Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Gott als Welterschaffer und Weltenlenker
3. Die Grenze der göttlichen Determination in der prohairesis
4. Die bestmögliche Welt und das Problem der Theodizee
5. Die theologischen Prämissen von Epiktets praktischer Philosophie
a) Die Angleichung des eigenen Willens an den Willen Gottes
b) Das Wissen vom Eigenen und vom Fremden
c) Freiheit und Glückseligkeit als Konsequenz
6. Schluss
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Günther Bien schreibt über die Philosophie der Stoa und der Epikureer, erst bei ihnen würde sich die antike Philosophie - ganz im Gegensatz zu den Vorsokratikern, den klassischen Philosophen Platon und Aristoteles sowie der von ihnen begründeten Schulen der Akademie und Peripatos - völlig und ausschließlich auf ihren praktischen Aspekt, der „Unterweisung in der ars vivendi “ (Bien 1994, 71), konzentrieren. Selbst die scheinbar theoretischen Spielarten der Philosophie würden „ausschließlich funktional auf die Begründung und Verteidigung“ (ebd.) der ethischen und moralischen Ansichten der stoischen und epikureischen Philosophen bezogen sein.
Was Bien schreibt, gilt auch für den stoischen, kaiserzeitlichen Philosophen Epiktet (ca. 50 - 135 n.Chr.). Den von seinem Schüler Arrian geschriebenen Lehrbüchern, den Diatriben und dem Handbuch, merkt man einen dominanten Fokus auf praktische, lebensweltliche Probleme an. Insbesondere das Handbuch wirkt stellenweise wie eine Aufzählung recht simpler Lebensweisheiten, die zur Glückseligkeit führen sollen. Diesem Eindruck steht jedoch im Weg, dass sich v.a. in den Diatriben Abschnitte finden, die auf den ersten Blick rein theoretisch motiviert erscheinen. Dazu gehören beispielsweise die Abschnitte über Logik (z.B. D 1.17, D 2.12) oder über Theologie (z.B. D 1.6, D 1.14, D 1.16).
Ich möchte in dieser Arbeit exemplarisch zeigen, dass der erste Eindruck trügt, und selbst die Gegenstände theoretischer Philosophie - gemäß der Ansicht Günther Biens - bei Epiktet in Zusammenhang mit seinen praktisch-philosophischen Vorstellungen stehen. Ich werde mich dabei auf einige Aspekte von Epiktets Theologie konzentrieren, die sich in einen begründungslogischen Zusammenhang mit einigen seiner praktischen Grundsätze bringen lassen.
Ich werde zunächst zeigen, dass für Epiktet eine göttliche Macht die Welt erschaffen hat und sie steuert (Kap. 2). Die Steuerungsfähigkeit Gottes endet nur an einem exklusiven Bereich menschlicher Entscheidungskraft, der prohairesis (Kap. 3). Da Gott die Welt steuert, ist sie eine bestmögliche Welt (Kap. 4). Praktisch folgt aus diesen Prämissen Folgendes: Wegen der Determination der Welt durch Gottes Willen ist jeder Versuch des Menschen, den Weltverlauf zu verändern, zum Scheitern verurteilt. Der Mensch soll deshalb sein Wollen nach dem ausrichten, was in der Welt geschieht (Kap. 5 a). Zudem muss der Mensch genau wissen, was der Bereich ist, über den er gebietet, und der Bereich, über den Gott gebietet, und entsprechend handeln (Kap. 5 b). Wenn der Mensch diese Forderungen umsetzt, wird er frei und glücklich sein (Kap. 5 c).
2. Gott als Welterschaffer und Weltenlenker
In einer längeren Diatribe (D 1.6), die sich um die göttliche Vorsehung dreht, zeigt Epiktet anhand eines Beispiels, dass die Welt von Gott geschaffen worden sein muss. Der Philosoph stellt fest, dass die Farben, das menschliche Sehvermögen und das Licht nur zusammen, einzeln jedoch keinen Sinn ergeben würden (vgl. D 1.6.3-6). Ähnlich ist es mit handwerklichen Produkten: Das Schwert und die Scheide sind nur zusammen und in ihrer gegenseitigen Anpassung von Nutzen, woraus man schließen kann, dass sie kein Zufallsprodukt sind, sondern einen Erschaffer hatten (vgl. D 1.6.7). Derselbe Schluss lässt sich in Bezug auf die Welt anwenden. Die sinnvolle Verknüpfung der einzelnen Dinge in der Welt führt zu der Folgerung, dass sie von Gott geschaffen wurden (vgl. D 1.6.8 ff.). Diese Ansicht wurde nicht bloß von Epiktet vertreten, sondern war in der antiken, und insbesondere stoischen Philosophie weit verbreitet (vgl. Gill 2014b, 308; Frede 2007, 164).
Einen ähnlichen Argumentationsstrang verfolgt Epiktet, als er zu begründen versucht, dass die Welt nicht nur von Gott geschaffen wurde, sondern auch von ihm in all ihren Einzelheiten permanent gesteuert wird. Beispielsweise wird hier auf die große Regularität der Vorgänge in der Natur und am Himmel hingewiesen (vgl. D 1.14.3-4). Epiktet folgert daraus die immer wieder von ihm geäußerte Auffassung, die Götter1 seien „beings who exist and govern the universe well and justly“ (HB 31.1), auch ausgedrückt in der trivialen Antwort auf die Frage, wie sich das Geschehen in der Welt erklären ließe: „As God wills“ (D 1.1.17).
Die Frage ist, ob sich aus diesen Argumenten eine vollkommene Determination der gesamten Welt ableiten lässt. Diese Folgerung würde Epiktet ablehnen. Die bisher gegebenen Beispiele bezogen sich auf nicht-mentale, äußere Dinge und Vorgänge, und diese werden tatsächlich in der stoischen Konzeption komplett dem Willen Gottes unterworfen. Der Bereich des Außer-Mentalen wird von Epiktet häufig mit den Ausdrücken „not within our power“ (HB 1.1) oder „not of our own doing“ (ebd.) umschrieben. In dieser Sphäre herrscht Determination: „[I]t isn't possible that things should come into being in any other way than they do at present“ (fr. 8)2. Prophezeiungen des göttlichen Willens können deshalb nur über diesen Bereich Auskunft geben, also über Dinge wie „death, danger, or illness, or, in general, things of that kind“ (D 2.7.2), jedoch über nichts darüber Hinausgehendes. Das leitet über zum nächsten Kapitel, in dem es um die Grenze des göttlichen Einflusses geht.
3. Die Grenze der göttlichen Determination in der prohairesis
Der göttliche Wille und Einfluss ist nicht allmächtig. Der Mensch behält angesichts der äußeren Determination einen Bereich innerer Freiheit. Dieser Bereich beginnt (was natürlich tautologisch ist) bei den Dingen, die „within our power“ (HB 1.1) sind. Epiktet zählt zu diesem Bereich mentale Operationen wie die Entscheidung, das Begehren oder die Zustimmung (vgl. ebd.). Zusammengefasst wird diese zweite Sphäre unter dem Begriff prohairesis3 . Die prohairesis kann von göttlicher Macht nicht beeinflusst werden: „[N]ot even Zeus can overcome my power of choice“ (D 1.1.23). Der mentale Bereich ist von Natur aus frei (vgl. HB 1.2).
Ist die Macht Gottes zu schwach, um diesen Bereich im Menschen zu beeinflussen? Zeigt sich hier eine Enklave menschlicher Freiheit in einer ansonsten von Zeus' Willen determinierten Welt? Epiktet würde diese Fragen verneinen: Es war Gott, der den Menschen aus eigenem Antrieb einen Bereich persönlicher Freiheit bereitgestellt hat (vgl. D 1.1.7-13; D 1.6.40). Wie man diese Selbstbeschränkung Gottes zu interpretieren hat, ist eine diskutable Frage; entscheidend ist jedoch, dass tatsächlich Gottes eigener Antrieb zu dieser Entscheidung geführt hat. Mehr noch: Laut Epiktet hätte Gott uns auch die Macht über die äußeren Dinge gegeben, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre (vgl. D 1.1.7-13). Da ihm dieser Schritt nicht möglich war, hat er den Menschen stattdessen die prohairesis gegeben. Somit ist der fundamentale Unterschied zwischen dem freien mentalen Bereich und der unfreien äußeren Welt in gewisser Weise eine kosmologische Konstante, die sogar Zeus nicht ändern kann.
Für Epiktets praktische Philosophie ist entscheidend, dass der Bereich der prohairesis nicht nur von Gott, sondern auch von dem Einfluss anderer Menschen unabhängig und frei ist. Dieses Lehrstück ist so zentral für Epiktets Philosophie, dass sich Formulierungen der immer gleichen Idee in zahlreichen seiner Diatriben finden. Zitiert sei hier nur eine Stelle, die prägnant die philosophische Begründung enthält, welche hinter dieser Idee steckt. Zunächst wird die These formuliert: „You have a power of choice, man, which is secure by nature from hindrance and compulsion.“ (D 1.17.21) Anhand einiger Präzisierungen wird die These bewiesen: „Can anyone prevent you from assenting to the truth? No one at all. […] Well then, are things any different in the sphere of choice and motivation? What can overpower a motive except another motive, and that alone? And what can overpower a desire or aversion except another desire or aversion?“ (D 1.17.22- 24)
Zwischen der Sphäre der prohairesis und der Sphäre der äußeren Welt, die unter göttlicher Determination steht, besteht eine so absolute Grenze, dass die erstere von direkten oder indirekten Wirkungen aus der letzteren, zumindest in der Theorie4, völlig unabhängig ist. Dahinter steht eine philosophische These, die bereits im letzten Zitat angeklungen ist. In ihrer allgemeinsten Form lässt sie sich in folgender Feststellung präzisieren: „[C]hoice cannot be hindered or harmed by anything that lies outside the sphere of choice, but only by choise itself.“ (D 3.19.2) Die prohairesis kann demnach nur dann beeinflusst werden, wenn man sich selbst dazu entscheidet, wenn man sie also auf sich selbst anwendet. Weder Gott, noch irgendein Bestandteil der äußeren Welt hat über die eigene Entscheidungsfähigkeit jegliche Macht.
4. Die bestmögliche Welt und das Problem der Theodizee
In diesem Kapitel wird sich wieder der äußeren Welt zugewandt. Eine wichtige Konsequenz aus den Theorien, die in Kap. 2 vorgestellt wurden - dass Gott die Welt erschaffen hat und sie permanent steuert - ist die, dass die Welt in ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit eine bestmögliche ist.
Das Argument, das zu dieser These führt, kann möglicherweise folgendermaßen aufgebaut werden: Gott ist, wie es stoische Überzeugung war, vernünftig (vgl. Algra 2007, 38). Ebenfalls mit stoischen Grundsätzen übereinstimmend ist die Feststellung Epiktets, dass „what is reasonable [is] also good“ (D 1.11.17). Da die Welt von Gott gesteuert wird, ist gemäß diesen Prämissen auch die Welt und alles, was in ihr passiert, vernünftig (vgl. D 3.17.1), und damit gut.
[...]
1 Die teils verwirrende parallele Verwendung der Ausdrücke „God“ und „gods“ bei stoischen Philosophen wie Epiktet wird von Anthony A. Long folgendermaßen erklärt: „Because the Stoic divinity is everywhere, Stoic philosophers could accomodate gods in the plural. […] Strictly, though, these gods are only symbolical ways of reffering to the world's most powerful constituents all of which owe their existence to the active principle named God in the singular or Zeus.“ (Long 2002, 144)
2 Auch das entspricht der üblichen Ansicht der stoischen Philosophen, vgl. Frede 2007, 164f.
3 Richard Sorabji definiert den Begriff der prohairesis bei Epiktet als „your rational decision, or the tendency of your rational decisions, about how it is appropriate to act“ (Sorabji 2007, 87). Für Myrto Dragona- Monachou bezeichnet der Begriff prohairesis „the autonomous inner disposition and attitude, volition, moral choice, moral purpose, moral character and so on, and, particularly, basic free choice“ (Dragona- Monachou 2007, 112). Zentral ist der Bezug des Begriffs zur menschlichen Fähigkeit des Entscheidungs-Treffens (jedoch nicht unbedingt zur Umsetzung der Entscheidung) in Verbindung mit Vernunft und Moral.
4 Ein wesentlicher Schritt in der Entwicklung vom Laien zum wahren Philosophen ist es, diese Grenze tatsächlich aufzurichten, und psychische Qualitäten wie das Glück damit von der äußeren Welt komplett abzuschotten (vgl. z.B. D 3.19). Praktisch sind natürlich die meisten Menschen in ihrer mentalen Verfasstheit von äußeren Sachverhalten abhängig. Dazu unten mehr.