Klangfarbe und Raum in Pierre Boulez‘ Sur Incises (1996/1998)

Analyse und Diskussion


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

17 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Sur Incises Analyse
a. Instrumentierung
b. Gifle, Toccata und Stroboskopie
c. Der Sacher-Hexachord
d. Revision von Incises
e. Signal, Hülle, Satellit und Verstärkung

3. Klangfarbe und Raum in Sur Incises
a. Klangfarbe
b. Raum und Räume

4. Resümee

1. Einleitung

Bezüglich der Neuen Musik existiert eine Fragestellung, die übermäßig häufig den Diskurs über ein Werk, einen Komponisten oder die Gattung an sich bestimmt und das ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen den strukturellen Merkmalen, die einer Komposition in ihrer Gesamtheit innewohnen und den für den im Zweifelsfalle durchschnittlichen Hörer live ohne Vorkenntnisse über Werk und Disziplin erfahrbaren Merkmalen und Zusammenhängen. Es ist ebenso zu beobachten, dass Kritik an Neuer Musik oft diesen Weg geht und eine mangelnde Erfahrbarkeit musikalisch hochkomplexer Vorgänge kritisiert. Dieser Kritik ist die Problematik der weggefallenen Harmonie- und Formzusammenhänge inhärent, deren Substitute nachwievor Fragen aufzuwerfen scheinen. Die grundlegendste Frage ist naturgemäß, um welche Substitute es sich handelt; womit können die über Jahrhunderte gelehrten musikalischen Erwartungshaltungen substituiert werden, was vergleichbare Wiedererkennungswerte aufweisen würde? Die Komponisten der Zweiten Wiener Schule bedienten sich zwar noch teilweise und auf spezielle Art der geläufigen Formmodelle, spätestens die Musik seit dem Serialismus jedoch geht Wege jenseits aller gewohnten Muster. Neben neuartigen Kompositionstechniken oder Behandlungen der Form treten nun die vier grundlegenden Parameter der Musik - Tonhöhe, Tondauer, Lautstärke und Klangfarbe - in den Fokus des Interesses und finden sowohl in einzelnen Werken wie bspw. Karlheinz Stockhausens Gruppen für drei Orchester (1957) oder in speziellen Strömungen wie dem Spektralismus oder der Elektroakustik explizite Behandlung. Nicht erst seit der Neuen Musik liegen alle vier Parameter jeder Musik zu Grunde, hier nun aber derart exponiert, dass sie gestaltende Elemente und vordergründige Strukturmerkmale werden können. Stockhausens Gruppen sind insofern bedeutsam, als dass sie erstens einen hochgradig elaborierten Umgang mit jenen vier Parametern demonstrieren und zweitens einen weiteren Parameter etablieren: den Tonort. Damit wird der Raum als konstituierendes Element der Musik in den Vordergrund gestellt. Zwar haben Komponisten schon lange vor dem 20. Jahrhundert den Raum als Teil der Musik erkannt und kompositorisch verarbeitet - hier ließen sich zahlreiche Beispiele anbringen, von der venezianischen Mehrchörigkeit über gattungsspezifische Instrumentierungen bis zu Wagners „eigenem“ Opernhaus -, jedoch ist der Raum als bewusst konstituierendes und teilweise „motivisches“ eingesetztes Element der Musik sowie in seinen verschiedenen noch zu klärenden semantischen Deutungsmöglichkeiten eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts.

Auch der Parameter der Klangfarbe wurde in vergangenen Epochen allein durch das beständig wachsende Instrumentarium ständig berücksichtigt, in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts aber bieten vor allem die Entwicklungen der elektronischen Klangerzeugung, -verfremdung und -analyse den Komponisten neue Einsichten und daraus entspringende Möglichkeiten. Zu untersuchen wären hierbei neben den neu entstehenden Subgenres wie dem Spektralismus oder der Elektroakustik die Auswirkungen der Technologien auf die Instrumentalmusik; was geschieht bei der Vermengung von Instrumentalmusik mit elektronischer Klangerzeugung und wie verändert sich das Verständnis für das traditionelle Instrumentarium und seine Behandlung?

Orte, an denen der Erforschung von Fragestellungen dieser Art maßgeblich nachgegangen wurde, sind zum Einen das Studio für elektronische Musik des WDR in Köln, an welchem Karlheinz Stockhausen gewirkt hat und zum Anderen das Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique (IRCAM) in Paris. Pierre Boulez, Gründungsmitglied und langjähriger Leiter des Instituts, hat hier in Zusammenarbeit mit dem ebenfalls von ihm gegründeten ensemble intercontemporain verschiedene Werke instrumentaler und elektroakustischer Art realisiert. Eines jener Instrumentalwerke besticht u.a. durch eine auffällige Behandlung sowohl der Klangfarbe als auch des Raumes: Sur Incises (1996/1998). Schon beim ersten Höreindruck ist vordergründig, das neben der hochgradigen Virtuosität des Stückes vor allem der Umgang mit jenen musikalischen Parametern das Werk kennzeichnet. In diesem Sinne scheint hier ein Werk vorzuliegen, was als Ziel einer Analyse Aufschlüsse sowohl über die jüngeren Entwicklungen in der modernen Instrumentalmusik als auch über das Einflussverhältnis der Elektroakustik auf instrumentale Kompositionsweisen bringen könnte. Das Augenmerk soll hierbei insbesondere auf die Verarbeitung der Parameter der Klangfarbe und des Raums gerichtet werden. Es ist die Hypothese zu untersuchen, dass Klangfarbe und Raum motivische Funktionen übernehmen können und dass diese motivische Funktionen adäquate Substitute für die im herkömmlichen Sinne verstandenen Motive bzw. Themen sein können. In diesem Sinne soll im Folgenden das Werk Sur Incises in seiner kompositorischen Struktur untersucht werden. Neben den strukturgebenden Merkmalen soll dabei sowohl der Frage nach den Bedingungen revisionistischer Kompositionsarbeit bei Boulez und Sur Incises, als auch der Problematik der Begrifflichkeiten „Motiv“ und „Thema“ nachgegangen werden. Hieran anschließend werden die Verarbeitung und die Funktionen von Klangfarbe und Raum werkbezogen und allgemein analysiert werden, um in einem abschließenden Teil das Verhältnis von parametrischen strukturgebenden Merkmalen einer Komposition in ihrer Erfahrbarkeit zu diskutieren.

2. Sur Incises Analyse

a. Instrumentierung

Sur Incises ist, wie im Verlauf dieser Arbeit deutlich werden wird, eine konsequente Weiterentwicklung eines früheren Werkes von Boulez, Incises (1994). Das Luciano Berio und Mauricio Pollini gewidmete Klavierstück wurde für einen 1994 stattfindenden Meisterkurs komponiert und erfährt in Sur Incises eine Ausarbeitung zum Ensemblestück. Dies geschieht in mehrerer Hinsicht sehr konsekutiv; so steht auch im Ensemble das Klavier absolut im Mittelpunkt, sowohl innerhalb des Ensembles wie auch als eines von insgesamt drei Klavieren ist die Musik um ein zentrales Klavier organisiert. Zusätzlich zu den drei Klavieren sind drei Harfen zu besetzen, welche in der räumlichen Aufstellung auf selber Höhe mit den Klavieren stehen.1 Hinter den Klavieren und Harfen ist das Schlagwerk aufgestellt, welches ebenfalls aus drei Sektionen besteht, die erste bestehend aus Vibraphon, Steel Drums und crotales

(scheibenförmige Anschlagidiophone), die zweite bestehend aus Vibraphon, Glockenspiel und timbales (lateinamerikanische Trommeln) und die dritte bestehend aus Marimbaphon, cloches-tubes (Klangröhren) und crotales. Bereits in der Instrumentierung finden sich also sowohl eine Dreiteiligkeit als strukturgebendes Prinzip, als auch eine Methode, die sich in der weiteren Analyse als zentral herausstellen wird, die der Refraktion. Wolfgang Fink bemerkt in seinen Ausführungen zu der hier verwendeten Aufnahme, das Instrumentarium spiegele in seiner Gesamtheit wie in seinen einzelnen Teilen den Aufbau und die Klangweise des Klavieres wieder.2 Auch Tom Coult stellt in seiner Arbeit die Refraktion als zentrales Kompositionsprinzip heraus, die sich bereits in der Wahl der Instrumente wiederspiegele; so werde der Klavierklang durch die Harfen schattiert und durch das Schlagwerk um eine reichhaltigere Textur und Rhythmik ergänzt.3 Generell wird dem Schlagwerk eine sehr flexible Behandlung zuteil, die Virtuosität des Stückes wird auch durch die drei Schlagwerksektionen wiedergespiegelt und die Anforderungen an die Schlagwerker sind dementsprechend ähnlich hoch wie jene, die an die Pianisten gerichtet werden.

Im Folgenden sollen nun die form- und strukturgebenden Merkmale des Werkes untersucht werden. Dabei werden zuerst die drei von Boulez selbst beschriebenen (aber nie so bezeichneten) „Motive“ präsentiert, um hieran anschließend drei weitere zentrale Merkmale, die vor allem Zusammenklänge und die Verwendung von Einzeltonfiguren beschreiben, herauszuarbeiten.

b. Gifle Toccata und Stroboskopie

Das erste von zwei Momenten dieses Stückes, welches die direkte Weiterverarbeitung von Incises darstellt, beginnt mit der Verteilung des für das ganze Stück zentralen SACHER- Hexachords - der hier auch noch gesondert thematisiert werden wird - über die drei Klaviere, während das Schlagwerk zwischen rapiden Repetitionen des Tons F und arppegioähnlichen 32tel-Läufen wechselt. Ein kurzer Übergangsteil in den Pianos endet ebendort auf der Repetition des Tons Fis/Ges, welcher hiernach in einer merkwürdig impressionistisch anmutenden, weil anfangs tonalen Akkordfolge als Spitzenton fungiert. Die angedeutete Tonalität wird jedoch sofort entfernt, es folgen atonale Mehrklänge, welche vom dreifachen piano ins dreifache forte und in das erste zentrale Motiv des Stückes führen: einen Schlag (Boulez nennt es la gifle), der in drei Teile unterteilt verstanden werden soll.

Erstens der Schlag selber, ein Akkord mit einem gleichbleiben Spitzenton, hier F, im dreifachen forte, der eine Resonanz erfährt. Die Resonanz geschieht ebenfalls in dreierlei Weise: erstens durch einen mit Haltebogen notierten Folgeakkord, der in niedrigerer Lautstärke gespielt wird; zweitens durch den enormen Nachhall des unterstützenden Schlagwerks; und drittens durch die Harfen, welche zwar zurückhaltend, aber dennoch hörbar die Klaviere doppeln. Der Akkord wird insgesamt also vervielfacht und über den Ensembleapparat verteilt (vgl. Partitur Studienziffer 6).

Der zweite Teil des gifle bildet die Expansion ins Bassregister. Dies geschieht sehr anschaulich in einer siebenteiligen Akkordprogression in Klavier 1, erneut Schlag-artig im dreifachen forte, welche den Hexachord in zwei Dreiklänge unterteilt, wobei der untere Dreiklang im Register abwärts geführt wird (Partitur Studienziffer 7).

Hiernach folgt als dritter Teil des gifle eine Art Resümee in den Klavieren, welches im gleichen Rhythmus wie der Schlag (kurz-lang) den Hexachord verarbeitet, nun aber in verringerter Lautstärke und teils pedaliert. Der dritte Teil des gifle fungiert als Übergangsteil, welcher den erregten Charakter des Schlages kontrastiert, diesen aber dennoch in dynamisch abgeschwächter Form wiederholt (Partitur Studienziffer 9). Das Ziel der Überleitung ist der zweite strukturgebende Abschnitt, den Boulez als Toccata beschrieben hat.4

Auch die Toccata ist in drei Teile unterteilt zu betrachten, hier jedoch in deutlich kürzeren Zeitabständen zueinander stehend. Den ersten Teil bildet eine rapide Abwärtsbewegung in den Klavieren, welcher unmittelbar als zweitem Teil schnelle Tonrepetitionen folgen. Diese werden teilweise auch durch Repetitionen von Zweiklängen verkörpert. Die Spitzentöne hiervon bzw. die repetierten Einzeltöne werden in den Harfen und im Schlagwerk verstärkt. Der dritte Teil der Toccata besteht aus einer rapiden Aufwärtsbewegung, die in einen kaum definierbaren Melodieprozess führt; dieser Teil steht zwischen dem sich beständig wiederholenden Muster der Abwärtsbewegung, welche in den Tonrepetitionen mündet. Das ganze geschieht in sehr hohem Tempo: der Abschnitt ist mit Prestissimo possible überschrieben und zum größten Teil in Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln notiert. Die Toccata hat eine Dauer von ziemlich genau sechs Minuten und wird durch mehr oder weniger alleinstehende Tonrepetitionen des Eingangs präsentierten Tons F beendet. Es folgt ein Übergangsteil, welcher von Moment 1 in Moment 2 überleitet und u.a. die bis dahin ungenutzten Instrumente im Schlagwerk einführt. Musikalisch wird hier erst der Gestus der Einleitung aufgegriffen und ein Akkord in seiner Zusammensetzung und Verteilung über das Ensemble variiert. Nach einem kurzen bewegten Zwischenspiel, was an die Toccata erinnert, wird zu dem Gestus zurückgekehrt. Der Spitzenton F ist nicht mehr in Funktion, eine scheinbare Suche nach einem anderen „tonalen“ Zentrum bleibt erfolglos. Auch im Übergangsteil könnte also eine Dreiteiligkeit interpretiert werden.

Moment 2 ist eine neue Entwicklung, in welcher das Material von Moment 1 aber noch vorhanden ist. Es beginnt virtuos und hoch dynamisch nach einem Prinzip, welches Boulez als Stroboskopie bezeichnet hat5, stroboskopisch u.a. deshalb, weil hier Simplizität und Komplexität gleichermaßen vorherrschen. Simplizität entsteht durch das durchgehende Spiel von Akkorden, die leicht variiert von allen gespielt werden und jeweils denselben Spitzenton haben. Dieser ist oft das F aus der Einleitung von Moment 1 oder das Es (vmtl. von S acher) aus der Toccata (vgl. Partitur Teil 2 Studienziffer 1ff.). Komplexität entsteht zum Einen dadurch, dass die Ausgangstöne F und Es zu unterschiedlichen Zeiten erreicht werden, die Verzögerung zwischen den Instrumenten kommt einer Phasenverschiebung gleich. Dennoch herrscht auch hier wie auch an zahlreichen weiteren Stellen in Moment 2 wieder das bekannte Prinzip der Dreiteiligkeit, bestehend aus einem schnellen Lauf, der zu einer rapiden Tonrepetition führt, welche in einen Übergansteil übergeht. Neu in Moment 2 ist neben der Stroboskopie die größere Zahl ruhigerer Momente, in welchen die Musik teils fast zum Stillstand kommt.

[...]


1 zu sehen in: Pierre Boulez „Sur Incises: A Lesson“ (=Juxtapositions), DVD, Paris 2006.

2 vgl. Wolfgang Fink, „Metamorphosen solistischer Musik in drei Werken von Pierre Boulez“ in: Pierre Boulez, „Sur Incises; Messagesquisse; Anthèmes II“. Ensemble Intercontemporain, Pierre Boulez. Deutsche Grammophon CD, Hamburg 2000.

3 vgl. Tom Coult, „Pierre Boulez's 'Sur Incises':. Refraction, Crystallisation and the absent Idea(l)“, Tempo 67 (2013).

4 Vgl. Pierre Boulez „Sur Incises: A Lesson“ (=Juxtapositions), DVD, Paris 2006.

5 Vgl. ebenda.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Klangfarbe und Raum in Pierre Boulez‘ Sur Incises (1996/1998)
Untertitel
Analyse und Diskussion
Hochschule
Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
17
Katalognummer
V280391
ISBN (eBook)
9783656738466
ISBN (Buch)
9783656738480
Dateigröße
483 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
klangfarbe, raum, boulez‘, incises, analyse, diskussion, Neue Musik, Pierre Boulez, Musik nach 1945, Sur Incises, Klassische Musik, Zeitgenössische Musik, Moderne Musik, Komposition, Musikanalyse, Partituranalyse, Musik und Raum, Klangraum, Raumklang, Musikwissenschaft, Musikinterpretation, Boulez, Klaviermusik, Harfenmusik, Schlagwerk, Klavier, Harfe, IRCAM, ensemble intercontemporain, Paris, Resonanz, Refraktion
Arbeit zitieren
Lukas Heger (Autor:in), 2014, Klangfarbe und Raum in Pierre Boulez‘ Sur Incises (1996/1998), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/280391

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