffentliche Träger
4.1.2 Hilfsangebote
4.2 Freie und private Hilfe und Regularien
4.2.1 freie Träger
4.2.2 Hilfsorganisationen
4.2.3 Hilfsangebote
4.2.4 Spenden und Gesetzeskonflikte
4.3 Hinderliche Faktoren
4.4 Förderliche Faktoren

5 Defizite und Handlungsmöglichkeiten

6 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Niemand muss auf der Straße leben. Der Staat - und ganz besonders der deutsche - bietet jede Hilfe. Jedem. Man muss nur nicht zu faul sein, diese einzufordern!“ „Also, wir haben es wirklich gut in Deutschland. Man muss nur andere Länder vergleichen!“ Solche Kommentare wurden des Öfteren laut, als es um das Thema dieser Arbeit ging. Doch muss man erst andere Länder vergleichen, um festzustellen, wie großartig der deutsche Sozialstaat seine Aufgabe meistert? Im Vergleich mit wem ist der deutsche Sozialstaat großartig? Im Vergleich wozu versorgt der deutsche Sozialstaat all die Kinder und Jugendlichen ohne eigenen Wohnsitz so großartig? Im Vergleich zu Russland womöglich? Der Westen in seiner Arroganz nimmt gerne den Osten - in dieser Arbeit exemplarisch Russland - als negatives Beispiel, dort, wo der Hilfebedarf hoch ist, aber wo nichts getan wird, diesen zu decken Wann wird uns bewusst, dass sich trotz deutscher Hilfsangebote auch immense Defizite aufgetan haben, die uns nicht das Recht geben über den Bedarf, das Defizit und die Hilfsangebote, die verstreichen oder gar nicht erst entstehen, zu urteilen?

Russland ist seit 1993 in der Verfassung der Russischen Föderation als Sozialstaat deklariert und ist im Vergleich zu Deutschland noch recht jung ist dieser „Rolle“, denn hier entwickelte sich der Sozialstaat bereits im 19. Jahrhundert. Kann Russland somit einem Vergleich standhalten, wenn es um Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche ohne eigenen Wohnsitz geht? Das ist Thema dieser Arbeit und der Versuch herauszufinden, ob und ggf. worin sie sich in ihren Angeboten unterscheiden. Aufgrund der aktuellen politischen Machtverhältnisse in Russland und der steten Umverteilung von Zuständigkeiten und Kontrollfunktionen, die in besonderem Maße die Hilfsmöglichkeiten von bedürftigen Kindern und Jugendlichen betreffen, ist es notwendig, einen Vergleich anzustreben. Greift Hilfe in einem Sozialstaat unabhängig davon, wie die Sozialstaatlichkeit ausgelegt wird? Kann Hilfe dennoch umgesetzt werden, wenn sich ihr Hindernisse in den Weg stellen, wie es sich z.B. durch das „Agentengesetz“ (auf dieses Gesetz wird in Kapitel 4.2.4 näher eingegangen) in Russland darstellt? Ein Gesetz, welches ausländische Hilfsorganisationen zu zwingen versucht, sich als ausländische Agneten registrieren zu lassen, um weiterhin tätig sein zu dürfen. Können Hilfsangebote entstehen und kann sich Hilfe entwickeln, obwohl der russische Sozialstaat sich einer Möglichkeit so in den Weg stellt? Dies war ein ganz wesentlicher Grund für die Wahl des Themas, in welchem es um einen direkten Vergleich zwischen zwei Sozialstaaten geht, nämlich Deutschland und Russland.

Thema dieser Arbeit ist es nicht zu vergleichen, ob die russischen Hilfsangebote „besser“ sind als die deutschen. Die Arbeit zeigt nicht nur Hilfsangebote beider Länder auf, sondern berücksichtigt unter diesem Aspekt auch die Frage nach den Ressourcen und stellt immer wieder in den Fokus, dass Russland, im Vergleich zu Deutschland, ein „junger“ Sozialstaat ist. Ebenso versucht diese Arbeit hervorzugehen, dass Hilfsangebote sich entwickelt und verändert haben. Sie vergleicht die Entwicklungen dieser Angebote beider Länder. Intention dieser Arbeit ist es, nicht nur die Defizite aufzudecken, sondern auch Perspektiven und förderliche Faktoren, die schon bestehen, aufzuzeigen.

Da sich die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ohne eigenen Wohnsitz beschäftigt, wird zunächst in Kapitel 2 definiert, wen das Gesetz als Kind bezeichnet und wen als Jugendlichen. Das deutsche und das russische Gesetz haben hier eine unterschiedliche Auslegung der Altersgrenze - dies wird anhand von deutschen und russischen Gesetzestexten in Kapitel 2 erläutert. „Ohne eigenen Wohnsitz“ ist eine definitorische Schwierigkeit, wenn es um die Kinder und Jugendlichen geht, die Gegenstand dieser Arbeit sind. Die Schwierigkeiten macht aus, dass diese Kinder und Jugendlichen nicht einer knappen und eng strukturierten Definition unterliegen können, da etwa der Sozialisationsmittelpunkt nicht ausschließlich der Straße entspringt. Diese definitorische Schwierigkeit behandelt das Kapitel 2 sowie den Versuch, diese zu entschlüsseln.

Dass es sich in dieser Arbeit um zwei Sozialstaaten handelt, ist bereits deutlich geworden, doch dass es Unterschiede gibt in der staatlichen Auslegung dieser Regierungsform und dass sich Unterschiede entwickelt haben, soll in Kapitel 3 geklärt werden, ebenso, was zu den Unterschieden geführt hat. Ein ganz wesentlicher Bestandteil dieser Arbeit ist, dass diese Unterschiede einen Vergleich erst möglich machen, doch darauf soll im Folgenden näher eingegangen werden Der Hauptteil dieser Arbeit, Kapitel 4, beschäftigt sich mit den staatlichen Hilfsangeboten und seinen Trägern, ebenso den freien Trägern und Organisationen, ihren Angeboten und den Gesetzeskonflikten in Russland seitens der Regierung, indem sie das „Agentengesetz“ 2013 erließ. Es werden ferner hinderliche und förderliche Faktoren für ein Erreichen von Hilfe und Hilfsangeboten aufgezeigt und in Kapitel 5 den Defiziten und Handlungsmöglichkeiten gegenübergestellt.

Das Fazit soll Raum geben zu verdeutlichen, wie Hilfe nicht aussehen darf, was u.U jedoch als solche angesehen wird und in welchen Bereichen Handlungsbedarf besteht und auch wo Möglichkeiten bestehen, um die Kinder und Jugendlichen ohne eigenen Wohnsitz nachhaltig erreichen zu können.

2. Definition: Kinder und Jugendliche ohne eigenen Wohnsitz

Die Definition für Kinder und Jugendliche ist im Gesetzbuch verankert. So soll auch hier Bezug auf diesen Gesetzestext genommen werden. §7 SGB VIII (1) 1,2 bestimmt:

(1). Im Sinne dieses Buches ist

1. Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist, soweit nicht die Absätze 2 bis 4 etwas anderes bestimmen,
2. Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist.[1]

Im Gesetz der Russischen Föderation werden Kinder und Jugendliche nicht unterschieden, sondern laut Artikel 54 des Familienkodex (Семейный кодекс , ст. 54) der russischen Föderation folgendermaßen definiert: unter Kind werden Personen verstanden, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben ((Ребенок — лицо, не достигшее возраста 18 лет). Der Begriff ‚Kind‘ wird gleichrangig mit dem Begriff ‚Minderjähriger‘ verwendet.[2]

Im Strafgesetzbuch (Уголовный кодекс, ст. 87) Artikel 87 ist minderjährig (несовершеннолетний), wer schon 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist.[3]

Im Bürgerlichen Gesetzbuch (Гражданский кодекс РФ Статья 28) Artikel 28 wird der Begriff ‚Minderjähriger‘ (малолетний) verwendet, wenn es um die Bezeichnung der Personen geht, die schon 6 Jahre, aber noch nicht 14 Jahre alt sind.[4]

(Übersetzt nach: Susanne Klinzing. IJAB-Fachstelle für internationale Jugendarbeit in der Bundesrepublik Deutschland e.V.).

Kinder und Jugendliche ohne eigenen Wohnsitz zu definieren, stellt eine große Schwierigkeit dar, gleichzeitig erlaubt dies einen definitorischen Spielraum, da die typischen Klassifizierungen im eigentlichen Sinne sehr vielschichtig sind. Was die Schwierigkeiten ausmacht, soll im Folgenden erläutert werden, doch sollen hier zunächst Klassifizierungen aufgeführt werden, um zu verdeutlichen, was die genannte Vielschichtigkeit der Definitionsproblematik darstellt.

2.1. Klassifizierungen

Es wurde per Gesetz im Sozialgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland (§7 SGB VIII (1) 1,2) und im Familienkodex Artikel 54 der Russischen Föderation (Семейный кодекс , ст. 54) definiert, in welcher Altersgrenze sich Kinder und Jugendliche bewegen, wann immer der Begriff: ‚Kind’ oder ‚Jugendlicher’ fällt, so dass der Altersrahmen nun festgelegt wurde, wann immer im Folgenden davon gesprochen wird. Die Arbeit beschäftigt sich also mit Kindern und Jugendlichen, die sich in der Altersspanne von 6 bis 18 Jahren bewegen..

Kinder- und Jugendliche ohne eigenen Wohnsitz können beispielsweise sein: Straßenkinder, Sozialwaisen oder auch Heimkinder, wobei der Begriff ‚Straßenkinder’ immer noch kontroverse Diskussionen auslöst. Mit Recht, denn dieser Begriff, aus Lateinamerika etabliert, erlangte hier mediale Aufmerksamkeit und wurde immer wieder auf Kinder oder Jugendliche bezogen, die „draußen“ leben. Es kann nicht als fest definierter Begriff „das Straßenkind“ genannt werden, denn hier gibt es auch diverse Klassifizierungen, die verdeutlichen, dass eine klar eingegrenzte Definition nicht möglich ist.

Als Beispiel einer Klassifizierung von Kindern und Jugendlichen ohne eigenen Wohnsitz kann gesagt sein: „Einige Kinder leben halb auf der Straße, dass heißt, sie haben noch einen Fuß bei ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten“[5] - ebenso auch: „Es ist möglich, dass das Kind bei Freunden aus dem Milieu eine Unterkunft gefunden hat“[6], und „die dritte Kategorie betrifft komplett ausgegrenzte Kinder und Jugendliche, die ganz auf der Straße leben“.[7]

Es ergibt sich somit die Gruppe derjenigen, die noch zuhause wohnen, jedoch nicht vollzeitig. Sie nächtigen zuhause, verbringen die Tage auf der Straße und besuchen die Schule, diese gelegentlich oder auch regelmäßig. Dieser Zustand wird für viele auch als ungewolltes Sprungbrett auf die Straße genutzt, wenn sich die Situation zuhause verschlechtert hat.

Als zweite Klassifizierung werden hier Kinder und Jugendliche genannt, welche den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen, sich jedoch eine Art Eratzfamilie geschaffen haben, welche aus dem Bereich der Straße kommt, allerdings mit spartanischer Unterkunftsmöglichkeit. Es sind sogenannte Bekannte, bei welchem das Kind bzw. der Jugendliche sich aufhält; doch auch diese Lösung ist nur eine vorübergehende.

Es gibt nun die dritte Klassifizierung von Kindern und Jugendlichen, welche ganz auf der Straße leben. Ihr Lebens- und Sozialisationsmittelpunkt ist die Straße. Wenngleich sie manchmal Unterkunft in Heimen oder Notunterkünften oder auch Bekannten erhalten, so ist diese nicht dauerhaft.

Faktisch ist jedoch allen gemein, dass für sie der Sozialisationsort die Straße ist, ob ausschließlich, überwiegend oder nur zum Teil.

Sozialwaisen sind solche, welche ohne elterliche Fürsorge leben. Ob ihr Wohnsitz sich noch in dem Umfeld der Herkunftsfamilien befindet oder in einem Heim, unabhängig welcher Art, kann insofern vernachlässigt werden, da deutlich ist, dass mit dieser Definition kein familiäres Zuhause und keine Fürsorge bestehen. Diese Kinder und Jugendlichen leben möglicherweise in Heimen, welche nicht zwingend als Zuhause, nicht als eigener Wohnsitz bezeichnet werden können.

Die Bezugspersonen wechseln dort täglich durch den Schichtwechsel der Erzieher und es gibt häufig keine Privatsphäre für die Bewohner, da man sich nicht nur Schlafzimmer mit mehreren teilt, sondern auch dem Öffentlichmachen bzw. dem häufigen Kontrollieren der persönlichen Gegenstände durch das Heimpersonal ausgesetzt ist.

Viele der sogenannten Straßenkinder haben mehrfach Stationen in verschiedenen Heimen durchlaufen, nachdem sie wegliefen oder die Häuser verlassen mussten.

Kinder oder Jugendliche, welche auf der Straße leben, ganz oder nur teilweise, vorübergehend oder vollständig, werden jedoch in einer nicht abgrenzbaren Definition als Straßenkinder bezeichnet. Ob der Wohnsitz formal oder informell besteht, ist sekundär, denn für diese Kinder und Jugendlichen kann ein fester Wohnsitz nicht genannt werden, sie haben kein Zuhause.

2.2. Schwierigkeiten der Definition

Wie oben erwähnt wurde, besteht möglicherweise eine formelle Meldeadresse, doch kann sie deshalb nicht zwingend als Wohnsitz der Kinder und Jugendlichen geltend gemacht werden. Es gibt verschiedene Merkmale für diese Kinder oder Jugendlichen, bei denen „ohne eigenen Wohnsitz "deutlich wird. Einige Autoren oder Experten wie z.B UNICEF, des deutschen Jugendinstituts (DJI) oder des Instituts für Soziale Arbeit (IfSA) machen bei dem Versuch einer eindeutigen Zuschreibung deutlich, dass es eine klar eingegrenzte Definition nicht gibt.

Die UNICEF definiert Straßenkinder als „wer unter 18 Jahre ist und sein Lebensmittelpunkt hauptsächlich oder größtenteils die Straße ist; doch aus Sorge vor der Lateinamerikanisierung unserer sozialen Verhältnisse bezeichnen Sozialwissenschaftler diese Definition als unbrauchbar“.[8]

Das IfSA favorisiert die Formulierung „Kinder und Jugendliche in besondern Problemlagen“ als inhaltlich besser differenziertes Pendant zu „Straßenkinder“, denn nicht alle „Straßenkinder“ leben auf der Straße.[9]

Das deutsche Jugendinstitut (DJI) bevorzugt den Terminus „Straßenkarrieren von Kindern und Jugendlichen“[10].

Es werden vom DJI folgende Merkmale für eine Definition der Straßenkinder genannt, welche einzeln oder auch kombinierbar möglich sind: (Es muss jedoch noch einmal erwähnt werden, dass es auch unter den Experten keine einheitliche Definition gibt)

- „Weitgehende Abkehr von gesellschaftlich vorgesehenen Sozialisationsinstanzen wie Familie oder ersatzweise Jugendhilfeeinrichtungen sowie Schule und Ausbildung,
- Hinwendung zur Straße, die zur wesentlichen oder auch einzigen Sozialisationsinstanz und zum Lebensmittelpunkt wird,
- Hinwendung zum Gelderwerb auf der Straße durch Vorwegnahme abweichenden, teilweise delinquenten Erwachsenenverhaltens wie Betteln, Raub, Prostitution, Drogenhandel,
- Faktische Obdachlosigkeit“.[11]

Im umgekehrten Fall heißt dies jedoch auch, dass, selbst wenn diese Merkmale zutreffen, nicht alle Kinder und Jugendlichen auch von den Medien und Experten als Straßenkinder angesehen werden. Meist wird dieser Begriff für Kinder oder Jugendliche ohne eigenen Wohnsitz hergenommen, wenn es um solche geht, die aus den Metropolen der Großstädte kommen und sich in Hauptbahnhöfen und an großen, bekannten Plätzen aufhalten wie z.B. Berlin Alexanderplatz oder am Kölner Dom etc. Wie ambivalent das Wirken der Medien in dieser Thematik sein kann, zeigt das Beispiel um die sogenannten „crash Kids“, die große Aufmerksamkeit erlangten durch illegale Autorennen mit gestohlenen Fahrzeugen, bei welchen es zu tödlichen Unfällen kam. Das mediale Interesse an Straßenkindern bewirkte einerseits, dass die Gesellschaft die Kinder und Jugendlichen ohne eigenen Wohnsitz, nicht mehr ignorieren konnten, indem Missstände öffentlich gemacht wurden, andererseits gelangten Kids zu sogenanntem „Ruhm“ innerhalb der Szene. Kinder und Jugendliche werden für die Sensationsgier instrumentalisiert und andererseits wird die Attraktivität der Szene für sie erhöht, alleine durch die hohe Aufmerksamkeit der Medien.[12]

Die Medien haben demnach ebenso eine eigene Definition, wenn es um Straßenkinder geht, wie z.B., dass sie viele als solche gar nicht anerkennen, wenngleich sie Merkmale aufweisen, wie sie beispielsweise des DJI aufführte in ihrem Versuch um eine mögliche Definition.

Zusammengefasst: Bei all den Schwierigkeiten, diese einheitlich zu bündeln, zu präzisieren und klar abgegrenzt zu definieren, wurde nach bisheriger Recherche verdeutlicht, dass dies nicht möglich ist.

Verwandte Begriffe sind auch Ausreißer, Aussteiger oder Treber, welche durch ihr Verhalten nonkonforme Merkmale aufweisen.

Es spielen das Verhalten, die Lebensweise und auch das Alter eine Rolle, und so differenziert die oben genannten Merkmale sein mögen, so sind sie dennoch lückenhaft wie u.a. das Beispiel einer Jugendlichen zeigt, welche in einem Abbruchhaus lebt, jedoch weiterhin die Schule besucht und von Mitschülern mit Lebensmitteln versorgt wird.[13]

Als definitorische Abgrenzung sind im weiteren Verlauf, wenn von Kindern- und Jugendlichen ohne eigenen Wohnsitz gesprochen wird, all jene gemeint, die als Straßenkinder – irrelevant, nach welchen Definitionskriterien und von wem diese aufgestellt wurden - und als Sozialwaisen gelten. Es sollen ferner der Einfachheit halber diese Kinder und Jugendlichen ohne eigenen Wohnsitz aus Russland und aus Deutschland nur als Kinder und Jugendliche bezeichnet werden.

3. Definition: Sozialstaat Deutschland / Russland

In Art. 20 Abs. 1 GG steht zum Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes geschrieben: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“

Somit garantiert die Bundesrepublik ihren Bürgern neben den freiheitlich-demokratischen Grundrechten auch die Sozialstaatlichkeit.

Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG sagt: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.“

Innerhalb der Verfassung bzgl. des Sozialstaats ist die Gesetzgebung angehalten, bei der legislativen, judikativen und exekutiven Gewalt den sozialen Ausgleich zu berücksichtigen.

Im Grundgesetz, Kapitel 1 Artikel 7 der Russischen Föderation ist der Sozialstaat wie folgt definiert:

(Статья 7. Российская Федерация - социальное государство)

[Конституция] [Глава 1] [Статья 7]

1. Российская Федерация - социальное государство, политика которого направлена на создание условий, обеспечивающих достойную жизнь и свободное развитие человека.[14] Die Russische Föderation ist ein sozialer Staat, dessen Politik ausgerichtet ist, die Bedingungen zu schaffen für ein würdiges Leben und eine freie Entwicklung des Menschen.
2. В Российской Федерации охраняются труд и здоровье людей, устанавливается гарантированный минимальный размер оплаты труда, обеспечивается государственная поддержка семьи, материнства, отцовства и детства, инвалидов и пожилых граждан, развивается система социальных служб, устанавливаются государственные пенсии, пособия и иные гарантии социальной защиты.[15] „In der russischen Föderation steht Arbeit und Gesundheit unter dem Schutz des Staates. Ein Mindestlohn wird garantiert. Die staatliche Unterstützung für soziale Dienstleistungen und Renten wird den Familien in der Vaterschaft, Mutterschaft, Kinderhilfe, den Invaliden und Rentnern garantiert“.

(Übersetzt nach: Schröter, Helmut)

Dass es unterschiedliche Schwerpunkte und Ausführungen innerhalb der Sozialpolitik gibt, soll hier im Folgenden belegt werden, wenn es um die Unterschiede des deutschen und russischen Sozialstaates geht, doch dazu ist es relevant zu klären, wie sich Unterschiede überhaupt entwickeln konnten.

3.1. Unterschiede

Die neuere verfassungsrechtliche Interpretation in der Bundesrepublik bezeichnet die Aufgabe der Sozialstaatlichkeit als Gewährleistung der „sozialen Voraussetzung der Realisierung grundrechtlicher Freiheit“ und sucht, durch Bezugnahme auf die Grundintention des liberalen Staatsverhältnisses, die zunächst in den Vordergrund gestellten Spannungen zwischen Sozial- und Rechtsstaatlichkeit zu überwinden. Die Ausformulierung der sozialstaatlichen Aufgabe erfolgte auf der Verfassungsebene.[16]

Soziale Fragen spielten 2004 eine sehr untergeordnete Rolle bei der Übergabe des „Konzepts der Sozialstaaten der Russischen Föderation“ an Präsident Putin.

Die staatliche Jugendpolitik ist ein Begriff, der in Russland erst seit zehn Jahren existiert und im Gesetzbuch einen Platz gefunden hat. Es gibt im russischen Sozialstaat keinen Jugendhilfeplan wie es in Deutschland der Fall ist, (keine gesonderte verfassungsmäßige Verankerung des Kinder- und Jugendschutzgesetzes und keinen Leistungsplan wie es z.B. im SGB 8 vorgesehen ist.) Da es kein dem deutschen Kinder-und Jugendhilfegesetz (KJHG) ähnliches Gesetz in der Russischen Föderation gab, begann der Aufbau der Kinder- und Jugendhilfeleistungen mit der Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen.[17] Auf ihre Ausgestaltung wird nun jedoch das Augenmerk verstärkt gerichtet.

Die Effektivität der sozialpolitischen Maßnahmen, nicht einen Ressourcenmangel, nannte W. Putin als Hauptproblem. Er sieht sich nicht mit einem Ressourcen-, sondern einem Verteilungsproblem konfrontiert. Verteilerfragen sind Machtfragen und in einer Demokratie mitbestimmbar vom Volk (inwieweit und von wem wann gerechtfertigt, ist hier nicht Gegenstand der Arbeit) - in einem totalitären System, wie es bis vor geraumer Zeit in Russland bestand, absolut nicht. Die Verteilerproblematik eint beide Länder, doch unterscheiden sie sich maßgeblich voneinander in dem Größenverhältnis dieser Probleme.

Dem Sozialstaat zugrundeliegend ist das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit und Wahrung der Menschenrechte.

[...]


[1] Gesetze für die soziale Arbeit. Textsammlung. Ausg. 2011/2012 ; Stand: 25. August 2011. Baden-Baden: Nomos. Seite. 1773

[2] Российской Федерации: Семейный кодекс РФ] [Глава 11] [Статья 54]. Online verfügbar unter http://www.zakonrf.info/sk/54/, zuletzt geprüft am 05.12.2013

[3] Российской Федерации: (Уголовный кодекс, ст. 87. Online verfügbar unter http://www.zakonrf.info/uk/87/, zuletzt geprüft am Zugriff 5.12.13

[4] Российской Федерации: Гражданский кодекс РФ Статья 28. Online verfügbar unter http://www.zakonrf.info/gk/28, zuletzt geprüft am 5.12.13

[5] Rohman, Angela (2000): Straßenkinder in der Bundesrepublik. Beweggründe-Straßenkarrieren-Jugendhilfe / Junge Menschen auf der Straße? der Versuch einer sozialpädagogischen Annäherung an ein gesellschaftspolitisches Phänomen. Frankfurt/M: IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation; IKO. Seite 10

[6] Rohman, Angela (2000): Straßenkinder in der Bundesrepublik. Beweggründe-Straßenkarrieren-Jugendhilfe / Junge Menschen auf der Straße? der Versuch einer sozialpädagogischen Annäherung an ein gesellschaftspolitisches Phänomen. Frankfurt/M: IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation; IKO, Seite 11

[7] Rohman, Angela (2000): Straßenkinder in der Bundesrepublik. Beweggründe-Straßenkarrieren-Jugendhilfe / Junge Menschen auf der Straße? der Versuch einer sozialpädagogischen Annäherung an ein gesellschaftspolitisches Phänomen. Frankfurt/M: IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation; IKO, Seite 11

[8] Holm, Karin; Dewes, Jürgen (Hg.) (1996): Neue Methoden der Arbeit mit Armen. Am Beispiel Straßenkinder und arbeitende Kinder : Dokumentation einer internationalen Tagung in der Fachhochschule Düsseldorf, 1995. Unter Mitarbeit von Jürgen Dewes. 2. Aufl. Frankfurt/Main: IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation. Seite 185

[9] Rohman, Angela (2000): Straßenkinder in der Bundesrepublik. Beweggründe-Straßenkarrieren-Jugendhilfe / Junge Menschen auf der Strasse? der Versuch einer sozialpädagogischen Annäherung an ein gesellschaftspolitisches Phänomen. Frankfurt/M: IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation; IKO Seite. 12

[10] Rohman, Angela (2000): Straßenkinder in der Bundesrepublik. Beweggründe-Straßenkarrieren-Jugendhilfe / Junge Menschen auf der Straße? der Versuch einer sozialpädagogischen Annäherung an ein gesellschaftspolitisches Phänomen. Frankfurt/M: IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation; IKO, Seite 12

[11] Schulze, Renate (1995): "Straßenkinder" Annäherung an ein soziales Phänomen. Projektgruppe: "Straßenkarrieren von Kindern und Jugendlichen". Unter Mitarbeit von Peter Jogschies, Hanna Permien und Gabriela Zink. Hg. v. DJI. Deutsches Kinder-und Jugendinstitut e.V. Leipzig. Seite 138

[12] Lutz, Ronald; Stickelmann, Bernd; Dücker, Uwe von (Hg.) (1999): Weggelaufen und ohne Obdach. Kinder und Jugendliche in besonderen Lebenslagen. Weinheim: Juventa-Verlagag. Seite 204

[13] Seidel, Markus Heinrich (2002): Straßenkinder in Deutschland. Schicksale, die es nicht geben dürfte. München: Ullstein Seite 39

[14] Российской Федерации: Конституция Российской Федерации (РФ) [Глава 1] [Статья 7]. Online verfügbar unter http://www.zakonrf.info/konstitucia/7/, zuletzt geprüft am 09.12.2013

[15] Российской Федерации: Конституция Российской Федерации (РФ) [Глава 1] [Статья 7]. Online verfügbar unter http://www.zakonrf.info/konstitucia/7/, zuletzt geprüft am 09.12.2013

[16] Kaufmann, Franz-Xaver (2002): Sozialpolitik und Sozialstaat. Soziologische Analysen. Opladen: Leske + Budrich (Bd. 1) Seite 307

[17] Burkova, Olga (2007): Kinder-und Jugendhilfe in der Russischen Föderation. Gegenwärtige Entwicklungen und Chancen. In: Zeitschrift für soziale und sozialverwandte Gebiete 56 (2), S. 57–63, Seite 58

Ende der Leseprobe aus 48 Seiten

Details

Titel
Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche ohne eigenen Wohnsitz
Untertitel
Ein Vergleich zwischen Deutschland und Russland
Hochschule
Universität Kassel
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
48
Katalognummer
V280349
ISBN (eBook)
9783656764403
ISBN (Buch)
9783656764410
Dateigröße
846 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hilfsangebote, russische Föderation, sozialstaat, sozialwaisen, Kinder Ohne Wohnsitz, jugendliche ohne Wohnsitz, öffentliche träger, freie träger, private träger, NGO, russische gesetze, "Agentengesetz", Handlungsmöglichkeiten, Defizite, förderliche faktoren, hinderliche faktoren, Agenten
Arbeit zitieren
Marie Schröter (Autor:in), 2014, Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche ohne eigenen Wohnsitz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/280349

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