Dimensionen von My Lai. Soziologische Untersuchung eines Verbrechens


Seminararbeit, 2003

23 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1 Einführung in das Thema
1.2 Vorgehen

2. Quellenlage und Forschungsstand

3. Einordnung des Kriegsverbrechen von My Lai in den historischen Zusammenhang

4. Die Soldaten in Vietnam
4.1 Die Grundlagen: Was die Soldaten erlebten
4.2 Das Resultat: Wie aus „Soldaten Mörder wurden“

5. Schluß
5.1 Zusammenfassung der Erkenntnisse
5.2 Ausblick

Anhang

1. Einleitung

Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in einer neuen Art von Barbarei versinkt.

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung[1]

1.1 Einführung in das Thema

Am Morgen des 16. März 1968 wurde 105 junge Männer der Charlie-Kompanie aus der Task-Force Baker mit Helikoptern in die Nähe eines kleinen, südvietnamesichen Dorfes geflogen: My Lai 4. So hieß der Ort, da es in Südvietnam mehrere Weiler mit diesem Namen gab bzw. gibt. Die Soldaten wurden in der Nähe des Dorfes abgesetzt, später wird man erzählen, dass sich in dem Dorf ein 250-280 Mann starkes Bataillon der Vietcong aufgehalten haben soll. Ein gängiger „search-and-destroy“[2] -Einsatz sollte es sein. In dem Dorf befanden sich zum Zeitpunkt des Einsatzes lediglich Zivilisten, Frauen und Kinder, Alte und Kranke, allesamt unbewaffnet. Doch die außer Kontrolle geratenen Soldaten fielen „über die gut 400 Bewohner[3] her, vergewaltigten, verstümmelten, skalpierten, schändeten Lebendige wie Tote, vergingen sich an Tieren. Manche legten, Paul Meadlo sollte später in einem CBS-Interview davon erzählen, mit Maschinenpistolen auf Babys an, erschossen, erschlugen ihre Opfer eines nach den anderen oder mähten sie, in Gruppen zu 25, 50 oder 100, nieder, das Feuer der M-16 auf Automatik gestellt. Dutzende starben in einem Abwassergraben einen langsamen Tod, derweil ihre Mörder Häuser plünderten, anzündeten und Brunnen mit Kadavern vergifteten. So ging es vier Stunden lang.“[4]

Unbegreiflich, unbeschreibar, ein „mystery“, wie Tim O’Brien[5] es ausdrückt – das sind die Worte mit denen man an das Verbrechen von My Lai denkt. Dabei reichen die Dimensionen von My Lai durchaus weiter, denn solch ein Kriegsverbrechen ist im US-amerikanischen Kampfengagement in Vietnam nicht als Einzelfall zu betrachten.[6] Eben diese Dimensionen von My Lai sind das Thema dieser Arbeit. Das Ziel der soziologischen Untersuchung der Verbrechen soll es sein anhand der in Vietnam kämpfenden Soldaten die Mechanismen und Wirkungen der Gewalt im Vietnamkrieg zu untersuchen. Im Mittelpunkt des Interesses soll hierbei stehen, welche Umstände es möglich machten, dass junge Soldaten zu solchen Taten fähig wurden. Um dies zu untersuchen, muss man die Situation dieser Menschen im Vorfeld ihres Kampfeinsatzes und während des Krieges untersuchen.[7] Anhand von Briefen der Soldaten nach Hause, soll gezeigt werden, dass es bei den aktiv kämpfenden Soldaten unter der Einwirkung der Erlebnisse in Vietnam zu einem „Verbrauch moralischer Reserven“ und daraus resultierend zu einer „dramatischen Verengung des ethischen Horizonts“[8] kam. Publiziert sind solche Briefe in dem 2002 neu aufgelegten Band „Dear America. Letters Home from Vietnam“ (im folgenden als „Letters Home“ bezeichnet), welcher von Bernard Edelman für die ‚New York Vietnam Veteran Commission‘ editiert wurde.[9]

1.2 Vorgehen

An den Anfang einer solchen quellenbasierenden Untersuchung wird ein Abriß der allgemeinen Quellenlage und des Forschungsstands gestellt, gefolgt von einer größeren historischen Einordnung der Ereignisse, um einen Überblick über die Situation zu schaffen.

Im Hauptteil werden auf der Grundlage einer Diskussion der Quellen und ihrer Inhalte Antworten auf die eingangs formulierten Fragen gesucht. Die Quellen werden dazu nach einem Raster analysiert. Inhalt dieser Systematisierung ist die Frage nach der Motivation der Soldaten nach Vietnam zu gehen und zu kämpfen, die Suche in der Vielzahl nach Briefen nach sich gleichenden Erlebnissen der Soldaten und letztendlich die Frage nach Anzeichen der Entmoralisierung. Aus dieser Analyse wird sich ein Bild ergeben, was die Soldaten in Vietnam erlebten und welche Eindrücke und Einflüsse hier auf sie wirkten. Mit Hilfe dieses rekonstruierten Bildes können dann Mutmaßungen darüber angestellt werden, wie aus „Soldaten Mörder wurden“, um dem psychologischen Umfeld der Kriegsverbrechen einsichtig zu werden. Die Rückschlüsse auf diesen Punkt werden sich vor allem auf die brieflichen Quellen stützen, jedoch auch bereits geleistete Forschungserkenntnisse mit einbeziehen. Denn der hier zu leistende Einblick in die Quellen kann aufgrund der Literaturlage und des beschränkten Umfangs der Arbeit lediglich ein begrenzter und somit selektiver sein.

Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und ein Resultat aus den Untersuchungen formuliert, sowie ein Ausblick auf weiterführende Gebiete zur Untersuchung der Wirkung US-amerikanischer Kriegsverbrechen.

2. Quellenlage und Forschungsstand

Wenn man sich bei der Untersuchung der Dimensionen von My Lai auf die Suche nach Antworten begibt, führt dies meistens nur dazu, einen Problemaufriß aufzuzeigen, denn zu viele Faktoren wirkten während und besonders nach dem Ereignis. Die Quellenlage ist, wie Bernd Greiner in seinem Aufsatz „Spurensuche – Akten über amerikanische Kriegsverbrechen in Vietnam“ aufzeigt, eine äußerst unsichere und undurchsichtige. Über amerikanische Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg existieren so gut wie keine offizielle vom Militär während des Krieges verfasste Dokumente, sie sind im Zuge eines wohl generalstabsmäßig geplanten „instituionalisierten Cover-Up“[10] vernichtet wurden, wie der zu My Lai eingesetzte Sonderermittler General Peers feststellte. Aber auch so finden sich überall „Dokumentationslücken“[11], die oftmals direkt oder indirekt mit der Befehlsstruktur der US-amerikanischen Armee in Verbindung stehen. Ein einfacher Soldat musste sich stets an seinen direkten Vorgesetzten wenden, wenn er etwas zur Anzeige bringen wollte und somit lag es stets im Ermessensspielraum des ranghöheren Soldaten, die Eingabe zu verfolgen, was oftmals mit Blick auf die Karriere oder aufgrund der eigenen Involviertheit unterlassen wurde. Aber auch die militärische Sicherheit gebot Möglichkeiten neben aller Fälschung Akten verschwinden zu lassen. Selbst die offiziellen, zu den Einsätzen verfassten „Action-“ und „After-Action-Reports“ sind in keinster Weise aussagekräftig, da sie fast sämtliche „unter dem Eindruck einer in Washington formulierten Erwartungshaltung verfaßt“[12] wurden, die zu groben Fälschungen in den Berichten führte.

Die im Zuge der Ermittlung zu den Kriegsverbrechen in My Lai und anderswo in Vietnam angelegten Archive sind für den Historiker auch von „zweifelhaftem Wert“[13], denn die Unterstellung der amerikanischen Öffentlichkeit, dass man nur Fälle mit „politischen Skandalwert“[14] untersuchte, traf wohl in fast allen Fällen zu. So ist der Einblick, der sich dem Historiker hier bietet äußerst selektiv: „Hinweise, die nicht unmittelbar einen Verdächtigen zugeordnet werden konnten, wurden selbst dann übergangen, wenn sie auf die Spur bis dato unbekannter Verbrechen hätten führen können. Mit sich widersprechenden Zeugenaussagen wollte oder konnte die CID [‚Criminal Investigation Division‘ – der Militäruntersuchungsauschuß zu Kriegsverbrechen – Anm. des Autors] erst recht nicht umgehen. Geringfügige Abweichungen genügten, um eine Einstellung des Verfahrens zu empfehlen.“[15] Für Bernd Greiner läßt das nur den Schluß zu, dass es den Untersuchungen nur auf „den Nachweis individueller Schuld oder Unschuld“[16] ankam, nicht aber das Phänomenen ‚Kriegsverbrechen‘ im vietnamesischen Kontext umfassend zu untersuchen. Mit dem Skandal von Watergate schließlich, ging dass Interesse an den Kriegsverbrechen merklich zurück und die untersuchenden Behörden stellten ihre Arbeit ein, was vor dem Hintergrund der mangelhaften, juristischen Aufklärung der Fälle als schockierend erscheint. Die „politische Dethematisierung“ der Kriegsverbrechen war damit endgültig erreicht, das „Cover-Up“ war, wie auch Bernd Greiner feststellt, erfolgreich, „weil [...] im nachhinein kaum mehr zu entwirren [...].“[17] Auch der von Peers formulierte Bericht stellte dies fest, seine Leistung ist es aber, durch gründliche Rescherche-Arbeit die Mängel des Systems aufgezeigt zu haben und somit den späteren Generationen einen Einblick in den politischen Skandal um die amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam zu gewähren.

Auch die Aussagen der damals aktiv an den Kämpfen beteiligten Soldaten blieben unergiebig. Die Veteranen, die sich freiwillig in der Öffentlichkeit zu ihren Taten bekannten, lehnten zum größten Teil den Untersuchungsausschuß als „Handlanger der militärischen Führung“[18] ab und ein nicht geringer Teil nutzte somit die Zeugnisverweigerung vor dem Gremium als politischen Protest gegen den Staat selbst. Jedoch war damit keine Aufklärung zu erreichen.

Eine aussichtsreiche Quelle scheinen die Briefe der aktiv kämpfenden Soldaten nach Hause zu sein, auf die sich auch diese Arbeit stützen wird. Jedoch sind auch hier viele, hemmende Faktoren zu bedenken: Das Verbot militärische Geheimnisse publik zu machen, die Scham oder Furcht der Soldaten über, sie moralisch diskreditierende, Dinge an die Verwandten zu schreiben und nicht zuletzt möglicherweise auch eine ‚Normalisierung‘ dieser uns heute unbegreiflichen Dinge, so dass sie vielleicht nicht mehr erwähnenswert erschienen. Die Quellengattung der Briefe fordert an den Historiker deshalb intensives und ausdauerndes, vergleichendes Lesen, denn oftmals werden die Inhalte eines Briefes erst zwischen den Zeilen erkenntlich. Eine umfassende Darstellung der Vietnamkorrespondenz wird wohl aufgrund der Unüberschaubarkeit des Gebiets schwerlich erreichbar sein, so dass insgesamt betrachtet auch diese Quellengattung Probleme in sich trägt.

Viele Faktoren machen somit die Dimensionen von My Lai in den Augen des Verfassers zu einem historischen Problem: die instituionalisierte Vertuschung der Verbrechen und die sich daraus ergebende Arbeit des Historikers. Vor allem die Erforschung des Phänomens der, dem eigentlichen ‚Cover-Up‘ vorausgegangenen, Entmoralisierung in Teilen der Armee. Auch die Untersuchung der Entwicklung der Gesellschaft unter dem Eindruck der Verbrechen in Vietnam, die im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten ist, ist aufgrund der noch immer stückhaften Aufarbeitung ein historisches Problem.

Maßgeblich hat zu diesem Problem Bernd Greiner vom Hamburgischen Institut für Sozialforschung gearbeitet, der sich einmal mit der Gruppe der Soldaten, desweiteren mit der Gesellschaft und ihrer Reaktion selber und zuletzt 2001 mit der Rolle der Medien während des Vietnamkriegs beschäftigt hat.[19] Auf seine Arbeiten stützt sich ein wesentlicher Teil dieser Schrift. Für die Ereignisse in My Lai ist ein maßgebliches Werk die Arbeit von Seymor M. Hersh „My Lai 4 – A Report on the Massacre and it's Aftermath“, welche 1970 mit den entscheidenden Anstoß gab zur Aufdeckung und Untersuchung der Geschehnisse. Aufgrund seiner Nähe zu My Lai ist es im Sinne der Mediengeschichte einmal als primäre Quelle lesbar, im Bezug auf die Ereignisse gibt es jedoch als sekundäre Quelle wesentliche Aufschlüsse. Ein weiteres wichtiges, da oft zitiertes Werk ist eine Sammlung von Gesprächen zwischen Experten und Augenzeugen, sowie von Aufsätzen. „Facing My Lai. Moving Beyond the Massacre“ ist die von David L. Anderson besorgte Edition dieser Beiträge, die allesamt 1994 entstanden.

[...]


[1] Dieses Zitat von Horkheimer und Adorno aus ihrer großen Studie zur Zerstörung der Aufklärung zielte eigentlich auf den Faschismus, besonders den Nationalsozialismus ab. Fern dieser ideologischen Konnotation hat das Zitat auch auf die Realität des amerikanische Engagement in Vietnam angewandt Bedeutsamkeit.

[2] „Search-and-destroy“: Suchen und vernichten. Von der militärischen Führung in Vietnam entwickelte und im Dchungelkampf angewandte Taktik, die darauf abzielte, den Feind im jeweiligen Einsatzgebiet aufzuspüren und ihn mit sämtlichen zur Verfügung stehenden Mitteln zu vernichten. Vgl. Herden, Lutz, Der Geruch von Napalm am Morgen, in: Freitag 30 vom 18.07.2003.

[3] Die Zahlen scheinen unsicher, Bernd Greiner geht hier von 400, andere Darstellungen sprechen von 500, Marc Frey dagegen von 200 ermordeten Zivilisten aus (Frey, Marc, Geschichte des Vietnamkriegs. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums, München 62002, 164.).

[4] Greiner, Bernd, „A Licence to Kill“. Annäherung an die Kriegsverbrechen von My Lai, in: Mittelweg 36, 7 (1998), 3, 4-25, hier: 11.

[5] Ebenda. Tim O’Brien ist ein US-amerikanischer Schriftsteller, der selbst am Vietnamkrieg teilgenommen hat und über seine Erlebnisse und Erfahrung mehrere, autobiografisch eingefärbte, Werke geschrieben hat, unter anderem „Going after Cacciato“ oder „If I die in a Combat Zone“.

[6] Interessant ist in diesem Zusammenhang, das Marc Frey in seiner Vietnamkriegsdarstellung, welche 2002 in der 6. Auflage erscheint, immer noch davon ausgeht, dass My Lai „ein Einzelfall“ (Frey 2002, 164) war. Es ist jedoch heute bewiesen, dass solche Verbrechen im Umfeld von My Lai, welches in der Öffentlickeit aufgrund seiner Intensität besonders skandalisiert wurde, geschehen sind. Direkt am selben Tag des Verbrechens von My Lai wurde in dem einige Kilometer entfernten Weiler My Khe 4 von der Bravo-Kompanie eine ähnliche Tat begangen, der 90 Zivilisten zum Opfer fielen.

[7] Einen entscheidenden Beitrag dazu gibt der Greiner-Artikel „A Licence to Kill. Annäherung an die Kriegsverbrechen von My Lai“.

[8] Greiner 1998, 10.

[9] Zu beachten ist bei der Edition der Briefe, wer der jeweilige Autraggeber oder was das Motto ist, unter dem die Briefe veröffentlicht werden, da dies viel über die Auswahl der Briefe aussagen kann.

[10] Greiner, Bernd, Spurensuche – Akten über amerikanische Kriegsverbrechen in Vietnam, in: Wette, Wolfram/Ueberschär, Gerd R. (Hrsgg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, 461-477, hier: 470.

[11] Ebenda, 463.

[12] Ebenda, 465. Auf dieses Problem wid später noch detaillierter eingegangen.

[13] Ebenda, 468.

[14] Ebenda, 468.

[15] Ebenda.

[16] Ebenda.

[17] Ebenda.

[18] Ebenda, 469.

[19] Auf eine bibliographische Liste wird an dieser Stelle verzichtet und stattdessen auf das Literaturverzeichnis verwiesen.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Dimensionen von My Lai. Soziologische Untersuchung eines Verbrechens
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Historisches Institut)
Veranstaltung
Die USA in den Kriegen des 20. Jahrhunderts
Note
1,7
Autor
Jahr
2003
Seiten
23
Katalognummer
V28139
ISBN (eBook)
9783638300124
ISBN (Buch)
9783638691772
Dateigröße
568 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Darstellung des amerikanischen Kriegsverbrechens in My Lai im Hinblick auf die Untersuchung von moralischen und ethischen Äußerungen der Soldaten in Briefen
Schlagworte
Dimensionen, Soziologische, Untersuchung, Verbrechens, Kriegen, Jahrhunderts
Arbeit zitieren
Erik Fischer (Autor:in), 2003, Dimensionen von My Lai. Soziologische Untersuchung eines Verbrechens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28139

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Dimensionen von My Lai. Soziologische Untersuchung eines Verbrechens



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden