Die Übersetzung der Contes von Charles Perrault im Wandel der Zeit


Bachelorarbeit, 2010

49 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Märchen als literarische Gattung
1.1. Historische Entwicklung
1.2. Formale und sprachliche Merkmale des Märchen

2. Translationswissenschaftliche Aspekte
2.1. Translationswissenschaft und literarische Übersetzung
2.1. Der Göttinger Sonderforschungsbereich „Die Literarische Übersetzung“

3. Die Contes von Charles Perrault
3.1. Entstehungsgeschichte
3.2. Die Contes von Charles Perrault im Vergleich zu den Märchen der Gebrüder Grimm
3.3. Le Petit Chaperon rouge
3.4. Cendrillon ou La petite pantoufle de verre

4. Die Übersetzungen von Friedrich Justin Bertuch, Walter Scherf und Doris Distelmaier-Haas im Vergleich
4.1. Vergleich der Übersetzungen auf dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte
4.2. Vergleich der Übersetzungen auf sprachlicher Ebene
4.2.1. Le Petit Chaperon rouge
4.2.2. Cendrillon ou La petite pantoufle de verre

Zusammenfassung

Bibliografie

Glossar

Namensindex

EINLEITUNG

Wir alle kennen Märchen aus unserer Kindheit. Die phantastischen Geschichten von Hänsel und Gretel, Dornröschen oder dem gestiefelten Kater wurden uns vorgelesen oder erzählt oder vielleicht haben wir sie als Filmversion gesehen.

Märchen sind Teil des Kulturgutes und sind als solches in verschiedenen Formen auf der ganzen Welt verbreitet. Obwohl die Märcheninhalte aus längst vergangenen Zeiten stammen, werden diese immer wieder neu aktualisiert und der jeweiligen Zeit angepasst.

Im deutschen Sprachraum sind vor allem die Märchen der Gebrüder Grimm ein Begriff, die auf unterschiedlichste Weise, als Theaterstücke, Kinderserien, Comics usw. rezipiert wurden und werden. Darüber hinaus sind Märchen auch Thema wissenschaftlicher Auseinandersetzung geworden. Es hat sich eine eigene Märchenforschung entwickelt, die Märchenstoffe kategorisiert und deren historische Entwicklung untersucht. Die Analyse von Märchen ist jedoch auch Inhalt anderer Disziplinen, wie z.B. der Psychologie, Anthropologie oder der Literaturwissenschaft.

Die folgende Arbeit möchte sich nun mit den Contes des Charles Perrault aus dem Frankreich des späten 17. Jahrhunderts beschäftigen. Seine Erzählungen haben später auch Eingang in die deutschen Märchensammlungen gefunden. Diese Arbeit möchte sich aber nicht mit den bearbeiteten Fassungen, sondern mit den Übersetzungen, die sich direkt auf die Erzählungen von Charles Perrault beziehen, auseinandersetzen.

Dazu soll zuerst das Märchen als literarische Gattung beschrieben und dann im Besonderen die Contes des Charles Perrault im Hinblick auf die Zeit ihrer Entstehung analysiert werden. Da im deutschen Sprachraum dieselben Erzählungen vor allem in der Fassung der Gebrüder Grimm bekannt sind, werden diese zum Vergleich herangezogen.

Auf der Basis von translationswissenschaftlichen Methoden, besonders unter Bezugnahme auf den Ansatz des Göttinger Sonderforschungsbereichs „Literarisches Übersetzen“, sollen dann die Übersetzungen von Friedrich Justin Bertuch, Walter Scherf und Doris Distelmaier-Haas untersucht werden. So entsteht ein Vergleich von Übersetzungen aus verschiedenen Epochen anhand der zwei Märchen Le Petit Chaperon rouge und Cendrillon ou La petite pantoufle de verre.

Die folgende Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit dieses umfassenden Themas, sondern möchte ansatzweise aufzeigen, wie sich Märchen über die Sprachgrenzen hinweg verbreitet haben, und im Besonderen wie die Contes von Charles Perrault in den deutschen Sprachraum übertragen wurden.

1. MÄRCHEN ALS LITERARISCHE GATTUNG

1.1. Historische Entwicklung

Der Begriff Märchen stammt vom mittelhochdeutschen „maerelin“ oder „merechyn“ ab, die wiederum Verkleinerungsformen des Wortes „maere“ sind, was so viel wie Kunde oder Bericht bedeutet. Im ursprünglichen Sinn hieß Märchen also nur „kleiner Bericht“, und erst im Laufe der Zeit wurde es zum Ausdruck für Geschichten, die wunderbare, phantastische, also nicht reale Inhalte erzählen.

Märchen gehören zu den ältesten Erzählformen und lassen sich in allen Kulturen dieser Welt finden. Zu einer der ältesten überlieferten Märchensammlungen zählen die Geschichten aus „Tausendundeine Nacht“, die im 8. Jahrhundert zuerst im persischen Kulturraum entstanden sind und dann im 10. Jahrhundert ins Arabische übertragen wurden. Anfang des 18. Jahrhunderts wurden sie durch den Orientalisten Jean-Antoine Galland ins Französische übersetzt und verbreiteten sich folglich in ganz Europa. Ein Jahrhundert später, um 1823, entstand die erste Übersetzung ins Deutsche.

Auch in Europa findet man erste Märchen schon im Mittelalter, wie z.B. die Geschichte der Melusine, einer Fee, die ihrem Mann alles Glück bringt, sofern er sie zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht in ihrer wahren Gestalt sieht. Doch er bricht das Tabu und zerstört so alles Glück. Wie bei den meisten Märchenstoffen, die vorerst ja nur mündlich überliefert wurden, liegen auch die Ursprünge des Melusinemythos im Dunkeln. Die erste bekannte schriftliche Fassung des Gervasius von Tilbury stammt aus dem 13. Jahrhundert, später jedoch wurde die Geschichte mit dem Geschlecht der Herren von Lusignan in Verbindung gebracht, und als Ahnfrau dieses Geschlechts wurde aus der heidnischen Melusine eine christliche, gottesfürchtige Fürstin. Jean d’Arras und Couldrette verbanden in ihren Fassungen historische Begebenheiten mit dem Melusinemythos, sowie auch Thüring von Ringoltingen in seiner deutschen Fassung. So vermischte sich das Reale mit dem Wunderbaren. Dies entsprach, laut Friedmar Apel, der mittelalterlichen Wirklichkeitsauffassung, die das Wunderbare mehr als Teil der Realität denn als deren Gegensatz sah. So schreibt Apel (1978, S. 17): „Gleichzeitig arbeitet Couldrette aber die christlichen Elemente, insbesondere eine betont christliche Deutung der Gestalt der Fee heraus, was ein weiteres Mal bezeugt, daß das märchenhafte, abergläubisch-magische Wunderbare einen selbstverständlichen Platz innerhalb der theologisch bestimmten Wirklichkeitsauffassung hatte.“

Auch während der Renaissance wurde das Wunderbare mit dem Realen verbunden. Doch mit der Zeit bekam der Begriff „Mährlein“ einen abwertenden Charakter, und das Märchenhafte wurde im Gegensatz zur antiken und christlichen Mythologie der Magie und dem Aberglauben zugeschrieben. Apel (1978, S. 21) schreibt hierzu: „Hier bildet sich aus der Vorstellung von dem, was in der Dichtung als wahrscheinlich akzeptiert werden kann, zum ersten Mal ein scharfer Gegensatz zwischen Märchen und Dichtung.“

Erst in der französischen Klassik, in der die Vernunft und der Verstand zum obersten Gebot wurden, wird nun auch klar zwischen der Wirklichkeit und der Vorstellung unterschieden. Erstaunlicherweise schrieb Charles Perrault seine „Contes de ma mère l’Oye“ zu dieser Zeit und löste damit einen wahren „Märchenboom“ in Frankreich aus, die Mode der Feenmärchen. Friedmar Apel geht davon aus, dass es kein Zufall ist, dass gerade in dieser Epoche das Märchen zu einer eigenständigen Gattung wird. Er meint dazu: „Die konstituierende Bedeutung der Einbildungskraft konnte sich erst im Gegenzug zum rationalistischen Weltbild entwickeln, da ein Wirklichkeitsbewußtsein, in dem Wissen und Glauben in eins fallen, im Grunde keinen Gegensatz von imitatio und inventio kennen kann.“ (Apel, 1978, S. 23)

Freilich griff Charles Perrault auch auf schon ältere Märchensammlungen, die in Italien in der zweiten Hälfte des 16. und ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden waren, zurück. Unter dem Einfluss der orientalischen Märchen, die venezianische Seeleute nach Italien mitgebracht hatten, verfasste Giovanni Francesco Straparola die „Ergötzlichen Nächte“ und Giambattista Basile „Die Geschichte der Geschichte oder die Unterhaltung für die Kleinen“, die später in „Pentamerone“ umbenannt wurde. Schon dort findet man beispielsweise die Märchenstoffe des späteren „Gestiefelten Katers“ oder des „Aschenputtels".

Mitte des 18. Jahrhunderts setzte sich dann die Entwicklungsgeschichte des Märchens in Deutschland fort. Über französische Emigranten, die vor der Verfolgung der Hugenotten in Frankreich geflüchtet waren, und durch Übersetzungen, wie die von Friedrich Justin Bertuch, wurden die französischen Märchen auch in Deutschland bekannt. Zwischen 1782 und 1786 entstanden die „Volksmärchen der Deutschen“ von Johann Karl August Musäus. Doch wurde in Deutschland das Märchen als Gattung vor allem durch die „Kinder- und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm, die erstmals 1812/15 erschienen, geprägt. Die Beiträge zur Märchensammlung kamen vor allem von jüngeren gebildeten Frauen, wie z.B. Marie und Jeannette Hassenpflug, die mütterlicherseits von einer hugenottischen Familie abstammten. Gleichzeitig griffen die Gebrüder Grimm jedoch auch auf ursprünglichere Fassungen wie z.B. die Märchen des Giambattista Basile zurück. Anders als ihre Vorbilder aber wollten die Gebrüder Grimm eine möglichst treue, ursprüngliche Wiedergabe der Märchen. Sie wollten diese nicht dem Zeitgeist entsprechend anpassen, sondern als zeitlose Erzählungen darstellen. Nichtsdestotrotz griffen sie in den Stil der Märchen ein und nahmen z.B. in ihrer zweiten Auflage das Märchen des Gestiefelten Katers heraus, da es zu derb war und einen erotischen Beigeschmack hatte. Ziel der Gebrüder Grimm war es, mehr als ihrer Vorgänger, einerseits die Märchen den Kindern und Jugendlichen der bürgerlichen Gesellschaft zugänglich zu machen und andererseits Märchen als Volksgut zu bewahren. „Leitender Gesichtspunkt für die Neustilisierung war das romantische Streben, das, was man für den kreativ schaffenden Volksgeist hielt, erzählerisch und sprachlich zu rekonstruieren.“ (Freund, 2003, S. 25)

So kristallisierte sich in Folge eine Unterscheidung zwischen Kunstmärchen, das geprägt vom individuellen Verfasser das Wunderbare parallel zum Realen darstellt, und Volksmärchen, das als Ergebnis eines langfristigen Erzählprozesses das Wunderbare als eigene Welt darstellt, heraus. „Gerade die für die Erkenntnis der Geschichtlichkeit so wichtige Vorstellung vom goldenen Zeitalter schied die Romantiker hinsichtlich der Volksmärchenrezeption, wie überhaupt in der Diskussion um Natur- und Kunstpoesie, in eine ästhetisch-literarische Richtung, die den ganzen Schatz der wiederentdeckten Volkspoesie selbstverständlich als lebendiges Arsenal poetischer Mittel und Motive betrachtete, und eine mehr mythisch-volksgebundene Richtung, die die historische Tätigkeit im alten Sinne als ein Sammeln und Bewahren begriff und soweit ging, die Kunstmärchen überhaupt abzulehnen:“ (Apel, 1978, S.140)

Grundsätzlich kann man sagen, dass das Märchen in der Romantik einen Aufschwung erlebte. In dieser Zeit stehen Gefühle und Leidenschaft im Vordergrund und der Bruch zwischen Wunderbarem und Realem wird als Zerrissenheit gesehen, die geheilt werden soll. So entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts viele Übersetzungen von Märchen ins Deutsche, wie z.B. die 1846 erschienene Übersetzung der Märchen von Giambattista Basile von Friedrich Liebknecht oder die schon erwähnte Übersetzung von „Tausendundeine Nacht“, und weitere Märchensammlungen, wie die von Ludwig Bechstein.

In der Zeit nach der Romantik verloren Märchen jedoch immer mehr an Bedeutung. Zwischen 1835 und 1872 entstanden zwar die bekannten Kunstmärchen von Hans Christian Andersen, doch wurden Märchen zunehmend auf ihre Bedeutung als Geschichten für Kinder reduziert. Während Kunstmärchen nur mehr vereinzelt erschienen, wie z.B. Hugo von Hofmannsthals „Märchen der 672. Nacht“, versuchte man die Märchensammlung der Gebrüder Grimm mit Märchen aus allen Teilen der Welt zu ergänzen. Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen die „Märchen der Weltliteratur“ von Friedrich von der Leyen und „Die schönsten Märchen der Welt für 365 und einen Tag “ von Lisa Tetzner.

Prägend für den deutschen Sprachraum bleiben jedoch bis heute die Grimmschen Märchen. Sie wurden und werden in vielfältiger Weise rezipiert und abgewandelt und dienen als Vorlage für Theaterstücke und Filme. Jedoch der Mythos des Märchens als Ausdruck ursprünglicher Poesie des eigenen Volkes, wie ihn die Gebrüder Grimm darstellen wollten, muss relativiert werden. So ist heute bewiesen, dass Geschichten wie z.B. „Das tapfere Schneiderlein“ oder „Das Mädchen ohne Hände“ nicht von einer alten Amme stammen, wie es Hermann Grimm, der Sohn von Wilhelm Grimm, erzählt hat, sondern, wie schon erwähnt, von den Schwestern Hassenpflug. „Deutsche Märchen etwa galten in der Nachfolge der Brüder Grimm wesensmäßig als Abkömmlinge germanischer Mythen und folgedessen als kulturelles Fundament einer nationalen Wesensart, die sich seit Jahrtausenden organisch von Mund zu Mund überliefert hat.“ (Mazenauer/Perrig, 1998, S. 23) Wie jedoch klar aus der historischen Entwicklung des Märchens hervorgeht, ist ein interkultureller Einfluss in der Überlieferung unbestritten. Wenn Märchen auch aus mündlichen Erzählungen hervorgegangen sind, so waren die Quellen nicht in jedem Fall unbekannt und stammten oft aus anderen Ländern und Kulturen. Nicht zuletzt durch Übersetzungen konnten sich so Märchen über die Sprachgrenzen hinweg verbreiten.

1.2. Formale und sprachliche Merkmale des Märchens

Entsprechend der langen Entwicklungsgeschichte des Märchens haben sich auch seine Form und seine Sprache im Laufe der Zeit verändert. Nicht nur aufgrund des Sprachwandels, sondern auch aufgrund der sich wandelnden Rolle, die das Märchen im kulturellen, speziell im literarischen Kontext einnimmt.

Die Märchensammlungen von Straparola und Basile sind, ähnlich wie „Tausendundeine Nacht“ aber auch wie das Dekamerone von Boccaccio, in eine Rahmenhandlung eingebettet. Die Geschichten selbst werden von Mägden oder alten Weibern dem höfischen Publikum in einer einfachen, derben Dialektsprache vorgetragen, im Gegensatz zur feinen höfischen Sprache, das damals am neapolitanischen Hof das Spanische war. Die Erzählungen, die oft auch einen erotischen Beigeschmack hatten, dienten also zur Belustigung der höfischen Gesellschaft und nicht zur Unterhaltung von Kindern, wie im Titel Basiles angegeben.

Ebenso waren die Contes des Charles Perrault mehr als Unterhaltung für die höfische Gesellschaft als für Kinder gedacht. Wenn sie auch in einer recht schlichten Sprache verfasst wurden, so sind sie doch dem höfischen Lebensstil seiner Zeit angepasst. Sie haben ihre Derbheit verloren und erotische Inhalte werden nicht mehr offen ausgesprochen, sondern nur mehr angedeutet. Zur Intention der Unterhaltung kommt ein erzieherischer Aspekt hinzu, den Perrault in seinen Moralités zum Ausdruck bringt.

Mit dem Erscheinen der Grimmschen Märchen spaltet sich die Gattung in die Form des Volks- und des Kunstmärchens. Wenn diese Einteilung auch oft als problematisch gesehen wird, da auch die Volksmärchen eine individuelle Prägung durch ihre Verfasser erfahren, so bestehen doch klare formale und stilistische Unterschiede.

Volksmärchen sind charakterisiert durch eine einfache, lineare Struktur und eine leicht verständliche Sprache. Sie gehen immer von einer anfänglichen Problemsituation aus. Der Protagonist macht sich auf den Weg, kommt zu verschiedenen Wendepunkten und mit Hilfe von übernatürlichen Wesen, wie z.B. Zwergen, Feen oder verwandelten Tieren, bewältigt er die Situation, und die Geschichte kommt zu einem guten Ende. Es wird klar zwischen Gutem und Bösem unterschieden, dementsprechend sind die Charaktere im Märchen keine individuellen Personen, sondern Sinnbild für bestimmte Typen. Volksmärchen stellen keinen Bezug zu Zeit oder Ort her und fördern so das Entstehen einer eigenen Phantasiewelt. Dies wird zusätzlich durch eine immer wiederkehrende Symbolik unterstützt, wie z.B. die Zahlensymbolik (so werden bestimmte Situationen immer dreimal durchlaufen) oder die Farbsymbolik. Auch Gegenstände oder Erscheinungen, wie z.B. der Glasberg, bekommen eine symbolische Bedeutung. Die Sprache im Volksmärchen ist gekennzeichnet durch einen einfachen Satzbau, durch immer wieder eingeschobene direkte Rede und durch eine schlichte Wortwahl. Gleichzeitig wird aber durch Metaphern, Archaismen, Reime und volkstümliche Wendungen, wie z.B. „Wer A sagt, muss auch B sagen“ aus Hänsel und Gretel, ein poetischer Ton erzielt. „Volksmärchen in diesem Sinn sind individuell bearbeitete Erzählungen mit tradierten Inhalten, Motiven und Symbolen, die in einfacher Sprache und nicht komplexer Struktur die soziale Wirklichkeit des Mangels durch die wunderbare Fiktion der Glückserfüllung poetisch ausgleichen.“ (Freund, 2003, S. 13)

Kunstmärchen hingegen stellen zwar auch das Wunderbare dar, setzen dies jedoch in Beziehung zur realen Welt. Einerseits stehen beide Welten innerhalb der Geschichte im Widerstreit, andererseits gehen Kunstmärchen auf die aktuelle gesellschaftliche Situation ein. Ihre Struktur ist komplexer, da sie von einer individuellen Situation und einer individuellen Persönlichkeit ausgehen. Inhalte, Motive und Sprache sind viel stärker durch den Individualstil und die Erzählintention des Autors geprägt. Kunstmärchen sind vielmehr in der jeweils zeitgenössischen Literatur eingebettet.

Grundsätzlich kann man sagen, dass Märchen wunderbare Inhalte erzählen in einer mehr oder weniger einfachen Form und so heute vor allem der Kinderliteratur zugeschrieben werden. Ursprünglich waren Märchen jedoch auch an Erwachsene gerichtet, einmal mehr zur Unterhaltung, einmal mehr zur Belehrung und ein andermal, um existentielle oder gesellschaftliche Problemstellungen symbolisch darzustellen.

Aufgrund ihrer einfachen Form und ihrer phantastischen Inhalte waren Märchen als literarische Gattung aber stets umstritten. Schon Nicolas Boileau, der Gegenspieler von Charles Perrault in der „Querelle des Anciens et des Modernes“ der Académie Française, machte sich über dessen Contes lustig. Jedoch auch in Deutschland hatten die Feenmärchen trotz des großen Einflusses der französischen Kultur zunächst wenig Ansehen. So schreibt Johann Christoph Gottsched: „Die Contes de Fées dienen ja nur zum Spotte und Zeitvertreibe müßiger Dirnen und witzarmer Stutzer, führen aber auch nicht die geringste Wahrscheinlichkeit bey sich.“ (Apel, 1978, S. 79)

Wie immer man auch die literarische Bedeutung des Märchens einschätzt, so ist doch klar, dass es fiktionale Texte sind, und ihre charakteristische Form und Sprache Teil des inhaltlichen Konzeptes sind. Dies ist vor allem in Hinblick auf ihre Übersetzung zu berücksichtigen.

2. TRANSLATIONSWISSENSCHAFTLICHE ASPEKTE

2.1. Translationswissenschaft und literarische Übersetzung

Die Translationswissenschaft als relativ junge Disziplin hat sich in verschiedenen Richtungen ausgeprägt. Einerseits wird sie als Teil der Sprachwissenschaft gesehen, innerhalb derer sich jedoch erst in den sechziger bzw. siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine eigene Richtung, die die Übersetzungswissenschaft in den Mittelpunkt stellt, herausgebildet hat. Andererseits ist eine Translationswissenschaft, die sich bewusst von der Linguistik absetzt, wie die Theorien von Katharina Reiß und Hans J. Vermeer, entstanden. Diesen Ansätzen gemeinsam ist jedoch, dass sie zum Ziel haben, Grundlagen für ein richtiges Übersetzen zu schaffen, also normativ-präskriptiv orientiert sind. Außerdem wird in diesen Ansätzen nicht zwischen dem Übersetzen von Sachtexten und literarischen Texten unterschieden.

Da aber eine grundlegende ontologische Differenz zwischen pragmatischen und literarischen Texten besteht, ist dementsprechend eine unterschiedliche Herangehensweise und Theorie im Bereich der literarischen Übersetzung notwendig.

Literarische Texte sind im Gegensatz zu pragmatischen Texten nicht eindeutig kommunikativ, das heißt, es ist nicht von vorneherein klar, ob der Autor oder ein fiktiver Erzähler eine Botschaft an einen intendierten Leser richtet, wer dieser intendierte Leser ist, oder ob der Text sich überhaupt an einen Leser richtet. Greiner spricht von der Autonomie des literarischen Textes, der zwar sehr wohl einen Bezug zur Lebenswelt hat, dessen Ausdruck sich jedoch nicht nur auf die Abbildung der Wirklichkeit beschränkt. Er sagt dazu: „Nicht-fiktionale Sprache hält Begriffe bereit, die als Abbilder von etwas Entsprechungen in der Wirklichkeit finden. Literarische Werke präsentieren die zur Idee gesteigerte Wirklichkeit, nicht Abbilder eines in der Wirklichkeit vorzufindenden Urbildes.“ (Greiner, 2004, S.18)

Poetische Sprache ist also nicht-referentiell. Das heißt, referentielle Sprache ist wahrheitsfunktional, das bedeutet, es ist überprüfbar, ob eine Aussage der Wahrheit entspricht oder nicht. Die poetische Sprache hingegen hat zwar einen Sinn, hat aber keinen Wahrheitswert. „Entscheidend ist, daß in einem literarischen Text mit anderen als pragmatisch geläufigen Mitteln Gedanken ausgedrückt werden können, die den Sinn ergeben; daß in einem literarischen Text möglich ist und Funktion haben kann, was in einem pragmatischen Kommunikationszusammenhang nicht möglich ist, jedenfalls nicht so ohne weiteres.“ (Greiner, 2004, S.15)

Literarische Texte sind Kunstwerke und haben somit einen ästhetischen Charakter. Die Form eines literarischen Werkes hat genauso viel Aussagecharakter wie der Inhalt, d.h. der Autor wählt ganz bewusst stilistische Mittel und will damit etwas Bestimmtes ausdrücken. Für das Übersetzen bedeutet das: „In literarischen Texten kann also das Variationsphänomen ‚Stil’ infolge seiner strukturalen Einheit mit dem ‚Mitgeteilten’ von diesem nicht ohne Auswirkung auf die Textaussage abgelöst werden.“ (Greiner, 2004a, S.889) Die Form eines literarischen Werkes ist also nicht nur schmückender Ausdruck eines Inhaltes, sondern Sinnträger selbst, und schon die kleinste Abweichung kann einen anderen Sinn ergeben.

In diesem Zusammenhang ist auch begreiflich, warum literarische Werke die Regeln der herkömmlichen Sprache manchmal umgehen, neue Ausdrucksmöglichkeiten schaffen oder das Stilmittel der Verfremdung anwenden.

Doch nicht nur der literarische Text, sondern auch dessen Übersetzung ist ein ästhetisches Objekt und weist somit die gleichen Merkmale auf wie das literarische Werk selbst. Daraus kann man folgern, dass Prämissen, wie sie die Theorie Nidas vorgibt, wie z.B. der Vorrang des Inhalts gegenüber dem Stil oder die Forderung, eine Übersetzung solle nicht fremd wirken, für literarische Übersetzungen nicht zutreffen.

Bis jetzt wird ausschließlich von der Beschaffenheit des literarischen Textes selbst gesprochen. Dieser wird jedoch auch durch das Erfassen des Lesers bzw. des Publikums mitbestimmt. Greiner spricht von der doppelten Textidentität, d.h. der Autorintention und der Leserintention. Wenn auch der literarische Text einen eigenständigen Sinn hat, so wird dieser doch durch den Leser neu aktualisiert. Da auch der Übersetzer Leser des Originals ist, kann dieser Aspekt auf den Übersetzungsvorgang übertragen werden. Der Übersetzer gestaltet seine Übersetzung entsprechend seiner Interpretation des Originals. Greiner (2004, S.28) sagt dazu: „Eine Differenz zwischen Original und Übersetzung ist damit nicht nur einkalkuliert, sie erweist sich poetologisch als eine Notwendigkeit, die die Übersetzung als eigenständiges Kunstwerk erst definiert und sie als Gegenstand vergleichender kulturhistorischer Arbeit interessant macht.“

Wenn also schon innerhalb einer Kultur der literarische Text nicht nur von der Intention des Autors, sondern auch von der Wirkungsweise auf den Leser mitbestimmt wird, um wie viel mehr gilt dies dann für den Leser aus der fremdsprachlichen Kultur.

Ein weiteres Kriterium eines literarischen Werkes ist dessen „Eingebundensein“ in einen historischen Kontext. Diesem Aspekt, in welchem Zusammenhang ein literarisches Werk, aber auch dessen Übersetzungen entstanden sind, widmet sich vor allem der Göttinger Sonderforschungsbereich „Literarische Übersetzung“, auf den ich mich in meiner Arbeit vor allem beziehen will.

2.2. Der Göttinger Sonderforschungsbereich „Die Literarische Übersetzung“

In der Mitte der achtziger Jahre wurde an der Universität Göttingen der Sonderforschungsbereich „Die literarische Übersetzung“ eingerichtet. In den „Göttinger Beiträgen zur internationalen Übersetzungsforschung“, herausgegeben von Armin Paul Frank und Horst Turk, sind die Forschungsberichte der Gruppe dokumentiert.

Ziel dieser Forschungsgruppe ist es, eine Kulturgeschichte der literarischen Übersetzung in Deutschland zu beschreiben. Die zentrale Frage ist dabei: Was wurde wann, wie oft, von wem, wie übersetzt? Mit der systematischen Untersuchung von Übersetzungen will man große historische Zeiträume erfassen und die übersetzerische Tätigkeit einer Epoche möglichst umfassend darstellen. Denn erst durch eine systematische Erfassung können Aussagen über die Wirkungsweise von Übersetzungen in den einzelnen Kulturen getroffen werden. Anhand von sprachlichen und kulturellen Differenzen zwischen dem Ausgangs- und Zieltext will man den Wandel von Übersetzungsnormen und den Einfluss der jeweiligen Literaturen auf die übersetzerische Praxis darstellen. Jedoch nicht nur der Einfluss der jeweiligen Kultur auf das Übersetzen, sondern auch umgekehrt der Einfluss, den das Übersetzen auf die jeweilige Kultur ausübt, soll aufgezeigt werden. In diesem Zusammenhang werden die Begriffe Nation und Internationalität eingeführt. Allerdings nicht im politischen Sinne, sondern im Sinne einer Sprachgemeinschaft oder Lesekultur. Nationalliteraturen stehen der Internationalität gegenüber, wobei mit Internationalität der Kontakt bzw. der Austausch, der durch Übersetzungen verbundenen Nationen gemeint ist. Man geht also davon aus, dass durch das literarische Übersetzen die einzelnen Nationalliteraturen durch fremde Elemente bereichert werden, und so das Übersetzen zum Ausbau und zur Erweiterung von literarischen Formen beiträgt.

Vor allem aber will sich der Göttinger Sonderforschungsbereich von einem normativ-präskriptiven Ansatz abgrenzen und stellt dem eine historisch-deskriptive Sicht gegenüber. Differenzen in der Übersetzung werden nicht als Fehlerquelle, sondern als Parameter für die Erforschung von Übersetzungen gesehen. „Selbst wenn es das Ziel des Übersetzers gewesen ist, vollständige Äquivalenz zu erreichen, kann eine literarische Übersetzung nur aus einem für sie kennzeichnenden Verhältnis aus Äquivalenzen und Differenzen bestehen, und verschiedene Übersetzungen desselben Werks aus verschiedenen solchen Verhältnissen. Aus Gründen wie diesem ist übersetzerische Differenz [kursiv im Org.] ein wichtiger, aber nicht ohne weiteres erkennbarer Indikator für die relative Bereicherung oder Verarmung der jeweiligen Zielkultur, in die eine Übersetzung eingeführt worden ist. Sie dient zugleich als wichtiger Bestimmungsfaktor in der Übersetzungsgeschichte.“ (Frank/Kittel, 2004, S. 19)

Literarische Übersetzung wird folgendermaßen definiert: „Eine literarische Übersetzung läßt sich als eine Version im Sinne einer Re-Produktion – nicht einer photographischen Reproduktion – in einer zweiten Sprache und im Hinblick auf eine zweite Lesekultur auffassen, die mit literarischem Anspruch das Verständnis und die Wertschätzung ausdrückt, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ein Übersetzer dem fremden Werk entgegengebracht hat.“ (Frank/Kittel, 2004, S. 19) So bekommt die literarische Übersetzung auch eine Wertigkeit, jedoch nicht im Sinne von richtig oder falsch, gut oder schlecht, sondern im Sinne einer Einschätzung der Verhältnisse der Nationalliteraturen untereinander. Die Wahl von eher verfremdendem oder einbürgerndem Übersetzen wird zum Indiz dafür, ob das Prestige der Ausgangs- oder der Zielliteratur als höher eingeschätzt wird.

In seiner methodischen Vorgehensweise unterscheidet der Sonderforschungsbereich vier Arten von Studien: die Kometenschweifstudien, die sämtliche Übersetzungen eines fremden Werkes in einer gegebenen Übersetzungskultur untersuchen, Übersetzerorientierte Studien, Autororientierte Studien und Studien geordneter Übersetzungscorpora. Unter letzterer versteht man vor allem die Arbeit mit Repertoires, z.B. Spielplänen von Theatern, oder Verlagsprogrammen.

Ausgehend von einer umfassenden Analyse des Ausgangstextes erstreckt sich die Untersuchung der Übersetzung auf die Kategorien Kontexte, Abweichungen, Normen und Normenfelder sowie produktive Abweichungen.

Mit Kontext ist sowohl der historische Kontext, als auch die ganz individuelle Art, wie der Übersetzer den Ausgangstext interpretiert, gemeint.

Um Abweichungen systematisch einzuordnen, wird der Ausgangstext im Hinblick auf vier Kategorien, das sind textliche Mikroeinheiten, textliche Rekurrenzen, literarische Schemata und literarische Inferenten, sowie anhand von vier Arten der Korrelation zwischen Ausgangs- und Zieltext, nämlich Auslassung, Hinzufügung, Wiedergabe und Veränderung, untersucht. Textliche Mikroeinheiten umfassen Graphemik, Phonetik, Wörter, Wortgruppen, Syntax und übersatzmäßige Formen. Unter Rekurrenz versteht man Wiederholungen, die als Stilmittel verwendet werden, um Verbindungen aufzuzeigen. Literarische Schemata beinhalten Metrum, Prosodie, Handlungsschemata, Figurentypen, usw. Literarische Inferenten hingegen sind Elemente, die der Leser mit dem Werk verknüpft, wie z.B. Erzählsituation, Dialog, Milieu, Figur oder Mentalstil.

Grundsätzlich unterscheidet man zwischen absoluten und relativen Normen. Absolute Normen werden durchgesetzt und Abweichungen davon bestraft, während relative Normen sich selbst regulieren. Die Normenfelder, die die Tätigkeit des Übersetzers beeinflussen, werden bestimmt durch das Anstreben übersetzerischer Treue, durch die Vorstellung, die ein Übersetzer von einer guten Übersetzung hat, durch die Übersetzungskultur, durch Normen einer weiteren Kultur, sofern eine Mittelübersetzung aus einer dritten Lesekultur herangezogen wird, durch die der Übersetzung innewohnenden Konsequenz, durch Literaturkenntnis sowohl der Ausgangs- wie auch der Zielkultur, durch literatursprachliche Normen, durch Sprachnormen, durch eventuelle technische oder Aufführungsnormen und durch naturgegebene Normen.

Mit produktiver Abweichung meint man den kreativen Umgang des Übersetzers mit Normenkonflikten. Das heißt, dass der Übersetzer fremde Elemente aus dem Text der Ausgangskultur nicht der Zielkultur anpasst, sondern sie als neue literarische Stilmittel einführt, und damit, wie schon erwähnt, das literarische Schaffen der Zielkultur ausbaut und bereichert.

Insofern kommt der Literarischen Übersetzung eine Vermittlerrolle zu, die nicht nur literarische Werke der Ausgangskultur den Lesern der Zielkultur zugänglich macht, sondern überhaupt die literarische Entwicklung der Zielkultur als prägender Faktor mitbestimmt.

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Details

Titel
Die Übersetzung der Contes von Charles Perrault im Wandel der Zeit
Hochschule
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck  (Institut für Translationswissenschaft)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2010
Seiten
49
Katalognummer
V284867
ISBN (eBook)
9783656854791
ISBN (Buch)
9783656854807
Dateigröße
919 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
übersetzung, contes, charles, perrault, wandel, zeit
Arbeit zitieren
Elisabeth Pedrini (Autor:in), 2010, Die Übersetzung der Contes von Charles Perrault im Wandel der Zeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/284867

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