Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Angaben zur Unterrichtseinheit „Ich packe meinen Koffer“
1.1 Begründung und Einbettung der Einheit
1.2 Aufbau der Einheit
1.3 Ziele der Einheit
1.4 Bezug zum Rahmenlehrplan
2. Analyse der Voraussetzungen
2.1 Sachdarstellung
2.2 Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler
3. Darlegung der didaktisch-methodischen Überlegungen
3.1 Didaktische Relevanz des Stundeninhalts
3.2 Didaktische Überlegungen
3.3 Ziel der Unterrichtsstunde
3.4 Differenzierungen
3.5 Methodische Überlegungen
3.6 Verlaufsplanung
4. Literatur
5. Anhang
1. Angaben zur Unterrichtseinheit „Ich packe meinen Koffer“
1.1 Begründung und Einbettung der Einheit
Die Unterrichtseinheit „Ich packe meinen Koffer“ steht in thematischer Verbindung zu dem Schwerpunktthema „Unsere Klassenfahrt“. Die Klassenfahrt findet in der Zeit vom 27.06. bis zum 30.06.2008 statt. Je näher dieses Datum rückt, desto mehr ist den Schülerinnen und Schülern die Vorfreude und Aufregung deutlich anzumerken. Für fast alle Kinder der Klasse ist so ein Ereignis, das sich aus der Regelmäßigkeit des Schulalltages heraushebt, aber auch mit Anspannung und Unsicherheit, vielleicht sogar Beunruhigung verbunden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit und das Potenzial, das Thema „Klassenfahrt“ hinreichend im Rahmen des Unterrichts zu behandeln. Jeweils ein bis zwei Unterrichtssequenzen pro Woche sind für die Themenarbeit vorgesehen und als solche im Stundenplan ausgewiesen. Das Thema „Klassenfahrt“ wird in dieser Zeit lernbereichsverbindend bearbeitet. Des weiteren bildet das Thema in den Monaten Mai und Juni den Rahmen für den Lerninhalt „Zubereitung einfacher Speisen und Getränke“ sowie die Trainingsbereiche.
Für den Bereich „Lesen und Schreiben“ liefert der Aspekt „Ich packe meinen Koffer“ den Ausgangs- und Knotenpunkt. Dieses Rahmenthema bietet sich in motivationaler Hinsicht an, hält aber auch fachlichen Überlegungen stand. Die Lerngruppe stellt sich als sehr heterogen dar. Auf die Lesefähigkeit bezogen zeigen die Schülerinnen und Schüler so unterschiedliche Fähig- und Fertigkeiten, dass alle Lesekompetenzstufen vom Situationslesen bis zum Lesen schriftlicher Texte im Unterricht von Belang sind. Das Thema „Ich packe meinen Koffer“ bietet einerseits ausreichendes und für die Schülerinnen und Schüler sinnvolles Bild- und Wortmaterial, um ein fachdidaktisch abgesichertes, differenziertes Üben auf den verschiedenen Lesekompetenzstufen zu ermöglichen. Andererseits entspricht die Referenz auf ein für alle Kinder der Klasse bedeutsames, gemeinschaftliches Ereignis dem Anspruch des Lernens am gemeinsamen Gegenstand. In den vorherigen Einheiten im Lernbereich „Lesen und Schreiben“ wurde die Bündelung der verschiedenen Differenzierungsstufen über das Vorlesen und gemeinsame Erarbeiten von Kinderbüchern erreicht. Das individuelle Üben fand in offenen Lernarrangements statt. Bezüglich der methodischen Umsetzung gliedert sich die hier dargelegte Einheit an die vorangegangenen an.
1.2 Aufbau der Einheit
Die Einheit ist für sieben Unterrichtsstunden und unter Berücksichtigung folgender drei Niveaustufen geplant: Gruppe gelb: Situationslesen, Bilderlesen, Bildzeichenlesen,
Gruppe rot: Analyse und Synthese auf Wortebene,
lila: Lesen von Wörtern und Sätzen, Erlesen kleiner Texte.
Innerhalb der Einheit wird ein allmählicher Übergang vom frontalen zum freien Arbeiten vollzogen. Das heißt, in gebundenen Unterrichtsphasen werden zunächst Materialien eingeführt, mit denen die Schülerinnen und Schüler zunehmend selbständig auf verschiedenen Lesekompetenzstufen üben können. Die folgende Übersicht zeigt den Aufbau der Einheit sowie die jeweiligen zielorientierten Schwerpunktsetzungen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten.
1.3 Ziele der Einheit
Innerhalb der Einheit „Ich packe meinen Koffer“ setzen sich die Schülerinnen und Schüler ganzheitlich mit Begriffen zum Thema Kofferpacken über Realgegenstände, Modelle sowie entsprechendes Wort- und Bildmaterial auseinander.[1] Sie erweitern ihre Sach-, ihre Methoden- sowie ihre personale Kompetenz. Dabei ist davon auszugehen, dass die Schüler die Kompetenzen auf einem unterschiedlichen Niveau der Selbständigkeit erreichen.
Erweiterung der Sachkompetenz
Die Erweiterung der Sachkompetenz bezieht sich auf das Wort- und Bildmaterial der Einheit.
Justin, Mirco und Paul festigen und erweitern ihre sprachliche Kompetenz sowie ihre Lesekompetenz auf der Stufe des Bilder- und des Bildzeichenlesens. Sie können:
- die Begriffe verstehen und nach Aufforderung entsprechende Gegenstände und Abbildungen zeigen,
- die Begriffe durch eine Gebärde (Paul) bzw. ein Piktogramm (Justin) benennen,
- Realgegenstände bzw. Modelle und verschieden abstrakte Einzelabbildungen (Farbfotos, farbige Bilder unterschiedlichen Stils, Piktogramme) erkennen und zueinander in Beziehung setzen.
Bianca, Eric, Jaqueline sowie Luisa festigen und erweitern ihre sprachliche Kompetenz sowie ihre Lesekompetenz auf der Stufe der Analyse und Synthese. Ihnen gelingt es:
- die gesprochenen Wörter in Silben zu segmentieren,
- Reime zu erkennen und Reimpaare zu finden,
- die Phoneme /a/, /e/, /i/, /o/, /u/, /m/, /p/, /f/, /l/, /r/, /k/ isoliert weitgehend deutlich zu artikulieren,
- die Phoneme /a/, /e/, /i/, /o/, /u/, /m/, /p/, /f/, /l/, /r/, /k/ zu diskriminieren,
- die Phoneme /a/, /e/, /i/, /o/, /u/, /m/, /p/, /f/, /l/, /r/, /k/ im Anlaut zu identifizieren sowie Wörter mit diesen Phonemen im Anlaut zu bilden,
- den Anlaut von Wörtern zu analysieren,
- die Grapheme <a>, <e>, <i>, <o>, <u>, <m>, <p>, <f>, <l>, <r>, <k> zu unterscheiden,
- eine Verbindung zwischen den bisher erarbeiteten Phonemen, den jeweiligen Graphemen sowie den entsprechenden Lautgebärden herzustellen,
- zwei Laute in der Zusammensetzung Konsonant (<m>, <p>, <f>, <l>, <r> oder <k>) und langer Vokal (CV-Silbe) zusammenzuschleifen und zu einem Wort zu vervollständigen,
- Wörter aus Silben und Buchstaben sinnvoll zusammenzusetzen (Luisa).
Erweiterung der Methodenkompetenz
Die Schülerinnen und Schülern können ihrem Grad der Selbständigkeit entsprechend:
- sich im Raum und an der Lerntheke orientieren,
- eine Übung aus einem Angebot auswählen,
- einen geeigneten Arbeitsplatz wählen,
- eine Aufgabe vollständig und sachangemessen bearbeiten,
- Arbeitsmittel und Materialien sachgerecht benutzen,
- aufräumen,
- schriftliche Handlungsaufträge zum Textverständnis umsetzen (Luisa).
Erweiterung der personalen Kompetenz
Den Schülerinnen und Schülern gelingt es:
- Handlungsbereitschaft aufzubauen und zu signalisieren,
- an frontalen Phasen teilzunehmen,
- den individuellen Fähig- und Fertigkeiten entsprechend, selbständig zu arbeiten,
- sich auf die eigene Aufgabe zu konzentrieren.
1.4 Bezug zum Rahmenlehrplan
Schwerpunktmäßig ist die Einheit auf die Festigung und Erweiterung der Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet. Der Rahmenplan für Unterricht und Erziehung in der Berliner Schule, Schule für Geistigbehinderte (2. unv. Aufl. 1990)[2] weist unter Trainingsbereiche (III.) neben anderen den Lerninhaltsbereich „Lesen und Schreiben“ (5.) aus. Dort finden sich die Lerninhalte „Bilderlesen“ (5.2) und „Bildzeichen lesen“ (5.3), wobei für die Unterstufe vor allem die Unterrichtung im Bilderlesen mit folgenden Zielvorgaben betont wird:
Maximalziel:
Abbildungen von Gegenständen und Personen erkennen und benennen.
Minimalziel:
Abbildungen ansehen.
Der Lerninhalt „Bildzeichen lesen“ ist im Rahmenplan zunächst auf ausgewählte Symbole und Signale beschränkt. Letztendlich stehen diese aber exemplarisch für den Erwerb der Fähigkeit, sprachunabhängige Handlungssymbole, die eine allgemeinverständliche, genormte Bedeutung haben, zu erkennen und zu verstehen. Alternative Kommunikationssysteme, die auf Piktogrammen oder Gebärden basieren, werden im Rahmenplan an dieser Stelle nicht explizit benannt. Da sie aber inhaltlich und intentional dieser Stufe zuzuordnen sind, erachte ich es als schlüssig, diese teilweise – so auch in der Einheit „Ich packe meinen Koffer“ - im Sinne des Bildzeichenlesens zu unterrichten. Als Ziel steht diesbezüglich das im Rahmenplan formulierte:
Bildzeichen und Signale erkennen, verstehen und entsprechend handeln.
Eng verbunden mit den genannten Lerninhalten im „Lesen und Schreiben“ ist der Lerninhalt „Begriffsbildung“ (1.2), der im Rahmenplan dem Trainingsbereich „Spracherziehung“ (1.) untergeordnet ist. Folgende Ziele sind dort benannt:
Maximalziel:
Gebräuchliche Gegenstände des Alltags benennen können.
Minimalziel:
Gebräuchliche Gegenstände des Alltags nach Aufforderung zeigen.
Bezüglich der weiterführenden Inhalte im „Lesen und Schreiben“ ist im Rahmenplan in der Spalte Lernziele folgendes vermerkt:
In der Schule für Geistigbehinderte[3] soll kein Unterricht im Lesen und Schreiben im üblichen Sinne erteilt werden. Schüler, von denen angenommen werden kann, daß sie Lesen und Schreiben erlernen können und die den Anforderungen der Schule für Lernbehinderte insgesamt entsprechen können, sind bis zum Beginn ihres 5. Schulbesuchsjahres der Schule für Lernbehinderte zu überweisen.[4]
Im Weiteren wird davon ausgegangen, dass es ab der Mittelstufe durchaus Schüler geben kann, die „die Anfänge des einfachen Textlesens“[5], also des analytisch-synthetischen Lesens, erlernen können. Die Voraussetzungen dafür sind laut Rahmenplan dann gegeben,
wenn ein Schüler beim Ganzwortlesen Wortbilder speichern kann, Wortbilder als gleich erkennt, Wortbilder unterscheidet, die sehr ähnlich sind, in unterschiedlichen Wortbildern gleiche Buchstaben erkennt, beim gesprochenen Wort einzelne Laute akustisch diskriminiert und benennt und schließlich die Bedeutung einfacher Wörter versteht.[6]
Auf diesen Passus des Rahmenplans referiert ein Teil der Unterrichtseinheit „Ich packe meinen Koffer“, da mehrere Schülerinnen und Schüler der Lerngruppe die genannten Fähigkeiten zum Teil oder schon ganz erfüllen. Hier scheint sich eine Diskrepanz zu den im Rahmenplan beschriebenen Erwartungen an Schüler mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ aufzuzeigen, auf die ich aber an dieser Stelle nicht weiter eingehen werde. Diesbezüglich möchte ich lediglich auf folgende bildungspolitischen Veränderungen der vergangenen Jahre verweisen, denen der Rahmenplan aufgrund seines Alters noch keine Rechnung trägt, die aber meines Erachtens durchaus im Zusammenhang mit der Schülerschaft der Lerngruppe zu sehen sind:
- Senkung des Einschulungsalters ab dem Schuljahr 2005/06,
- keine Rückstellung mehr, da Schulreife nicht als Kriterium für die Einschulung gilt,
- keine Feststellung von Förderbedarf im Bereich „Lernen“ vor der Einschulung und veränderte Struktur der Schulen mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt „Lernen“.
Des Weiteren hat die Relevanz von Kulturtechniken, wie Lesen und Schreiben, an der Schule mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ in den letzten Jahren stark zugenommen.[7] Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund der Bestrebungen um Normalisierung und Gleichstellung von Bildungschancen zu sehen. In diesem Sinne verweisen die „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“ (1998) auf ein Ausgehen von den Bildungszielen der allgemeinbildenden Schule. Daher stütze ich mich nachstehend neben dem Rahmenplan auch auf die Vorgaben für die Grundschule.
Der für Berlin gültige Rahmenlehrplan für Bildung und Erziehung in der Grundschule im Fach Deutsch[8] weist dem Schriftspracherwerb, dem ein Teil dieser Unterrichtseinheit zuzuordnen ist, eine grundlegende Bedeutung als Schlüsselkompetenz zu. Der Schriftspracherwerb ist laut Rahmenlehrplan Bestandteil aller Aufgabenbereiche des Deutschunterrichts. Die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 1 und 2 sollen über sinnliche und motorische Zugänge und den handelnden Umgang Vorstellungen über Aufbau und Struktur der Schriftsprache entwickeln und Sicherheit im Lesen und Schreiben gewinnen.[9] Es wird betont, dass die Analyse und Synthese an Wörtern eingeführt wird, die für die Schülerinnen und Schüler bedeutsam sind. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Laut-Buchstaben-Zuordnung sowie dem Gliedern von Wörtern in Einzellaute, Silben und andere Wortbausteine. In diesem Zusammenhang spielen die für den Schriftspracherwerb notwendigen basalen Kompetenzen, wie die Schulung der visuellen, der auditiven sowie dcr kinästhetischen Wahrnehmung, eine tragende Rolle. Diese werden im Rahmenplan im Trainingsbereich „Ausbildung motorischer Fertigkeiten“ (7.) unter „Wahrnehmungsübungen“ (7.1) berücksichtigt.
In der Einheit „Ich packe meinen Koffer“ sind neben den genannten auch die Lerninhalte „Spracherziehung“ (III.1) sowie „Situationslesen“ (III.5.1) im Sinne von Unterrichts-prinzipien relevant.
2. Analyse der Voraussetzungen
2.1 Sachdarstellung
Im Folgenden stelle ich die für die Unterrichtseinheit relevanten Inhalte sachstrukturell dar.
Begriffsbildung
Der Aufbau des Wortschatzes ist ein essenzieller Bestandteil des kindlichen Spracherwerbs. Da dieser Prozess wesentlich mehr umfasst, als eine Liste von Wörtern abzuspeichern, spricht man in diesem Zusammenhang vom Aufbau eines Lexikons. Wenn ein Kind ein neues Wort lernt, muss es vielschichtige Informationen über dieses Wort aufnehmen, diese Informationen miteinander verknüpfen und Assoziationen zu schon bestehenden Lexikoneinträgen aufbauen. Der Erwerb lexikalischer Einträge führt so zu einer immer komplexeren Strukturierung und Vernetzung des Lexikons. Zunächst kann man passiv über dieses Lexikon verfügen, aber es noch nicht aktiv benutzen. Das heißt, der rezeptive Wortschatz ist dem produktiven deutlich voraus. Mit dem Erwerb der ersten 30-50 aktiven Wörter eignet sich das Kind zudem generelle Annahmen über Wörter an. Damit wird die Basis dafür gelegt, Sprache als abstraktes Medium zu erfassen und zu verwenden. Dieser entscheidende Entwicklungsschritt wird meist als sogenannter Wortschatzspurt erkennbar. Das Kind kann dann Worte als relativ konstante Einheiten erkennen und produzieren und gezielt als Kommunikationsmittel verwenden. Zudem rückt die Symbolfunktion durch Herauslösen von Teilrepräsentationen aus ersten ganzheitlichen Wortkonzepten als generelle Eigenschaft von Wörtern in den Vordergrund. Mit Erwerb dieser Funktion beginnt der eigentliche Bedeutungserwerb, der auf komplexen Interaktionen zwischen dem kognitiven und dem linguistischen System basiert. Neue Wörter, besser Begriffe, werden nun über eine allmähliche Annäherung an die zielsprachliche Bedeutung erworben. Im Zuge einer fast-mapping-Strategie übernimmt das Kind zunächst markante Wortformmerkmale und grobe Hypothesen über die Wortbedeutung. Diese erste Abspeicherung ist durch Unter- und Übergeneralisierungen gekennzeichnet. Die typische frühe Abweichung in den ersten Verwendungen eines Wortes ist die Untergeneralisierung. Da diese aber in der Verwendung nicht falsch sind, fallen Untergeneralisierungen weniger auf. Übergeneralisierungen fallen dagegen deutlicher auf, da sie zu Fehlern führen. Sie treten jedoch wesentlich seltener auf und kommen später in der Erwerbsgeschichte eines Lexems vor.
Sowohl in unserem erwachsenensprachlichen Wortschatz als auch im frühkindlichen Spracherwerb nehmen Nomina eine herausragende Position ein. Für die Zeit des Wortschatzspurtes wird eine Dominanz von Nomina angenommen, die man exakter mit Blick auf deren referentielle Funktion als Dominanz der Wortklasse Objektwörter fassen müsste.
Erweiterter Lesebegriff
Dem Unterricht im Lesen und Schreiben für Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung liegt eine erweiterte Definition zugrunde. Lesen im erweiterten Sinn ist „wahrnehmen, deuten und verstehen von konkreten, bildhaften, symbolhaften und abstrakten Zeichen und Signalen“[10] und beinhaltet laut Rahmenplan für Unterricht und Erziehung in der Berliner Schule, Schule für Geistigbehinderte das Lesen von Situationen, Personen und Gegenständen; Bildern; Bildzeichen und Signalen; Signalwörtern und Ganzwörtern. Der Aufbau von Leselernprozessen kann demnach in Anlehnung an HUBLOW in folgende Stufen gegliedert werden:
- „Situationslesen“ als das Erkennen und Deuten konkreter realer oder modellhafter Situationen,
- „Bilderlesen“ als das Erkennen und Deuten von Abbildungen oder Bildfolgen, wobei die Art der Darstellung, zum Beispiel Foto, naturnahes Bild, Umrisszeichnung u.a. verschiedene Abstraktionsstufen betrifft,
- „Symbollesen“ als das Erkennen und Deuten gegenständlicher oder abstrakter Zeichen und schematisierter Bildfolgen,
- „Signalwortlesen“ als das Erkennen und Deuten von Informationen auf Verpackungen, Warn- und Hinweisschildern,
- „Ganzwortlesen“ als das Erkennen und Deuten von Wörtern auf Basis der Gesamtgestalt,
- „Analyse“ als das optische und akustische Erkennen und Deuten von Buchstaben und Lauten,
- „Synthese“ als das Zusammensetzen und Zusammenziehen von Buchstaben zu Wörtern,
- „Erlesen“ als das Entschlüsseln unbekannter schriftsprachlicher Wörter und Texte.
Die diesem Modell zugrunde liegende Annahme des Schriftspracherwerbs als entwicklungspsychologischer Prozess, der bereits im Stadium der sensomotorischen Intelligenz beginnt, findet sich in unterschiedlicher Gewichtung in allen neueren Konzepten zum Erwerb von Schriftsprachkompetenz. Die einzelnen Stufen repräsentieren dabei qualitativ unterschiedliche vorherrschende Lese- und Schreibstrategien, die immer mehr ausdifferenziert werden, wobei bereits erworbene Strategien aber erhalten bleiben. Mit Hilfe eines solchen Stufenmodells können somit Aussagen über den Stand der Entwicklung eines Kindes im Schriftspracherwerb getroffen werden. Es kann des Weiteren ein Bezug zur allgemeinen Entwicklung hergestellt werden, da enge Korrelationen zwischen den Entwicklungsbereichen Denken, Motorik sowie Wahrnehmung und dem Schriftspracherwerb bestehen. Das betrifft die jeweils aktuelle Denkebene in Verbindung mit dem vorherrschenden Anschauungsmodus aber auch basale sensorische und motorische Fähig- und Fertigkeiten. Nach dem erweiterten Verständnis sind diese bereits Gegenstand der jeweiligen Lehrgänge zum Schriftspracherwerb.
Kommunikation/ Unterstützte Kommunikation
Lesen steht in enger Verbindung zu Kommunikation, besonders wenn man diese als Auseinandersetzung mit der Umwelt versteht. Lesen steht dann für das Verstehen von Informationen aus der dinglich-gegenständlichen Wirklichkeit, aus der bildlich-dargestellten Wirklichkeit und aus der in Schriftzeichen gefassten Wirklichkeit.
Kommunikation lässt sich hinsichtlich der Mittel in lautsprachliche und nicht-lautsprachliche einteilen. Die lautsprachliche Kommunikation bezieht sich auf das verbale Sprachsystem und seine nichtverbalen Begleitphänomene. Nicht-lautsprachliche Kommunikation lässt sich einerseits durch Zeichen, die auf Lautsprache basieren, vermitteln. Dazu zählen zum Beispiel die Schriftsysteme vieler Sprachen, das Braille-System oder das Handzeichenalphabet. Andererseits kann nicht-lautsprachliche Kommunikation durch Zeichen, wie zum Beispiel Gebärden, realisiert werden, denen nicht die Lautsprache zugrunde liegt. Sowohl die lautsprachliche als auch die nicht-lautsprachliche Kommunikation werden durch Elemente wie Mimik, Gestik und Proxemik sowie physiologische Symptome, zum Beispiel Muskelspannung, Pulsschlag, Atemfrequenz und Körpertemperatur begleitet. Da ein bedeutender Teil der menschlichen Kommunikation durch die gesprochene Sprache vermittelt wird, wird diese oft als einziges relevantes Mittel kommunikativer Prozesse gesehen. Die gesprochene Sprache stellt jedoch, wie gezeigt, nur eine von vielen Möglichkeiten dar, miteinander zu kommunizieren.
Unterstützte Kommunikation bezeichnet den sonderpädagogischen bzw. sprach-therapeutischen Ansatz, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Kommunikationsmöglichkeiten nichtsprechender Menschen durch die Bereitstellung von Ergänzungen bzw. Alternativen zur Lautsprache zu verbessern.[11]
Sie richtet sich an Menschen „die aufgrund angeborener oder erworbener Behinderungen gar nicht oder kaum sprechen können“ und „die entsprechend ihrem Entwicklungsstand zwar Sprachverständnis besitzen, die sich jedoch mit den ihnen zur Verfügung stehenden Kommunikationsmöglichkeiten nicht zufriedenstellend ausdrücken können.“[12] Unterstützte Kommunikation (UK) bzw. Augmentative und Alternative Communication (AAC) umfasst das gesamte Spektrum aller Kommunikationsformen und -medien außerhalb der gesprochenen Sprache. Augmentative bezieht sich dabei auf alle Kommunikationsformen, die ergänzend, fördernd oder begleitend zum Sprechen eingesetzt werden. Alternative meint Formen der Kommunikation, die als Ersatz für das Sprechen dienen. Dabei kann es sich jeweils um ständige, vorübergehende oder unterstützende Hilfen handeln.
Das Konzept der Unterstützten Kommunikation betont die Beachtung und Akzeptanz aller vorhandenen Kommunikationsformen. Diese reichen von einfachen Gesten oder Gebärdensprache über das Zeigen auf Bilder und Symbole bis hin zu technischen Kommunikationshilfen mit künstlicher Sprachausgabe. AAC findet Anwendung über körpereigene sowie externe Kommunikationsmodi. Zu den körpereigenen zählen zum Beispiel körperliche, wie Blickbewegungen, Mimik, Gestik und Körperhaltung, manuelle, wie Gebärden und vokale, wie Laute. Bei den externen Hilfsmitteln unterscheidet man zwischen nicht-elektronischen und elektronischen. Die nicht-elektronischen Kommunikationshilfen umfassen Objekte, Bilder, Symbole sowie die Schriftsprache. Zu den elektronischen Kommunikationshilfen zählen technische Geräte mit und ohne Sprachausgabe.
[...]
[1] Anm.: Eine Liste der verwendeten Begriffe befindet sich im Anhang.
[2] Im folgenden: Rahmenplan.
[3] Anm.: Seit 2000 wird die Bezeichnung Schule mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt geistige Entwicklung verwendet.
[4] Rahmenplan, S. 131.
[5] Ebd.
[6] Ebd., S. 132.
[7] Vgl. dazu u.a. Empfehlungen zum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, S. 5.
[8] Im folgenden: Rahmenlehrplan.
[9] Vgl. ebd., S. 25.
[10] Hublow, zit. nach Günthner, 2000, S. 14-15.
[11] Braun, 1996, S. 25.
[12] Kristen, 1994, S. 15.