Gesellschaftliche Rezeption von Kindsmord in der Frühen Neuzeit


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

26 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Delikt Kindsmord
2.1 Begriffliche und rechtliche Abgrenzung
2.2 Motive und Tätergruppen

3. Gesellschaftliche Rezeption von Kindsmord
3.1 Maßnahmen zur Verhinderung von Kindsmord
3.1.1 Abschreckung durch Strafen und dessen Wirkung
3.1.2 Prävention durch Reformmaßnahmen – Der aufklärerische Diskurs
3.2 Kindsmord als Motiv in der Literatur des Sturm und Drang

4. Fazit

5. Quellen

6. Literatur
6.1 Monographien
6.2 Aufsätze

1. Einleitung

Die Thematik des Kindsmords ist nicht nur für Historiker von großem Interesse. Auch Juristen, Philosophen, Psychologen und nicht zuletzt Literaturwissenschaftler forschen und publizieren unter den verschiedensten Aspekten zu diesem Gegenstand. Das breite wissenschaftliche Interesse entsteht vermutlich zum einen aus der häufig empfundenen Abscheu vor der Tat an sich und zum anderen aus den besonderen Tatumständen. Zudem ist dieses Thema immer noch hochaktuell. Besonders in den letzten Jahren erschienen in der Berichterstattung immer wieder Fälle von Müttern, die ihre Säuglinge umbrachten und die Leichen verbargen. Die politische Diskussion, welche das Publik werden von solchen Fällen in der Regel nach sich zieht, weist sehr interessante Parallelen zu Vorschlägen auf, welche in dieser oder ähnlicher Form schon lange Zeit vorher gemacht wurden. Die Einführung von so genannten Babyklappen und die Möglichkeit anonymer Geburten, wurde in der Gestalt von Findelhäusern und Gebäranstalten schon von Reformern der Aufklärung diskutiert. Die heutige gesellschaftliche Debatte scheint sich, trotz des grundsätzlichen Wandels vieler Voraussetzungen, also in einigen Punkten mit jener der Frühen Neuzeit zu überschneiden und immer noch von ihren Ideen zu zehren.

In der vorliegenden Arbeit soll sich nun mit der Frage befasst werden, wie die gesellschaftliche Rezeption von Kindsmord in der Frühen Neuzeit aussah. Ein besonderer Schwerpunkt soll auf dem aufklärerischen Diskurs gegen Ende des 18. Jahrhunderts liegen.

Einleitend soll zunächst das Delikt Kindsmord näher betrachtet werden. Was ist als Kindsmord zu betrachten und wie war er rechtlich definiert? In einem weiteren Unterpunkt soll untersucht werden, was die Frauen kennzeichnete, welche wegen eines Kindsmordes vor Gericht standen. Hatten sie Gemeinsamkeiten und was waren ihre Motive? Dann soll die gesellschaftliche Rezeption des Kindsmordes betrachtet werden. Dabei wird zunächst untersucht werden, welche Bestrebungen es gab, dieses Delikt zu verhindern. Unterschieden wird dabei nach Strafen, die der Abschreckung dienten und Reformmaßnahmen, welche präventiv wirken sollten. Untersucht werden soll, welche Wirkung die jeweiligen Maßnahmen zeigten und wie sie von den Zeitgenossen betrachtet wurden. Zeitlich wird sich der erste Unterpunkt eher auf die Jahre bis zur Mitte des 17. und der zweite auf die Zeit bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts beziehen. Schließlich sollen noch einige Beispiele für die Rezeption von Kindsmord in der Literatur des Sturm und Drangs gezeigt werden. Es wird untersucht werden, ob sich in den literarischen Bearbeitungen Aspekte der gesellschaftlichen Diskussion wiederfinden lassen und wie die Figur der Kindsmörderin in der Literatur dargestellt wurde. Abschließend soll ein Fazit gezogen werden, welches die Erkenntnisse der Untersuchung nochmals zusammenfasst.

Wegen des sehr breiten Bestands an Forschungsliteratur sollen hier nur einige Werke genannt werden, welche bei der Anfertigung vorliegender Arbeit besonders hilfreich waren. Richard van Dülmens Werk „Frauen vor Gericht“ ist trotz, oder gerade wegen, seines geringen Umfangs ein sehr übersichtlich gegliedertes Überblickswerk, welches die wichtigsten Aspekte der Thematik behandelt. Otto Ulbrichts „Kindsmord und Aufklärung in Deutschland“ behandelt in sehr ausführlicher Form Fälle aus Schleswig Holstein und war besonders für die Aspekte des Milieus der Täterinnen und den aufklärerischen Diskurs höchst hilfreich. Abschließend ist noch die rechtshistorische Abhandlung Wilhelm Wächtershäusrs „Das Verbrechen des Kindesmordes im Zeitalter der Aufklärung“ zu nennen. Obwohl dieses Werk schon etwas älter und damit nicht mehr ganz dem Forschungsstand entsprechend ist, waren doch die rechtlichen Aspekte und besonders die Auswertung zeitgenössischer Verordnungen sehr nützlich.

2. Das Delikt Kindsmord

2.1 Begriffliche und rechtliche Abgrenzung

Die Definition des in der Forschungsliteratur üblichen Ausdrucks „Kindsmord“ ist von seinem Ursprung her nicht genau abgegrenzt. Prinzipiell kann ein Kindsmord auch von einem Mann, einer verheirateten Frau und an einem älteren Kind begangen werden. In einem großen Teil der bekannten und untersuchten Fälle der Frühen Neuzeit, geht es aber um ledige Frauen, welche ihr leibliches Kind direkt nach der Geburt aktiv töteten oder den Tod durch fehlende Versorgung herbeiführten.[1] Andere Fälle spielten quantitativ eine geringe Rolle und wurden auch nicht annähernd so ausgiebig rezipiert.[2]

In zeitgenössischen Werken der Frühen Neuzeit finden sich verschiedene Beschreibungen dieses Delikts. Die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 besagt im Artikel 131: „ Item welches weib jre kind, das leben vnd glidmaß empfangen hett, heymlicher boßhafftiger williger weiß ertödtet, die werden gewonlich lebendig begraben vnnd gepfelt […]“[3]. Durch den Wortlaut, aber auch durch die Forderung einer ausnehmend harten Strafe, wird deutlich, welchen Stellenwert dieses Verbrechen in der Frühen Neuzeit besaß. Die Formulierung „leben und glidmaß“ besagte, dass das Kind bei der Geburt lebendig war, aber auch, dass es lebensfähig war. Dies war allerdings mit den medizinischen Kenntnissen der Zeit oftmals nur schwer feststellbar.[4] Während aus diesem Absatz der Carolina herauszulesen ist, dass jede Frau sich des Kindsmordes schuldig machen konnte, wird im Artikel 35 explizit von „eyn dirn“ und „eyn jungfraw“ gesprochen.[5] Hier wird also deutlich auf unverheiratete Frauen und Mädchen Bezug genommen, welche in der Praxis dann auch den größten Teil der verurteilten Kindsmörderinnen stellten. In den entsprechenden Artikeln der Carolina wird auch deutlich, dass die Verheimlichung der Schwangerschaft und der Geburt in der Frühen Neuzeit untrennbar mit dem Kindsmord zusammenhing. Der Artikel 35 besagt ausdrücklich, „daß sie [die Mutter] heymlich eyn kindt gehabt“[6] haben muss. Dies bestätigt auch die Definition von Kindsmord im 1737 erschienenen Universallexikon von Johann Heinrich Zedler: „Kinder= Mord ißt, wenn eine Mutter ihr unter den Herzen getragenes Kind jämmerlich umbringet. Ein Anzeige eines Kinder= Mords ißt […] wenn eine Weibs = Person allein niedergekommen […]“[7]

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das Delikt Kindsmord in der Frühen Neuzeit zwar nicht vollkommen klar definiert war, es aber deutlich wird, welche Faktoren vorliegen mussten, um den Tod eines Kindes als solchen anzusehen. Zunächst war die Täterin immer die leibliche Mutter des Kindes. Zumeist wurde eine ledige Mutter angenommen, es konnte aber prinzipiell auch eine verheiratete, meist verlassene oder verwitwete Frau sein. Der Säugling musste lebend geboren und lebensfähig und bald nach der Geburt ermordet worden sein. Dazu kommt, dass Schwangerschaft und Geburt verheimlicht wurden. Der größte Teil der überlieferten Fälle von Kindsmord in der Frühen Neuzeit entspricht diesen Kriterien. Bei der Untersuchung der Motive und der Tätergruppen soll dargestellt werden, welche Ursachen dazu führten.

2.2 Motive und Tätergruppen

Die literarischen Rezeptionen von Kindsmord zu Zeiten der Aufklärung zeichnen oftmals ein Bild von naiven und verführten jungen Frauen aus dem bürgerlichen Milieu, die aus Angst vor Verlust der Ehre oder der Missbilligung der Gesellschaft in einem Akt der Verzweiflung ihr Kind umbrachten.

Die Auswertung von Fällen aus der Frühen Neuzeit zeigt jedoch eher die Tendenz an, dass verurteilte Kindsmörderinnen zu einem großen Teil aus der Gruppe der Dienst- und Bauernmägde stammten. Otto Ulbricht hat Kindsmordfälle in den Herzogtümern Schleswig und Holstein untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass von 105 Frauen, gegen die wegen Kindsmord oder ähnlicher Teildelikte[8] ermittelt wurde, 88 Frauen Dienstmägde waren.[9] Wilhelm Wächterhäuser untersuchte 57, hauptsächlich in Preußen geschehene, Fälle von Kindsmord und kam zu dem Ergebnis, dass 37 Frauen der Gruppe der Dienst – und Bauernmägde zuzurechnen waren.[10] Richard van Dülmen erwähnt Quellen aus Nürnberg, dort waren von 48 angeklagten Frauen 24 Dienst- oder Bauernmägde.[11] Es zeigt sich also, dass ein großer Teil der Kindsmörderinnen auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands aus der Gruppe des sogenannten Gesindes stammte. Das Gesinde ist nicht unbedingt als eigene Schicht zu verstehen, viele Frauen der Frühen Neuzeit arbeiteten einige Jahre in fremden Häusern, bevor sie schließlich heirateten und ihren eigenen Hausstand gründeten.[12] Dennoch ist aber davon auszugehen, dass eher Töchter von Bauern oder kleinen Handwerkern einen Dienst als Magd absolvierten, da sie sparen mussten, um ihren eigenen Hausstand zu gründen oder in ihrem Elternhaus nicht mehr versorgt wurden, da sie selber arbeitsfähig waren. Unabhängig von der familiären Herkunft aber, gehörten die Mägde für die Zeit ihres Dienstes zum Gesinde mit den dazu gehörenden Regeln und Bräuchen.

Für den Aspekt des Motivs ist es dabei interessant, dass viele der Angeklagten aus diesem Milieu stammten. Oft wird die Angst vor dem Verlust der Ehre als Grund für einen erfolgten Kindsmord vermutet. Eine bürgerliche Ehre im ursprünglichen Sinne, hatten viele Täterinnen aber gar nicht zu verlieren, da sie nicht dem Bürgertum angehörten und in der Gesellschaft keine öffentlichen Positionen bekleideten.[13] Die Ehre oder der gute Ruf war aber für weibliche Angehörige des Gesindes auch sehr wichtig.[14] Besonders da viele Mägde ihre Dienstzeit nur als eine Übergangsphase in ihrem Leben betrachteten, welche durch eine Heirat beendet sein würde, waren sie bedacht ihn zu erhalten. Eine uneheliche Schwangerschaft und die damit einhergehende Verschlechterung des Rufes schmälerten nicht nur die Chancen auf einen guten Arbeitsplatz, sondern auch die Heiratsaussichten. Die Mehrheit der Kindsmörderinnen besaß demnach auch einen guten Leumund, welcher von den Arbeitgebern bestätigt wurde. Es stellt sich dann die Frage, warum diese Frauen sich auf vorehelichen Geschlechtsverkehr einließen?[15] Hierbei wird eine Aussage interessant, welche von vielen angeklagten Frauen vor Gericht gemacht wurde. Bei denen von Ulbricht untersuchten Fällen aus Schleswig und Holstein gaben von den 39 Kindsmörderinnen, welche demensprechend befragt wurden, 33 Frauen an, erst nach erfolgtem Eheversprechen mit dem Kindsvater intim gewesen zu sein.[16] Aus kirchlicher Sicht war Sexualität nur innerhalb der Ehe erlaubt, nichteheliche Kontakte wurden unter Strafe gestellt, wobei der Grad der Kontrolle auch innerhalb der Frühen Neuzeit variierte. In einigen Schichten wichen die Wertvorstellungen aber deutlich von denen der Kirche und auch des Bürgertums ab. Eine Verlobung, oder eben das Eheversprechen galten als akzeptierte Berechtigung für sexuelle Beziehungen eines Paares.[17] Selbstverständlich muss bei der Interpretation der diesbezüglichen Aussagen von Kindsmörderinnen in Betracht gezogen werden, dass die Frauen sich selber in ein gutes Licht rücken und der Beziehung zum Kindsvater einen Anstrich der Ehrbarkeit geben wollten. Trotzdem kann aber davon ausgegangen werden, dass sich viele junge Frauen erst mit der Aussicht auf eine Ehe mit einem Mann einließen und dabei, ihrem Moralkodex entsprechend, kein Unrechtsgefühl hatten.

Dem entspricht auch, dass das Alter der Kindsmörderinnen oftmals dem durchschnittlichen Heiratsalter entsprach. Markus Meumann hat das Alter von 80 Kindsmörderinnen in Celle ausgewertet und kommt zu dem Ergebnis, dass 66 % der Frauen zwischen 20 und 29 Jahren alt waren.[18] Von 1600 bis 1799 lag das durchschnittliche Heiratsalter für Frauen in Europa zwischen 24,4 und 26,6 Jahren.[19] Für Orte in Deutschland liegen Zahlen vor, welche dieses Bild bestätigen.[20] Diese Korrelation deutet darauf hin, dass die angeklagten Frauen sich nicht etwa unmoralisch oder leichtsinnig verhalten haben, wenn sie sich mit einem Mann einließen. Sie verhielten sich ihres Alters und den Werten ihres Milieus entsprechend und hofften auf eine Ehe. Erst wenn diese Heirat aus den verschiedensten Gründen nicht zustande kam, die Frauen aber dennoch schwanger waren, kam es in einigen Fällen zum Kindsmord.

Ein weiterer Aspekt, der als Motiv in Betracht gezogen werden kann, ist die wirtschaftliche Situation der Frauen und ihre Angst durch ein uneheliches Kind in Armut zu verfallen. Dieses Motiv wurde in der aufklärerischen Diskussion, neben dem Ehrverlust und der Angst vor Strafen besonders häufig angeführt. Interessanterweise brachte es aber kaum eine Kindsmörderin vor Gericht vor.[21] Dies lässt sich dadurch erklären, dass, wie schon erwähnt, die meisten Kindsmörderinnen ihr Kind direkt nach der Geburt umbrachten. Materielle Not zeigte sich aber, im Gegensatz zur Schande, erst einige Zeit nach der Niederkunft. Die meisten Mägde besaßen Ersparnisse, die sie beim Wechsel einer Arbeitsstelle oder zur Gründung eines Hausstandes brauchten. Auch aus diesen Gründen waren sie oft sehr sparsam.[22] Prinzipiell konnte also auch eine ledige Mutter, zumindest für einige Zeit, in der Lage sein, sich und ihr Kind zu ernähren. So sind Fälle, bei denen die Armut als primäres Motiv angegeben wurde, oftmals erst geschehen, wenn das Kind schon einige Monate alt war. Wächtershäuser beschreibt den Fall einer 20-jährigen Dienstmagd, welche versuchte sich und ihr Kind mit Hilfe von Verwandten und eigener Arbeit zu ernähren. Erst als dies gescheitert war, ertränkte sie ihr vier Monate altes Baby.[23] Bei solchen Fällen kommt erschwerend hinzu, dass die Geburt des Kindes schon bekannt war. Es musste also nichts mehr verheimlicht werden, was den Kindsmord gegen andere Möglichkeiten, wie die Aussetzung oder andere Unterbringung des Kindes, nicht zielfördernd erschienen ließ.

Ein weiteres Motiv für einen Kindsmord ist in der Angst vor Strafen zu sehen, welche Personen zu befürchten hatten, die sich nach den Maßstäben der Zeit unzüchtig verhalten hatten. Die Geburt eines unehelichen Kindes war dabei der offensichtlichste Beweis für eine begangene unzüchtige Handlung und wurde seit der Reformationszeit zumeist stärker bestraft, als noch im Mittelalter. Uneheliche Mütter wurden mit diversen Strafen bedroht. Darunter waren Schand – und Ehrenstrafen, beispielsweise ist es für Frankfurt am Main überliefert, dass ledige Mütter während der sonntäglichen Predigt vor der Gemeinde stehen mussten und anschließend mit ihrem Kind durch die Stadt oder das Dorf geführt wurden, so dass jedem ihr Vergehen vor Augen geführt wurde.[24] Auch die Heirat für uneheliche Schwangere und Mütter war durch zahlreiche Repressionen stark eingeschränkt, so dass es für die Betroffenen wohl eher eine Schande als ein Freudentag war.[25] Doch nicht nur die Kirchen verfolgten Unzuchtsdelikte mit großer Härte, gegen Betroffene wurden auch von weltlicher Seite zahlreiche Strafen verhängt. Dies konnte eine Geldstrafe, aber auch Stehen am Pranger, eine körperliche Züchtigung oder gar der Landesverweis sein.[26]

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass mögliche Motive für einen Kindsmord zahlreich und unterschiedlich waren. Die am häufigsten genannten und vermuteten waren die Angst vor dem Verlust der Ehre und des guten Rufes, die Furcht mit einem unehelichen Kind keine Arbeit mehr zu finden und schließlich die mögliche Abwendung von geistlichen und weltlichen Strafen.

Alle jene möglichen Motive sind jedoch mit großer Vorsicht zu behandeln. Zunächst hat längst nicht jede Frau, welche ihr Kind umbrachte ein Motiv nennen können, oder wollen. Von zahlreichen Fällen ist etwas derartiges auch nicht überliefert. Darüber hinaus waren die Frauen vor Gericht in einer Extremsituation, wenn sie überhaupt etwas sagten, versuchten sie Motive zu finden, um ihre Schuld zu mildern, oder sich den Richtern verständlich zu machen. Schließlich ist auch nicht davon auszugehen, dass jede Kindsmörderin[27] sich tatsächlich über ein mögliches konkretes Motiv im Klaren war. Darauf deutet auch die Angabe vieler Frauen hin, die angaben, der Teufel habe sie zu dieser Tat verführt.[28] Diese Antwort kann so verstanden werden, dass die Mütter bei ihrer Tat nicht bei Sinnen waren oder es ihnen selber unverständlich war, wie sie etwas so Schreckliches verüben konnten und sie daher den Teufel anführten.

Auch die Tätergruppe ist nicht ganz klar umrissen. Die Auswertung zeitgenössischer Quellen lässt die meisten Autoren zu dem Schluss kommen, dass ein großer Teil der Kindsmörderinnen aus dem Milieu der Dienst- und Bauernmägde, also aus einer niedrigeren sozialen Schicht kam. Hierbei ist aber auch zu bedenken, dass nicht in jedem Fall Angaben über die Tätigkeit und die Herkunft der Frauen vorliegt und es immer wieder auch Ausnahmen gab. Zudem kann vermutet werden, dass Frauen aus dem Bürgertum oder dem Adel, welche enger in ihren eigenen Familienverbund eingebunden waren, von ihren Angehörigen eher vor der Obrigkeit und Strafen abgeschirmt wurden.

Das Alter der meisten Kindsmörderinnen lag zwischen 20 und 30 Jahren und entsprach somit dem üblichen Heiratsalter von Frauen in der Frühen Neuzeit. Sehr viel jüngere oder ältere Frauen tauchen im überlieferten Material selten auf. Dies lässt es plausibel erscheinen, dass diese Frauen bestrebt waren eine Ehe einzugehen und erst beim Scheitern der Übereinkunft aus Angst und Verzweiflung zum Mittel des Kindsmordes griffen.

3. Gesellschaftliche Rezeption von Kindsmord

3.1 Maßnahmen zur Verhinderung von Kindsmord

3.1.1 Abschreckung durch Strafen und dessen Wirkung

Das Strafrecht sah in der Frühen Neuzeit für Kindsmord die Todesstrafe vor, davon wurde bis in das 18. Jahrhundert hinein nicht abgewichen. Die Bestrafung des Verbrechens erfolgte nach zwei Prinzipien. Zum einen sollte durch die Vernichtung der Delinquentin das Verbrechen gesühnt werden und zum anderen sollte die Schwere der Strafe andere potentielle Kindsmörderinnen abschrecken.[29]

Die Carolina sah im Artikel 131 für Frauen, die ihr Kind „heymlicher boßhafftiger williger weiß ertödtet“[30] hatten, als Strafe vor, dass sie lebendig begraben und gepfählt werden sollten.[31] Diese Todesstrafe war für Frauen die schwerste und entsprach dem Rädern bei Männern,[32] dementsprechend groß wird die beabsichtigte Abschreckung gewesen sein. Die Carolina sieht aber auch noch die Strafe des Ertränkens vor: „Aber darinnen verzweiffelung zuuerhütten, mögen die selben übelthätterinn inn welchem gericht die bequemlicheyt des wassers darzu vorhanden ist, ertrenckt werden.“[33] Das Ertränken galt als etwas milder als das Lebendigbegraben und war auch eine typische Frauenstrafe[34], diese Strafmilderung sollte wohl dazu führen, dass verurteilte Kindermörderinnen sich aus Angst vor der schrecklichen Strafe nicht selber das Leben nahmen und somit zum einen ihr Seelenheil gefährdeten und zum anderen die öffentliche, abschreckende Ausführung der Exekution verhinderten. Die peinliche Halsgerichtsordnung nahm aber eine weitere Einschränkung vor: „Wo aber solche übel offt geschehe, wollen wir die gemelten gewonheyt des vergrabens vnnd pfelens, vmb mer forcht willen, solcher boßhafftigen weiber auch zulassen, oder aber das vor dem erdrencken die übelthätterin mit glüenden zangen gerissen werde, alles nach radt der rechtuerstendigen.“[35] Hier zeigt sich sehr deutlich, dass die Abschreckung ein wichtiger Zweck der Bestrafung war. Wenn schon aus verschiedenen Gründen nicht die grausame Strafe des Pfählens und lebendigen Begrabens durchgeführt werden konnte, sollte die Verurteilte zumindest vor der scheinbar milderen Strafe des Ertränkens mit glühenden Zangen gequält werden. Dies alles nicht nur zur Bestrafung der Kindsmörderin, sondern besonders, um andere Frauen abzuschrecken, dieses Verbrechen zu begehen. Das Ertränken konnte noch verschlimmert werden, indem die Verurteilte vom Scharfrichter vorher in einen Sack gesteckt und dann in tiefes Wasser geworfen wurde.[36] Zur größeren Abschreckung wurden immer wieder Strafverschärfungen angeordnet. Dazu gehörten, das bereits erwähnte Reißen mit einer glühenden Zange, meist an der Brust, oder die Zurschaustellung des Kopfes der toten Kindsmörderin auf einem Pfahl. Auch zusätzliche Ehrstrafen konnten verhängt werden, so wurde manchen verurteilten Frauen eine hölzerne Puppe um den Hals gehängt, welche das ermordete Kind symbolisieren sollte. Solche Ehrstrafen trafen dann auch die Familie der Verurteilten.[37] Derartig grausame Strafen und Strafverschärfungen wurden noch bis weit in das 18. Jahrhundert hinein ausgeführt, obwohl es seit dem 17. Jahrhundert eine allgemeine Tendenz gab, Strafen zu mildern.[38] Teilweise kam es sogar zur Wiedereinführung von eigentlich schon abgeschafften Verfahren. In Preußen wurde 1720 von Friedrich Wilhelm I kurzfristig die Strafe des Säckens, also des Ertränkens in einem Sack, für Kindsmörderinnen wieder eingeführt. Als Grund wurde die Häufigkeit des Delikts genannt, aufgrund dessen es notwendig sei, Abschreckung durch härtere Strafen zu praktizieren.[39] Anscheinend führte diese Maßnahme aber nicht zum gewünschten Erfolg, denn schon drei Jahre später wurde ein weiteres Edikt herausgegeben, in dem festgestellt wurde, dass die Häufigkeit dieses Verbrechens immer noch zunehme.[40]

Dies entspricht der Ansicht, welche sowohl von vielen Zeitgenossen, als auch in großen Teilen der Forschung geteilt wurde. Otto Ulbricht geht allerdings davon aus, dass diese Ansicht nicht bewiesen ist und nicht etwa von einem Massendelikt auszugehen ist, als welches Kindsmord häufig angesehen wurde.[41] Dennoch ist aber belegt, dass es Kindsmorde gab und dass Frauen nach wie vor häufig für dieses Delikt verurteilt wurden. Kindsmord war das häufigste Tötungsdelikt, welches von Frauen verübt wurde, es war aber eindeutig kein alltägliches Verbrechen.[42]

Es ist aber davon auszugehen, dass die drastischen Strafen ihre beabsichtigte Abschreckungswirkung nicht erfüllten, da der Kindsmord nur selten ein logisch geplantes Verbrechen war, vor dessen Ausführung die betreffende Frau Strafen und Konsequenzen gegeneinander abwog.

Die Wahrnehmung von Kindsmord und Kindsmörderinnen ist als eher ambivalent zu betrachten. Im Hinblick auf die geforderten und oftmals auch verhängten schweren Strafen, ist davon auszugehen, dass die Tat bei Kirche und Obrigkeit als eines der schwersten Verbrechen überhaupt galt und mit dementsprechend viel Aufwand sanktioniert wurde. Markus Meumann beschreibt einen Fall, bei dem ein Amtsschreiber extra von Lüneburg nach Erfurt reiste, um einen möglichen Zeugen für einen Kindsmord zu befragen.[43] Doch nicht nur die Obrigkeit, auch Teile der Bevölkerung schienen die Tat zu missbilligen und scheuten sich trotz der angedrohten drakonischen Strafen nicht, vermeintliche Kindsmörderinnen anzuzeigen.[44] Dies kann aber auch in großem Maß damit zusammenhängen, dass nicht nur den Täterinnen selbst, sondern auch möglichen Mitwissern Strafen drohten. Richard van Dülmen berichtet von einem Fall aus Nürnberg. Dort wurde ein Geschwisterpaar, welches seine Schwester, eine angebliche Kindsmörderin, gedeckt und beherbergt hatte, der Stadt verwiesen. Auch Geldstrafen waren möglich, genauso wie Belohnungen für sachdienliche Hinweise auf eine mögliche Kindstötung.[45]

[...]


[1] Vgl. dazu: Van Dülmen, Richard: Frauen vor Gericht: Kindsmord in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1991; Seite 19

[2] Ebd.

[3] Die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532 (Carolina). Herausgegeben und erläutert von Friedrich-Christian Schroeder; Stuttgart 2000. Alle Zitate und Belege dieses Werks beziehen sich in der vorliegenden Arbeit auf diese Ausgabe. Hier: Artikel 131

[4] Vgl. dazu: Van Dülmen, Richard: Frauen vor Gericht; Seite 18 f.

[5] „Item so man eyn dirn so für eyn jungfraw geht, imm argkwon hat, daß sie heymlich eyn kindt gehabt, vnnd ertödt habe […]“

[6] Die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532 (Carolina). Artikel 35

[7] Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexikon; Band 15, K; Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1737; Graz 1961; Seite 650

[8] Solche Teildelikte konnten z.B. verheimlichte Schwangerschaft und Geburt sein.

[9] Vgl.: Ulbricht, Otto: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland; München 1990; Seite 34

[10] Vgl.: Wächtershäuser, Wilhelm: Das Verbrechen des Kindesmordes im Zeitalter der Aufklärung: Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung der dogmatischen, prozessualen und rechtssoziologischen Aspekte; Berlin 1973; Seite 122

[11] Vgl.: Van Dülmen, Richard: Frauen vor Gericht; Seite 76 f.

[12] Ebd. Seite 77

[13] Ebd. Seite 94

[14] Vgl. für das Folgende: Ulbricht, Otto: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland; Seite 70 f.

[15] Selbstverständlich ausgenommen der Fälle, bei denen es sich um Vergewaltigung oder Nötigung handelte.

[16] Vgl.: Ulbricht, Otto: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland; Seite 86 ff.

[17] Vgl.: Ulbricht, Otto: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland; Seite 114 f.

[18] Vgl.: Meumann, Markus: Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord: Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft; München 1995; Seite 120. Ulbricht und Wächtershäuser kommen zu entsprechenden Ergebnissen, auch für andere Gegenden.

[19] Vgl.: Große-Boymann; Andreas: Heiratsalter und Eheschließungsrecht; Münster 1994; Seite 153

[20] Ebd.: Seite 155 ff. Beispielsweise Heuchelheim in Hessen von 1691 bis 1800. Heiratsalter der Frauen zwischen 22,6 und 26,7 Jahren.

[21] Vgl.: Ulbricht, Otto: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland; Seite 165

[22] Vgl.: Van Dülmen, Richard: Frauen vor Gericht; Seite 87 f.

[23] Vgl.: Wächtershäuser, Wilhelm: Das Verbrechen des Kindesmordes im Zeitalter der Aufklärung; Seite 178 f.; Anhang VII: Armut als Motiv einer Kindestötung.

[24] Vgl.: Günther, Bettina: Die Behandlung der Sittlichkeitsdelikte in den Policeyordnungen und der Spruchpraxis der Reichstädte Frankfurt am Main und Nürnberg im 15. Bis 17. Jahrhundert; Frankfurt am Main 2004; Seite72

[25] Ebd.

[26] Vgl.: Van Dülmen, Richard: Frauen vor Gericht; Seite 91 f.

[27] Zudem ist davon auszugehen, dass die als Schutzbehauptung angesehene Angabe der Frauen, ihr Kind sei tot zur Welt gekommen oder kurz nach der Geburt verstorben, durchaus wahr sein konnte. Das eingeschränkte medizinische Wissen jener Zeit, welches die Frauen, die meist allein gebaren, selber aber auch die Sachverständigen hatten, lässt dies nicht unwahrscheinlich wirken. Vgl. dazu z.B.: Ulbricht, Otto: Kindsmörderinnen vor Gericht: Verteidigungsstrategien von Frauen in Norddeutschland 1680-1810. In: Blauert, Andreas; Schwehoff, Gerd (Hrsg.): Mit den Waffen der Justiz: Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit; Frankfurt am Main 1993; Seite 54-86; Seite71 f.

[28] Vgl.: Van Dülmen, Richard: Frauen vor Gericht; Seite 85 f.

[29] Vgl.: Van Dülmen, Richard: Frauen vor Gericht; Seite 46 ff.

[30] Die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532 (Carolina).; Artikel 131

[31] Ebd.

[32] Vgl.: Van Dülmen, Richard: Frauen vor Gericht; Seite 24

[33] Die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532 (Carolina; Artikel 131

[34] Vgl.: Van Dülmen, Richard: Frauen vor Gericht; Seite 47

[35] Die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532 (Carolina); Artikel 131

[36] Vgl.: Meumann, Markus: Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord; Seite 111

[37] Ebd.: Seite 112 ff.

[38] Vgl.: Van Dülmen, Richard: Frauen vor Gericht; Seite 46

[39] Vgl.: Wächtershäuser, Wilhelm: Das Verbrechen des Kindesmordes im Zeitalter der Aufklärung; Seite 69 f.

[40] Ebd.; Seite 70

[41] Vgl. dazu: Ulbricht, Otto: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland; Seite 188 ff.

[42] Ebd. Seite 182 f.

[43] Vgl.: Meumann, Markus: Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord; Seite 104

[44] Ebd. Seite 104 f.

[45] Vgl.: Van Dülmen, Richard: Frauen vor Gericht; Seite 29 ff.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Gesellschaftliche Rezeption von Kindsmord in der Frühen Neuzeit
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
26
Katalognummer
V284675
ISBN (eBook)
9783656874782
ISBN (Buch)
9783656874799
Dateigröße
508 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gesellschaftliche, rezeption, kindsmord, frühen, neuzeit
Arbeit zitieren
Daniel Kulins (Autor:in), 2013, Gesellschaftliche Rezeption von Kindsmord in der Frühen Neuzeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/284675

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