Die Darstellung der Erinnerung in Jenny Erpenbecks Roman "Heimsuchung"

Erinnerungsliteratur im 19. Jahrhundert


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

17 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Romantitel
2.1 Heimat
2.2 Heimsuchung

3. Darstellung der Erinnerung
3.1 Aleida Assmann: „Vier Formen des Gedächtnisses“
3.2 Astrid Erll: Die Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses

4. Multiperspektivische Darstellung der Erinnerung in „Heimsuchung“
4.1 Fehlende Chronologie

5. Wiederholungen

6. Individuelle Erinnerung

7. Resümee

5. Literaturverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung

1. Einleitung

Ein Haus am Märkischen See ist der Schauplatz von zwölf Lebensläufen, Schicksalen und Geschichten von den Zwanzigerjahren bis heute. Sie alle verbindet die Suche und Sehnsucht nach der Heimat, einem Ort, fern von Unterdrückung, Vertreibung und Tod. Die Geschichten der Romanfiguren bilden eine Art literarisches, kollektives Gedächtnis des vergangenen Jahrhunderts.

Zunächst wird der Romantitel mit seiner zweideutigen Bedeutung genauer beleuchtet. Was steckt hinter dem Kompositum „Heimsuchung“ und welche Rolle nimmt es im Zusammenhang mit den Romanfiguren und deren Geschichten ein?

Unter dem Punkt „Multiperspektivische Darstellung der Erinnerung“ wird geklärt, welche Formen des Gedächtnisses existieren. Hierzu werden zunächst Aleida Assmanns Text über die „vier Formen des Gedächtnisses“[1] und Astrid Erlls[2] Ansatz über „Die Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses“ herangezogen, um im weiteren Verlauf die konkrete Darstellung der Erinnerung an Aleida Assmanns Theorie im Roman „Heimsuchung“ zu betrachten. Lassen sich ihre Formen des Gedächtnisses auch in Erpenbecks Roman wiederfinden? Und falls ja, wie werden sie dargestellt?

Besonders auffällig in Jenny Erpenbecks Roman[3] ist die fehlende Chronologie innerhalb der Geschichten der Romanfiguren. Die Frage, die hier gestellt werden muss ist, weshalb dieses stilistische Mittel von der Autorin gewählt wurde und welche Wirkung ihm zukommt. Dieselbe Fragestellung muss bei den immer wieder auftauchenden Wiederholungen beachtet werden. Sind es bestimmte Sachverhalte, denen die Autorin damit Nachdruck zu verleihen versucht, oder steckt ein weitaus komplexerer Aspekt dahinter, der nicht offensichtlich ist?

Nicht unbeachtet darf die Thematik der „individuellen Erinnerung“ der einzelnen Romanfiguren bleiben. Die Geschehnisse werden immer aus der Sicht der Individuen geschildert, jedoch muss geklärt werden, ob ein Zusammenhang zwischen der individuellen Erinnerung und der Erinnerung des Kollektivs hergestellt werden kann.

2. Der Romantitel

Der Romantitel „Heimsuchung“ kann in seinem Inhalt auf zwei Arten gedeutet werden. Er weist sowohl auf die Suche nach einer Heimat hin, als auch auf eine Heimsuchung der Vergangenheit.

Das Haus und das Grundstück in dem Roman stehen metaphorisch für das Verstreichen von Zeit und die dadurch entstanden Spuren.

Die Romanfiguren in „Heimsuchung“ teilen allesamt die Liebe und Verbundenheit zu dem Haus und Grundstück am Märkischen Meer. Auf der anderen Seite sind sie aber auch gezwungen, dieses Haus und die Heimat mit der Gewissheit zu verlassen, nicht wieder zurückkehren zu können.

2.1 Heimat

Die starke Sehnsucht nach „Heimat“ kommt bei der Geschichte des Architekten zum Ausdruck. Der Leser folgt dem Architekten anhand seiner detaillierten Beschreibungen durch das Haus und gewährt dem Leser so einen Einblick in die Erinnerungen des Bauherrn.

Durch diese lebendigen Schilderungen des Hauses und dessen Umgebung lässt sich erahnen, welch starke emotionale Bindung des Architekten mit dem Haus besteht. Er nimmt den Leser an der Hand und führt ihn die knarrenden Treppen hinab, den Weg entlang zu seinem Atelier und beschreibt ihm jedes Detail, welches er selbst hinzugefügt oder ausgeschmückt hat.

Neben der starken Verbundenheit zu seinem Haus war sein Beruf, das Bauen und Planen einer Heimat, ein wichtiger Bestandteil seines Lebens:

„Heimat planen, das ist sein Beruf. Vier Wände um ein Stück Luft, ein Stück Luft sich mit steinerner Kralle aus allem, was wächst und wabert, herausreißen, und dingfest machen. Heimat. Ein Haus, die dritte Haut, nach der Haut aus Fleisch und Kleidung. Heimstatt. Ein Haus maßschneidern nach den Bedürfnissen seines Herrn. Essen, Kochen, Schlafen, Baden, Scheißen, Kinder, Gäste, Auto, Garten. Ob all das und das nicht, umrechnen in Holz, Stein, Glas, Stroh und Eisen. Dem Leben Richtungen geben, den Gängen Boden unter den Füssen, den Augen einen Blick, der Stille Türen. Und das hier war sein Haus.“[4]

Das Haus und seine Heimat sind für den Architekten eine „dritte Haut“[5], ein fester Bestandteil seines Lebens und seiner Identität, ohne die er sich schutzlos fühlt: „Wer baut, klebt nun einmal sein Leben an die Erde. Dem Bleiben einen Körper zu geben, ist sein Beruf.“[6]

Auch der Tuchfabrikant und seine Nichte Doris sehnen sich nach der Heimat. In beiden Geschichten spielen Bäume eine zentrale Rolle. Der Tuchfabrikant beschreibt beispielsweise das Pflanzen einer Weide am Märkischen Meer sehr detailliert: „Ludwig schaufelt das Loch für die Weide. Die Erde ist schwarz und feucht, so nah am Wasser.“[7]

An einer weiteren Stelle im Roman wird beim Pflanzen der Weide die gesamte Familie miteinbezogen, wodurch die Zusammengehörigkeit und Verbundenheit der Familie mit dem Grundstück und dem Haus zum Ausdruck kommt. Die Wurzeln, die der Baum im Boden schlägt, stehen symbolisch für die Verwurzelung der Familie mit diesem Haus.

Bei der Nichte Doris werden die Bäume am Märkischen Meer ebenfalls erwähnt: „Auf der Kiefer hatte sie gehockt, sich an ihrem schuppigen Stamm festgehalten.“[8] Und:

„Wenn die Weide schon groß ist und mit ihren Haaren die Fische kitzelt, wirst du immer noch hier zu Besuch sein, bei deinen Cousins und Cousinen, und dich daran erinnern, dass du geholfen hast, sie zu pflanzen.“[9]

Die Bäume stehen hier metaphorisch für das Leben, das sich mit der Zeit verändert. Die Erinnerung an das Pflanzen bleibt jedoch bestehen. Es ist das Bekannte und Vertraute im Leben, das die Heimat ausmacht.

Ein anderer Kontext, in dem die Bäume gesehen werden können, ist der Tod. So wie Bäume im Herbst ihre Blätter verlieren, so stehen sie im Frühjahr in voller Blüte. Diese zweite Bedeutung der Bäume wird deutlich, als es um die Eukalyptusbäume des Tuchfabrikanten in Kapstadt geht:

„Die Eukalyptusbäume trocknen den Boden bis in die Tiefe aus, sie entziehen den anderen Gewächsen das Wasser. Und nach jedem Waldbrand sind es ihre Samen, die als erste wieder austreiben und so alle anderen Pflanzen verdrängen. Dadurch, dass der Eukalyptus regelmäßig seine trockenen Äste abwirft, spart er Wasser und fördert das Entfachen der Brände, die zwar nicht dem einzelnen Baum, aber der Verbreitung der Gattung so förderlich sind. Auch durch sein stark ölhaltiges Holz entzünden sich seine Stämme leichter als die anderen Bäume. Zwischen den Stämmen der neu aufgewachsenen Wälder ist der Boden kahl und die Erde rötlich von den Bränden.“[10]

Dieser Textausschnitt spiegelt das Leben des Tuchfabrikanten wieder. Er musste sein altes Leben loslassen und seine Heimat verlassen, um zu überleben.

Das Bild des Baumes als Sinnbild des Lebens, der Schöpfung, aber auch des Todes kann auch schon in der Bibel gefunden werden. Somit können die Bäume hier als Ausdruck für die Gesamtheit des Lebens dienen, indem sowohl Leben als auch Tod vertreten sind.

In diesem Sinne kann auch die Darstellung der Bäume bei Doris gedeutet werden, als sie sich im Ghetto befand: „Bäume gab es dort nicht, schon gar keinen Park [...]“.[11]

Die Bäume, die das Leben symbolisieren, existieren dort nicht. Auf die Geschichte der Juden zur Zeit des Nationalsozialismus übertragen, war das Leben im Ghetto ein Warten auf den Abtransport in ein Konzentrationslager.

Die Romanfigur Doris zeigt auch ein zu erwartendes Geschehen auf: „Doris balanciert vom Rand des Lochs aus und hält mit beiden Händen das Stämmchen“.[12] Das Mädchen versucht sich mit beiden Händen am Leben festzuhalten, auch wenn die Hoffnung im Ghetto darauf sehr klein zu sein scheint. Sie befindet sich zwischen Leben und Tod. Diese Beschreibung muss nicht notwendigerweise nur im Hinblick auf die Situation der Juden gedeutet werden. Vielmehr befindet sich jeder Mensch in einem Balanceakt, den richtigen Weg im Leben zu finden oder zu versagen und abzustürzen.

Auch bei Doris ist die Sehnsucht nach der Heimat durch ihre Erinnerungen an das Haus ihres Onkels deutlich wahrzunehmen. Diese Erinnerungen geben ihr Halt und die Zuversicht, die sie im Ghetto nicht finden kann. Sie sind eine Art Band, welches die grausame Wirklichkeit mit den schönen Erinnerungen der Vergangenheit verbindet:

„Auf Onkel Ludwigs Grundstück kann sie noch immer von Baum zu Baum gehen und sich hinter den Büschen verstecken, auf den See blicken kann sie und wissen, dass der See noch immer dort ist. Und so lange sie noch irgendetwas auf dieser Welt kennt, ist sie noch nicht in der Fremde“.[13]

Gerade in der Geschichte des Tuchfabrikanten kommen die Wörter „Heim“ und „daheim“ gehäuft vor, besonders wenn es um sein Sommerhaus geht. Damit wird das Haus am Märkischen Meer von dem neuen Haus in Südafrika deutlich separiert. Denn „heim“ ist jener Ort, an dem er mit seiner Familie und den Erinnerungen der Vergangenheit verwurzelt ist.

Die Bäume sind das Beständige im Leben der Figuren. Die Wurzeln verbinden die Familienmitglieder miteinander an einem festen Ort, dem Zuhause.

[...]


[1] Assmann, Aleida: „Vier Formen des Gedächtnisses.“ In: Erwägen, Wissen, Ethik (EWE) 13,2. 2002.

[2] Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 2011.

[3] Erpenbeck, Jenny: Heimsuchung. Frankfurt am Main, Eichborn, 2008.

[4] Erpenbeck, J.: Heimsuchung, S. 38.

[5] Erpenbeck, J.: Heimsuchung, S. 39.

[6] Erpenbeck, J.: Heimsuchung, S. 42.

[7] Erpenbeck, J.: Heimsuchung, S. 51.

[8] Erpenbeck, J.: Heimsuchung, S. 80.

[9] Erpenbeck, J.: Heimsuchung, S. 83.

[10] Erpenbeck, J.: Heimsuchung, S. 54.

[11] Erpenbeck, J.: Heimsuchung, S. 85.

[12] Erpenbeck, J.: Heimsuchung, S. 53.

[13] Erpenbeck. J.: Heimsuchung, S. 87.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Die Darstellung der Erinnerung in Jenny Erpenbecks Roman "Heimsuchung"
Untertitel
Erinnerungsliteratur im 19. Jahrhundert
Hochschule
Universität Hildesheim (Stiftung)
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
17
Katalognummer
V282225
ISBN (eBook)
9783656765707
ISBN (Buch)
9783656838364
Dateigröße
530 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erinnerung, Heimsuchung, Erpenbeck, 19.Jahrhundert, Theorie, Aleida Assmann, Astrid Erll
Arbeit zitieren
Victoria Theis (Autor:in), 2014, Die Darstellung der Erinnerung in Jenny Erpenbecks Roman "Heimsuchung", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/282225

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