Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Bedeutung individueller Freiheit
3. Interventionsmöglichkeiten von Gesellschaft und Staat
4. Die Gesetze zum Schutz der Nichtraucher in Bayern und Hamburg – legitime Beschränkungen der individuellen Freiheit?
4.1 Die Rechtslage in Bayern und Hamburg
4.2 Das Problem rivalisierender Freiheitsinteressen von Rauchern und Nichtrauchern
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Das Verfügen eines jeden Menschen über umfassende Rechte zur Sicherung der existenziellen und persönlichen Bedürfnisse steht heute, speziell in den sogenannten „westlichen Gesellschaften“, kaum noch zur Debatte. So sind etwa Freiheiten im Bezug auf Meinungsbildung bzw. -äußerung, Berufswahl, Vereinigung und Entfaltung der Persönlichkeit in Deutschland zu Grundrechten geworden, deren Gültigkeit gemeinhin nicht hinterfragt wird. Es scheint dabei als Konsens zu gelten, dass es jedermann erlaubt sein sollte, die Verwirklichung der eigenen Wünsche anzustreben, sofern sie nicht darauf zielen, anderen Menschen Leid zuzufügen. Doch auch legitime Interessen können in Gegensatz zueinander stehen und zu Auseinandersetzungen führen. So ist zum Beispiel das Tabakrauchen in öffentlichen Gaststätten Gegenstand kontroverser Diskussionen. Während Raucher hierin ein Ausüben ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit sehen, befürchten viele Nichtraucher durch das Passivrauchen, etwa in Restaurants und Kneipen, eine Gefährdung ihrer Gesundheit, der sie nur durch Fernbleiben jener Orte entgehen können. Dies wird zuweilen als Beschränkung der Freiheit angesehen, ebenso wie Raucher öffentliche Gaststätten besuchen zu können, ohne damit ein ungewolltes Gesundheitsrisiko einzugehen. Die Vertretung beider Positionen scheint zunächst berechtigt. Wie ist nun ein solcher Konflikt zu lösen? Ist einem der Freiheitsrechte der Vorrang einzuräumen, und falls ja, aus welchem Grund? Der Beantwortung dieser Fragen soll in der vorliegenden Hausarbeit nachgegangen werden. Hierbei geht es weniger um eine Darstellung der Rechtsprechung, sondern vielmehr um eine Argumentation aus der Perspektive der politischen Theorie. Grundlage für die Untersuchung ist die im Jahr 1859 veröffentlichte Schrift „Über die Freiheit“ des englischen Philosophen und Ökonomen John Stuart Mill, der heute als einer der herausragendsten Denker des Liberalismus gilt[1]. Mill erläutert hier die enorme Bedeutung von individueller Freiheit und Entfaltung als Quelle persönlichen Glücks und gesamtgesellschaftlichen Fortschritts[2], und setzt sich ebenso im Hinblick auf die sozialen Verpflichtungen des Einzelnen mit den möglichen und notwendigen Einschränkungen jener Freiheit auseinander. Einige der von ihm geforderten gesellschaftlichen Veränderungen, zum Beispiel die Gleichberechtigung von Männern und Frauen[3], gelten im England des 19. Jahrhunderts als ungewöhnlich, finden sich heute jedoch weitgehend verwirklicht. Vor diesem Hintergrund erscheint es besonders interessant, den genannten Konflikt zwischen Rauchern und Nichtrauchern - der im Übrigen in England zu Zeiten Mills nicht existierte[4] - anhand seiner Ausführungen im Hinblick auf mögliche Lösungen zu analysieren. Hierzu wird in einem ersten Schritt sein Verständnis von individueller Freiheit beleuchtet. Danach wird erörtert, ob und inwiefern er der Gesellschaft bzw. dem Staat ein Recht zuerkennt, in diese einzugreifen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Frage, wie das Problem rivalisierender Freiheitsinteressen zu lösen ist. Schließlich soll versucht werden, die gewonnenen Erkenntnisse auf die unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen zum Nichtraucherschutz in Bayern und Hamburg anzuwenden und zu ermitteln, ob sie mit Mills Konzeption der Freiheit vereinbar sind. Um den Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu überschreiten, findet eine Beschränkung auf den Interessengegensatz von rauchenden und nichtrauchenden Gästen im Bereich der Gastronomie statt. Die Situation in Behörden, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen wie auch etwaige Auswirkungen des Rauchens auf das Gesundheitswesen werden nicht berücksichtigt.
2. Die Bedeutung individueller Freiheit
Mill lebt im sogenannten Viktorianischen Zeitalter, das von erheblichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen geprägt ist. Angetrieben durch die Industrialisierung und ihre tiefgreifenden technischen Entwicklungen im Bereich von Güterproduktion und–verkehr[5] entwickelt sich England zur „führenden Wirtschaftsmacht des 19. Jahrhunderts“[6]. Mill befürchtet, dass viele der Neuerungen dazu beitragen, die Entwicklung der Individualität der Einzelnen zu unterdrücken. So sieht er etwa eine Gefahr darin, dass die „Verbesserung von Handel und Gewerbe“[7] die Lebensumstände aller erleichtert und einander angleicht, sodass die Menschen alle nach denselben Dingen streben[8]. Auch fürchtet er, dass eine bestimmte Gruppe von Personen, die in der Gesellschaft eine Mehrheit bildet, versucht, ihre Verhaltensweisen und moralischen Auffassungen anderen aufzuerlegen[9]. Hier hat er vor allem eine wachsende Mittelschicht vor Augen, die sich durch einen „aufs schärfste aggressiven“[10] Moralismus auszeichnet und „Konformität durch soziale […] Sanktionen [zu] erzwingen “[11] sucht. Vor diesem Hintergrund entsteht das Werk „Über die Freiheit“.
In dem Kapitel „Über die Individualität als ein Element der Wohlfahrt“ setzt sich Mill dafür ein, dem einzelnen Gesellschaftsmitglied zuzugestehen, seine individuelle Freiheit zu nutzen, das heißt, sich unabhängig von staatlichem und gesellschaftlichem Zwang nach seinem eigenen Belieben zu entfalten. Dazu soll der Einzelne nicht nur seine Meinung frei bilden und äußern, sondern auch ohne äußere Beeinträchtigungen nach seinem Willen handeln dürfen. Dies gilt allerdings nur für diejenigen Menschen, die sich „in der Reife ihrer Entwicklung“[12] befinden und das Alter der Volljährigkeit erreicht haben. Kinder, Jugendliche und Unmündige hingegen müssen vor „den Folgen ihrer eigenen Handlungen wie vor äußerer Unbill geschützt werden“[13]. Auch unzivilisierte und damit unmündige Völker schließt Mill von der Nutzung der Freiheit aus[14]. Die Verwirklichung individueller Ideen mündiger Bürger einer zivilisierten Gesellschaft ist ein grundlegender Bestandteil und Bedingung von „Wohlfahrt […] Zivilisation, Unterricht, Erziehung [und] Kultur“[15] und dient, insbesondere im Hinblick auf die Vielzahl und das Konkurrieren unterschiedlicher Meinungen und Lebensweisen, dem Fortschritt des Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt. Der Mensch wird dadurch zu höheren geistigen Leistungen befähigt, gewinnt damit sowohl für sich selbst als auch als Bestandteil der Gesellschaft an Wert[16]. Allerdings ist nur ein relativ geringer Teil der Menschen an persönlicher Freiheit und damit an der Entwicklung ihrer Individualität interessiert. Die meisten sind sogenannte „Durchschnittsmenschen“[17], die die bestehenden Umstände akzeptieren und die Bestrebungen der Wenigen, die zumeist „geistig höher stehen“[18], nicht nachvollziehen können[19]. Dabei ist, so gibt der Autor mit einem Zitat Wilhelm von Humboldts an, „der wahre Zweck des Menschen, […], die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen […]“[20] auf der Grundlage von Freiheit und unterschiedlichen äußeren Bedingungen. Hierdurch kann der Einzelne seine Eigentümlichkeit und „Originalität“ erlangen[21]. Es gilt, sofern jemand einen entsprechenden Entwicklungsstand erreicht hat, aus dem bisherigen Erfahrungs- und Wissensschatz der Vorfahren diejenigen Elemente auszuwählen, die zu dem eigenen individuellen Wesen passen. Doch auch und gerade das Hinterfragen des Bestehenden spielt eine enorme Rolle für die Ausbildung von Individualität, da dies die dem Menschen ureigenen „Fähigkeiten des Verstehens, des Urteilens […] und der moralischen Wertschätzung“[22] trainiert. Nur so können die eigenen Anlagen optimal entwickelt und persönliches Glück erreicht werden[23].In ausgeprägten eigenen Bedürfnissen und Trieben, die häufig als Gefahr angesehen werden, erkennt Mill auch ein erhöhtes Potenzial zur Entwicklung von Gutem, sodass es letztendlich darauf ankommt, inwieweit ein mit ihnen ausgestatteter Mensch sich bei dem Ausleben seiner Triebe durch seinen Willen und sein Gewissen zu beherrschen weiß. Jene Beherrschung, die in früheren Zeiten in Form von strikten und umfassenden Gesetzen den Schutz der Allgemeinheit vor Menschen von „starkem Körper und […] Geist“[24] sicherstellen sollte, hat nach Auffassung des Autors inzwischen überhandgenommen, da der Gesellschaft nun der Vorrang vor dem Individuum eingeräumt wird. Ein jeder richtet seine Handlungen in sämtlichen Lebensbereichen nicht an seinen persönlichen Vorlieben, seinem Charakter und dessen Entwicklungsmöglichkeiten aus, sondern orientiert sich allein an dem, was er für gesellschaftlich anerkannt hält. Infolgedessen schwinden seine natürlichen Fähigkeiten, bis er zu Selbstbestimmung und nonkonformem Verhalten nicht mehr in der Lage ist. Dies stellt als allgemeine Entwicklung innerhalb der Gesellschaft eine Gefahr für dieselbe dar[25].Dem Individuum entgegen steht die Masse der Gesellschaft, die, so der Autor, einen enormen sozialen Konformitätsdruck auf ihre Glieder bezüglich ihres Verhaltens ausübt[26]. Dieser Druck, der von Mill als „Tyrannei der öffentlichen Meinung“[27] bezeichnet wird und – wie in Kapitel 3 zu zeigen sein wird - von der zulässigen moralischen Sanktion unrechtmäßiger Handlungen[28] zu unterscheiden ist, rührt unter anderem daher, dass die „Durchschnittsmenschen“, aufgrund ihres Mangels an Originalität und Geist kein Verständnis für den Wunsch nach freier Entfaltung haben[29] und deren Bedeutsamkeit verkennen. Auf abweichendes Verhalten wird mit Verunglimpfungen oder gar nach einem Absprechen der Zurechnungsfähigkeit mit Entmündigung[30] reagiert. Um diese Menschen zu überzeugen, die Individualität anderer zu tolerieren, führt Mill an, dass dies auch für sie einen Vorteil bedeuten würde, zum Beispiel indem sie von der Erkenntnis neuer Wahrheiten, dem Einführen neuer Bräuche und dem Bewahren der Bestehenden vor Sinnentleerung profitieren[31]. Ohne individuelle Charaktere gerät eine Gesellschaft in Stillstand[32]. Um entsprechende Leistungen erbringen und damit das Leben in der Gesellschaft bereichern zu können, brauchen die sich in der Minderheit befindenden „Genies“ die größtmögliche Freiheit, da sie eigentümlicher als andere Menschen und damit weniger in der Lage sind, sich an vorgegebene Lebensmuster anzupassen[33]. Mill gibt ferner an, dass in der Gesellschaft eine Tendenz zu einer „Reform der Sitten“[34] besteht, die darauf zielt, die Moral eines jeden zu heben und ihm bestimmte Verhaltensregeln aufzuerlegen. Durch das Bestreben, die Menschen vor allem durch identische Erziehung einander gleich zu machen und sie an Gewohnheiten zu binden, wird die Freiheit als „einzige unfehlbare und beständige Quelle“[35] des Fortschritts zerstört. So fordert Mill das verstärkte Ausleben von individueller Freiheit, selbst wenn es nicht mit dem Ziel der Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes, sondern rein um des Abweichens willen geschieht oder vielleicht sogar den Anschein erweckt, zu einer Verschlechterung zu führen[36].
3. Interventionsmöglichkeiten von Gesellschaft und Staat
Spricht John Stuart Mill der unabhängigen Entfaltung der Individualität einerseits einen enormen Wert zu, erkennt er anderseits auch die Gefahren für die Umgebung eines Menschen, der seinen Freiheitsdrang uneingeschränkt verfolgt. So widmet er die letzten beiden Kapitel von „Über die Freiheit“ der Regelung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft bzw. Staat mit dem Ziel, die Rechte letzterer zum Ausüben von Zwang auf den Einzelnen zu definieren und zu legitimieren.
[...]
[1] Vgl. Was ist Liberalismus?
[2] Vgl. Mill, S. 77.
[3] Vgl. ebd., S. 141.
[4] Vgl. Mill, S. 93.
[5] Vgl. Hottinger, S. 28f., in: Dreiskämper.
[6] Vgl. Morawietz.
[7] Vgl. Mill, S. 100.
[8] Vgl. ebd., S. 99f.
[9] Vgl. Pazos, S. 133f.
[10] Vgl. Voegelin, S.243, in: Pazos, S. 134.
[11] Vgl. ebd.
[12] Vgl. Mill, S. 18.
[13] Vgl. ebd.
[14] Vgl. ebd.
[15] Vgl. ebd., S. 77-78.
[16] Vgl. ebd., S. 86.
[17] Vgl. ebd., S. 94.
[18] Vgl. ebd., 91.
[19] Vgl. ebd., S. 76-78.
[20] Vgl. von Humboldt, Wilhelm: The Sphere and Duty of Government, S. 11-13, zitiert nach: Mill, S. 78.
[21] Vgl. ebd.
[22] Vgl. Mill, S. 79-80.
[23] Vgl. ebd., S. 92f.
[24] Vgl. ebd., S. 83.
[25] Vgl. ebd., S. 82-84.
[26] Vgl. ebd., S. 83-84, 93.
[27] Vgl. ebd., S. 91.
[28] Vgl. ebd., S. 106.
[29] Vgl. ebd., S. 94.
[30] Vgl. ebd., S. 93.
[31] Vgl. ebd., S. 87f.
[32] Vgl. Mill, S. 96.
[33] Vgl. ebd., S. 88.
[34] Vgl. ebd., S. 94.
[35] Vgl. ebd., S. 96.
[36] Vgl. ebd., S. 94-100.