Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1. George F. Kennan
2.2. Das Lange Telegramm
2.2.1. Zur Entstehung
2.2.2. Der Inhalt
2.2.3. Die Reaktionen
2.3. Der „X“-Artikel
2.3.1. Zur Entstehung
2.3.2. Der Inhalt
2.3.3. Die Kritik
2.4. Kennans Begriff der Eindämmung
2.5. Auswertung
3. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Feeling like one who has inadvertently loosened a large boulder from the top of a cliff and now helplessly witnesses its path of destruction in the valley below, shuddering and wincing at each successive glimpse of disaster, I absorbed the bombardment of press comment that now set in.“1
Mit diesen Gedanken reflektierte George F. Kennan die Lawine der Kritik, die er mit seinem Aufsatz „ The Sources of Soviet Conduct “2, auch „X“-Artikel genannt, auslöste.
Die Einführung der Eindämmungspolitik war ein wichtiges Ereignis in der Frühphase des Kalten Krieges. George F. Kennan, der als Vater und Begründer der Containment Policy in die Geschichte einging, löste mit seinem Langen Telegramm 1946 und dem „X“-Artikel 1947 heftige Reaktionen aus, die zwischen Begeisterung und Ablehnung schwankten. Wie man dem Eingangszitat entnehmen kann, trafen die Vorwürfe der Kritiker Kennan zutiefst. Besonders die Anschuldigung, Kennan würde eine Militarisierung der Außenpolitik befürworten, nahm er sich sehr zu Herzen, da er nach eigenen Angaben nie eine Eindämmung mit militärischen Mitteln verfolgt habe.3 Diesbezüglich ist es interessant, die Anschuldigungen näher zu betrachten und Kennans Absichten zu beleuchten.
Somit ist es Ziel dieser Arbeit zu untersuchen, ob die Vorwürfe gegen Kennan bezüglich der militärischen Absichten berechtigt sind. Hierbei wird der Fokus besonders auf den Zeitraum der beiden Hauptquellen 1946 bis 1947 gelegt, aber auch spätere Schriften, wie zum Beispiel Kennans Memoiren, werden hinzugezogen.
Ein Blick auf den Forschungsstand lässt erkennen, dass sich bereits viele Wissenschaftler mit dem Leben und den Werken Kennans auseinandergesetzt haben. Im Folgenden werden nun die wichtigsten Autoren und deren Thesen und Standpunkte, die für die Fragestellung dieser Arbeit relevant sind, vorgestellt.
Da sich die Meinung der Wissenschaftler spaltet, lässt sich zunächst die Forschung in zwei Gruppen unterteilen: zum einen gibt es die Vertreter, die Kennan als moralisch handelnde Person betrachten, die keine Militarisierung der Außenpolitik befürwortete. Diese These wird zum Beispiel von Gaddis4, Miscamble5, Mayers6, Velbinger7 und Lange8 vertreten. Mayers beweist, dass Kennan von Anfang an gegen eine Militarisierung der Außenpolitik plädierte und vermutet, dass Kennan den „X“-Artikel für Forrestal aus Karrieregründen verfasste. Auch Gaddis´ neuestes Werk „ George F. Kennan: An American Life“[9] spiegelt den aktuellen Forschungsstand wider und gewährt Eindrücke in Kennans Leben.
Zum anderen gibt es die Vertreter der These, Kennan habe seine Meinung bezüglich der militärischen Absichten im Laufe der Zeit revidiert und somit doch zeitweise eine Militarisierung befürwortet. Zu dieser Gruppe gehören zum Beispiel Hixson10, Gellmann11 und Wright12 die Kennan amoralische Wechselhaftigkeit unterstellen.
Da sich die meisten der angeführten Autoren hauptsächlich mit der Fragestellung der Konsistenz bzw. Inkonsistenz Kennans beschäftigen, ist es interessant, den Fokus in dieser Arbeit auf die militärischen Absichten zu legen, die vor allem der Journalist Walter Lippmann in Kennans „X“-Artikel zu erkennen glaubt.
Als Hauptquellen dieser Ausarbeitung sind vor allem Kennans Langes Telegramm13 und sein Artikel „ The Sources of Soviet Conduct“[14], auch „X“-Artikel genannt, zu erwähnen. Aber nicht nur die offiziellen Dokumente Kennans sind zu beachten. Da Kennan ein begeisterter Schreiber war und zahlreiche Aufsätze und Schriften verfasste, liegen nach der Öffnung der Kennan-Boxen viele private Aufzeichnungen vor, die ebenfalls von Bedeutung sind. Besonders die Memoiren15 Kennans sind wertvoller Bestandteil dieser Arbeit, da er dort reflektierend wichtige Eindrücke liefert, die unter anderem Aufschluss über die Fragestellung geben. Jedoch gilt es zu beachten, dass diese Art von Quellen kritisch hinterfragt werden müssen, da die subjektiven Eindrücke erst auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden sollten.
Als weitere Quelle ist Lippmanns kritische Artikelserie16 zu erwähnen, die als Reaktion auf den „X“-Artikel ebenfalls in dieser Arbeit Beachtung finden wird und Multiperspektivität bietet.
Um die Fragestellung zu beantworten, werden vorrangig politikgeschichtliche Aspekte untersucht und ausgewertet. Hierbei werden die ausgewählten Quellen und die Sekundärliteratur als Zugriff auf das Thema verwendet. Empirische Methoden bieten sich bei der Fragestellung nicht an und werden somit auch nicht angewandt.
Zu Beginn der Arbeit wird zunächst George Frost Kennan vorgestellt und seine Karrierestationen werden kurz skizziert, damit seine Schriften besser eingeordnet werden können. Danach werden nacheinander die beiden Hauptquellen – das Lange Telegramm und der „X“-Artikel – dargestellt, indem zuerst der Entstehungshintergrund der Schriften beleuchtet wird. Nachdem die für die Fragestellung relevanten Inhalte kurz beschrieben wurden, wird näher auf die Reaktion und Kritik, die durch die jeweilige Schrift hervorgerufen wurden, eingegangen. Es wird sich herausstellen, dass das Lange Telegramm vorwiegend positive Reaktionen hervorrief, wo hingegen der „X“-Artikel Anlass zur heftigen Kritik wurde. Im Vordergrund der Kritik am „X“-Artikel soll vor allem Lippmanns Artikelserie stehen. Um die Vorwürfe analysieren zu können, wird Kennans Begriff der Eindämmung, den er in seinen Memoiren erläutert, dargelegt und später auswertend der Kritik gegenüber gestellt. Es wird sich herausstellen, dass Kennan mit dem „X“-Artikel und dem Langen Telegramm keine militärischen Absichten verfolgte und viele Faktoren, wie zum Beispiel Kennans unpräzise Formulierungen und das isolierte Betrachten der Quellen, zu Missverständnissen führten. Die Ergebnisse werden abschließend in einem Fazit zusammengefasst und bewertet.
2. Hauptteil
2.1. George F. Kennan
Da Kennan beruflich wie privat ein vielseitiger Mensch war, kann an dieser Stelle nur ein sehr grober Überblick seines Lebens gegeben werden.
George Frost Kennan war nicht nur als Vater der Eindämmungspolitik, sondern auch als Schriftsteller, Historiker, Russlandexperte und Diplomat bekannt.17 Geboren wurde er am 16. Februar 1904 in Milwaukee als Sohn eines Farmers.18 Nach seiner Diplomatenausbildung wurde er nach Europa gesandt, wo er 1931 in Berlin die russische Sprache und Kultur studierte, bevor er 1933 nach Moskau ging.19 Dort entwickelte er eine Leidenschaft für Russlands Kultur, Geschichte und Sprache, die jedoch von seiner Ablehnung des Kommunismus überschattet war.20 Zu Beginn des zweiten Weltkrieges war Kennan in Prag und Berlin stationiert.21 Während des Krieges vertrat er seine antikommunistische Einstellung und argumentierte gegen ein Bündnis mit der Sowjetunion.22 Ebenso lehnte Kennan eine amerikanisch-sowjetische Zusammenarbeit nach Ende des Krieges ab und schlug die Unterlassung der amerikanischen wirtschaftlichen Hilfe vor, um die Sowjetunion zu einem Rückzug zu bewegen.23 Kennan erhielt jedoch erst mit seinem Langen Telegramm, das im nächsten Kapitel näher erläutert wird, die erstrebte Aufmerksamkeit von Seiten der amerikanischen Regierung.24 Im April 1946 erhielt Kennan eine Anstellung im National War College, das die Überzeugung der Amerikaner widerspiegelt, dass militärische und politische Angelegenheiten zusammenspielen sollten.25 Sein „X“-Artikel 1947 wurde ungewollt Auslöser heftiger Kritik und Anlass dafür, dass Kennan fälschlicher Weise als Verfasser der Truman-Doktrin, der er nach eigenen Angaben kritisch gegenüberstand, verstanden wurde.26
2.2. Das Lange Telegramm
2.2.1. Zur Entstehung
Bei der Betrachtung des Langen Telegramms sind auch die Entstehungshintergründe zu beachten. Ein wichtiger Auslöser war Stalins provokative Wahlrede am 9. Februar 1946 im Bolshoi Theater.27 Laut dem Diplomaten Durbrow verdeutliche Stalins Rede: „ to hell with the rest of the world“[28] und das Time Magazine beschrieb sie als „ the most warlike pronouncement uttered by any top-rank statesman since V-J Day“.[29] Daraufhin baten Durbrow und Kennans direkter Vorgesetzter Matthews den Russlandexperten Kennan um eine Analyse der Situation.30 Kennan, der zu diesem Zeitpunkt in der Moskauer Botschaft die alleinige Leitung innehatte, ergriff die Chance, seine Meinung frei äußern zu können und verfasste das Lange Telegramm.31 Am 22. Februar wurde die langerwartete Analyse nach Washington geschickt, wo sie sofort Aufmerksamkeit fand.32
2.2.2. Der Inhalt
Da der „X“-Artikel und das Lange Telegramm inhaltlich eng zusammenhängen, sollten auch beide Dokumente gleichsam beachtet werden. Zunächst wird das Lange Telegramm bezüglich der Fragestellung analysiert und kritisch beleuchtet. Dazu werden ausschließlich Auszüge betrachtet, die im engen Bezug zur Fragestellung stehen.
Gleich am Anfang des Telegramms betont Kennan, dass es aus russischer Sicht „auf die Dauer keine friedliche Koexistenz“33 mit den kapitalistischen Staaten geben könne. Er beschreibt die brisante Situation aus der Perspektive der Sowjetunion, die propagiert, dass sie nicht an einer friedlichen Lösung interessiert sei und somit Kriege und Konflikte für unvermeidlich halte, um ihren kommunistischen Machtbereich zu sichern.34 Dieses von den Russen selbst projizierte Bild verdeutliche die Aggressivität, die durch die sowjetische Propaganda vermittelt werde und die das russische Volk maßgebend manipuliere.
Als Russlandexperte weiß Kennan diese Annahmen durch sein objektives Urteil zu widerlegen und beschreibt die Russen als friedliche Menschen, die von der Propaganda beeinflusst werden.35 Mit einem Rückblick auf Russlands Geschichte, beschreibt Kennan dessen Natur, die von Unsicherheit und Furcht vor der Außenwelt geprägt sei und erklärt die sowjetische Kompromisslosigkeit, Russlands Isolation von der Außenwelt, die Entstehung des Sozialismus und den Anstieg von Militär und Polizei im russischen Staat.36 Kennan ist also von der Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz überzeugt, jedoch stelle das russische Verhalten auch große Gefahren für die USA dar, die eine Eindämmung des sowjetischen Machtbereiches notwendig mache.37 Vor allem die Untergrundorganisationen der Sowjetunion, die strikt von der legalen Politik zu trennen sind, seien eine große Bedrohung, da sie soziale Unruhen fördern, gewalttätige Methoden anwenden und alles unternehmen werden, um die Westmächte zu spalten.38 Kennans Analyse bietet somit Aufklärung, ist aber auch als Warnung zu betrachten. Seine objektive Einschätzung der Lage zeigt aber, dass durchaus eine friedliche Lösung des Konfliktes möglich ist.
[...]
1 Kennan, George Frost: Memoirs I 1925-1950, Boston 1967.
2 Kennan, George Frost: The Sources of Soviet Conduct, in: Foreign Affairs 25, Juli 1947, S. 566-582. Hier zitiert aus: Kennan, George Frost: American Diplomacy 1900-1950, Chicago 1969, S. 107-128. Im Folgenden zitiert als: Kennan: The Sources of Soviet Conduct.
3 Kennan, George Frost: Memoiren eines Diplomaten, München 1967, S. 360. Im Folgenden zitiert als: Kennan: Memoiren.
4 Gaddis, John Lewis: George F. Kennan: An American Life, New York 2011. Im Folgenden zitiert als: Gaddis: Kennan: An American Life.
5 Miscamble, Wilson D.: George F. Kennan and the Making of American Foreign Policy, Princeton 1992. Im Folgenden zitiert als: Miscamble: Kennan and the Making of American Foreign Policy.
6 Mayers, David: George Kennan and the dilemmas of US Foreign Policy, New York 1988. Im Folgenden zitiert als: Mayers: Kennan and the dilemmas of US Foreign Policy.
7 Velbinger, Hartmut: Eindämmung und Entspannung: George F. Kennan und die amerikanische Strategie in den 70er Jahren, München 1977. Im Folgenden zitiert als: Velbinger: Eindämmung und Entspannung.
8 Lange, A. Kai-Uwe: George Frost Kennan und der Kalte Krieg: Eine Analyse der Kennanschen Variante der Containment Policy. In: Texte zu Politik und Zeitgeschichte, Band 3, hg. von Hans Karl Rupp, Münster 2001 [zugleich Dissertation, Universität Marburg 2000]. Im Folgenden zitiert als: Lange: Kennan und der Kalte Krieg.
9 Gaddis: Kennan: An American Life.
10 Hixson, Walter L.: George F. Kennan: Cold War Inconolast, New York 1989. Im Folgenden zitiert als: Hixson: Cold War Inconolast.
11 Gellmann, Barton: Contending with Kennan: Toward a Philosophy of American Power, New York 1984.
12 Wright, Ben: Mr. „X“ and Containment, in: Slavic Review, Vol. 35, No. 1, 1976, S. 1-31. Im Folgenden zitiert als: Wright: Mr. “X” and Containment.
13 Kennan, George Frost: Das Lange Telegramm, in: ders., Memoiren eines Diplomaten, München 1967, S. 552-568. Im Folgenden zitiert als: Kennan: Das Lange Telegramm.
14 Kennan: The Sources of Soviet Conduct.
15 Kennan: Memoiren.
16 Lippmann, Walter: The Cold War: A Study in U.S. Foreign Policy, New York 1947. Im Folgenden zitiert als: Lippmann: The Cold War.
17 Arms, Thomas: Kennan, George F., in: The Encyclopedia of the Cold War, New York 1994, S.321. Im Folgenden zitiert als: Arms: Kennan.
18 Arms: Kennan, S. 321.
19 Ebd.
20 Ebd.
21 Ebd.
22 Ebd.
23 Ebd.
24 Ebd.
25 Gaddis: An American Life, S. 231.
26 Kennan: Memoiren, S. 363.
27 Gaddis: An American Life, S. 216.
28 Ebd., S. 217.
29 Ebd., S. 227.
30 Ebd., S. 217.
31 Kennan: Memoiren, S. 297-298.
32 Gaddis: An American Life, S. 218.
33 Kennan: Das Lange Telegramm, S. 552.
34 Ebd., S. 552-554.
35 Ebd., S. 554.
36 Ebd., S. 554-557.
37 Ebd., S. 557.
38 Ebd., S. 558-561.