Vom Sinn der Langsamkeit. Zur Notwendigkeit der Entschleunigung von Bildungsprozessen im Kontext des Abenteuers


Masterarbeit, 2013

72 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 In unserer Zeit
2.1 Formen sozialer Beschleunigung nach Rosa
2.2 Das zeitökologische Modell nach Reheis
2.2.1 Systemzeit, Eigenzeit, Elastizität
2.2.2 Ursache von Störungen in den Systemen
2.2.2.1 Natur
2.2.2.2 Gesellschaft
2.2.2.3 Individuum

3 Zeitgewinn und Selbstverlust
3.1 Zeiten des Körpers und der Psyche
3.2 Zeiten der Gesellschaft
3.3 Herausforderung für die Jugend

4 Bildung und Zeit
4.1 Bildung in einer sich beschleunigenden Gesellschaft - Status quo
4.2 Bildung in einer sich beschleunigenden Gesellschaft - Vision
4.3 Bildung braucht Zeit - Ein anderer Weg
4.3.1 Rosa
4.3.2 Adorno
4.3.3 Dörpinghaus

5 Zeit im Abenteuer
5.1 Abenteuermodell nach Becker
5.2 Das Abenteuer als Ort der Entschleunigung
5.2.1 Natur und Zeit
5.2.2 Raum und Zeit
5.2.3 Krise und Zeit
5.2.4 Gemeinschaft und Zeit
5.2.5 Alleinsein und Zeit
5.2.6 Fremde und Zeit

6 Schluss

7 Literaturverzeichnis

8 Abbildungsverzeichnis,

1 Einleitung

„Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Mensch­heit vornehmen muß, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken “ (Nietzsche; zit. nach Leder 2007, 4)

Die heutige Gesellschaft zeichnet sich durch eine stetig zunehmende Komplexität und einen hohes Lebenstempo aus. Der Fortschritt treibt die Menschen als Mitglieder dieser Gesellschaft permanent voran und warnt vor dem Stehenbleiben. Immer mehr Hand­lungen in immer weniger Zeit quetschen, immer eine noch bessere Technik entwickeln, um noch mehr Zeit zu sparen - das ist die Prämisse. Am Ende, so die Utopie, bleibt mehr Zeit für schöne Dinge. Nur ist es paradox: Durch die Beschleunigung sämtlicher Handlungsabläufe bleibt am Ende eher das Gefühl, noch weniger geschafft zu haben und noch mehr unter Zeitdruck zu stehen. Diesen Zustand der akuten Zeitnot betiteln Kritiker spöttisch als angina temporis.

Hinter alledem steht die grundlegende Frage: Was ist Zeit eigentlich?

„Gleichgültig ob Zeit nun philosophisch, psychologisch oder physikalisch betrachtet wird, sie zeigt stets das Moment von Veränderung an. Aspekte der Zeit kennzeichnen Vorgänge des Werdens und der Veränderung von Zuständen. Problem ist, daß der Mensch kein Sinnesorgan besitzt, mit welchem er Zeit wahr­nehmen kann. So ist es nie möglich gewesen, zu definieren, was Zeit letztendlich ist“ (Deisen 2002, 89).

Der Aussage Benjamin Franklins 'Zeit ist Geld' aus dem 18. Jahrhundert gilt heute mehr dennje. Denn Natur, Gesellschaft und Individuum unterliegen den Zwängen einer wirt­schaftlichen Ordnung, die alles andere zu überlagern scheint und deren einziges Ziel es ist, das Wachstum voranzutreiben. Jedoch zeigt sich zunehmend, dass Natur und Indivi­duum nicht in der Lage sind, der kapitalistischen Marktwirtschaft standzuhalten. Ressourcenschwund auf Seiten der Natur und Überforderung auf Seiten der Menschen lassen erkennen, dass sich die Gesellschaft ungehalten in eine Sackgasse manövriert, und das mit dem Befehl von ganz oben. So ist der Regierungserklärung von Angela Merkel aus dem Jahr 2009 folgendes zu entnehmen: „Wachstum zu schaffen, das ist das Ziel unserer Regierung. [...] Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne Wachstum keine

Hilfe für die Schwachen“ (Die Bundesregierung 2009). Die Natur ist nicht auf perma­nentes Wachstum angelegt, sondern funktioniert in Zyklen und braucht Zeit, sich zu regenerieren. Der Mensch braucht Zeit, individuell zu reifen. Beide verfügen über System- und Eigenzeiten, die nicht einfach aus den Angeln gehoben werden können.

Die Zeitpolitik der Ökonomie drängt immer mehr und stärker in Bereiche ein, die bislang von ihr ausgenommen waren - so auch in den Bereich der Bildung. Die zielge­richtete Vermittlung von Wissen in möglichst wenig Zeit soll auf einen Arbeitsmarkt vorbereiten, der qualifizierte, flexible und ständig verfügbare Arbeitskräfte fordert. Auf biographische Entwicklungszeiten und Bewältigungsprobleme wird dabei keine Rück­sicht genommen. Diese Anforderungen lassen gerade bei Jugendlichen ein Spannungs­feld entstehen, das zwischen der Logik der Sozialisation und der der Produktion aufge­spannt ist.

In Anbetracht der aktuellen gesellschaftlichen Situation stellt sich die Frage, wie konstruktiv mit dem Faktor Zeit umgegangen werden kann, ohne sich und seiner Umge­bung Schaden zuzufügen. Der Ansatzpunkt dieser Arbeit ist, Antworten im Kontext der Bildung zu finden. Sie sollte in der Lage sein, den Menschen zu unterstützen, sich in der zunehmend beschleunigenden Welt zurechtzufinden. Es soll weiterhin erarbeitet werden, inwieweit sich die Abenteuerpädagogik in besonderer Weise eignet, den Zeita­spekt im eigenen Leben zu fokussieren und ob sie dazu beitragen kann, Individuen zu unterstützen, Gestalter ihrer eigenen Zeit zu werden.

Um sich dieser Fragestellung anzunähern, geht es im Verlauf dieser Arbeit vom Allge­meinen zum Spezifischen. So befasst sich das Kapitel 1 mit der aktuellen gesellschaftli­chen Situation hinsichtlich der der Thematik der Zeit. Zu Beginn geben Rosas drei Formen der sozialen Beschleunigung einen Überblick über Bereiche des gesellschaftli­chen Lebens, die von der Temposteigerung betroffen sind. Das zeitökologische Modell von Reheis bezieht anschließend zusätzlich das System der Natur und des Individuums als Umgebungssysteme der Gesellschaft mit ein. Es dient dazu, Zusammenhänge und Austauschprozesse von Natur, Gesellschaft und Individuum darzulegen, um die aktuelle gesellschaftliche Situation zu erklären. In diesem Kapitel steht die Frage nach den Auswirkungen der Beschleunigung auf die drei Systeme sowie nach Gründen deren Überforderung im Mittelpunkt der Betrachtung.

Das Kapitel 2 nimmt das Individuum stärker in den Fokus und fragt danach, wie es mit der stetigen Beschleunigung umgeht. Dabei werden die Konsequenzen auf Körper und Psyche betrachtet und daraus ableitend gezeigt, welche Effekte der Umgang mit Zeit auf das gesellschaftliche Leben hat. Zusätzlich richtet sich der Blick auf die Phase der Adoleszenz. Es wird skizziert, welche Herausforderungen sich speziell für Heranwach­sende ergeben.

Das Kapitel 3 befasst sich mit der Fragestellung nach dem Umgang mit der gesellschaft­lichen Zeitordnung und wendet sich dem Bereich der Bildung zu. Es wird zunächst ein kritischer Blick auf das heutige Bildungsverständnis im Zusammenhang mit der sich wandelnden Gesellschaft geworfen. Anschließend wird hinterfragt, was Bildung bein­halten und vermitteln muss, um zu Selbstbestimmtheit und Reflektiertheit zu verhelfen. Der Fokus fällt hier insbesondere auf die Überlegung, welcher Zeitordnung nachhaltige Bildungsprozesse unterliegen. Diesbezüglich werden soziologische und pädagogische Sichtweisen von Rosa, Adorno und Dörpinghaus hinzugezogen.

In Kapitel 4 wird der Bogen zum Feld der Abenteuer- und Erlebnispädagogik als alter­native Form der Bildung geschlagen. Das Augenmerk liegt hier auf dem Abenteuermo­dell Beckers, welches als Grundlage des Kapitels dient. Nach dessen Beschreibung findet unter Hinzunahme der Einsichten aus den vorherigen Kapiteln eine Zusammen­führung statt: Mit Bezug auf die das Abenteuer konstituierenden Aspekte wird der Frage nachgegangen, inwieweit das Modell des Abenteuers das herausfordernde Leben in der heutigen Gesellschaft aufgreift und ob es sich eignet, dem Individuum einen Raum zu bieten, einen eigenen und bewussten Umgang mit Zeit zu entwickeln.[1]

2 In unsererZeit

„Die heutige ökologische Krise, deren Existenz nur mehr durch ein extremes Verdrängungspotential geleugnet werden kann, ist auch im besonderen eine Krise, die durch die Ignoranz der Bedeutung der Zeitdimension forciert wurde. Wir haben uns an unser kulturell fundiertes Herrschaftsverhältnis zur Zeit so gewöhnt, daß wir dieses selbst und die sich daraus ergebenden Folgen aus dem Blick verloren haben. Fortschreitende Naturzerstörung und die damit verbundenen Selbstgefährdung der Menschen sind Effekte unseres industriegesellschaftlichen Fortschritts, die auch unter dem Aspekt zu betrachten sind, wie wir mit Zeit umgehen und wie die Zeit mit uns umgeht “ (Held, GEIßLER 1993, 7f.).

Im ersten Hauptteil der Arbeit werden zwei Modelle vorgestellt, die sich mit der Thematik des beschleunigten Zeitalters der Postmoderne auseinandersetzen. Der Sozio­loge Hartmut Rosa hat sich in einer umfassenden Analyse mit der Veränderung der Zeit­strukturen der Moderne befasst und drei Formen sozialer Beschleunigung unter­schieden, welche zunächst kurz erläutert werden. Im Anschluss wird das Zeitökologi­sche Modell von Fritz Reheis ausführlich vorgestellt, welches das Zusammenspiel von Natur, Gesellschaft/Kultur und Individuum beschreibt.

2.1 Formen sozialerBeschleunigung nach Rosa

Um das neuzeitliche Verhältnis zur Zeit genauer zu verstehen, nimmt Rosa eine Unter­teilung der Sozialbereiche vor, in denen sich Beschleunigungsprozesse beobachten lassen. Unter die erste Dimension, die der technischen Beschleunigung, fasst er alle Prozesse, die intentional, technisch und technologisch in einer zielgerichteten Form ablaufen. Hier handelt es sich um die offensichtlichste und folgenreichste Gestalt, die sich am einfachsten messen lässt. Zu ihr gehören Bereiche wie Transport, Kommunika­tion und Produktion von Gütern und Dienstleistungen[2]. Die Beschleunigung des Trans­ports und der Kommunikation ist dabei die Ursache für das so bekannte Phänomen der „Raumschrumpfung“. Sie besagt, dass räumliche Entfernungen sich in dem Maße zu verkürzen scheinen, in dem ihre Überquerungsgeschwindigkeit schneller und der Weg einfacher wird.

Die zweite Dimension nennt er die Beschleunigung des sozialen Wandels. Die - teil­weise Hand in Hand mit der technischen Beschleunigung einhergehende - Temposteige­rung beschreibt die Änderung der Art und Weise, wie wir Zusammenleben: Wohnungen, Lebenspartner und Arbeitsstellen werden immer schneller gewechselt, Kleidermoden, Automodelle und Musikstile lösen sich immer rascher voneinander ab. Diese sozialen Phänomene führen dazu, dass die Halbwertszeit unseres Wissens stetig sinkt und es in immer kürzer werdenden Abschnitten aktualisiert werden muss. Lübbe betitelt diesen Prozess als „Gegenwartsschrumpfung“[3], bei welcher das Gestern und das Morgen immer näher an das Heute heranzurücken scheinen.

Eine dritte Form sozialer Geschwindigkeitssteigerung ist die Beschleunigung des Lebenstempos. Gemeint ist der allgemeine Wunsch, durch die Erhöhung der Anzahl von Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit, schneller zu leben - sprich mehr Dinge in weniger Zeit zu erledigen. Diesem Wunsch nach Beschleunigung liegt das Gefühl der akuten Zeitknappheit zugrunde: Das, was wir tun wollen, sollen oder müssen, vermehrt sich so schnell, dass trotz aller technischen Fortschritte hinsichtlich der Zeiteinsparung nicht alles erledigt werden kann. Die Steigerung des Lebenstempos wird im allgemeinen auf drei verschiedenen Wegen zu erzielen versucht: Durch die Erhöhung der Handlungsgeschwindigkeit können mehr Dinge in weniger Zeit erledigt werden. In diesem Zusammenhang wurden Fast Food, Speed-Dating oder Power-Nap­ping, um nur einiges zu nennen, erfunden. Weiterhin können durch ausgeklügelte Orga­nisation Pausen und Wartezeiten eingespart oder ganz vermieden werden, um diese wiederum für „sinnvolle“ Dinge zu nutzen. Die dritte Methode, Zeit einzusparen, ist das Multi-Tasking. Durch die gleichzeitige Abhandlung mehrerer Dinge passen insgesamt mehr Handlungen in eine Zeitspanne (vgl. Rosa 2005a, 124 ff.).

Die drei genannten Formen sozialer Beschleunigung sieht Rosa in einem Beschleuni­gungszirkel zusammengefasst. Zwischen ihnen nimmt er ein wechselseitiges Steige­rungsverhältnis an: Beschleunigung innerhalb dieses Zirkels erzeugt [...] stets und unvermeidlicher mehr Beschleunigung, sie wird zu einem sich selbst verstärkendem Feedback-System“ (ebd., 243).

2.2 Das zeitökologische Modell nach Reheis

Reheis versucht, die aktuelle Problematik der sich stetig beschleunigenden Gesellschaft mit Hilfe eines ökologischen Ansatzes, speziell auf die Dimension der Zeit gerichtet, zu erklären. Als Ausgangspunkt nennt er ein ökologisches Grundgesetz: „Alles Leben ist, seit es Leben auf der Erde gibt, „natürlich“ bzw. „sachlich“ darauf angewiesen, mit Kräftevorräten richtig zu haushalten“ (Reheis 1998, 34). Seine Behauptung ist, die Gesellschaft habe dieses ökologische Grundgesetz aus den Augen verloren und sich stattdessen so organisiert, die natürlichen Kräftevorräte schneller aufzubrauchen, als sie in der Lage sind, sich aus eigenen Mitteln zu regenerieren.

Der ökologische Ansatz, den Reheis zur Verdeutlichung der Problematik heranzieht, besteht aus drei Systemen, die untrennbar miteinander verbunden sind, denen es dennoch einer Differenzierung bedarf: Das System Natur bezeichnet er als Stamm eines Baumes, an welchem das System der Kultur/Gesellschaft in Form eines Astes fest ange­wachsen ist. An diesem Ast wiederum wächst das System Individuum. Grundlage seines Ansatzes ist also, dass das Individuum aus dem System der Kultur/Gesellschaft gewachsen ist, ebenso wie die Kultur/Gesellschaft[4] aus der Natur. Jedoch bestehen zwischen allen drei Systemen enge Verbindungen (siehe Abb. 1).

Um ihren Bestand entwickeln und erhalten zu können, sind die drei Systeme auf den Austausch von materiellen und immateriellen Gütern angewiesen. Dieser Austausch gestaltet sich wie folgt:

Das System „Natur“ setzt sich aus mehreren Teilsystemen zusammen. Eingeschlossen werden hier das Teilsystem der Luft, einschließlich der den Globus umgebenden Atmo­sphäre, Gestein, Wasser, Boden und Lebewesen. Diese Natur grenzt sich zum einen zum Weltall, somit nach Außen, zum anderen zum System der Gesellschaft, und somit nach Innen, ab. Der Austauschprozess nach Außen beschränkt sich auf die einstrahlende Sonne[5] und die abstrahlende Restenergie. Die Sonnenenergie stellt mit der Ermögli­chung der Photosynthese als Ausgangspunkt der Nahrungskette den wohl elementarsten Austauschprozess dar und verbindet somit die Natur auf diese Weise mit der Gesell­schaft. Das Bereitstellen eines Lebensraumes für die Gesellschaft beschreibt einen

Austauschprozess nach innen. Dafür liefert die Natur unter anderem menschenfreund­liche Klimaverhältnisse, fruchtbare Böden und Wasservorräte. Umgekehrt nimmt sie die Reste des menschlichen Wirtschaftens auf und entgiftet sie.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Die drei Systeme (eigene Darstellung; nach: Reheis 1998, 41)

Von der Natur eingeschlossen befindet sich das System der Gesellschaft. Jegliche Entwicklungen von Menschen, die auf deren Daseinsberechtigung abzielen (z.B. Tech­nologien, Institutionen, Werte und Normen) sind hier angesprochen. Vor allem die Arbeitsteilung bezüglich der Ver- und Entsorgung werden als Aufgaben dieses Systems angesehen. Der Austauschprozess in Richtung der Natur bezieht sich, wie schon beschrieben, auf den Lebens- und Deponieraum. Nach innen gerichtet besteht ein

Austausch mit dem System des Individuums. Hier handelt es sich einerseits um die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern wie beispiels­weise Bildung, Verkehr und soziale Anerkennung. Das Individuum konsumiert somit von der Gesellschaft. Andererseits nimmt die Gesellschaft die Abfallprodukte des Indi­viduums entgegen, ist aber auch auf geistige und körperliche Leistung der Individuen in Form von Arbeit angewiesen, um zu existieren.

Im Kern des Modells befindet sich letztlich das System „Individuum“, bestehend aus Körper und Geist. Vor allem die Psyche des Menschen ist veränderlich und somit in der Lage, sich an die Gesellschaft, in der er lebt, auf seine Weise anzupassen und sich so in eine kulturelle Richtung zu entwickeln. Damit einhergehend wandeln sich auch körper­liche Ausstattungen gemäß des kulturellen Lebensraumes des Individuums.

Die Art und Weise, wie jedes der Einzelsysteme haushaltet, bestimmt maßgebend die Konstitution der Umgebungssysteme. Verändert sich ein Austauschprozess, ändert sich auch die Entwicklung der Systeme. Sie stehen somit in einem engen Abhängigkeitsver­hältnis zueinander.

Grundsätzlich geht Reheis davon aus, dass die Steuerung der drei Systeme von außen nach innen stattfindet. Das System der Natur wird ausschließlich durch die Energie der Sonne angetrieben. Nur so ist die Natur in der Lage, mit ihren vielfältigen Formen von Energien und Materien die Gesellschaft zu versorgen. Dieses System wiederum steuert durch die Abgabe von energetischen und materiellen Mitteln das System Individuum (vgl. ebd., 34 ff.).

Um zu spezifizieren, was dieser Ansatz aber nun genau mit dem Faktor Zeit zu tun hat, wird das Modell von Reheis im Folgenden im Hinblick auf diese Thematik konkreti­siert. Dazu werden verschiedene andere Autoren hinzugezogen, die sich ebenfalls mit diesem Feld befassen.

2.2.1 Systemzeit, Eigenzeit, Elastizität

Der beschriebene Ansatz mit dem Austauschprozess zwischen den drei Systemen stellt einen Idealzustand dar. Einen Zustand, in demjedes System die nötigen Mittel hat, um sich und seine Umgebungssysteme zu versorgen. Dies ist nur möglich durch die Repro­duktion von Ressourcen, die verbraucht werden: Die Natur kann nur überleben, wenn ihr ausreichend Sonnenenergie zur Verfügung steht. Nur wenn dies gegeben ist, kann der Gesellschaft ein Lebensraum geboten werden, welcher wiederum das Individuum lebensfähig macht. Und umgekehrt braucht es Individuen, um eine Gesellschaft lebens­fähig zu machen.

Erleidet nun eines der Systeme eine Störung, geraten die Umgebungssysteme, je nach Störung mehr oder weniger stark, aus dem Gleichgewicht. Dieser Zustand hält solange an, bis die Störung in Form von Reproduktion des Fehlenden behoben ist. Für diese Behebung bedarf es eine bestimmte Zeit.

Die Zeit, die ein isoliertes System benötigt, um eine von außen kommende Störung zu beheben, nennt Kümmerer die „inhärente Systemzeit“: „Darunter ist die dem System eigene Zeitskala zu verstehen, die sich daraus ergibt, wie lange es dauert, bis sich das System reproduziert (bei Lebewesen z.B. ihre Generationszeit), bzw. wie lange es dauert, bis das System auf Störungen sichtbar oder meßbar reagiert“ (Kümmerer 1993, 88). Nach Kümmerer nimmt diese Zeit zu, je größer das System ist: Auf der moleku­laren Ebene sind es Sekunden, Minuten oder höchstens Tage, bei Ökosystemen bereits Monate bis Jahre und bei Sphären handelt es sich um Jahrzehnte, bzw. um so große Zeiträume, die außerhalb unserer Vorstellungskraft liegen.

Neben der Systemzeit, die den objektiven und theoretischen Erwartungswert für die Reproduktion eines Systems angibt, steht der Begriff der „Eigenzeit“. Diese berechnet, anders als die Systemzeit, Abweichungen durch Nebeneinflüsse aus den Umgebungs­systemen mit ein und betrachtet die Vorgeschichte des Systems. Sie ist somit die indivi­duelle und subjektive Konkretisierung der Systemzeit.

Ein dritter Begriff, der an dieser Stelle angebracht werden soll, ist die „Elastizität“. Sie wird erst durch die Differenz von System- und Eigenzeit ermöglicht und bezeichnet die Kraft, die ein System aufweisen muss, um nach einer Störung wieder ins Gleichgewicht zu geraten. So ist es beispielsweise dem System Individuum möglich, einen Flug durch mehrere Zeitzonen unbeschadet zu überwinden und sich relativ schnell an den neuen Rhythmus zu gewöhnen (vgl. Reheis 1998, 46 ff.).

Jedes (Sub-)System ist quasi mit einem Gummiband ausgestattet. In manchen Fällen ist dieses Band sehr elastisch und schafft es, selbst nach starken Störungen das System wieder in den ungefähren Ausgangszustand zu bringen. In anderen Fällen ist das Band poröser. Verallgemeinert lässt sich sagen, dass lebende Systeme immer elastischer sind als tote, bzw. mechanische. Den lebenden liegt ein Rhythmus zugrunde, während die mechanischen durch einen Takt bestimmt werden.

Das Individuum hat seine Elastizität im Laufe seiner Geschichte fortlaufend erweitert. Es setzt sich, anders als früher, immer mehr über die Einflüssen der natürlichen Umwelt hinweg. Rhythmen der Natur, wie Jahres-, Tag- und Nachtzeiten, können seit Beginn der Industriegesellschaft immer weiter ausgespielt werden. Ganz unabhängig davon, auf welchem Erdteil der Mensch lebt, er kannjederzeit die Ernte der ganzen Welt beziehen und sich in einer rasanten Geschwindigkeit in eine andere Klimazone bewegen. Das Leben ist bestimmt von einer räumlichen und zeitlichen Unabhängigkeit (vgl. ebd. 2003, 166 ff.).

Wie im zeitökologischen Modell von Reheis beschrieben, sind die Systeme in der der Lage, sich durch ihre Austauschprozesse gegenseitig am leben zu halten und zu versorgen. Treten Störungen auf, können diese aufgrund einer ausreichenden Elastizität behoben werden, ohne dass eines der Systeme bleibende Schäden davon trägt.

2.2.2 Ursache von Störungen in den Systemen

Das Modell von Reheis beschreibt eine Idealvorstellung, von der wir in der heutigen Zeit weit entfernt sind. Der Begriff der Elastizität wurde längst abgelöst von einer Irre­versibilität. Sie bezeichnet in eine Veränderung, die nicht mehr umkehrbar ist. Dieser Zustand ergibt sich, wenn die inhärente Systemzeit höher ist, als die Zeit, die dem System zum Ändern der Rahmenbedingungen gegeben wird - die Elastizitätsgrenze wird überschritten. Die Ursache der meisten dieser Irreversibilitäten wird im menschli­chen Handeln gesehen: Eine Zeitskala wird durch den Menschen verändert, ohne Rück­sicht darauf, dass die inhärente Zeit anderer Systeme in diesem Maß unveränderlich ist. Ökologische Systeme brauchen vergleichsweise lang, um sich einer von außen kommenden Störung anzupassen. Eine Störung wird ausgelöst durch veränderte Rahmenbedingungen, die fern der systemeigenen natürlichen Schwankungen und Zeits­kalen liegen. Die Änderungen finden so schnell statt, dass die natürlichen Systeme weder eine Chance zur Anpassung, noch zum Lernen haben und so eine Veränderung in

Richtung Nachhaltigkeit unmöglich wird. Der nun vorliegende Extremzustand wird zu einem neuen Normalzustand, was zur Folge hat, dass eine zuvor stabilisierende natür­liche Schwankung aufgrund von extremem Zeitmangel zu einer destabilisierenden wird. Ist ein System, das sich sehr lange in ausgeglichenem Zustand befindet, von einer Störung betroffen, so braucht es dementsprechend viel Zeit, bis Gegenmaßnahmen wirken. Handelt es sich dabei um Gegenmaßnahmen von Seiten des Menschen, nimmt dir Zeit für Entscheidungen, die mit steigender Komplexität eines Systems benötigt wird, zu. Gleichzeitig weitet sich die Störung jedoch immer mehr aus, je länger eine Maßnahme hinausgezögert wird (vgl. Kümmerer 1993, 90 ff.).

Der „Club of Rome“ veröffentlichte 1972 seinem Bericht „Die Grenzen des Wachs­tums“. Dieser zeigte Problematiken auf, mit denen sich die Menschen in Zukunft auseinandersetzen werden müssen und erschütterte so den Nachkriegsglauben an unend­lichen Wachstum und Wohlstand, wenn zukünftig nicht Ökonomie und Ökologie im Einklang miteinander stehen (vgl. Schön, Schauer 2010, 11 f.). Dessen Erscheinen des Berichts markierte einen „Wendepunkt, an dem erstmals in einer breiten politischen Öffentlichkeit die Grenzenlosigkeit und damit auch die Zeitlosigkeit bisherigen Wachs­tumsdenkens in Frage gestellt wurde“ (Zahrnt 1993, 114): „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen aus der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht“ (Meadows 1972, 17). Hier wird zum einen auf die Komplexität und die Zusammenhänge der Störungen der Systeme aufmerksam gemacht, zum anderen ein apokalyptischer Ausgang gezeichnet. Doch es heißt weiter: „Es erscheint möglich, die Wachstumstendenzen zu ändern und einen ökologischen und wirtschaftli­chen Gleichgewichtszustand herbeizuführen, der auch in weiterer Zukunft aufrecht erhalten werden kann“ (ebd.). Es ist anzunehmen, dass nach Meinung des „Club of Rome“ die Elastizitätsgrenze der Systeme zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig erreicht ist und es sich somit noch nicht um einen irreversiblen Zustand handelt. Und schließlich: „Je eher die Menschheit sich entschließt, diesen Gleichgewichtszustand herzustellen, und je rascher sie damit beginnt, um so größer sind die Chancen, daß sie ihn auch erreicht“ (ebd.). In diesem Abschnitt wird die Zeitkomponente deutlich, indem zur Handlung aufgefordert wird, um eine Störung der Systeme nicht fortschreiten zu lassen.

„Unkontrolliertes Wachstum hat die Menschheit in die Krise geführt. Sie steht an der Grenze ihrer irdischen Existenzmöglichkeiten. Es fehlt eine Welt-Konjunktur­politik, die neue Gestaltungsmöglichkeiten im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bereich bietet. Noch hat die Menschheit die Chance, durch eine auf die Zukunft bezogenes gemeinsames Handeln aller Nationen die Lebensqualität zu erhalten und eine Gesellschaft im weltweiten Gleichgewicht zu schaffen, die Bestand für Generationen hat“ (Meadows 1972, Klappentext).

Nun stellt sich die Frage, wo der Ursprung von Störungen in Systemen liegt und wie diese sich zeigen. Zur Beantwortung ziehe ich eine zentrale These von Reheis heran: „Es ist das zentrale System der Gesellschaft, das für die alarmierende Gesamtsituation „verantwortlich“ ist“ (Reheis 1998, 62). Als Begründung nennt er zum einen die Fremd-, zum anderen die Selbstüberforderung dieses Systems. Sie stellt sich wie folgt dar: Die beiden Umgebungssysteme der Gesellschaft sind mit dem Ersetzen des von dem zentralen System Verbrauchten überfordert. Sie schaffen es nicht, Energien, Mate­rialien und Informationen in einer von der Gesellschaft gesetzten Zeit zu ersetzen, bzw. zu verarbeiten. Sobald die Umgebungssysteme damit beginnen, sich auf Veränderungen des zentralen Systems einzustellen, werden sie bereits wieder mit neuen Umständen konfrontiert. Diese Fremdüberforderung hat zur Folge, dass sowohl ein Raubbau an Ressourcen der Natur stattfindet, als auch Lernen von Individuen verhindert wird. Da das System es auch vernachlässigt, einen nachhaltigen Umgang mit den systemeigenen Ressourcen zu finden, kann zudem neben einer Fremd-, auch von einer Selbstüberforde­rung gesprochen werden (vgl. ebd.). Was aber sind die konkreten Folgen einer solchen Überforderung?

2.2.2.1 Natur

Die „versiegende Natur“ (Reheis 1998, 23) ist eine Entwicklung, die die Menschheit nicht richtig und gern zur Kenntnis nehmen wollte und auch heute noch will. Das zeigt sich deutlich an beiden Enden des Wirtschaftsprozesses: Am Anfang bei der Gewinnung von Rohstoffen, am Ende bei der Entstehung und Entsorgung von Abfällen. Und mitten­drin steht der Mensch, dessen Vernunft nicht genügt, die aktuellen Herausforderungen in ihrer Komplexität zu erkennen, geschweige denn zu bewältigen (vgl. ebd., 23 f.).

1972, im Erscheinungsjahr des Berichts „Grenzen des Wachstums“, war der ökologi­sche Fußabdruck halb so groß wie heute. Damals galt es als undenkbar, dass die Gesell- Schaft ein Wachstum zulassen würde, das weit über die Grenzen der Tragfähigkeit der Erde geht. Genauso zeigt es sich jedoch aktuell: 2008 überstieg der Konsum der gesamten Biosphäre die weltweite Biokapazität um ca. 30 Prozent, die Treibhausgase­missionen waren acht mal höher als der Wert, bei dem von Nachhaltigkeit gesprochen werden kann und die Schrumpfung der Fischbestände dramatisch. Die Tragfähigkeit der Erde wurde um ein Weites überschritten - sie ist nicht mehr in der Lage, den großen ökologischen Fußabdrücken standzuhalten (vgl. Randers 2010, 15 f.). „Menschheit bräuchte in 20 Jahren zwei Planeten“ (Becker 2010) titelt der Spiegel. Weiter schreibt er, dass einem Bericht des WWF zufolge ein so großer Raubbau an den Ressourcen der Natur stattfindet, dass, um den Bedarf zu decken, aktuell 1,5 und 2030 sogar zwei Erden nötig wären. Ähnlich fatal ist die Situation bezüglich der Artenvielfalt von Tieren und Pflanzen. In manchen Teilen der Erde schrumpfte diese seit den 70er Jahren um 66 Prozent (vgl. ebd.).

Neben dem Raubbau an den Ressourcen der Natur steht auch die Kehrseite der Austauschbeziehung zwischen Natur und Gesellschaft im Zentrum: Der Umgang mit den Abfällen der Industriegesellschaft. Ob fest, flüssig oder gasförmig, die Erde schafft es nicht, die immens hohe Menge an Abfallprodukten zu verarbeiten. Angefangen bei dem weiterhin ungeklärten Umgang mit radioaktivem Müll, einen übermäßig hohen und gesundheitsschädlichen Feinstaubgehalt in vielen Großstädten, einer stetig dünner werdende Ozonschicht, bis hin zu einem zunehmenden Treibhauseffekt und dem damit verbundenen Temperaturanstieg (vgl. Reheis 1998, 27 f., DGVN 2011, 55 ff.). All diese Prozesse beschleunigen sich zunehmend - System- und Eigenzeiten geraten weiter und weiter aus dem Blickfeld oder werden gar nicht mehr beachtet. Die Akteure des Marktes, so Reheis, lassen die Zeitskalen natürlicher Ressourcen weitestgehend außer Acht, zu Gunsten der Produktion und deren Beschleunigung. Einwände gegen die Ausbeutung der Natur werden häufig einseitig als Angriffsversuch auf die Wettbewerbs­fähigkeit gedeutet (vgl. Reheis 1998, 83 f.).

2.2.2.2 Gesellschaft

Nicht nur das System der Natur befindet sich in einer Krise. Auch im System der Gesellschaft[6] knirscht Sand im Getriebe. Reheis benennt vor allem den Zerfall von zwischenmenschlichen Zusammenhängen als Ursache und spricht im Spezifischen zunächst die soziale Ausgrenzung an. Zwar ist das Vermögen und Einkommen der Gesellschaft insgesamt gestiegen, aber die Kluft zwischen arm und reich hat sich stark vergrößert (vgl. Reheis 1998, 13 f.). Viel hat sich seit den 90er Jahren an diesem Zustand nicht geändert. Der vierte Armutsbericht der deutschen Bundesregierung zeigt, dass das staatliche Vermögen sinkt, jedoch der private Reichtum zunimmt - in den letzten fünf Jahren um ca. 1,4 Billionen Euro. Jedoch gilt dies nicht für jeden Bürger: Vor allem die obere Wohlstandschicht wird immer reicher (vgl. Öchsner 2012). Nach neusten Zahlen der Deutschen Bundesbank besitzen die reichsten zehn Prozent der Deutschen gut 61% (5753 Mrd. Euro) des privaten Vermögens, das nächst reichere Zehntel nur noch 19% und die unteren 50% umgerechnet unter einem Prozent (vgl. faz.net 2012).

Diese soziale und wirtschaftliche Diskrepanz wird in der Soziologie im weiteren Sinne auch als „strukturelle“ Gewalt beschrieben. Jedoch auch die Gewalt im engeren Sinne hängt mit der ungleichen Verteilung von Mittel zusammen. Die Ursache von Krimina­lität, Terrorismus und Krieg liegt oft in der ungerechten Verteilung von Besitz, immer häufiger auch um (zur Neige gehenden) Rohstoffe. Wer im Weg steht, dem wird gedroht und nicht selten werden einige dieser Drohungen auch wahrgemacht. Je ungleicher Rohstoffe verteilt sind, und somit auch Macht und Geld, desto größer ist die Gefahr von eskalierender Gewalt (vgl. Reheis 1998, 17 ff.). Ein aussagekräftiger Indikator dafür ist die stetig wachsende Waffenproduktion. Allein in den letzten fünf Jahren ist das Volumen der weltweiten Waffengeschäfte trotz vieler Abrüstungsinitiativen, so schreibt der Spiegel, um ein Viertel gestiegen - Deutschland ist dabei der drittgrößte Exporteur (vgl. Reinbold 2012).

Auch ein mittlerweile unsicherer Generationenvertrag kann als Indikator einer zerfal­lenden Gesellschaft angesehen werden. Eine finanzielle Lastenverteilung zwischen den Generationen gestaltet sich aufgrund von demographischen Entwicklungen immer problematischer (vgl. Reheis 1998, 20). Der Geburtenrückgang auf der einen, vor allem jedoch die steigende Lebenserwartung alter Menschen auf der anderen Seite, bringt das Gleichgewicht der materiellen Unterstützung ins Wanken: Immer weniger Junge müssen immer mehr Alte bezüglich der Finanzierung ihrer Rente unterstützen - der Generatio­nenvertrag wird zu einem Generationenkonflikt (vgl. Streeck 2007, 55 f.).

Das System der Gesellschaft, nach Reheis Ursache der alarmierenden Gesamtsituation aller drei Systeme, überfordert nicht nur seine beiden Umgebungssysteme Natur und Individuum, sondern leidet auch, wie einige Beispiele erkennen ließen, an einer Selbst­überforderung. Durch den starken Produktionsdruck setzen sich die schnellen Akteure immer weiter von den langsameren ab, sowohl räumlich, als auch zeitlich. Es entsteht ein Zustand, der nur den schnellen Akteuren soziale Anerkennung schenkt, die Lang­samen bleiben zurück, haben keine Chance auf Anerkennung durch das Systems. Unmut aufgrund dieser ungerechte Verteilung innerhalb und zwischen den Generationen macht sichbreit(vgl. Reheis 1998, 121).

2.2.2.3 Individuum

„Läuft da nicht eine düstere, unheilvolle Tragödie ab: indem wir auf die Uhr starren, die uns - an unseren Arm gebunden - an die Zeit bindet, sind wir nichts weiter als Knechte jener Zeit. Wir - die wir aufgrund unserer inneren Rhythmen und Zyklen selbst biologische Uhren sind - schauen unserem eigenen Tod in die Augen, wenn wir wie gebannt auf unsere Armbanduhren starrenfDossEY 1984, 56; zit. nach Deisen 2002, 90f.).

Nachdem die Überforderung unserer natürlichen Umwelt und sozialer Mitwelt umrissen wurde, fokussiert sich nun der Blick auf das Individuum. Wie eingangs bereits beschrieben, ist der Mensch ein Gewöhnungswesen. Er ist in der Lage, sich der Gesell­schaft und der Kultur, in der er lebt, anzupassen und sein Leben innerhalb dieses Systems zu organisieren. Als Beispiel kann hier die zunehmende Vorverlegung des Reifungsprozesses von Kindern und Jugendlichen angebracht werden. Im Vergleich zu früheren Generationen zeigen viele bereits körperliche Reifungsprozesse und Verhal­tensweisen, die durchschnittlich erst zu einem späteren Alterszeitpunkt zu erwarten wären (vgl. Böhnisch u.a. 2009, 103). Durch die Ansprüche der auf Beschleunigung ausgelegten Gesellschaft findetjedoch eine gravierende Selbstüberforderung des Indivi- duums statt. So schreibt Reheis: „Die Produktions- und Konsumlogik verschmutzt die Innenwelt des Menschen [...] [und] macht den Körper geradezu zum Endlager fur fremde Stoffe, die Psyche zum Endlager fur fremde Motive“ (Reheis 1998, 99).

Aufgrund des enormen medizinischen und technischen Fortschritts konnten viele Krankheiten unter Kontrolle gebracht oder sogar ausgelöscht werden. Parallel zu diesem Fortschritt nimmt aber die Häufigkeit einiger Krankheiten enorm zu. Diese als soge­nannte Zivilisationskrankheiten bekannten Leiden[7] werden auf die Lebensbedingungen der Moderne zurückgefuhrt und implizieren somit eine Kritik am aktuellen Zustand der Gesellschaft. Krisen- und Belastungserfahrungen, ausgelöst durch die zunehmende Beschleunigung, gesellschaftliche und ökonomische Krisen und die Flexibilisierung der Arbeitswelt, werden verstärkt als Stress wahrgenommen. Dieser wird ohne Frage als Ursache von Zivilisationskrankheiten angesehen (vgl. Kury 2012, 25 ff.).

Auch die Zeittaktung, die das Produzieren und Konsumieren optimieren sollen, verän­dern den Lebensstil der westlichen Welt und bringen das das Individuum an seine Grenzen oder darüber hinaus. Reize wie Geld, Waren und Medien haben in dieser Schnelligkeit Auswirkungen auf das körperliche und psychische Wohlbefinden und so unstrittig auf die Gesundheit. Die Gier dominiert alle Sinne und lässt sie Stück für Stück veröden. Die Rücksichtslosigkeit von Seiten der Gesellschaft und des eigenen Verstandes gegenüber den vielfältigen Bedürfnissen und der natürlichen Uhr des Inneren bedroht die körperlichen und psychischen Zyklen (vgl. Reheis 1998, 98 f.). „Wir Menschen bleiben [...] unvermeidlich in die Zeitordnung der Natur eingebunden. Die Folgen der Verdrängung dieser Einbindung, die Vorstellung einer kulturell und in jüngster Zeit sogar individuell beliebig gestaltbaren Zeitordnung sind gerade in ökologi­scher Hinsicht dramatisch“ (Held 1993, 15).

[...]


[1] Es ist meine Bestrebung, eine geschlechtsneutrale Schreibweise anzuwenden. Die gängigen Formen, wie beispielsweise das Einbeziehen der männlichen und weiblichen Person, empfinde ich beim Lesen als „holperig“ und sprachlich wenig elegant. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, die erste Hälfte der Arbeit in männlicher, die zweite Hälfte in weiblicher Form zu schreiben. Abenteuerliche Aktivitäten werden nach meiner Empfindung im öffentlichen Diskurs immer noch größtenteils mit Männlichkeit assoziiert. Um dieser Dominanz ein wenig entgegenzuwirken, habe ich ab Kapitel 4.2 aufgrund der folgenden inhaltliche Aspekte die weibliche Form gewählt.

[2] Seit der industriellen Revolution hat sich die allgemeine Fortbewegungsgeschwindigkeit

verhundertfacht, die Datenverarbeitungsgeschwindigkeit vertausendfacht und die die Geschwindigkeit der Informationsübermittlung um den sieben- bis zehnstelligen Faktor beschleunigt (vgl. Rosa 2005b, 271).

[3] Ausführlicheres zum Begriff der „Gegenwartsschrumpfung“ vgl. Kapitel 4.1

[4] In den folgenden Ausführungen werde ich der Übersichtlichkeit halber das System der Kultur/Gesellschaft nur als System Gesellschaft bezeichnen

[5] Mehr zur Sonne als Basisressource vgl. Reheis 1998, 147 ff.

[6] In diesem Zusammenhang beziehe ich mich auf den Begriff von Simmel: Gesellschaft als Summe von Individuen, die durch ein Netz sozialer Beziehungen ständiger in einer Wechselwirkung miteinander stehen (vgl. Degele, Dries 2005, 77).

[7] Ergebnisse aus einer aktuellen Studie belegen, dass deutsche Erwachsene vermehrt an Übergewicht, Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Diabetes, Karies, Neurodermitis, Darmkrebs, Essstörungen und Depressionen leiden. Ausgelöst und begünstigt werden diese Krankheiten, so die Annahme, unter anderem durch die freie Zugänglichkeit von Suchtstoffen, ein überreiches Nahrungsangebot, Reizüberflutung, Stress, Lärm und Schadstoffe (Apotheken Umschau 2012). Bei der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ des Robert Koch-Instituts handelt es sich um eine Quer- und Längsschnittstudie, die Daten von 1998 bis heute zusammenfasst (vgl. Kurth 2012).

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Vom Sinn der Langsamkeit. Zur Notwendigkeit der Entschleunigung von Bildungsprozessen im Kontext des Abenteuers
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Veranstaltung
Abenteuer- und Erlebnispädagogik
Note
1,7
Autor
Jahr
2013
Seiten
72
Katalognummer
V281276
ISBN (eBook)
9783656747765
ISBN (Buch)
9783656747741
Dateigröße
807 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
sinn, langsamkeit, notwendigkeit, entschleunigung, bildungsprozessen, kontext, abenteuers
Arbeit zitieren
Sabine Loosen (Autor:in), 2013, Vom Sinn der Langsamkeit. Zur Notwendigkeit der Entschleunigung von Bildungsprozessen im Kontext des Abenteuers, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/281276

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