Leinwandreflexionen. Kulturelle Identitätsstiftung durch das Marathi-Kino


Magisterarbeit, 2009

197 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 »Exploringsilver screen reflections«-Feldforschung
2.1 Forschungsort
2.1.1 Die StadtPuneals Forschungskontext
2.1.1.1 Bedeutung der Stadt Pune für die Marathi-Filmindustrie
2.1.1.2 Kinos in Pune - Single-Screen und Multiplex
2.1.2 Das Single-Screen-Theatre Prabhät als Forschungsort
2.1.3 Morgendämmerung und Abendrot - Der Tag im Prabhät
2.2 Methoden
2.2.1 Teilnehmende Beobachtungundlnterviews
2.2.2 Film und Fotografie in einem visuellen Forschungskontext
2.2.3 Kritische Methodenreflexion

3 Von Filmsehenden und Filmschaffenden - Bedeutung und Wahrnehmung des Marathi-Kinos
3.1 Bedeutungdes Prabhät fürKinogänger undFilmemacher
3.1.1 Kinogänger
3.1.2 Filmemacher
3.2 Bedeutung des Marathi-Kinos für Kinogänger und Filmemacher
3.2.1 Filmemacher
3.2.2 Kinogänger
3.3 »Little newwave«-Transformationswahrnehmungen
3.4 »Screen play« - Dichte Beschreibung des Kinobesuchs

4 »Intermission« - Zusammenfassung und Überleitung

5 Raum
5.1 Raum undKörper
5.2 Rezipierenundpartizipieren-Kinoals belebterRaum
5.3 »Picture P(a)lace Prabhät«-Derbelebte Raum
5.3.1 Sehen-HandelnundFormen
5.3.2 Gehen-RaumgrenzenundSchwellen
5.3.3 DerRitualort Prabhät
5.4 Identitätsstiftungdurchdas Prabhät

6 Medium
6.1 Regionalerundnationaler Film in indien
6.2 Regionaler Film Maharashtras
6.2.1 »Cinema was never silent« - Geschichte des Marathi-Kinos
6.2.2 Rezente Entwicklungen
6.2.3 »Valu - The Wild Bull« - Filmbeispiel
6.2.3.1 Interpretationendurchdie Kinogänger
6.2.3.2 IntentiondesRegisseurs
6.2.3.3 Der ethnologische Blick - Filmanalyse und Interpretation
6.3 IdentitätsstiftungdurchMarathi-Filme

7 Sprache
HistorischerExkurs:Maharashtra
7.1 ObjektifizierungvonSprache
7.2 Sprache in Maharashtra
7.3 ÜberSprache sprechen-Marathi im Forschungskontext Punes
7.4 »Marathiisourmother tongue«-Identitätsstiftungdurch Sprache

8 Leinwandreflexionen

9 Schlussbetrachtungen
9.1 Fazit
9.2 Ausblick

10 Glossar

11 Quellenverzeichnis

12 Anlage
Anhang I: Abbildungen
I.1 Grundriss
I.2Fotodokumentation
I.3 Standbilder aus »Valu - The Wild Bull«

Abkürzungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Grundriss des Prabhät Theatre

Abbildung 2:Straßenansichtdes PrabhätTheatre

Abbildung 3: Vorhof des Prabhät mit Blick in Richtung der Ticketschalter

Abbildung 4: Kinogänger warten auf die Öffnung der Ticketschalter

Abbildung 5: Mr. Ranade kontrolliert die Tickets zwischen Vor- und Innenhof

Abbildung 6: Tor zwischen Vor- und Innenhof des Prabhät

Abbildung 7: Kinogänger warten im Innenhof aufEinlass in den Kinosaal

Abbildung 8: Die Sitzplatzkategorie Balcony während der Pause

Abbildung 9: Die Sitzplatzkategorie Dress Circle zwischen zwei Vorstellungen

Abbildung 10: Blick aus dem Treppenaufgang des Prabhät

Abbildung 11: »Ein-Blick« in die offenen Treppenaufgänge des Prabhät

Abbildung 12: Morgendliche Säuberungsarbeiten im Prabhät', im Hintergrund befinden sich dasBürodesManagersunddie PrabhätCanteen

Abbildung 13: Ankündigung des Films »Bot Lavin Tithe Gudgulya« (1978) des Regisseurs Dada Khanderao Kondke

Abbildung 14:PausenaktivitätenimPrabhät-Innenhof

Abbildung 15: Abfahrende und ankommende Kinobesucher

Abbildung 16: Das Multiplex City Pride nordwestlich des Stadtzentrums von Pune

Abbildung 17: Das Single-Screen-Theatre Alpnä im Stadtzentrum Punes

Abbildung 18: Der Regisseur von »Valu« Umesh Kulkarni an einem der Drehorte

Abbildung 19: Regisseur Umesh Kulkarni und Schauspieler Girish Kulkarni mit Crew­Mitgliedern amDrehortvon »Valu«

Abbildung 20: Vorbereitungen zur Filmvorführung von »Valu« als Dank für die Bewohner Pimplis

Abbildung21: Valu,derwildeBulle

Abbildung 22: Die Symbole der Kuh und des Windrades werden etabliert

Abbildung 23: Angebundene Kühe und Ochsen tauchen wiederholt im Film auf

Abbildung 24: Die Landschaft Maharashtras wird im Film von Windkraftanlagen domi­niert dargestellt

Abbildung25: Shivaji berichtetvonseinem Erlebnismit Valu

Abbildung 26: Großaufnahme des Kopfes von Valu

Abbildung 27: Gaddamvar im Blickkontakt mit dem steinernen nandT

Abbildung 28: Gaddamvar wird durch den sarpañc begrüßt

Abbildung 29: Gaddamvar initiiert durch das Zerschlagen einer Kokosnuss die gemeinsa­me Mission

Abbildung 30: Im Haus des Brahmanen Bhutji

Abbildung 31: Valu steht plötzlich vor der po/ä-Prozession

Abbildung 32: Die erschrockene Dorfgemeinschaft steht Valu gegenüber

Abbildung 33: Die Frauen Kusavades gehen gemeinschaftlich ihren Tätigkeiten nach

Abbildung 34: Valu wird gefangen, die Mission ist erfüllt

Abbildung 35: Gaddamvar wird mit einem roten Turban (phetä) geehrt

Abbildung 36: Valu ist wieder den »Fesseln gesellschaftlicher Konventionen« unter­worfen

Abbildung 37: »Here comesthenewbull«

Textkonventionen

Alle im Text auftauchenden mit diakritischen Zeichen versehenen Wörter sind Marathi-Be- zeichnungen. Für deren Transkription orientiere ich mich an phonetischen Prinzipien. Tau­chen Marathi-Wörter am Satzanfang auf, so werden diese groß geschrieben. Marathi-Wör- ter, die Bestandteil eines Zitats sind, werden dem zitierten Text entsprechend geschrieben. Eigennamen wie bspw. Prabhät sowie Götternamen erscheinen groß und kursiv und sind mit Diakritika versehen. Bezeichnungen von Bundesstaaten, Ortsangaben, Filmtitel sowie Sprachen und Personennamen werden als deutsche Eigennamen behandelt und es wird auf Ergänzungen durch Diakritika verzichtet

Vokale, die mit einem Strich versehen sind, werden lang gesprochen (für die Buchstaben »e« und »o« gilt dies ausnahmslos). »V« wird wie das deutsche »w« artikuliert. »S« ent­spricht dem scharf gesprochenen deutschen (dentalen) »s«. Ein »s« welches mit diakriti­schen Zeichen versehen ist (s, s), wird wie im Deutschen »sch« artikuliert (z.B. svades wie swadesch). Mätr bhäsä wird matru bhascha ausgesprochen. »Y« wird wie im Deutschen »j« gelesen; »j« im Marathi wird wie »dsch« im Deutschen artikuliert. »C« entspricht un­gefähr der Artikulation von »tsch« (z.B. citrapat wie tschitrapat). Hinsichtlich der Diakriti­ka bei »t«, »d« und »n« mit Punkt unterhalb (t, d, n) ist zu bemerken, dass diese retroflex, d.h. mit der Zungenspitze, die den Gaumen berührt, gesprochen werden. Punkt und Tilde über einem »n« sowie ein Punkt unter einem »m« (ň, ň, m) wirken sich als Nasalierung auf den nachfolgenden Konsonanten aus (bspw. im Deutschen Lunge). Ein »h« verstärkt die Aspiration des voranstehenden Konsonanten.

Die transkribierten Interviews mit Filmemachern und Beteiligten befinden sich im Anhang. Da aus Interviews mit Kinogängern nur sehr kurze Zitate entnommen sind, verzichte ich darauf, diese ebenfalls anzuhängen. Ausnahme bildet die Gruppendiskussion mit Kino­gängern, da aus dieser zahlreiche längere Zitate entnommen wurden. Aus Gründen der Ver­einfachung verwende ich lediglich die maskuline Form der Substantive, ohne damit eine Abwertung des Femininen zu signalisieren. Maskuline Substantive sind somit als neutrale Form zu lesen, in der sowohl die feminine, als auch die maskuline Bedeutung integriert sind. Das Quellenverzeichnis inhäriert sämtliche Quellen, d.h. auch Filme. Zitate aus Fil­men werden ebenso wie Zitate aus schriftlichen Publikationen behandelt. Um eine Unter­scheidbarkeit zu gewährleisten, ist der Name des Regisseurs unterstrichen; an Stelle der Seitenzahl steht die Minutenzahl.

1 Einleitung

»And since you know you cannot see yourself

so well as by reflection, I, your glass,

will modestly discover to yourself

that of yourself which you get know not of.«

(William Shakespeare, »Julius Caesar«, 1. Akt, 2. Szene)

Indisches Kino ist mittlerweile mit zahlreichen Superlativen belegt und weit über den Sub­kontinent hinaus bekannt geworden. Tendiert die »westliche« Berichterstattung dazu, indi­sches Kino mit hindisprachigen Bollywood-Produktionen zu assoziieren, so wird dabei meist das Erwähnen regionaler Kinotraditionen in Indien vernachlässigt. Auch in der wis­senschaftlichen Betrachtung des indischen Kinos überwiegt mit verhältnismäßig wenigen Ausnahmen die Untersuchung unterschiedlicher Aspekte des Bollywood-Kinos. Dass auch in anderen indischen Bundesstaaten Kinotraditionen bestehen, blieb bis dato in »westli­chen« Medien meist unbemerkt oder unerwähnt. Das Kino Bengalens stellt dabei eine Aus­nahme dar.

Der an der Westküste des indischen Subkontinents liegende Bundesstaat Maharashtra weist eine solche regionale Kinotradition auf. Das nach der mehrheitlich in Maharashtra gespro­chenen Sprache Marathi1 benannte Kino - das Marathi-Kino - stand im Zentrum der von mir im Frühjahr 2008 unternommenen Feldforschung. Die vorliegende Arbeit widmet sich dem Thema der kulturellen Identitätsstiftung durch das Marathi-Kino. »Marathi-Kino« ver­weist im Folgenden sowohl auf Marathi-Filmindustrie, -Filmgeschichte und -Filme. Der Terminus »Kino« ohne den Vorsatz »Marathi« verweist auf die physische Institution des Lichtspieltheaters, in dem Marathi-Filme einem Publikum gezeigt werden. Im Kontext der jeweiligen Verwendung wird das Bezeichnete deutlich.

Grundlage dieser Magisterarbeit sind die verschiedenen Formen des Quellenmaterials, wel­che ich während der Forschung im Prabhät, der wichtigsten Kino-Institution für Marathi- Filme in Pune, und mit Ausnahmen auch in anderen Kinos erhob. Bei dem Quellenmaterial handelt es sich um Interviews mit Kinogängern, Filmemachern und mit Personen, die mit dem Marathi-Kino in Verbindung stehen, aber weder ausschließlich Filme konsumieren,

noch Filme produzieren und daher von mir im Folgenden »Beteiligte« genannt werden. Er­gänzt wurden die Interviews durch Teilnehmende Beobachtung im Kino und während der Vorführung des Films »Valu - The Wild Bull« (2007) am Drehort.

Meinem Vorgehen zugrunde lag während der Forschung das »Kultur«-Verständnis Clifford Geertz', der Kultur in seinem Buch »Dichte Beschreibung - Beiträge zum Verstehen kultu­reller Systeme« (1995) wie folgt definiert:

»Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewe­be verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine expe­rimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutun­gen sucht.« (Geertz 1995: 9)

»Nach Bedeutungen suchen« ist ein Vorgehen, welches ich mir als Aufgabe gesetzt habe. Ziel dieser Forschung ist es nicht gewesen, Erklärungen zu liefern, sondern einen Aspekt des kulturellen Bedeutungsgewebes zu verstehen. Das Marathi-Kino definiere ich als einen dieser Aspekte.2 Nach Fredrik Barth »korrespondiert« (Barth 1982: 9 - Übers. A.S.) Kultur mit »ethnic units« (ebd.). Dabei, so Barth, sei Kultur nicht die Basis der Bildung einer Eth­nie, sondern würde von selbiger »hervorgebracht« werden und somit Resultat sein (vgl. ebd.: 11).

Die Magisterarbeit geht der Frage nach, wie das Marathi-Kino in besagtem Forschungs­kontext kulturell identitätsstiftend wirksam ist.3 Die Relevanz der Forschungsfrage ergibt sich primär aus der Bedeutsamkeit des Marathi-Kinos für seine Akteure in den Bereichen Produktion, Distribution und Rezeption. Während meines Aufenthalts in Pune beobachtete ich die Beliebtheit von Marathi-Filmen und die starke Bezugnahme auf das Kino Prabhät. Zudem macht ein vor fünf Jahren beginnender Aufschwung des Marathi-Kinos eine For­schung zu diesem Thema relevant. Während andere indische Kinotraditionen4 bereits aus ethnologischer Perspektive untersucht wurden (s. z.B. Derné 2000, Dickey 1993, L. Srini- vas 1998), blieb eine ethnologische Fokussierung auf das Marathi-Kino mit Ausnahme der Forschung Véronique Bénéïs (2008b) bisher aus.

Die Forschungsfrage verlangt nach verschiedenen Definitionen, um die Grundlagen und Voraussetzungen der vorliegenden Arbeit transparent zu machen. Wie Jan Assmanns Theo­rie des »kulturellen Gedächtnisses« (2007) für diese Arbeit konstituierend ist, so gelten auch seine Identitätsdefinitionen als Grundlage dieser Magisterarbeit.5 Assmann unter­scheidet zwischen einer »Wir-« und einer »Ich-Identität« (Assmann 2007: 130f.). Dabei geht er davon aus, dass diese beiden Identitäten einander bedingen, d.h. eine Ich-Identität6 entstehe nicht allein, sondern sei stets gesellschaftlich bedingt (vgl. ebd.: 131). Assmann bezeichnet diese Eigenschaft von Identität als »>soziogen<« (ebd.: 130). Umgekehrt sei die Wir-Identität, die er auch »kollektive Identität«7 nennt, abhängig von ihren Trägern (ebd.: 131). In anderen Worten: Es sind die Individuen, die die kollektive Identität schaffen und erhalten (vgl. ebd.). »Sie [die kollektive Identität - A.S.] ist so stark oder so schwach, wie sie im Bewußtsein der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag.« (ebd.: 132) Identität ist nie unbewusst oder in Assmanns Worten: »Identität ist eine Sache des Bewußtseins, d.h. des Reflexivwerdens eines unbewußten Selbstbildes.« (ebd.: 130) Dies gilt im Kleinen (z.B. in Bezug auf die Person), wie im Großen (z.B. in Bezug auf die Nation oder die Gemeinschaft). Benedict Anderson (1988) geht wie Assmann davon aus, dass ein Selbst (und damit beziehe ich mich nicht notgedrun­gen auf ein Selbst als »Person«, sondern meine, dass ein Selbst auch das »Selbst einer Na­tion« bezeichnen kann) stets imaginiert und daher zuvor bewusst geworden ist.

In der vorliegenden Arbeit beschäftigt mich das kollektive Selbstbild einer Gemeinschaft und nicht die »personale Identität« von Individuen. Dennoch sei angemerkt, dass aufgrund ihrer kulturellen Dependenz auch die Ich-Identität stets »kulturelle Identität« (ebd.: 132) ist.8 Nach Assmann ist jede Identität kulturelle Identität (vgl. ebd.). Die Intensität der Iden­tifikation ist nicht stets gleich stark, sondern variabel (vgl. ebd.).9 Identitätsbildung ist dy­namisch und Selbstbilder eines »Wir« sind nicht fixiert, sondern im Wandel. Wandel orien­tiert sich dabei stets an dem Vergangenen. Mit dem Term »Identitätsstiftung« im Titel die­ser Arbeit intendiere ich, den prozesshaften Charakter einer Identitätsbildung aufzuzeigen. Identiät muss nicht zwangsläufig neu gebildet werden, sondern kann auch aus bereits Vor­handenem entstehen. Denn, und damit komme ich wieder zur Hauptthese Assmanns, »Ge­sellschaften brauchen die Vergangenheit in erster Linie zum Zwecke ihrer Selbstdefinition« (ebd.: 132f.). Die Existenz von Gegensätzlichem ist eine weitere wichtige Bedingung für das Entstehen kollektiver Identitäten (vgl. ebd.: 134) oder in anderen Worten ausgedrückt: »[0]hne Andersart keine Eigenart« (ebd.: 135f.). Auch dies wird im Laufe der vorliegen­den Arbeit zu berücksichtigen sein.

Es gilt, den Terminus der »kulturellen Identität« zu spezifizieren. Wimal Dissanayake be­zieht sich in seiner Definition von Kultur, ebenso wie es meinem Verständnis entspricht, auf Geertz, indem er Kultur als Bedeutungsgewebe versteht (vgl. Dissanayake 1988: 2f.). Dissanayake schließt der Erklärung seines Kulturverständnisses eine Definition kultureller Identität an:

»Cultural identity needs to be perceived as the way in which these meaning systems and their symbol­ic forms invest a given group with a readily identifiable distinctiveness. Rituals, symbols, material ar­tifacts, forms of worship, norms of conduct, and the like are the externalized forms of a culture's meaning system, and when one is concerned with the investigation into the cultural identity of a given community, these demand the closest attention.« (ebd.: 3)

Filme, genauer Marathi-Filme, verstehe ich als eine externalisierte Form des kulturellen Bedeutungsgewebes. Ich pflichte Dissanyakes Annahme bei, dass in besonderem Maße das asiatische Kino eine wichtige veräußerte Form kultureller Identität darstellt (vgl. ebd.), wo­bei ich einschränkend anmerke, dass ich nicht generalisierend für das asiatische Kino, son­dern nur für das Marathi-Kino sprechen kann.

Identität ist ambig. In der vorliegenden Arbeit wird zwar vordergründig eine regionale Identitätsstiftung behandelt, betonen möchte ich aber, dass ich gleichzeitig von einem Vor­handensein bspw. nationaler Identitäten ausgehe. Dies wird im Verlauf des Textes zu sehen sein. Die Ausführungen zu Identitäten möchte ich mit einem Zitat von Marc Augé beenden. »Raum« und »Gehen« beziehen sich bereits auf Kapitel 5.3.2 dieser Arbeit. Der Spiegel bzw. die Leinwand mit ihren reflektierenden Eigenschaften wird im weiteren Verlauf der Arbeit wiederholt im Zentrum der Betrachtungen stehen müssen.

»Die fröhliche und stille Erfahrung der Kindheit - das ist die Erfahrung der ersten Reise, der Geburt als Urerfahrung des Andersseins, der Erkenntnis seiner selbst als ich und als anderer, die von der Er­fahrung des Gehens als der ersten Form des praktischen Umgangs mit dem Raum und von der Erfah­rung des Spiegels als erster Identifizierung des Selbstbildes wiederholt wird.« (Augé 1994: 99f., Herv. im Orig.)

Ab den späten 1980er Jahren begannen sich Sozialanthropologen vermehrt und systema­tisch mit Massenmedien als sozialer Praxis auseinander zu setzen, während zuvor die Un­tersuchung von Massenmedien als dem Fach nicht adäquat angesehen wurde (vgl. Gins- burg/Abu-Lughod/Larkin 2002a: 3).10 Steve Derné hat das indische Kino ethnographisch untersucht und seine Beobachtungen und Analysen in der Ethnographie mit dem alliterari- schen Titel »Movies, Masculinity, and Modernity« (2000) verschriftlicht. Derné stellt die Ergebnisse seiner Feldforschung in Dehra Dun und Varanasi bezüglich des Publikums hin­disprachiger Filme11 dar. Eine weitere für die Auseinandersetzung mit indischem Kino wichtige Ethnographie ist die Arbeit »Cinema and the Urban Poor in South India« (1993) von Sara Dickey. Dickey forschte in der Stadt Madurai, im Bundesstaat Tamil Nadu, und beleuchtete mit einem holistischen Ansatz Aspekte des Kinos, die von der Filmproduktion über Fanclubs bis zur Filmrezeption reichen. Lakshmi Srinivas forschte in Kinosälen Ban­galores und fasste die Ergebnisse dieser Forschung u.a. in dem Artikel »The Active Audi­ence« (2002) zusammen. Im Zentrum ihrer Darstellungen stehen Ausführungen zu Prakti­ken der Filmrezeption und des kollektiven Reagierens auf Filminhalte. Indischem Film, al­lerdings in einem nicht-indischen Forschungskontext, widmete sich auch Brian Larkin (1997). Er untersuchte die Frage nach der Bedeutung indischer Filme bei den Hausa. Eth­nologische Literatur zum Marathi-Kino beschränkt sich derzeit auf Véronique Bénéïs Un­tersuchung von Shivaji-Filmen (2008b). Bénéï widmete sich analytisch Filmen des Regis­seurs Bhalji Pendharkar (1898 - 1994) in Hinblick auf deren Absicht und Wirkung.

Ein großes Repertoire unterschiedlicher Begrifflichkeiten rankt sich um anthropologische Untersuchungen elektronischer Medien und Print-Medien. »Mass media«12 als Begriff, der all diese medialen Formen zusammenfasst, wird von Appadurai und Breckenridge abge­lehnt, weil dieser die komplexen Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten kultureller Medienformen unbeachtet ließe (vgl. Appadurai/Breckenridge 1998: 4) und zu­dem westliche Dichotomien nach dem Muster »high versus low culture; mass versus elite culture; and popular or folk versus classical culture« (Appadurai/Breckenridge 1988: 6) überbetonen würde.13 Ich ordne die von mir untersuchten kulturellen Formen in jenen Be­reich ein, den die Autoren als »public culture« definieren und der kreiert wurde, um insbe­sondere (»westlich«) intendierte Dichotomien zu vermeiden.14 Die begriffliche Einordnung des von mir untersuchten Feldes schließe ich mit folgender Anmerkung Christopher Pin- neys ab: »[I]t is vital that we grasp Indian public culture not as a homogenized whole but as a differentiated field with diverse audiences and agendas.« (Pinney 2001: 5)

Die Gewichtung der ersten Hälfte der Arbeit (Kap. 2-4) liegt auf der Deskription. Dabei konzentriert sich dieser Teil auf die Darstellung der Feldforschung. Teilweise wird auf be­schreibende Art und Weise versucht, Sinnlich-Atmosphärisches zu erzeugen bzw. wieder­zuspiegeln (insbesondere in Kap. 3.4).15 Ich strebe mithin eine »Visualisierung« der The­matik mittels Sprache und Wortwahl an. Insgesamt sind es drei Präsentationsformen des Visuellen, die ich in dieser Arbeit vereine. Erstens eine Visualisierung durch Sprache, zweitens eine fotodokumentarische (s. Anh. I) und drittens eine filmische Visualisierung. »When we look, we are doing something more deliberate than seeing and yet more unguarded than thinking. We are putting ourselves in a sensory state that is at once one of vacancy and ofheightened awareness.« (MacDougall 2006: 7) Ich beabsichtige einem The­ma, welches sich dem Visuellen verschrieben hat, auch auf einer visuellen Ebene der Dar­stellung und Bearbeitung gerecht zu werden. Ich weise daraufhin, dass ich in den Kapitel­bezeichnungen, als auch im Text selbst, teils konnotative Sprachassoziationen, teils der (in­dischen) Cineastik entlehnte Begriffe verwende. So bezeichnet »Intermission« (Kap. 4) bspw. die Pause nach der ersten Hälfte der Filmprojektion eines Hindi- oder Marathi- Films. Diese an das Erzählen angelehnten Wortspiele rechtfertige ich erstens damit, dass die Arbeit sich mit einem erzählenden Medium beschäftigt und zweitens, dass ich den An­spruch habe, diese erzählenden Parameter mit einer fundierten Wissenschaftlichkeit zu ver­schmelzen.

Die zweite Hälfte der Arbeit (Kap. 5-8) widmet sich verstärkt der Analyse und untersucht die drei Kategorien Raum, Medium und Sprache, von denen ich annehme, in meinem For­schungskontext kulturelle Identität zu konstituieren. Jedem Part dieser Triga istjeweils ein Kapitel zugeordnet innerhalb dessen der Frage nachgegangen wird, inwiefern die einzelne Kategorie im Zusammenhang mit dem Prozess der kulturellen Identitätsstiftung steht. Um diesen Prozess zu erörtern, gilt es, zuvor die drei Kategorien im Einzelnen zu behandeln. Generell folgt die Analyse der drei Kategorien jeweils einer bestimmten Systematik: Von der Schaffung einer argumentatorisch-definierenden Grundlage gehe ich über zu einer Spe­zialisierung auf einen bereits bestimmten lokalen (meist indischen) Kontext, um schließ­lich am konkreten Forschungskontext die Behandlung derjeweiligen Kategorie abzuschlie­ßen.

Kapitel 5 beschäftigt sich mit dem Thema des Raums. Edward S. Casey (1996) untersucht den Raumbegriff phänomenologisch. Der Text ermöglicht eine Verknüpfung von philoso­phischen Ideenkonstrukten und ethnologischer Anwendbarkeit. Der starke Bezug zu menschlichen Lebensrealitäten erlaubt und vereinfacht eine Verwendung in dem hier vor­liegenden ethnologischen Kontext. Kapitel 6 beschäftigt sich mit dem Thema des Films als Medium und stellt die Frage, wie Film kulturell identitätsstiftende Wirkung entfalten kann. Im Zentrum steht dabei die Untersuchung des Films »Valu« (Kap. 6.2.3). Die Kinogänger und der Filmemacher kommen zu Wort, um eine Vergleichbarkeit zwischen der Intention des Regisseurs und den Eindrücken der Kinogänger zu ermöglichen. Es schließt sich daran eine ethnologische Filmanalyse an (Kap. 6.2.3.3), die Elemente der Bildsprache zu benen­nen und Merkmale des Kulturellen zu identifizieren versucht. Schließlich stellen Kapitel 7 und die sich anschließenden Unterkapitel das Thema Sprache in den Mittelpunkt. In Kapi­tel 8 erfolgt ein Rückbezug auf den Titel der Arbeit. Dieses Kapitel macht abschließend die Benennung der Arbeit explizit, jedoch wird bereits im vorherigen Verlauf das Prinzip der

Reflexionen von der Leinwand immer wieder aufgegriffen. Die Verknüpfung der drei Ka­tegorien erfolgt im Fazit (Kap. 9.1). Es wird dargestellt wie Raum, Medium und Sprache im Untersuchungskontext des Marathi-Kinos (zusammen-)wirken und ob diesem Zusam­menwirken eine kulturell identitätsstiftende Wirkung zuzuschreiben ist.

Stephen Hughes formuliert einen dringenden Bedarf an anthropologischer Auseinanderset­zung mit Fragen der Filmvorführung in Indien. »Perhaps the most urgent research needed at present is at cinema theatres themselves. The history of film exhibition, languishing at the moment in every city and town in India, is just waiting to be investigated.« (Hughes 2003: o.S.). Die vorliegende Arbeit zum Marathi-Kino unternimmt den Versuch, dieser Be­darfsäußerung zu entsprechen und einen Beitrag zur ethnologischen Kinoforschung in In­dien zu leisten.

2 »Exploring silver screen reflections« - Feldforschung

Die von mir in Pune unternommene Feldforschung beansprucht nicht, über das Marathi- Kino in seiner Gesamtheit geforscht zu haben. Mein Forschungsinteresse galt einem loka­len und temporären Ausschnitt; weder sollen noch können die in dieser Arbeit präsentierten Daten Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Meine Ergebnisse beruhen auf einer Auswahl von Interviews, und wenn ich im Folgenden generalisiere, dann tue ich dies innerhalb der Grenzen meiner Forschung. Spätere Generalisierungen möchte ich nicht als Pauschalisie­rungen16 missverstanden wissen, sondern sollten immer nur als Verallgemeinerung im Kon­text meines Forschungsmaterials gelesen werden. Der Charakter des Fragmentarisch-Aus- schnitthaften der Forschung ist mir bewusst.

Die Untersuchungsgruppe setzte sich aus Personen zusammen, die ich den drei Bereichen Filmrezeption, Filmproduktion und Filmbeteiligung zuordne. Unter den Beteiligten befan­den sich ein Standfotograf, ein Filmvertreiber, die Geschäftsführerin der Prabhät Film Company (PFC), der Prabhät-Manager sowie Ticketverkäufer unterschiedlicher anderer Kinos. Mit vier Filmemachern führte ich Interviews: Chandravadan, Mihir Apte, Umesh Kulkarni und Sachin Kundalkar. In Bezug auf die Quantität überwiegen die von mir mit Kinogängern geführten Interviews, während die mit Filmemachern und Beteiligten im qua­litativen Kontrast zu den Kinogänger-Interviews stehen. Grund für diese Differenzen war meine methodische Herangehensweise.17

Kinogänger habe ich in seltenen Fällen nach ihrer beruflichen Beschäftigung gefragt und auf die Frage nach finanziellen Einkünften habe ich verzichtet. Insofern reduzieren sich die Hinweise der sozialen Verortung auf hauptsächlich äußerliche Merkmale. Interviews führte ich meist mit Erwachsenenjeglichen Alters und beider Geschlechter.

Bezüglich des Aussehens und der Kleidung der Kinogänger konnte ich folgende Feststel­lungen machen: Männer und Frauen unterschieden sich in ihrer Kleidungswahl insofern, als dass sich viele männliche Kinobesucher an »westlichen« Kleidungsstilen orientierten.

So stellte ich fest, dass Jeans und auch T-Shirts bevorzugte Kleidungsstücke waren. Frauen hingegen trugen nur in Ausnahmefallen Jeans und dann meist in Kombination mit einer leichten Stoffbluse (qamiz). Meist beobachtete ich bei weiblichen Kinobesuchern »indi­sche« Kleidungsstile. Frauen machten den Anschein, auf eine passende Farbkombination beim Tragen von salvar qamiz (mit dupatta) zu achten. Die Alternative zum salvar qamiz stellte der sari dar. Der sari, der für den Kinobesuch getragen wurde, machte auf mich den Eindruck, ein sari für besondere Anlässe zu sein. Ältere Männer trugen statt des meist von jungen Männern getragenen T-Shirts gebügelte Stoffhemden mit Kragen. Gruppen von Jungen erschienen häufig in ihrer Schuluniform. Das Tragen des dhotar (eines als Hose ge­wickelten Stofftuches) konnte ich nur in sehr seltenen Ausnahmefallen bei älteren Männern beobachten. Die Kleidung der Kinobesucher war stets sauber und weder zerschliessen noch alt. Ich erwähne dies, weil dies im Kontrast zu den von Derné (vgl. Derné 2000: 21) be­schriebenen Kinobesuchern steht. Sowohl Dernés Untersuchungsgruppe, als auch die von Dickey (1993), setzten sich hauptsächlich aus Personen der ärmeren urbanen Schichten zu­sammen - den sogenannten »urban poor« (vgl. Dickey 1993: 8). Balkrishna Bhide (im Fol­genden B. D. Bhide), der Prabhat-Manager, ordnet sein Kinopublikum der urbanen Mittel­schicht18 zu. Insofern übernehme ich die zwar grobe, aber einzig leistbare Zuordnung zur Mittelschicht. Unterscheidungen innerhalb der groben Kategorie der Mittelschicht vorzu­nehmen, ist mir nicht möglich. Ich vermute aber eine größere finanzielle Mobilität der von mir untersuchten Filmemacher im Vergleich zur Majorität der Kinogänger. Auch die Betei­ligten ordne ich der Mittelschicht zu.

Da ich die Interviews mit Filmemachern in zwei Fällen (Sachin K. und Umesh K. ) bei diesen zu Hause führte, ergeben sich Anhaltspunkte einer sozialen Verortung.

In beiden Fällen fiel auf, dass sich die Filmemacher Bedienstete leisten konnten und in de­zentralen Wohnlagen, d.h. außerhalb des Stadtkerns, wohnten. Die Wohnungen dieser Fil­memacher zeichneten sich durch Geräumigkeit, Helligkeit, relative Abschottung vom Stra­ßenlärm, neue Möbilierung und eine generell großzügige Inneneinrichtung aus. An den Wänden hingen Urkunden oder auf den Regalen, die zudem mit Büchern bestückt waren, standen Pokale - Hinweise auf filmische Erfolge der Regisseure. All dies deute ich als Zei­chen der Bildung und des finanziellen Wohlstands. Der Nachname K. verweist auf die brahmanische Herkunft des Regisseurs. Im dörflichen Kontext bezeichnet(e) der Nach-

name Kulkami den dörflichen Buchhalter (vgl. Karve 1968: 148). Die Filmemacher, mit denen ich sprach, waren mit Ausnahme von Ch., der circa 70 Jahre alt sein musste, in einem Alter zwischen 30 und 40 Jahren. Ich sprach mit keiner weiblichen Filmemache­rin.

Es ist schwierig, die Untersuchungsgruppe räumlich einzugrenzen. Die Kinogänger sind jene, die in das Prabhät-Kino (teilweise habe ich auch in Multiplex-Kinos Interviews ge­führt) kommen und sich durch ihr Zusammenkommen im Raum Prabhät charakterisieren. Von Filmvorstellung zu Filmvorstellung unterscheiden sich die Anwesenden und meine Eingrenzung der Untersuchungsgruppe bezieht sich daher nur auf die Charakterisierung durch Tun und nur insofern durch räumlich-geographische Grenzen, als es der Raum des Kinos ist, in dem dieses Tun stattfindet.

2.1 Forschungsort

2.1.1 Die Stadt Pune als Forschungskontext

Pune ist eine Stadt von rund drei Millionen Einwohnern, die 130 Kilometer südöstlich von Mumbai am Rande des Dekhan-Hochlandes im Bundesstaat Maharashtra liegt. Neben Mumbai bildet Pune das kulturelle Zentrum Maharashtras. Der Status als kulturelle Haupt­stadt Maharashtras ist ein Erbe Punes aus der Kolonialzeit:

»Deemed »educational headquarters< from the days of the Bombay presidency in the nineteenth cen­tury, Pune was at the heart of educational innovations and policies under the British. This legacy re­flects in the number of colleges and famous Orientalist institutions known the world over, even today.« (Bénéï 2008a: 33)

Pune, durch die zwei Flüsse Mukta und Mutha geteilt, wurde in Europa und den USA in großem Maße durch den 1974 gegründeten Osho International Meditation Resort bekannt. Vor allem der nördlich des Stadtzentrums gelegene Stadtteil Koregaon Park wird durch die weinroten Gewänder der samnyäsT geprägt. Dipti T., die mir als Dolmetscherin wäh­rend meiner Forschung assistierte, verortet die Bewohner der Stadt Pune auf folgende Wei­se:

»Camp, Koregaon Park, Kalyani Nagar - hier wohnen alle, hier findet man eine multikulturelle Ge­sellschaft. Aber in Prabhät, in der Gegend um die Lakshmi Straße, das Zentrum, die Stadtmitte, dort wohnen hauptsächlich Maharashtrians. Daher ist die Kultur, die Filme, die Kunst, alles rein Marathi - Maharashtrian.« (Dipti T., 10.03.2008)19

Das Stadtzentrum, in dem sich auch mein Hauptforschungsort, das Marathi-Kino Prabhät, befand, wird stark durch die in Maharashtra geborenen Einwohner geprägt, wohingegen Stadtteile wie Camp, - so nennen die Punenser die Gegend um die Geschäftsstraße Mahat­ma Gandhi Road - Koregaon Park und Kalyani Nagar zu großen Teilen von aus anderen Bundesstaaten Zugezogenen bewohnt werden.

Pune ist eine Stadt, die für das indische Kino im Allgemeinen von großer Bedeutung ist. Hier sind das National Film Archive of India (NFAI) sowie das Film and Television Insti­tute of India (FTII) ansässig. Bis zur Gründung des FTII befand sich auf dem Gelände der heutigen Film- und Fernsehhochschule die berühmte Prabhät Studio Company (auch Pra­bhät Film Company), welche die ersten indischen Filme produzierte.

2.1.1.1 Bedeutung der Stadt Pune für die Marathi-Filmindustrie

Pune ist neben Mumbai und Kolhapur, das im Süden des Bundesstaates liegt, die für die Marathi-Filmindustrie wichtigste Stadt. Die PFC hat ihren Sitz in Pune. 1929 wurde die Firma in Kolhapur gegründet, 1933 bereits zog sie nach Pune, um näher am filmischen Ge­schehen Mumbais (damals Bombay) zu sein. Die PFC war nicht die erste in Pune ansässi­ge Filmproduktionsfirma. »Poona was not unquainted [sic] with film making as it had sup­ported the Aryan Film Company and United Picture Syndicate in the silent days and had already its first talkie studio in Saraswati Cinetone.« (Kale 1979: 1514f.)

Die PFC, deren Inhaberin heute Aruna Damle ist, avancierte in Pune schnell zum bedeu­tendsten Studio der indischen Westküste (mit der größten Studio-Bühnenfläche ganz In­diens). Insgesamt produzierte das Unternehmen 45 Filme. 1953 stellten die der PFC ange­gliederten Studios ihre Produktion ein. Sieben Jahre später wurde auf dem ehemaligen Stu­diogelände in Pune das Filminstitut gegründet. 1974 legte man das Filminstitut mit dem TV Training Centre zusammen. Durch diese Vereinigung entstand das heutige FTII. Die Be­deutung der Stadt Pune für das pan-indische Filmszenario und damit auch für die lokale marathisprachige Filmindustrie nahm weiter zu als 1964 das NFAI ins Leben gerufen wur­de. Am FTII studieren zukünftige Filmemacher aus ganz Indien, aber auch Filmemacher, die beabsichtigen, nach Abschluss ihrer Ausbildung marathisprachige Filme zu drehen. Für das Marathi-Kino bedeutsame Filmemacher kommen und kamen aus dieser Institution und werden auch in Zukunft ihre Ausbildung dort abschließen.

Die PFC gründete schon früh in Bombay (heute Mumbai), Poona (Pune) und Madras (Chennai) ihre eigenen Lichtspielhäuser. Die »Encyclopaedia of Indian Cinema« stellt die Gründe für die Etablierung eigener Kinos dar: »This made them fairly independent from managing-agency financiers for production capital« (Rajadhyaksha/Willemen 1994: 165). Eines dieser Lichtspielhäuser ist das 1934 eröffnete Prabhät Theatre20, welches mein Hauptforschungsort in Pune war und auf dessen Bedeutung20 21 als marathisprachiges Kino im weiteren Verlauf der Arbeit explizit eingegangen wird.

Punes Anziehungskraft und Relevanz für Filmemacher im marathisprachigen Sektor ver­suchte ich in Interviews zu erfragen. Immer wieder wurde die besondere Rolle der Institu­tionen des FTII und NFAI genannt. Im NFAI werdenjeden Samstag internationale, nationa­le und regionale Filme gezeigt. Diese Filmvorführungen haben auch die Funktion eines Treffpunktes für die kulturell Interessierten und Engagierten der Stadt Pune. Als Filmema­cher auch selber in jener Stadt zu leben und zu wirken, in der der indische Film seinen Ausgang nahm, ist von großer Bedeutung: »Pune is one of the main hubs of Marathi film culture. It all started from here in fact. The Marathi film industry started in Pune.« (A., 23.03.2008) Seit 2002 findet in Pune jährlich im Januar das Pune International Film Festi­val (PIFF) statt. Pune ist kulturelles Zentrum für marathisprachige Literatur, Theater, Mu­sik und Film. Der Regisseur K. formuliert folgende Motive für seine Auswahl Pu­nes als Arbeits- und Lebensmittelpunkt:

»[A] lot of film makers are staying in this city and culturally it's a most vibrant city in Maharashtra and in India. It's a cultural capital and it's a centre of education. So at least we have all that which a film maker will need here. I prefer to stay away from Bombay, from that competition and from that rat race. I stay in Pune, I quietly work on my scripts and I read and I watch films. That kind of space the city gives me.« (K., 24.03.2008) Plakatwände, Zeitungsartikel, Aushänge in Cafés geben im gesamten städtischen Raum Auskunft über kulturelle Ereignisse. Das kulturelle Leben in Pune ist im öffentlichen Raum spür- und wahrnehmbar.

2.1.1.2 Kinos in Pune - Single-Screen und Multiplex

Neben diesen für die pan-indische Kinolandschaft bedeutsamen Filminstitutionen befinden sich in Pune zahlreiche Kinos. Außer den vor allem in den letzten Jahren entstandenen Multiplex-Kinos, welche über mehrere Kinosäle und Klimaanlagen verfügen und Filme auf Englisch, Hindi und Marathi zeigen, gibt es unzählige kleine und oft recht alte Single­Screen-Theatres, die einen im Vergleich zu den Multiplex-Kinos wesentlich geringeren Komfort aufweisen. Einige dieser nur mit einer Leinwand ausgestatteten Lichtspielhäuser zeigen sowohl englische Filme als auch Hindi- und Marathi-Produktionen. Andere haben sich auf Hindi-Filme spezialisiert, wieder andere verzichten auf Filme in englischer Spra­che. Zu nennen sind hier vor allem das Vijay Theatre und das Prabhät. Das Prabhät ist das einzige rein marathisprachige Lichtspielhaus Punes. Meist verfügen die Single-Screen- Theatres über Decken- und Wandventilatoren, einfache Holzbänke ohne Polsterung oder Sitze mit Sitzbezügen aus Plastik und kleine Leinwände. Selten findet man Dolby-Sur- round-Anlagen. Die Eingänge zum Kinosaal sind meist mit einem schweren Stoff abge­hängt, an dessen Seiten auch während der Vorstellung Tageslicht und Verkehrslärm herein dringen. In den meisten dieser Single-Screen-Theatres gibt es zwei Sitzkategorien: Dress Circle und Balcony. Die Kinosäle verfügen über zwei Ebenen, von denen eine wie ein Bal­kon (Balcony) den ebenerdigen Dress Circle überragt. Die Sitzkategorie Balcony ist die be­liebtere. Der Dress Circle ist die günstigere Sitzplatzkategorie und kostet in den von mir besuchten Kinos rund 30 Rupien22 pro Person. Preislich unterscheiden sich die beiden Ka­tegorien um circa fünf bis zehn Rupien. Vom Sitzkomfort unterscheiden sich Dress Circle und Balcony insofern voneinander, dass die Stühle des Dress Circle meist keine Polsterung aufweisen. Die Sicht auf die Leinwand ist im Balcony wesentlich besser. Die Preise der ersten Filmvorführung des Tages sind häufig um fünf bis zehn Rupien günstiger als die der anderen Vorführungen. Single-Screen-Theatres verfügen über einfache Sanitäranlagen, die in den Kinokomplex eingegliedert sind. Filmvorführungen werden durch eine Pause von rund zehn Minuten unterbrochen, in der die Besucher den Kiosk des Kinos aufsuchen und Erfrischungsgetränke, Chips oder kleine Snacks kaufen (Abb. 14).

2.1.2 Das Single-Screen-Theatre Prabhät als Forschungsort

Das Prabhät (Abb. 1, Abb. 2) ist das älteste Lichtspieltheater der Stadt und bildet den Mit­telpunkt des Filmnetzwerk Punes, in das es mir möglich war einzutauchen und zahlreiche Kontakte herzustellen. Die Stellung, die das Prabhät innerhalb dieses Netzwerks ein­nimmt, erklärt sich durch seine Marathi-Film-Spezifizierung und die intensive Förde­rung - die einer Huldigung gleichkommt - von Marathi-Filmen. Dies ist Grund, weshalb das Kino sowohl von Filmemachern, als auch von Kinobesuchern sehr geschätzt wird.

Das Prabhät wurde am 21. September 1934 gegründet, zeigte jedoch nicht von Beginn an ausschließlich Marathi-Filme. Der erste projizierte Film war ein englischer Film mit dem Titel »Love me tonight«23. Sechs Monate nach Eröffnung wurde mit »Ayodhyecha Raja« (1932) des Regisseurs V. Shantaram der erste Marathi-Film im Prabhät gezeigt. Ab 1972 entschieden sich die Kinobetreiber dafür, ausschließlich Marathi-Filme zu projizieren und begannen diese Tradition mit dem Film »Pinjra« (1972) von V. Shantaram. Gleich 48 Wo­chen nacheinander dominierte der Film die Leinwand des Prabhät. Das Prabhät hatte zu keinem Zeitpunkt seines Bestehens unter finanziellen Engpässen zu leiden. Die Filmaus­wahl und die Begeisterung des Publikums für Marathi-Filme sind die Gründe für die konti­nuierlich positive Entwicklung des Kinos. Ursprünglich verkaufte man Tickets für sieben unterschiedliche Sitzkategorien und vier Filmvorführungen pro Tag. Die Vorführung um 9:30 Uhr wurde erst später hinzugefügt. Erst im Laufe der Zeit ging man dazu über, inje- der der fünf Vorführungen einen anderen Film zu zeigen. Gründe dafür waren die steigende Zahl an Marathi-Produktionen, die damit einhergehende größere Auswahl der Filme sowie die anhaltend positive Resonanz und Nachfrage durch das Publikum. Heute wird die äu­ßerst differenzierte Filmauswahl anhand von Qualitätskriterien durch den heutigen Mana­ger des Kinos, B. D. Bhide, und den Eigentümer Vivek Damle vorgenommen.

Die Prabhät Talkies sind Herzstück - die Lage und das lange Bestehen des Kinos erlauben diese Metapher - und zentrales Symbol des städtischen Marathi-Kinos. Oder, wie es die Zeitung »Mid-Day« formuliert: »Prabhat theatre has already become a legacy in Pune. Like Prabhat Film Company, Prabhat theatre is also the oldest in the city and is known to be the Mecca of Marathi films.« (http://www.mid-day.com/news/2008/sep/220908- Prabhat-Theater-Mecca-of-Marathi-films-diamond-jubliee-75-years.htm [Stand 08.06. 2009])

Meiner Wahrnehmung zufolge besteht keine konkurrierende Beziehung zwischen anderen Single-Screen-Theatres der Stadt und dem Prabhät. Das Filmrepertoire aller anderen Kinos mit nur einer Leinwand setzt sich aus marathi- und hindisprachigen Filmen zusammen, sel­ten werden auch englischsprachige Filme gezeigt. Die herausragende Stellung des Prabhät, aufgrund seiner Konzentration ausschließlich auf Marathi-Filme, wird von den Betreibern und Managern anderer Kinos anerkannt. Die Aussagen der Kinobetreiber zeugten von Re­spekt vor der Arbeit des Prabhat und bestätigen die herausragende Bedeutung des Prabhat im städtischen Kinokontext.

2.1.3 Morgendämmerung und Abendrot - Der Tag im Prabhät

Das Kino öffnet seine Tore für die erste Filmvorstellung bereits morgens um 9:30 Uhr und macht damit seinem Namen Prabhat, was übersetzt »Morgendämmerung« bedeutet, alle Ehre. An manchen Tagen beginnt die Vorstellung auch erst um 10 Uhr. An diesen Tagen sind die Angestellten des Kinos um 9:30 Uhr noch mit dem Fegen des Hofes (Abb. 12), der Abfallentsorgung und dem Putzen der Stufen zum Kinosaal sowie der Kinosessel beschäf­tigt. Jeder einzelne der Klappsitze wird allmorgendlich mit einem feuchten Tuch von Staub befreit. Gegen 9:40 Uhr wird die Snackbar geöffnet und die Vorräte werden aufgefüllt. Der Filmvorführer erscheint auf dem Fahrrad um 9:45 Uhr; B. D. Bhide kommt circa fünf Mi­nuten später auf dem Moped an. Um 9:55 Uhr öffnet der Ticketschalter. Die bereits seit ei­ner halben Stunde auf diesen Moment wartenden Besucher (Abb. 4) kaufen die ersten Tickets. Die letzte Vorführung endet abends gegen 23:30 Uhr. Ich habe festgestellt, dass die Vorführung am Sonntag um 15:30 Uhrjene ist, die am stärksten frequentiert wird. Täg­lich finden im Prabhat über den ganzen Tag Filmvorführungen statt. Die Kinowoche er­streckt sich von Freitag bis Donnerstag. Freitags finden im Prabhat regelmäßig Filmpre­mieren statt, zu denen häufig Schauspieler und Regisseure erscheinen, um dem Publikum Filme direkt und mit größtmöglicher Unmittelbarkeit und Nähe vorzustellen. Der Zuschau­erandrang für Premieren ist immens und die Kapazität von 894 Sitzplätzen wird zu einem solchen Anlass meist ausgeschöpft.24 Zudem veranstaltet das Prabhat in regelmäßigen Ab­ständen Retrospektiven, die sich entweder bekannten Marathi-Regisseuren oder Schauspie­lern widmen und für die der Zuschauerandrang ebenfalls recht hoch ist.25 Für Morgen- und Matinee-Vorführungen belaufen sich die Eintrittspreise auf 20 (Dress Circle) bzw. 30 Rupien (Balcony). Während der Morgenvorstellungen konnte ich vor allem Gruppen älterer Damen, teilweise auch in Begleitung eines Mannes, feststellen. Auch älte­re Ehepaare bevorzugen die noch kühleren Morgenstunden für einen Kinobesuch. Die Be- Sucher sind gut gekleidet. Das Publikum der Matinee-Vorstellungen setzt sich meist aus jungen Männern, die im Dress Circle Platz nehmen und Müttern mit ihren Kindern, die Tickets für den Balcony buchen, zusammen. Während der Nachmittagsvorstellung kom­men vermehrt Gruppen von Schuljungen und -mädchen in Schuluniform. 30 und 40 Rupi­en müssen Kinobesucher für die Vorstellungen um 15:30 Uhr, 18:30 Uhr und 21:30 Uhr bezahlen. Damit sind die Eintrittspreise im Prabhät um ein vier- bis fünffaches günstiger als in Multiplex-Kinos. Diese erschwinglichen Preise ermöglichen auch den Kinobesuch einer mehrköpfigen Familie. Nach Aussage des Managers gehören Prabhät-Besucher größ­tenteils der indischen Mittelschicht26 an. Die sehr zentrale Lage trägt erheblich zur Beliebt­heit des Kinos bei Kinogängern bei. Genau die Zielgruppe, die das Prabhät mit seiner Konzentration auf marathisprachige Filme anspricht, wohnt tatsächlich auch in dem Stadt­teil, in dem sich das Kino befindet. Die Anreisezeiten und der Aufwand ins Kino zu gehen sind für die meisten Kinobesucher gering. Die erschwinglichen Eintrittspreise und die fa­miliäre Stimmung im Prabhät, die durch die schon zum Teil jahrelang dort arbeitenden Mitarbeiter und den Manager B. D. Bhide erzeugt wird, tragen zur Beliebtheit der Prabhät Talkies bei. Große Relevanz hat das Prabhät für Informanten aus allen drei Bezugsgruppen - Produzenten27, Rezipienten28 und Beteiligte.

Ungefähr 20 Personen sind im Prabhät angestellt, von denen beijeder Vorstellung etwa 15 Personen beschäftigt sind: Der Ticketkontrolleur steht am Eingangstor, fünf Verkäufer ar­beiten an den unterschiedlichen Kiosken (vor der Pause eines Films werden zusätzlich im Hof zwei Verkaufsstände aufgebaut, die nach der Pause wieder abgebaut werden), zwei Ticketverkäufer bedienen die Besucher im Eingangsbereich und sieben Platzanweiser lei- ten die Kinogäste mit Hilfe von Taschenlampen zu ihren Plätzen. Auch B. D. Bhide ist täg­lich von der ersten Vorstellung bis circa 19 Uhr im Prabhät. Bhide beginnt seinen Arbeits­tag, indem er nach Betreten seines Büros die Einnahmen des Vortages aus dem Tresor nimmt und zählt. Der Prabhät-Tag endet mit der letzten Vorstellung gegen 23:30 Uhr. Ki­nobesucher machen sich auf den Heimweg. Die Tore des Prabhät werden nach groben Aufräumarbeiten geschlossen.

2.2 Methoden

Wichtigste Methode der Forschung war die Teilnehmende Beobachtung, die ich durch semi-strukturierte Interviews ergänzte. Anhand systematischer Beobachtungen untersuchte ich Reaktionen und Rezeptionen des Films »Valu« im Kinosaal während der Vorstellung. Fest stand für mich seit Beginn der Forschungsplanung, einen zentralen Aspekt des Unter­suchungsgegenstandes Kino, das Visuelle, zumindest in Teilen auch in meiner Arbeit in vi­sueller Form dokumentieren zu wollen. Dies würde u.a. den Vorteil haben, später Foto- und Videomaterial für Auswertungen zur Verfügung zu haben. Alle Interviews wurden von meinem Lebensgefährten S, der mich über den gesamten Zeitraum der Forschung be­gleitete, mit einer einfachen Mini-DV-Kamera aufgenommen. Ich fotografierte mit einer einfachen Digitalkamera zudem zahlreiche Aspekte des Forschungskontextes. Die einzel­nen angewandten Methoden werden im Folgenden kurz thematisiert, problematisiert und kritisch reflektiert.

2.2.1 Teilnehmende Beobachtung und Interviews

Die Teilnehmende Beobachtung im cineastischen Kontext hat ihre natürlichen Beschrän­kungen. Das Kino ist kein Lebensraum, der durchgängig bewohnt und belebt wird. Die Ki­nos, die ich in Pune kennenlernen konnte, haben für die ethnologische Forschung den großen Vorteil, im Tagesverlauf über einen deutlich umfassenderen Zeitraum belebt zu sein, als dies in Deutschland in den meisten Kinos der Fall ist. Mithin findet 14 Stunden lang an allen sieben Wochentagen Aktivität im Kino statt. Ich habe mich nicht 14 Stunden täglich im Prabhät aufgehalten, sondern setzte mir für meine Anwesenheit gezielt Zeitfens­ter. Ziel war es, ein möglichst umfassendes Bild der Abläufe und sozialen Aktionen im Kino zu unterschiedlichen Tageszeiten und an unterschiedlichen Wochentagen zu erhalten. Ich nahm beobachtend am Geschehen des Kinoalltags teil, registrierte verschiedenste Vor­gänge im Kino, wie Vorbereitungen zu den Filmvorführungen, die Arbeit der einzelnen An- gestellten, wann welche Kinogänger erschienen, welche Filme wie stark besucht wurden und ich versuchte, die Beziehungen zwischen Kinomitarbeitern und Kinobesuchern zu be­obachten.

Zu Beginn meiner Forschung und meines täglichen Erscheinens im Prabhät war das Inter­esse, welches ich als Deutsche für das Marathi-Kino zeigte, für Angestellte und Kinobesu­cher im Prabhät unerklärlich. Im Verlauf der Wochen wandelte sich diese Skepsis nahezu in Ehrgefühl und Respekt insofern, als dass ich mich als Deutsche für ihr - national wie in­ternational (bisher) meist wenig bedachtes - Kino interessierte. Mein Forschungsinteresse für das regionale Kino Maharashtras wurde als weiteres Zeichen für den Aufschwung ge­deutet und als Effekt der zunehmenden Popularität interpretiert, die nun sogar schon inter­national für Aufmerksamkeit sorgt. Das regelmäßige Erscheinen meiner Person im Pra­bhät führte schließlich dazu, dass ich zusehends in der Kinogemeinschaft eingegliedert wurde und mein Tun und Handeln nicht mehr ständig Aufmerksamkeit erregte. B. D. Bhide machte sich bis zum Ende der Forschung die Mühe, jedes Mal bei meiner bzw. unserer An­kunft sein Büro zu verlassen, um uns persönlich zu begrüßen. Für die Kinobesucher, die nicht regelmäßig das Prabhät besuchten, war es stets unerklärlich, was wir machten und weshalb ich vor der Filmvorführung eifrig Dinge in mein Tagebuch eintrug bzw. weshalb ich während der Vorführung in der hinteren Reihe mit einer kleinen Taschenlampe mein Buch beleuchtete, um Notizen machen zu können. Somit konnte ich während dieser For­schung selten das Ideal der Teilnehmenden Beobachtung erfüllen: In der Gemeinschaft als Teilnehmende vergessen zu werden. Meist wurden wir trotz der freundlich-aufgeschlosse­nen Akzeptanz von den Kinogängern als Sonderlinge mit unerklärlichen Interessen angese­hen und unsere Gegenwart wurde immer realisiert und war immer »bewusst«. Der Einsatz von Kamera und Aufnahmegerät sowie die Durchführung von Interviews verliehen uns den Nimbus »richtiger« Forscher und lieferten eine Erklärung für die Anwesenheit Deutscher in einem Marathi-Kino. Die Teilnehmende Beobachtung fand vor, nach und während der Filmvorführung statt.

Nicht nur im Prabhät nahm ich beobachtend an den Prozessen des Kinos teil, sondern auch in einem Multiplex-Kino sowie am Drehort des Films »Valu«. Die systematische Beobach­tung sehe ich als einen Aspekt der Teilnehmenden Beobachtung. In Bezug auf den Film »Valu« versuchte ich, die Reaktionen des Publikums auf bestimmte Szenen des Films zu beobachten und zu notieren. Ich hielt fest, an welchen Stellen des Films das Publikum lachte, mit den Füßen stampfte, in die Hände klatschte oder sehr still war. Da der Film ohne Untertitel gezeigt wurde, war es mir nur möglich, die Szenen skizzenhaft zu notieren und die entsprechende Publikumsreaktion festzuhalten. Die Teilnehmende Beobachtung er­gänzte ich durch Interviews, die ich teils frei führte und teils semi-strukturiert vorbereitet hatte.

Interviews führte ich mit unterschiedlichen Akteuren des Marathi-Kinos: Mit Besuchern des Prabhät und eines Multiplex-Kinos, mit Filmemachern (Umesh K.29, Sachin K., Mihir A. und Ch.30 ) sowie mit Produzenten, Filmvertreibern, einem Standfotografen und Kinoangestellten. Die Interviews mit Filmemachern, Produzen­ten und Filmvertreibern führte ich auf Englisch. Anfänglich versuchte ich auch die Inter­views mit den Kinobesuchern auf Englisch durchzuführen, merkte aber recht schnell, dass die Ausdrucksmöglichkeiten vieler Kinobesucher im Englischen begrenzt waren. Aus die­sem Grund unterstützte mich Dipti T. als Dolmetscherin. Die Qualität der Aussagen und die Tiefe der Interviews - und vor allem auch die Tiefe meiner Einsichten - nahmen durch ihre Hilfe und den Einsatz der Sprache Marathi in bemerkenswerter Weise zu.

Die Interviews mit den Kinogängern führten wir meist vor Vorstellungsbeginn. Circa 45 Minuten vor Filmbeginn trafen die ersten Kinobesucher ein und warteten auf die Öffnung des Ticketschalters. Die Durchführung von Interviews war in dieser Situation sehr gut möglich. Nach dem Ticketkauf hielten sich die Kinogänger im Innenhof auf, kauften dort Snacks oder Getränke oder saßen auf den Bänken der Balustrade, die den Kinosaal säumt, was weitere gute Interviewsituationen eröffnete. Manchmal bat ich einige Kinobesucher, mir noch einige Minuten nach der Filmvorstellung zu gewähren, um Fragen zum soeben gesehenen Film stellen zu können. Die Interviews dauerten selten länger als 20 Minuten. Die Interviews mit den Filmemachern K. und K. führte ich mit ihnenjeweils in deren privaten Wohnhäusern. Mein Eindruck war, dass sie in ihrer persönlichen Umge­bung frei und ausführlich reden konnten. Mit A. sprach ich in einem Straßencafd im Zentrum Punes. Die Interviews mit den Filmemachern dauerten meist ein bis eineinhalb Stunden. Aruna Damle lud uns in ihre privaten Räume im »Damle Bungalow« ein und widmete uns drei Stunden für Interview und das Zeigen von Fotografien der PFC. Sie war diejenige meiner Interviewpartner, die am stärksten Einfluss auf Ablauf, Art der Fragestel­lung und Inhalte ausübte. Aruna Damle bat darum, mit einigen Sanskritversen beginnen zu können und an das Vermächtnis ihres Schwiegervaters, Vishnu Govind Damle (1892 - 1945), erinnern zu dürfen, der gemeinsam mit V. Shantaram im Jahr 1930 die PFC gründete.

Im fortgeschrittenen Forschungsverlauf führte ich zwei Gruppendiskussionen, von denen eine spontan zustande kam. Die zweite Gruppendiskussion hatte ich gezielt geplant, da ich mir erhoffte, im Rahmen einer solchen Gesprächsrunde Informationen und Einsichten zu erhalten, die innerhalb der im Kino geführten Interviews nicht möglich waren. Erkenntnis­gewinn ergab sich vor allem bezüglich der persönlichen Bedeutung des Kinos für die Dis­kussionsteilnehmer31. Ich meine, aus den in der Diskussion genannten Bedeutungsaspekten Tendenzen differenzieren und Bedeutungsfaktoren ableiten zu können, die für viele Mara- thi-Kinobesucher gelten. Die Diskussion hatte den Vorteil, dass wenig Einmischung und Lenkung meinerseits nötig war und eine freie Gesprächsentwicklung möglich war. Diese zeigte, welches für die Teilnehmer die besonders relevanten Themen in Bezug auf den Ge­sprächskontext waren.

2.2.2 Film und Fotografie in einem visuellen Forschungskontext

Da fest stand, dass mein Lebensgefährte ohnehin während der Forschung dabei sein würde, bat ich ihn darum, sämtliche Interviews und Prozesse der Forschung zu filmen. Absicht war, einen wesentlichen Aspekt des Forschungsthemas Kino respektive des visuellen Me­diums Film auch mit visuellen Mitteln zu dokumentieren. Für jede Fotografie oder Film­aufnahme, die explizit einzelne Menschen fokussierte, baten wir die entsprechende Person jeweils vorher um Erlaubnis. In keinem Fall wurde ablehnend auf diese Frage reagiert. Da nicht ich, sondern mein Lebensgefährte während der Interviews die Kamera führte, kam es nicht zu der befürchteten, der Kamera manchmal eigenen, Grenzen aufbauenden Wirkung. Meiner Wahrnehmung zufolge wurde die Kamera (Foto- und Filmkamera) in keiner Situa­tion als störend, distanzlos oder aufdringlich empfunden. Dies mag auch daran liegen, dass wir uns, auch im Bewusstsein der Interviewten, mit dem Thema Kino in einem visuellen Forschungskontext befanden. Die Filmemacher oder in engerem Bezug zur Filmproduktion stehende Personen gingen sogar insbesondere auf die Kamera ein und erkundigten sich, ob nach dem Kassettenwechsel die Kamera bereits wieder am Laufen war und sie mit dem Sprechen fortfahren konnten. Die Vertrautheit mit dem Filmmedium hatte für uns sehr po­sitive Effekte. Nicht unbedacht lassen sollte ich dabei aber den Aspekt einer möglichen In­szenierung von Aussagen, die vielleicht ohne Kamera-Präsenz nicht entstanden wäre.

Für mich haben die Fotografien und Filmaufnahmen insbesondere drei Nutzaspekte: So­wohl den der Erinnerung von Situationen und Räumen, als auch die Möglichkeit der visu­ellen Auswertung von fragespezifischen Reaktionen, Mimiken oder Eigenheiten der Inter­viewpartner. Ein weiterer Nutzen ist der Lernaspekt. Beim heutigen Betrachten der Auf­nahmen wird mir bewusst, welche Fragen ich heute anders stellen würde oder für welche Aspekte der Forschung ich künftig alternative Vorgehensweisen wählen würde. Damit leite zum Kapitel der kritischen Methodenreflexion über.

2.2.3 Kritische Methodenreflexion

Der von mir als »Phase des Offenen Auges« bezeichnete erste Forschungsabschnitt hatte die sich als sehr sinnvoll erweisende Funktion, erste Impressionen wirken lassen zu können und zwar mit einer uneingeschränkten Offenheit des Forschungsblicks, da ich zu Beginn der Forschung keine festgefügten Fragestellungen im Kopf hatte. Damit handelte es sich bei meiner Forschung um eine thesengenerierende und keine thesenüberprüfende For­schung. Dieses Charakteristikum der Forschung schätze ich positiv ein, da Voraussetzung einer thesenüberprüfenden Forschung das Vorhandensein von Prämissen ist, die eine Flexi­bilität der Forschungsfrage in geringerem Maße zulässt.

Ich sehe vor allem zwei Hauptprobleme meiner Forschung: Das Nicht-Beherrschen der Sprache Marathi und die Wahl des Wohnorts. Letzteren würde ich heute näher am For­schungsort, insofern es möglich wäre in der Nachbarschaft des Kinos und damit im Zen­trum der Stadt, wählen. So könnte die Teilnehmende Beobachtung eine intensivere sein und der tägliche Forschungszeitraum müsste nicht »geplant« werden, sondern könnte spon­taner stattfinden. Die Unterstützung durch eine Dolmetscherin war eine richtige Entschei­dung, dennoch sehe ich Probleme in der Verdolmetschung der Aussagen. Durch die Verdol­metschung der Interviewantworten wird bereits gefiltert, welche Bedeutungen der Dolmet­scherin wichtig erscheinen und mir wird die Möglichkeit genommen, selbst zu entschei­den, welche Aspekte interessant und beachtenswert sind. Das Forschen im Kino vor und nach den Filmvorstellungen hat als großen Nachteil die zeitliche Begrenzung der Inter- views. Verabredungen zu längeren Interviews erschienen mir als schwierig. Die zwei inten­siven Gruppendiskussionen, die frei geführt und wenig von mir geleitet wurden, wogen die Begrenzungen der Kino-Interviews ein wenig auf. Eine weitere Schwierigkeit einer Kino­Forschung ist, dass Beobachtungen von Gestiken, Mimiken und Verhalten in einem nahezu dunklen Kinosaal stark erschwert werden. Meine Beobachtungen im Dunkeln wurden je­doch ergänzt durch die Wahrnehmung der Geräuschkulisse, der Gerüche und das Empfin­den von »Atmosphärischem« generell.

3 Von Filmsehenden und Filmschaffenden - Bedeutung und Wahr­nehmung des Marathi-Kinos

Die Bedeutung und die Wahrnehmung des Prabhät als Kino, als Ort des Zeigens und Rezi- pierens von Marathi-Filmen einerseits sowie die Bedeutung und die Wahrnehmung von Marathi-Filmen andererseits sind für Kinogänger, Filmemacher und im Bereich des Mara­thi-Kinos Beschäftigtejeweils unterschiedlich. Die Intentionen und Bedeutungen der Film­sehenden und Filmschaffenden hinsichtlich eines Prabhät-Besuchs und der Rezeption bzw. Produktion von Marathi-Filmen unterscheiden sich stark. Diese sich unterscheidenden Be­deutungen möchte ich separat darstellen und entscheide mich daher für Unterkapitel, die jeweils die Bedeutungen für Filmemacher und Kinogänger getrennt voneinander behan­deln. Einige Aspekte bezüglich des Prabhät wiederholen sich im laufenden Text. Hierzu sei angemerkt, dass aus der Repetition rückfolgernd auf die Bedeutungsgröße einzelner Er­wähnungen geschlossen werden kann.

3.1 Bedeutung des Prabhät für Kinogänger und Filmemacher

3.1.1 Kinogänger

Das seit 1934 bestehende Prabhät Theatre ist das in Pune wichtigste und populärste Mara- thi-Kino. Für Publikum und Filmemacher gleichermaßen steht das Prabhät als Synonym für Marathi-Filme, da es das einzige Kino der Stadt ist, welches sich gänzlich regionalen Filmen widmet. »[W]hen you think of Marathi cinema it's Prabhätl« (03.04.2008), sagte Karishma T. in der Gruppendiskussion.

Das Prabhät ist bei Kinogängern aufgrund seiner zentralen innerstädtischen Lage und der Verkehrsanbindungen an andere Stadtteile sehr beliebt. Auch nach der letzten Vorstellung, die gegen 23:30 Uhr endet, sind die Straßen der Gegend um das Prabhät noch sehr belebt, was von den Kinobesuchern als angenehm empfunden wird und ihnen das Gefühl von Si­cherheit vermittelt. Die niedrigen Eintrittspreise ermöglichen den Besuchern regelmäßiges Filmschauen. Kinogänger schätzen die Qualität der Filmprojektion, die Sauberkeit des Ki­nos sowie den Sitzkomfort. Wichtiger als qualitativ-technische Kriterien sindjedoch ande­re Aspekte, die das Prabhät für einen Filmbesuch attraktiv machen. Dies sind auch gleich­zeitig die Faktoren, die dafür verantwortlich sind, dass das Prabhät als Symbol für Mara­thi-Filme steht.

Das Prabhat ist Punes zentrale Institution des Marathi-Kinos und hat große Relevanz für alle Marathi-Kino-Interessierten der Stadt. Viele der Kinobesucher gehen, um Marathi-Fil- me zu sehen, ausschließlich ins Prabhat und schließen somit das Sehen von marathispra- chigen Filmen in anderen Kinos kategorisch aus. Ein Beispiel zeugt von der großen per­sönlichen Relevanz, die das Prabhat fur einige Kinobesucher darstellt: Ein Besucher drückte die persönliche Notwendigkeit, Marathi-Filme dort zu sehen, damit aus, dass er schon lange auf das Erscheinen eines bestimmten Films wartete, der Filmjedoch bisher nur in anderen städtischen Kinos, nicht aber im Prabhat gezeigt worden war. Er wartete trotz seines dringenden Wunsches auf den Erscheinungstermin im Prabhat. Andere Prabhat-Be- sucher erzählten mir, dass sie als Kinder durch ihre Eltern in das Prabhat eingeführt wur­den und diese wiederum von ihren Eltern. Im Prabhat Filme zu sehen, stellt für viele mei­ner Informanten eine Familientradition dar, die sie fortführen, indem auch sie mit ihren Kindern regelmäßig ins Prabhat fahren, um dort einen Marathi-Film zu sehen. Ein männli­cher Kinobesucher zog einen Vergleich zwischen dem Prabhat und der Bedeutung des El­ternhauses:

»Er [der befrage Kinogänger - A.S.] hat gesagt, dass die Frau in Indien nach der Heirat zum Mann geht. Sie zieht in das Haus des Mannes. Aber es gibt eine besondere Verbindung, die sie weiterhin mit den Eltern und dem Elternhaus hat. Und so ist das nach seiner Vorstellung auch mit diesem Theater [Kino - A.S.]. Das gilt besonders für das Marathi-Theater. Diese Verbindung ist unvorstellbar. Und dann hat er gesagt, dass es in anderen Theatern nicht so viele Marathi-Leute gibt. Aber hier ist die At­mosphäre ganz voll Marathi. Das ist ein gutes Gefühl. Wir sagen ja >Vaterland< oder so was. In glei­cher Weise, hat er gesagt, ist dieses Theater wie die Mutter von Marathi-Filmen. Soviel Bedeutung hat dieses Kino.« (Kinogänger, 03.03.2008, Übers. D. T.)

In einer E-Mail ging Dipti T. noch einmal explizit auf diese Aussage ein und erläuterte die Bedeutungsschwere des Begriffs »Elternhaus«:

»Dieses Wort ist besonders für die indischen Frauen sehr gefühlsbeladen, weil das der Ort ist, wo sie meistens bis zur Heirat gewohnt haben, wo ihre Eltern leben, wo ihre Persönlichkeit und Identität ge­prägt wurde, [dies] müssen sie auf einmal verlassen. So viel Wichtigkeit hat das Elternhaus im Leben der indischen Frauen. Genauso meinte der Mann, dass die Wurzeln der Marathi-Filme im Prabhat lie­gen.« (Dipti T., E-Mail vom 26.06.2008)

Langjährige Prabhat-Besucher schätzen die familiäre Atmosphäre, die ihnen das Gefühl eines zweiten Zuhauses vermittelt, und erwähnen das persönliche Interesse, welches die Prabhat-Mitarbeiter an ihnen und ihrem Wohl haben. Besonders B. D. Bhide, der Manager des Kinos, bemüht sich um eine persönliche Beziehung zu den Stammbesuchern, was die­sen sehr positiv auffällt und auch zum Ausdruck gebracht wird:

»They are very culturous. All stuff is very nice here. They take personal interest. When I come here Mr. Bhide he comes and asks >you have not been here for a long time<. They take personal interest be­cause they know their clients very well. And everything is kept very clean and so I love coming here.« (Kinobesucherin, 28.02.2008)

Das Kino Prabhät ist ein Treffpunkt für Menschen, die sich der Marathi-Kultur besonders verbunden fühlen. Man geht ins Prabhät, weil man dort Gleichgesinnte und Menschen der eigenen Kultur trifft. Das Wissen, dass »alle hier Marathen sind«32 erzeugt ein heimisches Gefühl und das Prabhät strahlt so für viele Besucher eine »home-like atmosphere« aus. Man widmet sich drei Stunden einem gemeinsamen und verbindenden Interesse und pflegt durch den Kinobesuch seine eigene Kultur. Da das Prabhät einen wichtigen kulturellen Beitrag durch seine Konzentration auf Marathi-Filme leistet, möchten viele Besucher das Prabhät in seiner Arbeit fördern. Als Marathi-Kinogänger ist man stolz auf das Prabhät und seine in der Stadt einzigartige Beschränkung auf Marathi-Filme. »Other theatres don't show these Marathi pictures. This theatre shows only Marathi picture. We are proud of this theatre!« (Kinobesucher, 23.03.2008) Paraphrasiert wiedergegeben sagen viele Kinogänger »Wir sind Marathen und deswegen sehen wir Marathi-Filme - und zwar im Prabhät«.

Die Mehrheit der Prabhät-Besucher kommt aus der städtischen Mittelschicht. Das Wissen im Prabhät Menschen aus der gleichen Einkommensklasse zu treffen, ist ein ebenfalls be­deutsamer Aspekt. Den Kinobesuchern vermittelt dies das Gefühl der Gemeinsamkeit und stellt eine Verbindung zwischen ihnen her. Kinobesucher empfinden kein Gefühl der Fremdheit zum Klientel des Prabhät, sondern können sich mit den anderen Kinobesuchern identifizieren. Ein männlicher Kinobesucher begründet seinen Besuch im Prabhät damit, dass »alle hier Marathi sind und das Gefühl haben, Marathi zu sein. Deswegen komme ich seit Jahren her« (Kinobesucher, 03.03.2008, Übers. D. T.,). Kinobesucher stellten fest und artikulierten mir gegenüber, dass »einfache Menschen«, die keine hohen Komfortan­sprüche haben oder besondere Extravaganzen mögen, im Prabhät Filme sehen. In besagter Gruppendiskussion kam zur Sprache, dass es im Prabhät, im Gegensatz zum Multiplex- Kino, möglich ist, seinen durch den Film erzeugten Emotionen Ausdruck zu verleihen, ohne dass dies von den anderen Kinobesuchern als Störung aufgefasst wird.

»Actually I wanna say one thing. So you know, because in multiplex you have these high-class-so­ciety-people and whenever there is a good scene going on I feel like whistling, I feel like shouting, but in multiplex you can't do it. (...) because the audience around they are like >shhh, shhh<. You know, they are bothered. Whereas in Prabhät it's like at home, you just shout, you scream, you dance. .« (Karishma T., 03.04.2008)

Aufgrund der ehemaligen Verbindung von Prabhät Talkies und der berühmten PFC vermu­tet Tanvi Damle, die Enkelin Aruna Damles, dass das Prabhät-Kino auch heute noch für viele Besucher als Synonym für Marathi-Filme steht bzw. diese Beziehung dem Prabhät Bedeutung verleiht: »I guess people haven't quite come out of that impression. So I think that's the reason why they go to Prabhät.« (Tanvi D., 03.04.2008)

3.1.2 Filmemacher

Die bedeutungstragenden Faktoren für Filmemacher sind teilweise mit denen der Kinogän­ger kongruent. Wie bereits erwähnt ist das Prabhät in Pune das einzige Kino, welches sich ausschließlich auf Marathi-Filme konzentriert. Diesem in Pune einzigartigen, sich dem Marathi-Kino verschreibenden Charakter zollen die Filmschaffenden großen Respekt. Die Filmproduzierenden sehen die große Relevanz dieser Aufgabe des Prabhät. Aufgrund der hohen Reputation des Kinos ist es für Filmemacher von großem Interesse, ihren Film im Prabhät zeigen zu können. »They are totally satisfied when they get Prabhät Talkies. They are fully satisfied. They think that something we will get from the Prabhät.« (B. D. Bhide, 03.04.2008) Das Wissen der Filmemacher um einen ständig hohen Besucherzuspruch und somit um Partizipation an der Reputation des Kinos macht es für sie besonders erstrebens­wert, das Prabhät für den eigenen Film gewinnen zu können. Ihren Film im Prabhät zei­gen zu können, bedeutet für Marathi-Filmschaffende eine Ansehenssteigerung und Ehrer­weisung; zugleich ist dies eine Versicherung für eine große Wahrnehmung des Films. Als Filmemacher bemüht man sich um eine gute Beziehung zum Prabhät; regelmäßig konnte ich beobachten, dass sich im Büro des Managers Filmemacher und Produzenten bei einer Tasse Tee (cahä) im persönlichen Gespräch mit B. D. Bhide befanden. Der Regisseur Ch. empfindet das Prabhät als sowohl publikums-, wie auch produzenten­freundlich:

»[T]hey don't stream any other language - Hindi or English. And they are producer friendly, they are audience friendly. Audience is also taken care ofhere. Producer is also taken care. But audience is also taken care. And number of prominent producers, they insist getting their films screened here, because of the reputation of the theatre. (...) [T]hat's why we make it the point to come to this theatre. And this theatre helps us in all respects.« (Ch., 10.02.2008)

Die Qualität des Prabhät liegt für Chandravadan vor allem in der umfassenden Unterstüt­zung, die dem Filmemacher widerfährt, wie auch in der Betreuung des Publikums, von dem der individuelle Erfolg eines Films mit abhängig ist. Da das Prabhät in Pune ein Uni- kat in Bezug auf Unterstützung für den Filmemacher darstellt, zeigt Chandravadan seine Filme in Pune ausschließlich im Prabhät. Auch die Reputation des Kinos aus traditionellen Gründen und die enge Verbindung mit der PFC sind für Filmemacher bedeutsam. Die Gründer der international bekannten PFC schufen mit dem Prabhät ein Lichtspielhaus, welches den Zweck hatte, die produzierten Filme der Öffentlichkeit auf hauseigener Lein­wand zur Verfügung zu stellen und finanzielle Unabhängigkeit für nachfolgende Filmpro­duktionen zu erlangen.

Bhide, der seit 1971 der Aufgabe des Managements nachkommt und zuvor vier eigene Ma- rathi-Filme produzierte, ist in großem Maße in Bezug auf persönliche Betreuung seiner Klienten ambitioniert. Als sein Klientel betrachtet er sowohl Filmemacher als auch Kino­besucher:

»I like this job. Because I'm in this line, that's why I can help the producers, the distributors. I have to see all this in the management of the theatre. (...) I do care of the public. About 15 days back one old man about 80 years old, he was seeing a picture. During the picture he got some trouble. He got pres­sure and he collapsed in his chair. (...) I said to my four persons >take him here<, we laid him here and I was doing like this [wedelt mit einem Papier einer imaginären Person Luft zu - A.S.]. One hour he was sleeping here. (.) I helped that old person, I was giving water for drinking and was his fan, that's why he after half an hour he got it and then went on. And after that he wrote a letter to me. (...) This is our duty when they come in my place I have to protect them. I must take care of them. This is my duty.« (B. D. Bhide, 03.04.2008)

Bhides starke Beziehung zum Prabhät kommt auch in folgender Aussage zum Ausdruck: »This is my home! Some people say this is my second wife [lacht - A.S.]. One is in the home and here is second.« (Bhide, 03.04.2008)

Auch Nuas B., der Marathi-Filme vertreibt und produziert, wies auf die Bedeutung des Prabhät aufgrund seiner Einzigartigkeit in Pune hin:

»Actually we have got many multiplexes in Pune and very few single theatres available and that's why we have got only one big theatre for Marathi cinema - that is Prabhät. All other theatres have not been fully devotive for Marathi cinemas.« (B., 31.03.2008)

Von den Filmemachern wird bedauert, dass es in Pune kein mit dem Prabhät vergleichba­res Kino gibt. Es wird ausdrücklich gewünscht, es gäbe weitere Single-Screen-Theatres mit der ausschließlichen Konzentration aufMarathi-Filme.

Das Prabhat leistet als kleines Kino einen großen Beitrag zur Förderung der regionalen Filmkultur, zudem ist die Stellung eines Kinos wie dem Prabhät mit der ausschließlichen Konzentration auf regionalsprachliche Kinofilme in Pune einzigartig. Filmschaffende schätzen die besonderen Bemühungen um das Publikum. Kinogänger erfahren hohe per­sönliche Wertschätzung. Die mittlerweile über 75-jährige Tradition des Prabhat macht das Kino zu einem »Urgestein« der Marathi-Kinotradition und dieses Ansehen wertet einen Film, der im Prabhat gezeigt wird oder premiert, erheblich auf. Auch die Schauspieler und alle anderen Beteiligten an einer Marathi-Filmproduktion partizipieren an der Aura dieses traditionsreichen Kinos. Tradition und Einzigartigkeit, die durch die Konzentration auf ma- rathisprachige Filme entsteht, verleihen dem Single-Screen-Theatre hohe Reputation bei Kinogängern und Filmemachern.

3.2 Bedeutung des Marathi-Kinos für Kinogänger und Filmemacher

3.2.1 Filmemacher

Die Forschung nach Bedeutungen des Marathi-Kinos für Filmemacher ergibt drei Berei­che, die diese Relevanzen schaffen oder enthalten. Diese sind: Sprache, Tradition und per­sönliche Motivation.

Zentrales und definierendes Charakteristikum des Marathi-Kinos ist die Sprache. Marathi als Verständigungsmedium nimmt den höchsten Stellenwert individueller Bedeutung bei Kinogängern und Filmemachern ein. In den Interviews wurde wiederholt betont, dass aus­schlaggebend für die Identifikation mit dem Marathi-Kino die Muttersprache sei. Die Spra­che wird genutzt, um Sinn zu transportieren bzw. zu kommunizieren. Filmemacher inten­dieren durch ihre Filme die Kommunikation von Gedanken, Gefühlen, Problemen oder auch Botschaften. Marathi als Muttersprache ermögliche dabei die Übertragung dieser Be­deutung in größtmöglicher Differenziertheit und Präzision. Die bestmögliche Intentions­übermittlung sei in der eigenen Muttersprache (»mother tongue«33 ) erreichbar. K. sagte, was ihn antreibe, Filme zu machen, sei der Drang, »etwas zu erzählen«34 und zwar auf unkonventionelle Art und Weise. Filme in seiner Muttersprache Marathi zu drehen er­mögliche ihm, sich auf nicht konventionellem Wege zu artikulieren und gleichzeitig seine Filme regional zu verankern: »If you want to say something in a not very conventional way then you can definitely say it in your regional language.« (K., 23.03.2008) Die eige­ne Muttersprache hat für K. große Bedeutung, da es das für ihn barrierefreieste Kommunikationsmedium sei. Er strebt in seinen Filmen eine große Sprachpräzision an und setzt in großem Umfang die Feinheiten und differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache ein.

Für zwei weitere Marathi-Filmemacher (A. und K.), die ich interviewte, besteht geringere Notwendigkeit, Filme in Marathi zu drehen. Sie formulierten nicht die Aus­schließlichkeit, Marathi als Filmsprache einzusetzen. A., der eigentlich Architekt ist und zum Zeitpunkt unseres Interviews kurz vor Drehbeginn seines ersten Films35 stand, hält es für notwendig, dassjeder Regisseur seinen ersten Film in seiner Muttersprache dreht. A. sieht in der Kommunikation in Marathi die optimale Übermittlung von Gefühlen und Er­fahrungen. Der Drang, Emotionen in der eigenen Muttersprache auszudrücken, ist für ihn Bedingung, Marathi-Filme zu drehen:

»A Marathi film needs film makers - I hope like me - who want to tell the people in their own lan­guage, in our own style, in our own language, with our own emotions, the same feelings that any world cinema projects us. See, emotion is devoid of language. A message is devoid of language, actu­ally. Just like music is. Music doesn't have a language. It passes borders; it does not need to have a language as such. It needs to come away, a feeling, or an experience. I look the same way at films, so I want to tell it in my own way; I want to do it in Marathi in my own way.« (A., 23.03.2008)

Schon von Berufs wegen - A. arbeitet auch im Bereich des Filmvertriebs - hat er eine große Begeisterung für die regionale Filmkultur. Bewundernd äußerte er sich bezüglich der »Filmväter« Maharashtras und ihrer frühen Werke. So ist es für ihn von großer Relevanz, mit seinem Film einen Beitrag zur Entwicklung dieser Filmkultur zu leisten:

»If you are a film maker you have to contribute. It is notjust your personal expression, it is notjust a story, it is not just a film that you're making. You're contributing to the medium. Once a film is made it's there in history forever, whether it is good or bad. (...) It is carved in history forever. So that has to be quality.« (A., 23.03.2008)

Hier kommt der von mir zuvor angesprochene Aspekt der Tradition zum Tragen: Die Be­wunderung oder auch Begeisterung für die reiche Filmgeschichte, an der man in Maha­rashtra als Marathi-Filmregisseur teil hat und zu der man selber beiträgt. Auch das hat Re­levanz für die Filmemacher, mit denen ich sprach: Gewissermaßen auf »historischem Bo-

[...]


1 Marathi ist eine indogermanische Sprache, die ihre Wurzeln im Sanskrit hat. Einflüsse des Persischen wirkten vor allem in der Periode ab Mitte des 13. bis Ende des 18. Jahrhunderts. Mit der Ankunft der Bri­ten in Indien im 17. Jahrhundert kam es zum Kontakt mit dem Englischen. Spracheinflüsse auf das Mara­thi lassen sich bei R. Singh und Lele (1989) nachlesen.

2 Dabei betone ich, dass die von mir angebotenen Erkenntnisse mögliche Interpretationen sind und Ergeb­nisse meiner subjektiven Wahrnehmung und Beobachtung in einem spezifischen zeitlichen und räumli­chen Kontext. Andere Beobachtungen lassen andere Interpretationen zu.

3 Zum Nutzen von Fragen nach dem »Wie« und dem »Warum« in der ethnographischen Arbeit siehe Katz (2001).

4 »Kino-Tradition« bezeichnet im Folgenden die Genese des Kinos von den Anfängen bis heute und die da­mit im Zusammenhang stehenden Bereiche der Distribution, Rezeption und Produktion. »Genese« be­zeichnet dabei ausdrücklich kein evolutionäres Denkkonstrukt, welches von einer stetigen »Höherent­wicklung« ausgeht, sondern verweist lediglich auf eine zeitliche Abfolge.

5 Zum Thema Identität siehe auch Stuart Hall (1992).

6 Diese untergliedert Assmann in »individuelle« und »personale Identität«, wobei erstere sich auf die »Leibhaftigkeit des Daseins und sein[e] Grundbedürfnisse« bezieht (es sei angemerkt, dass hier auch kör­perliche Attribute eingeschlossen sind) und letztere »die soziale Anerkennung und Zurechnungsfähigkeit des Individuums« meint (Assmann 2007: 132).

7 »Das Bewußtsein sozialer Zugehörigkeit, das wir >kollektive Identität< nennen, beruht auf der Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem gemeinsamen Gedächtnis, die durch das Sprechen einer gemein­samen Sprache oder allgemeiner formuliert: die Verwendung eines gemeinsamen Symbolsystems vermit­telt wird.« (Assmann2007: 139)

8 Für Untersuchungen vor allem von personaler Identität siehe bspw. Erving Goffman (1967) und Richard Jenkins (2006).

9 Die Instabilität bzw. Variabilität von Identitäten ist auch eine der Grundannahmen Thomas Blom Hansens (vgl. Hansen 2002: 2).

10 Einen kurzen, aber umfangreichen Überblick über die ethnologischen Auseinandersetzungen mit Massen­medien gibt Debra Spitulnik (1993).

11 Mit »Film« bezeichne ich im Folgenden, wenn nicht explizit anders ausgewiesen, den Kinofilm. Den Fernsehfilm und das Verhältnis von Fernsehfilm und Kinofilm zueinander spare ich aus. Für Untersu­chungen zum Fernsehen in Indien verweise ich auf Monteiro (1998) und Mankekar (1993, 2002).

12 Eine Definition dieses Begriffs findet sich bei Spitulnik: »Mass media - defined in the conventional sense as the electronic media of radio, television, film, and recorded music, and the print media of newspapers, magazines, and popular literature - are at once artifacts, experiences, practices, and processes. They are economically and politically driven, linked to developments in science and technology, ... , their exist­ence is inextricablyboundup withthe use oflanguage.« (Spitulnik 1993: 293)

13 Aus dem Zitat ergibt sich auch, weshalb der häufig gebrauchte Term der »popular culture« von den Auto­ren abgelehnt wird. Der Begriff der populären Kultur verlangt ebenfalls nach einer dichotomischen Er­gänzung. Für Problematisierungen des Begriffs der »popular culture« siehe Burke (1981) und S. Hall (1981); für eine Verknüpfung des Terms mit dem Thema des indischen Kinos im Besonderen siehe Chat­terjee (2008).

14 Die Autoren argumentieren, dass ab dem späten 20. Jahrhundert kulturelle Formen begannen, weltweit verbreitet zu werden. Sie nennen diese global wandernden kulturellen Formen »cosmopolitan cultural forms« (Appadurai/Breckenridge 1988: 5). Diese kosmopolitischen Formen werden in den unterschiedli­chen kulturellen Kontexten durch jeweils »eigenkulturelle Stempel« (ebd. - Übers. A.S.) geprägt. Auf­grund dieser durch Globalisierung ermöglichten Wanderung kultureller Formen entstünde ein ganzer Be­reich der kulturellen Auseinandersetzung und nicht nur ein neues kulturelles Phänomen (vgl. ebd.: 6). Der Term »public culture« umfasst diese gesamte »Zone« (ebd. - Übers. A.S.) der Auseinandersetzungen und integriere insbesondere auch Prozesse der Globalisierung (vgl. Pinney 2001: 8). »Popular culture« ist eine weitere häufig auftauchende Begrifflichkeit, um massenmediale Kulturformen zu bezeichnen. Ich habe mich gegen die Verwendung dieses Terms entschieden, da er vermuten lässt, nicht-populäre Medialfor­men auszuschließen. Perspektive und Kontext spielen hier eine Rolle. Bezüglich meines Untersuchungs­kontextes würde sich die Frage stellen, ob das Marathi-Kino im Vergleich zum pan-indischen Hindi-Kino als populär gelten kann?

15 Als Vorbild für solch ein Vorgehen dient Geertz, über dessen Schreibstil David MacDougall schreibt: »This is ethnographic realism of the sort Clifford Geertz has called >transparencies< because it is so in­tensely visual. Sounds and smells, heat and cold make an appearance, but only subliminally.« (MacDou­gall 2006: 33)

16 Pauschalierung und Generalisierung grenze ich voneinander ab: Generalisieren ist ein für mich zulässi­ger Prozess, da ich unter Generalisieren das Vorgehen verstehe, von der (subjektiven) Beobachtung einer Einzelheit auf eine Ganzheit zu schließen und zwar innerhalb eines lokalen und zeitlichen Rahmens. Für Augé ist der Prozess des Generalisierens in der Ethnologie ein zulässiger und notwendiger: »Wir müssen in der Tat wissen, was die, mit denen wir sprechen und die wir sehen, uns überjene berichten, mit denen wir nicht sprechen und die wir nicht sehen.« (Augé 1994: 19) Damit ist die Forderung ausgesprochen, vom Einzelnen auf das Ganze zu schließen.

17 Für eine kritische Methodenreflexion verweise ich auf Kapitel 2.2.3 der vorliegenden Arbeit.

18 Die Problematik des Begriffs »Mittelschicht« wird in Kapitel 2.1.3 behandelt.

19 Ausschnitte aus den von mir geführten Interviews, die ich innerhalb dieser Arbeit als Zitat wiedergebe, habe ich teils grammatikalisch korrigiert. Solche Korrekturen habe ich nur in den Fällen, in denen die feh­lerhafte Grammatik den Sinn der Aussage zu überlagern drohte, vorgenommen. Mit Sorgfalt habe ich bei der Korrektur darauf geachtet, den Sinn der Aussage durch die Veränderung nicht zu verfälschen.

20 »Prabhät Talkies« fungiert als Synonym.

21 Der Begriff »Bedeutung« ist, wie Gregory Bateson zu Recht schreibt, ein »schlüpfriger« (Bateson 1981: 185). Unter »Bedeutung« subsumiere ich alle Aspekte bezüglich des Prabhät und der Marathi-Fil- me, die mir von meinen Informanten als für sie »wichtig« genannt wurden.

22 Zum Zeitpunkt meines Aufenthalts entsprachen 60 Indische Rupien ungefähr einem Euro.

23 Es handelt sich um den Film des US-amerikanischen Regisseurs Rouben Mamoulian aus dem Jahr 1932.

24 Dass der Ausverkauf eines Kinos in Indien starke Auswirkung auf das Ansehen und die Reputation des Kinos hat, zeigt L. Srinivas: »The >House Full< sign proudly displayed the movie's and the theatre's status.« (L. Srinivas 2002: 170) Damit ist ein weiterer Grund für den hohen Status des Prabhat genannt.

25 So fand in der Zeit unseres Aufenthalts eine Retrospektive statt, die sich dem Regisseur, Produzenten und Schauspieler Dada Khanderao Kondke (1932 - 1998) widmete (Abb. 13). Die Filme Kondkes charakteri­siert Narwekar auf folgende Weise: »His films are generally characterised by their robust rustic humour with much innuendo and have found approval with audiences in rural areas.« (Narwekar 1994: 153)

26 Hier möchte ich auf eine Schwierigkeit meiner Feldforschung hinweisen: Ungefähr eine dreiviertel Stun­de vor Filmbeginn treffen die ersten Besucher ein. In dieser kleinen Zeitspanne ergab sich meist nicht die Möglichkeit über Beruf, Einkommen oder soziale Herkunft der Besucher zu reden. Die Beschränkungen persönlicher Informationen sehe ich als großes Defizit meiner Forschung an. Aus diesem Grund bleibe ich bei dem wenig aussagekräftigen Begriff »Mittelschicht«, der streng genommen nicht vielmehr sagt, als dass Kinobesucher weder an Armut leiden, noch über besondere finanzielle Möglichkeiten verfügen.

27 Ich weise noch einmal auf die in der Einleitung erwähnte Dreigliederung der Untersuchungsgruppe hin und bitte den Begriff »Produzent« an dieser Stelle nicht mit dem Beruf des Filmproduzenten zu verwech­seln, sondern ihn in der Bedeutung seiner lateinischen Etymologie zu lesen.

28 Rezipieren verstehe ich nicht als passive Rezeption des auf der Leinwand dargestellten Stoffes. Diese An­merkung sei bereits an dieser Stelle gemacht, obwohl im Verlauf des Textes deutlich wird, dass in meinem Forschungskontext von den Zuschauern aktiv rezipiert wird. Appadurai und Breckenridge schreiben: »[T]he consumers of mass-mediated cultural forms are agents and actors, not merely objects and recipi­ents.« (Appadurai/Breckenridge 1998: 3) MacDougall versteht den Zuschauer im Kino ebenso wie ich nicht als passiven Rezipienten, sondern als Person, die während des Sehens permanent damit beschäftigt ist, das Gesehene zu prüfen und in einen Zusammenhang mit früheren Erfahrungen zu stellen (vgl. Mac­Dougall 2006: 24f.).

29 K. war zu der Zeit unserer Ankunft in Pune mit einem marathisprachigen Kurzfilm auf der Berlinale in der Kategorie »Berlinale Shorts« vertreten. In der gleichen Kategorie zeigte sein Freund und Studienkollege Siddharth Sinha den bhojpurisprachigen Film »Udedh Bun« (2008), mit dem dieser den Silbernen Bären der »Berlinale Shorts« gewann.

30 Ch. ist der Künstlername des Regisseurs. Auch seiner Visitenkarte lässt sich kein Vorname entnehmen.

31 An der Diskussion nahmen Karishma T., Shraddha L., Dharmakirti S., Tanvi D., Gau- ri S., Dipti T. und ich teil.

32 Als »Marathen« bezeichne ich die sich zur Marathi-Kultur zugehörig Fühlenden. Die Bezeichnung ist nicht zu verwechseln - zumindest nicht in diesem Kontext - mit den Bewohnern des historischen Mara- then-Reichs (s. Kap. »Historischer Exkurs«).

33 »Mother tongue« (matr bhasa) ist ein Begriff, der besonders in Maharashtra sehr vielschichtige Bedeu­tungsebenen aufweist. Bénéï bemerkt dazu: »The notion of >mother tongue< is closely articulated with no­tions of motherly love and sense of belonging to a common ethnos and territory ... .« (Bénéï 2006: 160). Die Bedeutung von Sprache in Maharashtra und insbesondere die Bedeutung der Sprache Marathi als Muttersprache wird in späteren Kapiteln (Kap. 7.2 und 7.3) dieser Arbeit explizit erörtert.

34 »telling something that you want to say« (K., 23.03.2008).

35 Im Zentrum seines geplanten Films steht der Protagonist Sunil, ein Stadtmensch, der in ein kleines Dorf kommt, in dem ein Mythos um einen König kursiert, der vor vielen hundert Jahren gestorben ist. Dieser König ist in einer spirituellen Form präsent und übt die Herrschaft über die Menschen des Dorfes aus und schützt die Bewohner. Sunil, dem es schwer fällt diesen Mythos zu glauben, beginnt diesem Mysterium auf den Grund zu gehen und erkennt, dass er bei sich anfangen muss zu forschen und zu hinterfragen. »He needs to know, he needs to think about his ethical values, he needs to think about loyalty, about truth, about sacrifice. A lot of Indian virtues, which have been, let's say, past on from Gandhiji and all these people that your loyalty, your truth, your sacrifice holds a lot for your personal root.« (A., 23.03.2008) A. fasst den filmischen Inhalt zusammen: »The film is about our belief system.« (A., 23.03.2008)

Ende der Leseprobe aus 197 Seiten

Details

Titel
Leinwandreflexionen. Kulturelle Identitätsstiftung durch das Marathi-Kino
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Ethnologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
197
Katalognummer
V282798
ISBN (eBook)
9783656826873
ISBN (Buch)
9783656835264
Dateigröße
26265 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Indisches Kino, Maharashtra, Marathi, Bollywood, Kulturelle Identität, Pune, Mumbai
Arbeit zitieren
M.A. Anna Marie Schefer (Autor:in), 2009, Leinwandreflexionen. Kulturelle Identitätsstiftung durch das Marathi-Kino, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/282798

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