Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Begriff „Diskurs“
3. Theoretische Voraussetzungen für eine akteurzentrierte Diskursanalyse
3.1. Ferdinand de Saussure und die soziale Bedingtheit von Kommunikation
3.2. Michel Foucault und die Entstehung von „Wissen“
3.3. Pierre Bourdieu und die Bedeutung der Akteure
4. Die akteurzentrierte Diskursanalyse im Anschluss an Bourdieu
4.1. Verhältnis des kulturellen zum sozialen Feld
4.2. Das kulturelle Feld und seine Akteure
5. Fazit und Praxisausblick
6. Literaturverzeichnis und weiterführende Literatur
6.1. Monographien, Herausgeber- und Nachschlagewerke
6.2. Ausstellungskataloge
6.3. Artikel
6.4. Internetquellen
1. Einleitung
In den letzten Jahren sind einige junge Maler wie Neo Rauch, Matthias Weischer, Christoph Ruckhäberle und Tim Eitel sehr erfolgreich geworden. Gleichzeitig zu den sich häufenden Berichten über spektakuläre Preise, die ihre Gemälde in Auktionen erzielten, sowie Teilnahmen an wichtigen Ausstellungen in den größten Museen und Galerien weltweit, wurden die Künstler in den Medien anhand unterschiedlicher Kriterien zu einer Gruppe mit dem Namen „Neue Leipziger Schule“ zusammengefasst. In anderen Veröffentlichungen hingegen wurde diskutiert, ob dieser gruppenkonstituierende Begriff seine Rechtmäßigkeit habe.
Die Bezeichnung Neue Leipziger Schule[1] verweist auf einen anderen Begriff, nämlich den der „Leipziger Schule“, welche wiederum eine Malergeneration in Leipzig umfasst, die in den 1960er bis 1980er Jahren als Gruppe Bekanntheit erlangte. Allerdings war und ist dieser Begriff bis heute sehr umstritten.[2]
Wissen, wie z.B. das über eine NLS, ist ein soziales Produkt, da Wissen niemals unabhängig von Zeit, Raum und Gesellschaft existiert. Sprache wird zu einem Schlüsselphänomen im Zusammenhang von Gesellschaft und Wissen, sowie Struktur und Subjekt, denn sie ‚verwirklicht’ die Welt im doppelten Sinn. Sie macht objektive Strukturen begreifbar und erzeugt sie gleichzeitig.
Für die theoretische Herleitung der Entstehung des Zusammenhangs von Wissen und Wirklichkeit werden drei theoretische Positionen heran gezogen.
Zunächst wird auf die Theorie Ferdinand de Saussures (1857-1913) eingegangen, um die soziale Bedingtheit von Kommunikation aufzuzeigen. Daran anschließend wird mit Hilfe spezifischer Arbeiten Michel Foucaults (1926-1984) auf die Bedeutung der Diskurse als Erscheinungs- und Zirkulationsformen des Wissens hingewiesen. Anhand der kultursoziologischen Erkenntnisse von Pierre Bourdieu (1930-2002) wird schließlich die Bedeutung der Akteure und ihrer Macht in der Produktion von Diskursen, Kategorien und Wirklichkeit dargestellt.
Begriffe oder Kategorien wie z.B. Familie oder Geschlecht scheinen natürlich und selbstverständlich, sind aber eigentlich kollektive Vereinbarungen, die lediglich nicht mehr hinterfragt werden. Damit etwas Wirklichkeit wird, bedarf es der Akteure mit ihren jeweiligen Interessen, die über die Macht oder Legitimität zu sprechen verfügen, denn es ist nur einigen wenigen möglich Wissen zu etablieren. Diese Akteure lassen Dinge entstehen in dem sie über sie sprechen, sie abgrenzen und benennen.
Die Einteilung der Akteure in der vorliegenden Studie zur NLS orientiert sich an der Konzeptualisierung von Heine von Alemann, der einen zentralen, inneren Vermittlungsbereich bestehend aus Künstler, Galeristen und Sammlern, sowie drei weitere Bereiche charakterisiert. Diese setzen sich aus den professionellen Kunstexperten (Kunstkritiker, Kunsthistoriker, Ausstellungsmacher, Kunstvereinspersonal), den Institutionen (Kulturpolitik, Kunstvereine, Museen, Stiftungen/Förderer) und dem allgemeinem Publikum, d.h. der breiten Öffentlichkeit (Sponsoren/Mäzene, Geldanleger, Kunstinteressierte, Schaulustige) zusammen. Der Fokus dieser Diskursanalyse zur NLS liegt auf dem inneren Vermittlungsbereich und den professionellen Kunstexperten, da ihnen als Multiplikatoren ein besonderes Gewicht in der Kunstvermittlung zukommt.
Ziel der folgenden Untersuchung ist es, die jeweiligen Akteure der verschiedenen Bereiche ausfindig zu machen, welche sich an der Entstehung, Formung und Verwirklichung der Konstruktion der NLS beteiligt haben, bzw. diesem Prozess entgegenstanden. Deshalb werden hier deren Positionen in Bezug auf die Konstruktion einer NLS anhand von Veröffentlichungen im Zeitraum von 1997 bis 2006 herausgearbeitet.
2. Der Begriff „Diskurs“
Auf die Verwendung des Diskursbegriffes in seiner Historizität soll lediglich in Hinblick auf seine Relevanz für diese Untersuchung eingegangen werden.
Die sprachliche Wurzel des Diskursbegriffs liegt nach Achim Landwehr (vgl. 2004: 67ff) im lateinischen Wort „discursus“, dessen ursprünglicher Bedeutung nicht mehr eindeutig zu klären ist. Ausgehend von dieser lateinischen Wurzel entwickelten sich verschiedene Begriffsverwendungen, denen jedoch die Akzentuierung der sozialen Dimension von Sprache gemein ist.
Von der Entfaltung des Diskurskonzepts im französischen Strukturalismus sowie seiner Weiterentwicklung im Poststrukturalismus, gingen laut Reiner Keller (vgl. 2005: 95ff) wichtige Impulse für die Diskursforschung in der nachfolgenden Zeit außerhalb der Linguistik aus. Insbesondere Michel Foucault entwickelte ein Diskurskonzept, welches sich unter gesellschaftstheoretischen, philosophischen und geschichtswissenschaftlichen Gesichtspunkten mit Diskursen als Erscheinungs- und Zirkulationsformen des Wissens beschäftigt.
Heute wird unter „Diskurs“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften in der theoretischen Konzeptionalisierung sowie in der methodischen Umsetzung der jeweiligen Forschungsprojekte sehr unterschiedlich verstanden.
3. Theoretische Voraussetzungen für eine akteurzentrierte Diskursanalyse
3.1. Ferdinand de Saussure und die soziale Bedingtheit von Kommunikation
Die Theorien von Ferdinand de Saussures Sprachwissenschaft weisen darauf hin, dass die Verknüpfungen von Vorstellungen eines Gegenstandes mit ihrem Zeichen/Begriff nicht natürlich sind, sondern gesellschaftliche Vereinbarungen darstellen. Kommunikation bedarf der Konventionen hinsichtlich der Bedeutungen, wobei Sprache und Sprechen sich wechselseitig bedingen.
De Saussure erläutert, dass die Sprache, „langue“ (de Saussure 2001: 17) ein System von Zeichen ist, das sich historisch aus den konkreten Sprachhandlungen, „parole“ (ebd.), der Individuen einer Gesellschaft entwickelt hat und in dem die einzelnen Zeichen ihre Bedeutung durch die Stellung im Zeichensystem erhalten.
Das Band welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft ist, ist beliebig. […] das sprachliche Zeichen ist beliebig. (de Saussure 2001: 79)
Vielmehr beruht für ihn jedes in einer Gesellschaft verwendete Ausdrucksmittel auf einer Kollektivgewohnheit oder auf den Konventionen. Denn die Bezeichnungen sind hinsichtlich der Vorstellungen, die sie vertreten frei gewählt, nicht allerdings hinsichtlich der Sprachgemeinschaft. In diesen Gemeinschaften sind die Beziehungen, in den sie gebraucht werden, festgelegt.
Was aber ist die Sprache? Für uns fließt sie keineswegs mit der menschlichen Rede zusammen; sie ist nur ein bestimmter, allerdings wesentlicher Teil davon. Sie ist zu gleicher Zeit ein soziales Produkt der Fähigkeit zu menschlicher Rede und ein Ineinandergreifen notwendiger Konventionen, welche die soziale Körperschaft getroffen hat, um die Ausübung dieser Fähigkeit durch die Individuen zu ermöglichen. (de Saussure 2001: 11)
3.2. Michel Foucault und die Entstehung von „Wissen“
So wie in dem Konzept von de Saussure die Sprache dem Sprechakt zugrunde liegt und diesen erst ermöglicht, so legt Foucault laut Keller (vgl. Keller 2005: 101f) die Struktur des Erkennens den konkreten Erkenntnistätigkeiten und ihrer sprachlichen Fixierung in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zugrunde. Foucault dient im Anschluss an de Saussure die Sprache als Mittel zur Analyse von diskursiven Praktiken, welche den Schlüssel eines empirischen geschichtswissenschaftlichen Zugangs zu den gesellschaftlichen Transformationen der Wissensordnungen und zu den Regeln der diskursiven Phänomene bilden.
Foucault wendet sich gegen eine Geschichtsschreibung, welche Ereignisse als chronologische Prozesse einer Weiterentwicklung aneinander knüpft. Diesen linearen Abfolgen, den großen ununterbrochenen Einheiten, stellt er als Untersuchungsgegenstand gerade die Brüche, die Diskontinuitäten Schwelle, Einschnitt, Wechsel, Transformation gegenüber. Er postuliert die großen Einheiten und natürlich scheinenden Kategorien z.B. Epochen, Jahrhunderte, etc. zu hinterfragen und auf ihre Rechtfertigung hin zu prüfen.
Hat man sich erst mal von den traditionellen Kategorien verabschiedet, eröffnet sich ein immens großes Gebiet, welches aber definiert werden kann durch die Menge aller getroffenen Aussagen[3] („énonces“), gesprochen oder geschrieben. Sprache ist ein System für mögliche Aussagen mit einer endlichen Menge an Regeln und einer unendlichen Zahl an möglichen sprachlichen Realisierungen. Foucault (vgl. 1974: 77) gibt keine eindeutige Definition des Diskursbegriffs, sondern umschreibt ihn vielmehr. Diskurse sind für Foucault keine rhetorischen oder formalen Einheiten, deren historisches Erscheinen man irgendwie erklären könnte, sie sind auch keine zeitlose, ideale Form einer Geschichte. Der Diskursbegriff fragt noch den Produktionsbedingungen bestimmter Aussagen zu bestimmten Zeitpunkten und an bestimmten Stellen. Er beschreibt die Organisation und die Produktion von Wissen sowie die Rahmenbedingungen des Wissens.
Im Folgenden wird mit Diskurs, die Menge aller Aussagen zu einem spezifischen Thema, bezeichnet werden. Somit werden alle direkt oder indirekt auf den Gegenstand der NLS bezogenen Aussagen zum Diskurs der NLS gezählt.
Achim Landwehr (vgl. 2004: 84f) erläutert, dass nach Foucault ein Diskurs Macht voraussetzt, aber auch Machtbeziehungen produziert. Folglich bedingen sich Diskurs und Macht gegenseitig. Die Diskurse definieren Wahrheit und üben Macht aus, denn man kann zwar die Wahrheit sagen, aber befindet sich nur im Wahren wenn man die Regeln des Diskurses befolgt. Jede Gesellschaft erkennt bestimmte Diskurse als wahre Diskurse an, wodurch es ihnen überhaupt erst möglich wird wahre von falschen Aussagen zu trennen.
Foucault (vgl. 1974: 11ff) geht davon aus, dass die Produktion der Diskurse von den Gesellschaften kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert werden, durch bestimmte Prozeduren, welche die Aufgabe haben die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen. Diese Prozeduren dienen der Ausschließung, der Einschränkung und der Aneignung.
Für Foucault (vgl. 1995: 172ff) stellt der Diskurs eine symbolische Ordnung dar, die aus einer Menge von Aussagen eines gemeinsamen Formationssystems besteht. Die Frage, die Foucault mit Hilfe der Diskursanalyse zu beantworten versucht, ist wie v. a. aber warum eine bestimmte Aussage zu einem bestimmten Zeitpunkt gemacht wird.
Entscheidend für die folgende Analyse ist also, dass Michel Foucault aufzeigt, dass die Vorstellungen von Gegenständen ebenso gesellschaftliche Vereinbarungen sind wie die für die ihre Bezeichnungen verwendeten Begriffe. Wissensinhalte, Wahrheit und Wirklichkeit entstehen in Diskursen. Wobei die Diskurse somit Macht vermitteln und gleichzeitig Macht voraussetzen. Wahrheit ist nach Bublitz (vgl. Bublitz et al. 1999: 11) an Machttechniken und -wirkungen gebunden, da Diskurse Praktiken sind, die allgemein verbindliche Wahrheiten produzieren und so soziale Wirklichkeit konstituieren.
Auf das Thema der Untersuchung gewendet bedeutet dies: Der Diskurs spricht nicht nur von der NLS, sondern bildet sie erst heraus. Die daraus resultierende Forschungsfrage lautet demnach: Wer benutzt wann, wie und warum den Begriff NLS?
3.3. Pierre Bourdieu und die Bedeutung der Akteure
Psaphon, ein junger lydischer Hirte, hatte Vögel dazu abgerichtet, ihm nachzusprechen: ’Psaphon ist ein Gott.’ Als Psaphons Mitbürger die Vögel so schwätzen hörten, feierten sie ihn als einen Gott. (Bourdieu 1974: 102)
Pierre Bourdieu macht deutlich, dass Sprache die Macht besitzt Existenz zu verleihen. Wenn Gegenständen und der NLS durch Benennung Existenz verliehen werden kann, stellt sich in Anlehnung an Bourdieu die Frage wer es ist, der sie hervorbringt, und wie er dies erreicht. Die Fokussierung auf die Akteure, die das Wissen und die Wirklichkeit erschaffen, ist von großer Bedeutung für die folgende Untersuchung.
[...]
[1] Wird im Folgenden mit NLS abgekürzt.
[2] Siehe hierzu v. a. den Aufsatz von Henry Schumann „Leitbild Leipzig“ in: „Kunstdokumentation SBZ/DDR. 1945-1990“ (1996). Schumann erläutert sehr deutlich die Argumente für und gegen die Konstituierung einer Leipziger Schule. Siehe auch: Gillen, Eckhart (1990): Bilderstreit im Sonnenstaat. In: Gillen, Eckhart; Haarmann, Rainer (Hg.): Kunst in der DDR. Künstler, Galerien, Museen, Kulturpolitik, Adressen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 18–27.
[3] Foucault nennt keine feste Definition von Aussagen, allerdings sind sie nach Foucault abzugrenzen von Äußerungen, bei denen es sich um einmalige Ereignisse handelt. Aussagen hingegen kennzeichnen sich dadurch, dass sie regelmäßig wieder auftauchen und dass sie in bestimmte Zusammenhänge, die soziale und institutionale Umgebung und die diskursiven Strategien eingebettet sind (vgl. Landwehr 2004: 75ff).