Im Zusammenhang mit der ab 01.01.2014 auch für rumänische und bulgarische ArbeitnerhmerInnen geltenden Personenfreizügigkeit in Deutschland ist eine neue Zuwanderungsdebatte zu beobachten. Grund dafür sind Erscheinungen, die nicht unmittelbar mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit, sondern allgemein mit Zuwanderung zu tun haben.
So hatte der Deutsche Städtetag Anfang 2013 mit einem Positionspapier zu Fragen der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien auf die damit verbundenen Mehrbelastungen der Kommunen hingewiesen. Dies gab den Anstoß dafür, dass sich auf Bundesebene ein Staatssekretärsausschuss mit „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedsstaaten“ befasste. Seit September diesen Jahres liegt der Abschlussbericht vor.
Parallel zur politischen Debatte war und ist auch die Justiz mit Fragen zur Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses von Unionsbürgern mit dem Unionsrecht befasst.
Im Verlauf Debatte, ob und unter welchen Voraussetzungen Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt sind, inwieweit sie durch das Gleichbehandlungsgebot Staatsangehörigen der jeweiligen Staaten gleichgestellt sind und inwiefern Ansprüche auf Sozialleistungen bestehen, kristallisiert sich die EU-Gesetzgebung als maßgeblicher Bezugspunkt heraus. Der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) kommt dabei eine zentrale Rolle in der Auslegung und Weiterentwicklung der europäischen Jurisdiktion zu. Schwierigkeiten und Unklarheiten in der Anwendung von Unionsrecht im nationalen Rahmen führen dabei regelmäßig zur Vorlage von Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH.
So wurde auch die Frage nach der Aussetzung des Gleichbehandlungsgebotes dem EuGH in zwei Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt. Die ungeklärte Rechtslage führt hierzulande nach Aussage eines Anwaltes zu einer Rechtssprechung gemäß Folgen-/ Interessenabwägung, ist also gewissermaßen willkürlich.
Anhand des Beispieles Unionsbürgerschaft / Freizügigkeit / Gleichbehandlungsgebot / Sozialleistungen soll deshalb im Folgenden die Rolle des EuGH dargestellt werden - nicht ohne Berücksichtigung der rechtlichen und politischen Brisanz der Thematik.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Rechtliche Grundlagen
2.1 Aufenthalt und Freizügigkeit
2.2 Sozialleistungen
3. Politische und rechtliche Debatte in Deutschland
4. Verfahren am EuGH
4.1 Rechtssache C-333/13
4.2 Rechtssache C-67/14
5. Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
Literatur
Sonstige Quellen
1. Einführung
Im Zusammenhang mit der ab 01.01.2014 auch für rumänische und bulgarische Arbeitner- hmerInnen geltenden Personenfreizügigkeit in Deutschland ist eine neue Zuwanderungsde- batte zu beobachten. Grund dafür sind Erscheinungen, die nicht unmittelbar mit der Arbeit- nehmerfreizügigkeit, sondern allgemein mit Zuwanderung zu tun haben. So hatte der Deut- sche Städtetag Anfang 2013 mit einem Positionspapier zu Fragen der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien auf die damit verbundenen Mehrbelastungen der Kommunen hin- gewiesen.1
Dies gab den Anstoß dafür, dass sich auf Bundesebene ein Staatssekretärsausschuss mit „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedsstaaten“ befasste. Seit September diesen Jahres liegt der Abschlussbericht vor.2
Parallel zur politischen Debatte war und ist auch die Justiz mit Fragen zur Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses von Unionsbürgern mit dem Unionsrecht befasst.
Im Verlauf Debatte, ob und unter welchen Voraussetzungen Unionsbürger freizügigkeitsbe- rechtigt sind, inwieweit sie durch das Gleichbehandlungsgebot Staatsangehörigen der je- weiligen Staaten gleichgestellt sind und inwiefern Ansprüche auf Sozialleistungen beste- hen, kristallisiert sich die EU-Gesetzgebung als maßgeblicher Bezugspunkt heraus. Der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) kommt dabei eine zentrale Rol- le in der Auslegung und Weiterentwicklung der europäischen Jurisdiktion zu. Schwierig- keiten und Unklarheiten in der Anwendung von Unionsrecht im nationalen Rahmen führen dabei regelmäßig zur Vorlage von Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH. So wurde auch die Frage nach der Aussetzung des Gleichbehandlungsgebotes dem EuGH in zwei Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt. Die ungeklärte Rechtslage führt hierzulande nach Aussage eines Anwaltes zu einer Rechtssprechung gemäß Folgen- / Interessenabwägung, ist also gewissermaßen willkürlich.3
Anhand des Beispieles Unionsbürgerschaft / Freizügigkeit / Gleichbehandlungsgebot / Sozialleistungen soll deshalb im Folgenden die Rolle des EuGH dargestellt werden - nicht ohne Berücksichtigung der rechtlichen und politischen Brisanz der Thematik.
2. Rechtliche Grundlagen
2.1 Aufenthalt und Freizügigkeit
Als ein Bürgerrecht wird in der Grundrechte-Charta der EU (2000) die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht von UnionsbürgerInnen behandelt. Artikel 45 (1) benennt das Recht aller UnionsbürgerInnen, „[...] sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu be- wegen und aufzuhalten“. Schon in der Präambel des Dokumentes heißt es, dass die Union den freien Personenverkehr neben anderen und die Niederlassungsfreiheit sicherstelle.4 Artikel 52 regelt sodann die Tragweite der garantierten Rechte und besagt in (1), dass Ein- schränkungen der zuerkannten Rechte gesetzlich vorgesehen sein müssen und ihren We- sensgehalt achten müssen. „[...] Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie notwendig sind [...]“, heißt es weiter. Dieser Artikel 52 ermöglicht somit grundsätzlich die Einschränkung der vormals zugesicherten Freiheiten. Um ein derartiges Unterfangen handelt es sich im zu untersu- chenden Fall.
Um das bis dahin gültige Freizügigkeitsrecht zu vereinfachen und in differenzierter Weise neu zu kodifizieren, wurde im Jahre 2004 eine Richtlinie „über das Recht der Unionsbürger […] sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“ seitens des Europäischen Parlaments und des Rates erlassen. Das Recht sollte damit vereinfacht und verstärkt werden.5 Hintergrund dürften auch Fragen bezüglich der Freizügigkeit sein, die im Zuge der EU-Osterweiterung 2004 aufgetaucht waren.
Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)6 von 2009 legt in Artikel 21 fest, dass jeder Unionsbürger das Recht habe, „[...] sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei bewegen und aufhalten“7 zu können. Darüber hinaus regelt Artikel 45 die Freizügigkeit von Arbeitnehmern, die innerhalb der Union gewährleistet ist. Demnach haben Arbeitnehmer unter Achtung des Diskriminierungsverbotes und der öffentlichen Ordnung das Recht, in einem anderen EU-Staat Arbeit zu suchen und einer Tätigkeit nachzugehen.
Näheres zur Personenfreizügigkeit und ihrer Anwendung in Deutschland regelt das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) vom 30.07.2004; dort werden die europarechtlichen Vorgaben in nationales Recht umgesetzt8. Neben der Festlegung, wer freizügigkeitsberechtigt ist, legt das Gesetz auch die Bedingungen zur Einschränkung des Freizügigkeitsrechtes fest. Demnach sind freizügigkeitsberechtigt ArbeitnehmerInnen, Arbeitssuchende, Selbständige, Dienstleister, Dienstleistungsempfänger, Personen mit gesichertem Lebensunterhalt, Studierende, Daueraufenthaltsberechtigte und ihre Familien. Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU vom 26.10.2009 legt das Gesetz für die hiesige Verwaltung aus und konkretisiert es.
2.2 Sozialleistungen
Auch die soziale Absicherung von Unionsbürgern wird ebenfalls in der Grundrechte- Charta der EU geregelt. Der Artikel 34 „Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung“ si- chert Unionsbürgern Leistungen der sozialen Sicherheit zu (1). Auch Personen, die ihren „Aufenthalt rechtmäßig“ wechseln, haben gemäß den nationalen Rechtsvorschriften An- spruch auf Sozialhilfe (2). Und obwohl hier grundsätzlich von Arbeitnehmern ausgegangen ist, wird auch Menschen jenseits dieses Schemas das Recht auf soziale Sicherung zuer- kannt: „Um die soziale Ausgrenzung und die Armut zu bekämpfen, anerkennt und achtet die Union das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Woh- nung, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen [...]“9.
Die Europäische Sozialcharta von 1996 enthält bereits konkretere Maßgaben zu Sicherung des Rechtes auf soziale Sicherung von Unionsbürgern. Verbrieft sind u.a. das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 12), soziale Dienste (Art. 14), Schutz gegen Armut (Art. 30) und das Recht auf eine Wohnung (Art. 31). Des Weiteren werden für Arbeitnehmer das Recht auf eine Tätigkeit in einem anderen EU-Staat (Art. 18) und zahlreiche Rechte für sogenannte Wanderarbeiter (Art. 19) aufgeführt. Bei der Sozialcharta handelt es sich um ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen.
Hierzulande wird der Zugang zu Leistungen der Sozialhilfesysteme durch das Sozialge- setzbuch (SGB) geregelt. Entscheidend für den hier untersuchten Fall ist die in § 7 SGB II behandelte Frage, wer leistungsberechtigt ist, und die Festlegungen in § 23 SGB XII über Sozialhilfe für AusländerInnen. Ersterem Paragraphen zufolge sind Personen zwischen 15 und 65 Jahren, die erwerbsfähig sind, ihren ständigen Wohnsitz in Deutschland haben, aber ihren Lebensunterhalt nicht allein bestreiten können, leistungsberechtigt (1). Ausgenommen sind nicht-freizügigkeitsberechtigte Personen in den ersten drei Monaten ihres Aufenthaltes, Menschen, die sich allein zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, und AsylbewerberInnen (2). Obwohl AusländerInnen nach (1) des §23 SGB XII Sozialhilfe zugesichert wird, konkretisiert (3) dahingehend, dass „[...] Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt […] haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe [...]“10. Hilfe im Krankheitsfall wird gewährt. Diese Leistungsausschlüsse zeigten einmal mehr, dass eine Armutswanderung von EU-BürgerInnen schlicht nicht vorgesehen sei, konstatiert der Deutsche Städtetag.11 Die Leistungsausschlüsse in den ersten drei Monaten und für Arbeitssuchende sind allerdings „[...] in ihrer Ausgestaltung rechtlich umstritten und Gegenstand zweier anhängiger Verfahren vor dem EuGH [...]“12, bemerkt der Staatssekretärsausschuss.
Die spezielle Frage nach Leistungen der sozialen Hilfe für (im)migrierte UnionsbürgerIn- nen findet erst in nachträglichen, ergänzenden und revidierenden Dokumenten der EU ih- ren Niederschlag. So erwägen das Europäische Parlament und der Rat für ihre Richtlinie 2004/38/EG: „[...] [So, JV] sollten Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, während ih- res ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedsstaates nicht unan- gemessen in Anspruch nehmen [...]“13. Es werden deshalb für einen Aufenthalt von mehr als drei Monaten Dauer „bestimmte Bedingungen“ gefordert (10). Unter Punkt (16) wird ergänzt, dass allein die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen zwar keine Auswei- sung legitimiere, aber nach Feststellung einer unangemessenen Inanspruchnahme von So- zialhilfe durch eine genaue Prüfung der Umstände eine solche erfolgen könne. Keinesfalls sollten dagegen Arbeitnehmer, Selbständige oder Arbeitssuchende im vom EuGH definier- ten Sinne ausgewiesen werden.
3. Politische und rechtliche Debatte in Deutschland
Die europäische Debatte um sogenannte „Armutswanderer“ zeigte einerseits eine pauscha- le Kriminalisierung von RomNja, andererseits lautete der Duktus: wir brauchen Zuwande- rung. „Sozialmissbrauch“ und „Fachkräftemangel“ waren die beiden Pole, zwischen denen der Diskurs oszillierte. Die Ethnisierung der Probleme, die mit dem Zuzug zahlreicher ru- mänischer und bulgarischer EU-Bürger einhergingen, verdeckt dabei allzuleicht die tat- sächlich sich zeigende Problematik: nämlich, dass hier ein Europa politisch zusammenge- bunden ist, in dem eine gewaltige Lücke bei den Wirtschaftsleistungen der Staaten klafft. Die Entscheidung von Menschen, in einem Land mit höherem Lohnniveau arbeiten zu wollen, oder die besseren sozialen Sicherungssysteme eines anderen EU-Staates in An- spruch nehmen zu wollen, sind deshalb nicht Ausdruck krimineller Gesinnung, sondern lo- gische Konsequenz eines Europas der offenen Grenzen.
Von einer EU-Binnenwanderung aufgrund des „Wohlstandsgefälles“ spricht auch das „Po- sitionspapier des Deutschen Städtetages zu den Fragen der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien“.14 Es markiert wohl den Beginn der Debatte hierzulande. In Anbetracht der prekären Lage mancher Städte wird darin eine zügige finanzielle Hilfe für die betroffenen Kommunen gefordert und andererseits für die langfristige Unterbindung von Armutswan- derungen innerhalb der EU plädiert. Zurückgeführt werden die Probleme im Positionspa- pier auf „Regelungsdefizite im EU-Erweiterungsprozess“15, für die der Bund Verantwor- tung trage. Generell müsse die EU auf die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern hinwirken.
Kürzlich hat der Bund den Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses vorgelegt, der sich mit „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Si- cherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedsstaaten“ befasst hat. Darin werden Vorschläge zur „Missbrauchsbekämpfung“ unterbreitet und Hilfen für besonders betroffene Kommunen angekündigt. Außerdem soll neben anderen das FreizügG/EU dahingehend ge- ändert werden, dass bei „Rechtsmissbrauch“ sog. „Wiedereinreisesperren“ verhängt wer- den können, das Aufenthaltsrecht von UnionsbürgerInnen zur Arbeitssuche in Anlehnung an die Rechtssprechung des EuGH auf sechs Monate begrenzt werden kann und eine straf- rechtliche Verfolgung bei vorsätzlich falschen Angaben möglich wird. In der Prüfung der Möglichkeiten von Leistungsausschlüssen, Gesetzesänderungen und weiteren Regelungen beruft sich der Staatssekretärsausschuss wiederholt auf die Rechtssprechung des EuGH, die als „maßgeblich“ anerkannt wird.16
4. Verfahren am EuGH
So habe der EuGH verfügt, dass der Begriff des Arbeitnehmers „nicht eng ausgelegt wer- den darf“17 Eine begrenzte Einkommenshöhe oder die Notwendigkeit einer Aufstockung seien für die Arbeitnehmereigenschaft unerheblich;18 ebenso eine begrenzte Arbeitszeit pro Woche.19 Zahlreiche weitere Urteile des EuGH werden zur Erörterung der Problemlage herangezogen. Dabei zeigt sich einmal mehr, welches Gewicht dessen Rechtssprechung hat.
Häufig ist der EuGH mit Vorabentscheidungsverfahren befasst, in denen nationale Gerichte bei Unsicherheiten darüber, wie das europäische Recht im Rahmen der nationalen Rechtsprechung angewendet werden soll, dem EuGH eine oder mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorlegen. Diese seien „[...] geeignet, das europäische Höchstgericht mit genau jenen Fällen zu versorgen, die die Möglichkeit eröffnen, nationale Rechtsbestände […] außer Kraft zu setzen und die Wirkungskreise dieser Rechte sukzessive zu erweitern“, sagt Höpner in Anlehnung an Alter.20 Zwei derartige Verfahren sind momentan noch am EuGH anhängig. Eine Entscheidung wird noch diesen Herbst erwartet.
4.1 Rechtssache C-333/13
In dem am Sozialgericht Leipzig anhängigen Verfahren Dano (Klagende) gegen Jobcenter Leipzig (Beklagter) wurde im Juni 2013 ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH in Luxemburg gerichtet.21 Im Kern geht es um die Frage, ob ein Mitgliedsstaat (in dem Fall Deutschland) die „unangemessene Inanspruchnahme von existenzsichernden beitragsunab- hänigen Sozialleistungen“ durch Unionsbürger begrenzen kann. Das vorlegende Gericht veranlasst hierbei den EuGH, zu prüfen, ob der vollständige oder teilweise Ausschluss von Sozialleistungen im Hinblick auf das Gleichbehandlungsgebot europarechtskonform ist und wenn nicht, wie hoch die zu leistende Sozialhilfe sein muss. Dabei will das Gericht prüfen lassen, ob die ggf. bereitszustellenden Mittel sich auf die Mittel zur Rückkehr in die Heimat der UnionsbürgerInnen beschränken, oder ob eine Existenzsicherung für einen dauerhaften Aufenthalt im Inland gewährt werden muss.
In seinem Schlussantrag vom Mai diesen Jahres hat der Generalanwalt Wathelet zunächst die Frage nach dem persönlichen Geltungsbereich des Gleichbehandlungsgebotes für den Fall einer beabsichtigten Inanspruchnahme sozialer Hilfeleistungen bejaht. Dem nationalen Gesetzgeber wird in Übereinstimmung mit europäischen Normen das Recht zugesprochen, „[...] die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedsstaaten auf der Grundlage eines allgemei- nen Kriteriums […] vom Bezug einer besonderen beitragsunabhänigen Geldleistung auszu- schließen [...]“22. Für die Beantwortung der letzten Frage nach dem Umfang der ggf. zu leistenden Sozialhilfe sieht der Generalanwalt den EuGH nicht zuständig.
Die für den 11.11.2014 erwartete Entscheidung des EuGH wird vermutlich der Argumenta- tion des Generalanwaltes folgen; der Schlussantrag ist eine wichtige Grundlage bei der Ur- teilsfindung. Dies betonen auch die Staatssekretäre in ihrem Abschlussbericht, die hervor- heben, dass im Schlussantrag die Argumentation der Bundesregierung im Wesentlichen ge- stützt werde.23
4.2 Rechtssache C-67/14
Auch in einer Streitsache zwichen dem Jobcenter Berlin Neukölln (Kläger) und Familie Alimanovic (Beklagte) hat das Bundessozialgericht im Februar diesen Jahres ein Vor- abentschiedungsersuchen an den EuGH gerichtet.24 Dabei werden drei, das Gleichbehand- lungsgebot betreffende Fragen gestellt: 1. ob dieses Gebot auch für die besonderen bei- tragsunabhängigen Geldleistungen gilt, 2. ob Einschränkungen des Gleichbehandlungsge- botes im nationalen Rahmen möglich sind, um den Zugang zu Leistungen der sozialen Hil- fe denjenigen UnionsbürgerInnen zu versperren, die sich allein zum Zweck der Arbeitssu- che hier aufhalten, und 3. ob das Gleichbehandlungsgebot einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die den Zugang zu Sozialleistungen während des Aufenthaltes zur Arbeits- suche verwehrt. Ein Schlussantrag des Generalanwaltes liegt noch nicht vor.
5. Fazit
Die Kritik am Wohlfahrtsstaat sei so alt wie dieser selber, sagt der Sozialwissenschaftler Wolf. Dabei ist „[...] die wohl beliebteste Spielart der Kritik […] der von dessen Gegnern mit steter Regelmäßigkeit erhobene Vorwurf der missbräuchlichen Inanspruchnahme wohl- fahrtsstaatlicher Leistungen [...]“25. Wolf schreibt dies in einer Zeit, da die Debatte um eine „Zuwanderung in die Sozialsysteme“26 gerade an Fahrt aufnimmt. Seither hält sie an und erreichte wohl 2013 in Bezug auf rumänische und bulgarische Zuwanderer ihren vorläufi- gen Höhepunkt.
Die Bemühungen des Staates, sich gegen eine Inanspruchnahme seiner sozialen Siche- rungssysteme zu wehren, kristallisieren sich momentan in zweierlei Hinsicht heraus: einer- seits wird mit der Wendung der „unangemessenen Inanspruchnahme“27 suggeriert, dass zu- wandernde Hilfebedürftige das Maß einer angemessenen Inanspruchnahme überschritten, andererseits wird mit dem Vorwurf des Missbrauchs operiert, der unter Missachtung der Unschuldsvermutung diejenigen kriminalisiert, die Sozialleistungen beanspruchen. Im Ab- schlussbericht der Staatssekretäre wird der Missbrauchs-Begriff in mehrerlei Hinsicht ver- wendet und damit grundlegend in die angeblich versachlichte Debatte um Zuwanderung28 von UnionsbürgerInnen eingeführt.
Der EuGH spielt als oberste juristische Instanz in der EU eine maßgebliche Rolle bei der Beantwortung der Fragen, inwiefern Staaten auch gegenüber zugewanderten Unionsbür- gern Sozialleistungen gewähren müssen. Dabei zeigt sich einmal mehr die große Heteroge- nität der in der EU geeinter Staaten, deren sichtbarstes Zeichen das Wohlstandsgefälle ist. Es wäre zu fragen, inwiefern die hier dargestellten Absichten zu Gesetzesänderungen und Ausnahmeregelungen die europäische Idee nicht verraten. Die Freiheit zu reisen und die Gleichheit der Rechte scheinen angesichts fehlender Brüderlichkeit zur bloßen Farce zu verkommen.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
AEUV.de Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (2009), URL: http://www.aeuv.de/, letzter Zugriff am 16.10.2014
Bundesministerium des Inneren / Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2014): Zwischenbericht des Staatssekretärsausschusses zu "Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU- Mitgliedsstaaten"
Bundesministerium des Inneren / Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2014): Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses zu "Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-
Mitgliedsstaaten", URL: http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-
Publikationen/a841-abschlussbericht-st-ausschuss.pdf?__blob=publicationFile, letzter Zugriff am 14.10.2014
Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000). In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, C 364, 18.12.2000, S. 1-22 de Maiziere, Thomas (2014): Rede zum Gesetzentwurf zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiteren Vorschriften, Bulletin der Bundesregierung, Nr. 103-4, 25.09.2014, URL: http://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihen/rekonstruktion- filmland-rumaenien-iii.html, letzter Zugriff am 14.10.2014
Deutscher Städtetag (2013): Positionspapier des Deutschen Städtetages zu den Fragen der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien, 22.01.2013
Die Bundesregierung / juris (2009): Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU
Europäische Kommission (2014): Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU, MEMO/14/541, 25.09.2014, URL: http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-14- 541_de.htm?locale=EN, letzter Zugriff am 14.10.2014
Europäisches Parlament / Europäischer Rat (2004): Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. In: Amtsblatt der Europäischen Union, L 166, 30.04.2004, URL: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/? uri=CELEX:32004R0883&from=DE, letzter Zugriff am 17.10.2014
Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) (2004)
Rechtssache C-67/14. Vorabentscheidungsersuchen des Bundessozialgerichts, 10.02.2014, Jobcenter Berlin Neukölln gegen Alimanovic, URL: http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf? text=&docid=151158&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1& cid=359404, letzter Zugang am 16.10.2014
Rechtssache C-333/13. Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet, 20.05.2014, URL: http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf? text=&docid=152523&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&c id=359732, letzter Zugriff am 16.10.2014
Rechtssache C-333/13. Vorabentscheidungsersuchen des Sozialgerichts Leipzig, 19.06.2013, Dano gegen Jobcenter Leipzig, URL: http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf? text=&docid=139810&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&c id=359732, letzter Zugriff am 16.10.2014
Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgleidsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. In: Amtsblatt der Europäischen Union, L 158, 30.04.2004, S. 77- 123, URL: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/? uri=CELEX:32004L0038&from=DE, letzter Zugriff am 15.10.2014
Sozialgesetzbuch II. §7 SGB II, URL: http://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbii/7.html, letzter Zugriff am 16.10.2014
Sozialgesetzbuch XII. § 23 SGB XII, URL: http://www.sozialgesetzbuch- sgb.de/sgbxii/23.html, letzter Zugriff am 16.10.2014
Literatur
Bieber, Roland / Epiney, Astrid / Haag, Marcel (2013): Die Europäische Union: Europarecht und Politik, Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 10. Auflage
Höpner, Martin (2011): Der Europäische Grichtshof als Motor der Integration: Eine akteursbezogene Erklärung. In: Berliner Journal für Soziologie, Nr. 21, S. 203-229
Oppermann, Thomas / Classen, Claus Dieter / Nettesheim, Martin (2011): Europarecht: ein Studienbuch, Verlag Beck, München, 5., vollständig neu bearbeitete Auflage
Sonstige Quellen
Clauß, Tilman (2014): Arbeitnehmerfreizügigkeit und Sozialleistungen für Rumänen und Bulgaren, Fortbildung für das „Team für Neuzugewanderte aus Südosteuropa“ beim „Nachbarschaftsheim Neukölln e.V.“, 04.04.2014
Mayer, Stephan (2008): Keine Zuwanderung in die Sozialsysteme. Rede zur Abdeckung des Fachkräftebedarfs in der deutschen Wirtschaft, 13.11.2008, URL: https://www.cducsu.de/themen/auslaender/keine-zuwanderung-die-sozialsysteme, letzter Zugriff am 17.10.2014
Wolf, Michael (2009): Stichworte zur politischen Funktion eines Feindbildes. „Sozial- schmarotzer”. In: Neue Rheinische Zeitung, Online-Flyer Nr. 182, 28.01.2009, URL: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=13387, letzter Zugriff am 16.10.2014
[...]
1 Deutscher Städtetag (2013): Positionspapier, S. 3.
2 Vgl. BMI / BMAS (2014): Abschlussbericht Staatssekretärsausschuss.
3 Vgl. Clauß (2014): Arbeitnehmerfreizügigkeit und Sozialleistungen.
4 Vgl. Grundrechte-Charta EU, C 364/8.
5 Vgl. Richtlinie 2004/38/EG, S. 78.
6 Vormals Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV).
7 AEUV, Art. 21, Abs. 1.
8 Vgl. Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU, Punkt 0.1.2.
9 Grundrechte-Charta EU, Art. 34, Abs. 3.
10 § 23 Abs. 3 SGB XII.
11 Vgl. Positionspapier Städtetag, S. 3.
12 BMI / BMAS (2014): Abschlussbericht Staatssekretärsausschuss, S. 96.
13 Richtlinie 2004/38/EG, S. 81.
14 Vgl. Positionspapier Städtetag, S. 9.
15 Positionspapier Städtetag, S. 9.
16 Vgl. BMI / BMAS (2014): Abschlussbericht Staatssekretärsausschuss, S. 45.
17 Vgl. Urteil vom 21.02.2013, Rechtssache C-46/12, zit. nach Abschlussbericht Staatssekretärsausschuss, S. 45.
18 Vgl. Urteil vom 04.06.2009, Rechtssache C-22/08, zit. nach Abschlussbericht Staatssekretärsausschuss, S. 45.
19 Vgl. Urteil vom 14.12.1995, Rechtssache C-444/93, zit. nach Abschlussbericht Staatssekretärsausschuss, S. 45.
20 Höpner (2011): Der Europäische Gerichtshof als Motor der Integration, S. 205f.
21 Vgl. Rechtssache C-333/13.
22 Rechtssache C-333/13, Schlussanträge des Generalanwaltes, S. 26.
23 Vgl. BMI / BMAS (2014): Abschlussbericht Staatssekretärsausschuss, S. 54.
24 Vgl. Rechtssache C-67/14.
25 Wolf (2009): "Sozialschmarotzer".
26 Vgl. Mayer (2008): Keine Zuwanderung in die Sozialsysteme.
27 Vgl. Rechtssache C-333/13.
28 Vgl. BMI / BMAS (2014): Abschlussbericht Staatssekretärsausschuss, S. 7; demnach habe der Zwischenbericht zur "Versachlichung der Debatte [...]" beigetragen.
- Arbeit zitieren
- Janka Vogel (Autor:in), 2014, Die Arbeit des Europäischen Gerichtshofes (EuGH). Sozialleistungen für UnionsbürgerInnen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/283953