Leseprobe
Inhalt
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1 Neue Medien, Hypertext und digitale Literatur
1.1 Non-sequential writing – das Konzept Hypertext
1.2 0/1: Digitale Literatur, eine Annäherung
2 Wer schreibt? Autorschaft in den Neuen Medien
2.1 Wen kümmert’s, wer schreibt? Die Postmoderne als Totengräber
2.2 Hypertext und Postmoderne = Praxis zur Theorie?
2.3 Autor³ – autoritärer denn je zuvor?
3 Wen kümmert’s, wer liest? Die Rolle des Lesers
4 Nachlese
Literatur
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Die Zeit der Euphorie ist vergangen. Zumindest wenn man den Spiegel -Autoren Anne Petersen und Johannes Saltzwedel Glauben schenkt, die in ihrem Beitrag „Absturz der Netzpoeten“ ein Scherbengericht abhalten über die „schwindsüchtige[] Szene“ der Autoren (Petersen, Saltzwedel (2002), S. 178), die in den digitalen Medien, allen voran: dem World Wide Web, publizieren. Im WWW, heißt es, sähen viele nur eine „Probebühne für Unfertiges … Literarische Wertarbeit hingegen, so die stillschweigende Überzeugung, sollte man auch getrost nach Hause tragen und ins Regal stellen können.“ Dieser Attitüde folgend attestiert das Spiegel -Duo denn auch Mitschreibprojekten eine rührende „Hobby-Mentalität“ und „heitere[] Bedeutungslosigkeit“. Vernichtend ist die Einschätzung, ein digital publizierender Autor könne „heute nur noch Artist ohne Geldsorgen, verzweifelt armer Poet oder williger Schreibnovize sein“; ernst zu nehmende Poeten hingegen seien dem Buch verhaftet (ebd., S. 180).[1]
Dabei gab es keine Dekade zuvor durchaus eine veritable deutsche Szene interessierter Leser und Netz-Literaten, stimuliert durch die Ausbreitung des WWW und quasi als Nebenwirkung des „Internet-Literatur-Wettbewerbs“, den ZEIT, IBM, Radio Bremen und weitere Sponsoren ausgelobt hatten. Doch bereits nach drei Jahren war Schluss: Nach einer Umbenennung in „Pegasus“ wurde der Wettbewerb 1998 eingestellt (vgl. Suter (2000c)). Überraschend kam dies nicht, hieß es doch in der der Zeitung, die den Wettbewerb mit ausgelobt hat: „Lesen im Internet ist wie Musikhören übers Telephon. … Literatur im Netz ist eine Totgeburt. Sie scheitert schon als Idee, weil ihr Widersinn womöglich nur noch von Hörspielen aus dem Handy übertroffen wird“ (Benne (1998)). Simanowski (1999) hält entgegen, Bennes polemischer Kommentar beeindrucke durch „böswillige Ignoranz“, denn wer einen Vergleich wie den Bennes anstelle, gehe auch davon aus, dass „man ‚Krieg und Frieden‘ am Computerbildschirm liest“. Texte lediglich zu digitalisieren, sei ohnehin nicht Anliegen der digitalen Literatur, sondern das Produzieren nicht-druckbarer. Die wahren „Probleme digitaler Literatur sind anderer Art“, meint Simanowski: „Sie lauten Desorientierung, Ermüdung und Betrug ums Happy End“ (a. a. O.).Offenbar sind diese Probleme nicht gelöst worden, wenn drei Jahre später zu lesen ist: „Der Hyper-Hype ist vorbei“ (Petersen, Saltzwedel (2002), S. 178). Ist digitale Literatur also tot? Es gibt andere Perspektiven. Zum Beispiel die Dirk Schröders,[2] eines Pioniers der Netzliteratur, der deutliche Worte findet für Beiträge wie die in ZEIT und Spiegel veröffentlichten bzw. die Attitüde dahinter: „Die digitale Literatur … erscheint der zeitgenössischen Philologie als Marginalie – um nicht zu sagen als Quatsch“ (Schröder (1999), S. 43).
Ganz ohne Komplikationen und Widerworte lässt sich die vom Buch losgelöste, auf Bits und Bytes basierende Literatur nicht marginalisieren. Das trifft ebenfalls auf den Autor zu, dessen Position der Poststrukturalismus, und hier sind besonders Roland Barthes und Michel Foucault zu nennen, angegriffen hat. Stirbt der Autor im Hypertext? Geht er darin verloren? Oder erstarkt er? Was fordert das Schreiben in den Neuen Medien den Autoren und Lesern ab? Es sind diese und andere Fragen, denen diese Hausarbeit nachgehen will.
Dazu wird es zunächst notwendig sein, Begriffe zu bestimmen, wobei dem Terminus „Hypertext“ als Ausgangspunkt für ein geändertes Textverständnis besonderes Gewicht zufällt, um sodann auf digitale Literatur einzugehen. Das neue Verständnis von Literatur geht einher mit einer Neuverortung des Autors. Die teils oppositionellen Ansichten und die Transformationen des Autors stellt das zweite Kapitel dar. Im Anschluss ist danach zu fragen, welche Folgen digitale Literatur für den Leser hat. Schließlich gilt es zu fragen, warum der Erfolg der digitalen Literatur weiterhin auf sich warten lässt.
1 Neue Medien, Hypertext und digitale Literatur
Es scheint angebracht, zunächst grundlegende Begriffe zu definieren, da die Änderungen hinsichtlich Literatur und Autorschaft vor allem struktural bedingte sind. Das beginnt bereits beim neuen, das heißt digitalem Trägermedium, anhand dessen, so Andrea Nemedi (2004), der Literaturwissenschaft zwangsläufig deutlich werden musste, „dass Medien nicht als neutrale Träger oder Überträger, sondern als konstitutive Faktoren von Literatur angesehen werden sollten.“[3] Christiane Heibach schreibt in diesem Zusammenhang über jene Dependenz am Beispiel des Internets: „ Ich bin mir sicher, dass das Internet seine eigenen ästhetischen Formen entwickeln wird, die sich aber von denen des Buches unterscheiden werden – wie auch das Buch spezifische literarische Genres hervorgebracht hat (insbesondere den Roman), die sich von der oralen Literatur des Mittelalters unterscheiden“ (zit. nach Basting (2003)).
Zurück zu den Definitionen. Mit dem Ausdruck „Neue Medien“ sind den Worten Simanowskis nach „die auf dem Prinzip des digitalen Codes basierenden Speicher- und Übertragungstechnologien Computer, Diskette, CD-ROM, DVD und Internet gemeint“ (Simanowski (2002), S. 9). Digitalen Medien ist gemein, dass sie des Monitors als Repräsentationsform bedürfen (vgl. Winko (1999), S. 511). In ihnen liegen die Informationen binär codiert vor; sie sind in Bits gespeichert, also als Anweisungen für „Strom“ und „kein Strom“. Das Besondere der Digitalität der Daten besteht darin, „jegliches akustische, poetische, sprachliche und rechnerisch-arithmetische Element in eine binäre 0/1-‚Sprache‘ übersetzen (‚codieren‘) zu können“. Daraus ergeben sich zwei Gestaltungsmöglichkeiten. Zum einen die der der Multimedialität, also der Kombination verschiedener Medien in einem Werk: „Dieses 0/1-‚Alphabet‘ als letzter gemeinsamer Nenner aller modernen Medienphänomene ist die Basis der totalen Konvertierbarkeit sämtlicher denkbaren Daten und der sich heute abzeichnenden ‚Konvergenz‘ der Medien“.[4] Zum anderen lassen sich dadurch Inhalte anders, nämlich nicht-linear strukturieren, womit auf den Begriff Hypertext abgehoben ist.
1.1 Non-sequential writing – das Konzept Hypertext
Als „konzeptueller Prototyp heutiger vernetzter und hypertextueller Environments“ (Idensen (2001b) S. 91) gilt der vom amerikanischen Ingenieur Vannevar Bush ersonnene „Memory Extender“, kurz MEMEX, dessen Funktionsweise er im 1945 erschienenen Artikel „As we may think“ beschrieb. MEMEX ist nie über das Stadium der Idee gekommen, Bahn brechend war der entworfene „analoge Desktop“ (Idensen (1999), S. 71) , der Informationen und deren Verknüpfungen speichern sollte, allemal. Und ist es bis heute. Der Grund ist der so genannte „Assoziationsmechanismus“, dessen Vorteil Bush zufolge darin liegt, der Funktionsweise des menschlichen Gehirns zu entsprechen. Informationen werden im MEMEX nicht über „unnatürliche“ Katalog- und Indizierungssysteme wie in Bibliotheken abgelegt, sondern durch nahe liegende Bezüge miteinander verknüpft.[5] Hier klingt zwar bereits die Idee des Hypertextes an, nämlich die assoziative Verknüpfung, der Begriff „Hypertext“ fällt aber erst Jahre später. Der Informatiker Ted Nelson, ein Schüler Bushs, führt den Terminus technicus 1965 auf einer Tagung ein (vgl. Pfefferkorn (2000)), allerdings nicht als reinen Text-Begriff, sondern als „ein grundsätzliches mentales Konzept: dem nicht-lineraren assoziativen Schreiben und Verbinden von Textelementen, das nicht notwendigerweise an den Computer gebunden ist“ (Heibach (2003), S. 48).
Folgt man dieser Definition, so hat es bereits zahlreiche Hypertexte gegeben. Heibach (vgl. a. a. O.) führt diverse Beispiele an: den Talmud, randkommentierte Codizes, Samuel Johnsons „Tristam Shandy“. Mit Simanowski (2002a) ist diese Liste zu ergänzen. Etwa um den Roman „Rayuela“ (1963) von Julio Cortázar, in dem über Hinweise auf alternative Seitenanschlüsse unterschiedliche Wege durch den Textkorpus gangbar sind. Oder um Marc Saportas „Kartenspiel-Roman“ „Composition No. 1“ aus dem Jahr 1961. Der Roman besteht aus 150 unpaginierten losen Blättern, die ihn arbiträrer Reihenfolge gelesen werden können. Auf narrative Strukturen und Konsistenz verzichtet der „Lotterie-Roman“ „Deus ex Skatola“ aus der Feder Konrad Balder Schäuffelens ganz: Hier stehen auf Papierröllchen Aphorismen und geschlossene Sentenzen.
So betrachtet, ist das Konzept Hypertext nicht Bahn brechend neu. Zum erfolgreichen Novum wird es dank der technischen Unterstützung. Die technische Konzeption des Begriffes offenbart sich in Nelsons Datenbank XANADU, die er auf der Grundlage MEMEX’ entwickelt hat. Bei XANADU handelt es sich um ein „globales, integriertes Archiv-, Bibliotheks- und Publiziersystem“ (Böhle (1997), S. 126). In jenem System sollen alle Einzeltexte zu einem einzigen großen Text verknüpft werden, der auch als „Docuverse“ bezeichnet wird (vgl. Heibach (2003), S. 48).[6] Die Funktionsweise des computerbasierten Hypertextsystems beschreibt Schröder so: „In jeden beliebigen digitalen Text sollen Hyperlinks eingefügt werden können, anklickbare Verweise, die die verknüpften Dokumente gleich auf den Bildschirm holen“[7] (Schröder (1998)), womit das Prinzip des Hypertextes angerissen ist.
Stellvertretend für die diversen Hypertext-Definitionen in der Literatur sei die Anja Raus angeführt, die ihn so bestimmt: „Hypertext ist ein nicht-sequentieller Text, der aus assoziativ, nicht-hierarchisch und nicht zwingend kausal miteinander verbundenen Textblöcken besteht“ (Rau (2000), S. 10).[8] Dieser Ansatz geht explizit von Text aus, was inzwischen obsolet wirkt. Schröder schlägt eine aus philologischer Sicht nicht ganz komplikationslose Ergänzung[9] vor, mit der Hyper text zur Hyper media avanciert: „Wichtig ist, dass die Seitengestaltung, die Auswahl und Platzierung der Grafiken, die Ausgabe von Musik, Geräusch und Sprache, das Einbinden von Videos und Animationen (bis hin zur Textanimation) keine Zugaben zum Text sind, sondern gleichberechtigte Komponenten“ (Schröder (1999), S. 49).[10] Seine hegemoniale Position wird dem Text im Hypertext also streitig gemacht. Festzuhalten ist: Hypertext besteht aus einzelnen Informationseinheiten, die über Verweise, die Links, miteinander verbunden sind.
Den Links kommt eine besondere Stellung zu, denn sie sind die eigentlichen Determinanten des Hypertexts:[11] Sie verbinden die einzelnen, auch „Knoten“ genannten Einheiten und können wahlweise Grafiken oder Teile daraus, einzelne Wörter oder ganze Sätze sein. Die Art der Verlinkung bestimmt zudem die Struktur des Hypertextes. Suter hat drei Formen der internen Vernetzung, also der Vernetzung der Elemente innerhalb eines Hypertexts (vgl. Winko (1999), S. 524), beschrieben: die lineare Struktur, den Baum und das Rhizom.
- Die lineare Struktur unterteilt er in die Achse und den Tentakel. Das axiale Muster ähnelt einem wissenschaftlichen Text mit Fußnoten. Zwar kann der Leser aus dem Text springen, er muss jedoch an den Punkt des Sprungs auf der Achse zurückkehren, um der Handlung folgen zu können (vgl. (2001), S. 8f.). Anders ist dies bei der Tentakelstruktur, die aus einem Anfang besteht, aus dem sich mehrere Stränge mit jeweiligem Ende entwickeln: „Der Leser hat keine Möglichkeit, in eine andere Geschichte oder Episode zu springen. Sobald er den Startpunkt verlassen hat, sind ihm jegliche Entscheidungsmöglichkeiten entzogen“ (ebd., S. 9).
- War in der linearen Struktur der Rückweg verwehrt, ist dies anders in der Baumstruktur. Der Baum ermöglicht eine binäre oder multiple Pfadwahl, das heißt er lässt zwei oder mehr Alternativen zu. Mit jeder Wahl pro Knoten werden die anderen Äste und Zweige ausgeblendet, zu denen der Leser aber zurückkehren kann. Querverbindungen existieren nicht zwischen den Pfaden, und ein bestimmtes Ende ist immer nur über eine bestimmte Pfadwahl zu erreichen (vgl. ebd., S. 9f.).
- Die dritte Form der Organisation, das Rhizom, wird als das die typische Hypertext-Struktur betrachtet.[12] Ursprünglich stammt der Begriff aus der Biologie: „Das Rhizom ist ein wurzelähnliches Stängelorgan, das strukturell dem Baum oder der Wurzel eines Baumes entgegensteht. Kartoffel, Erdbeere, Minze oder Quecke können als anschauliche Modelle gelten“ (ebd., S. 10).[13] Dieses Netz, in dem jedes Element miteinander verbunden werden kann, weist keine beschreibbare Ordnung auf; Anfang und Ende sind nicht mehr klar zu definieren.
Die traditionelle Baum- und die eher neuartige Rhizom-Struktur sind äußerst gegensätzlich. Sie stehen, notiert Suter,
„hinsichtlich ihrer Struktur in einer klaren Opposition zueinander. Während der Baum eine hierarchisch organisierte, offene Struktur repräsentiert, die in immer neuen Verzweigungen vom Ausgangspunkt weg wächst, stellt das Rhizom eine antihierarchische Struktur dar, die in alle Richtungen wuchert und immer neue Knoten produziert, welche teils wieder miteinander verwachsen können …Ein Teil eines Rhizoms hat eine große Autonomie und kann sich selbst ergänzen, während der gekappte Ast eines Baums abstirbt, der Baum also die hierarchische Verknüpfung zum Überleben braucht“ (ebd., S. 8).
Die genannten Eigenschaften beziehen sich auf die Komplexität steigernde interne Vernetzung eines Hypertextes, die nun zu ergänzen ist um die Möglichkeit der externen Vernetzung mehrerer Hypertexte. Indem Hypertexte untereinander verknüpft werden, kann „unter ‚Hypertext‘ auch als die Gesamtheit aller miteinander vernetzten Texte verstanden werden“[14] (Winko (1999), S. 524). Winko hat fünf Merkmale herausgearbeitet, die sich aus der Verbindung mehrerer Hypertexte ergeben. Hypertexte sind erstens evident intertextuell, da sie „ immer in Relation zu anderen Texten“ stehen (a. a. O.). Daraus ergibt sich das zweite Merkmal: die Grenzenlosigkeit. Wenn alles verlinkt wird, verschwinden die Grenzen zwischen den einzelnen Einheiten; das Gleiche trifft auf Anfang und Ende zu. Im Extremfall wird alles zu einem Text, zu einem Docuverse. Wo Grenzen verschwinden, geschieht Selbiges mit dem Zentrum. Hypertexte sind – drittens – dezentriert: Ein Bedeutung stiftender Kern fehlt, stattdessen gibt es verschiedene, gleichrangige Code-Systeme (vgl. ebd., S. 524f.). Alle bislang genannten Merkmale münden in das vierte Merkmal, den Autonomieverlust eines Textes: „Hypertexte stehen nicht mehr für sich, sondern in permanenter Verweisfunktion auf andere Texte“ (ebd., S. 525). Die fünfte Eigenschaft berücksichtigt explizit den Link respektive die Folge für die Lektüre. Hypertexte werden diskontinuierlich gelesen, es gibt keinen einheitlichen Textfluss mehr, sondern die Leser springen von Texteinheit zu Texteineinheit (vgl. a. a. O.).
Die Bedeutung des Links ist nicht zu unterschätzen, da er für die Konsistenz und Kohärenz des Hypertextes sorgt, technisch gesehen neue narrative Strukturen und (in Verbindung mit nicht-textlichen Komponenten) ein neues Lesen ermöglicht und neue Anforderungen an Produzenten und Konsumenten digitaler Literatur stellt. Schröder beschreibt die Folgen auf digitale Literatur so: „Weder hat die heute häufigste Erscheinungsform der digitalen Literatur, die via WWW publizierte multimediale ‚Literatur‘, primär mit Literatur zu tun, noch ist sie einem vom Buch herkommenden Verstehen zugänglich.“ (Schröder (1999), S. 44) Nur: Was ist das: digitale Literatur?
1.2 p0es1e: Digitale Literatur, eine Annäherung
„Dem neuen Phänomen“, führt Simanowski (2001c), S. 120, an, „mangelt es keineswegs an umlaufenden Begriffen und Definitionen. Neben Interactive Fiction und weniger erfolgreichen Begriffsvorschlägen wie Cybernetic Fiction, Hypernarrative, aber auch Cybertext bzw. Ergodic Literature, stehen Hypertext, Hypermedia und Netzliteratur hoch im Kurs.“ Die Folgen der vielen Begriffe sind „eine ganze Reihe terminologischer und typologischer Unsicherheiten“ und „Verwirrung“ (Simanowski (2002), S. 14). Schröder moniert völlig zu Recht den Status quo: „Statt die allgemeine Begriffsverwirrung zu bedauern oder gar anzugehen, produziert die Literaturwissenschaft Sekundärtexte zur digitalen Literatur, für die Terminologie Nebensache ist“ (Schröder (1999), S. 43). Dabei sei die Konfusion eine, die bereits Basisbegriffe betreffe, meint Heibach:
„Unglücklicherweise erstreckt sich diese Verwirrung auch auf zahlreiche andere Begriffe, die gerne zur Kennzeichnung von Literatur in den neuen Medien verwendet werden: ‚Multimedialität‘, ‚Hypermedialität‘, ‚Intermedialität‘, ‚Interaktivität‘ – um nur einige zu nennen – zeichnen sich durch eine erstaunliche Dehnbarkeit und Unklarheit aus und werden nur selten in ihren theoretischen Implikationen eingehend analysiert“ (Heibach (2003), S. 21).
Es erscheint nicht sinnvoll, an dieser Stelle die diversen Ausführungen zu den Begrifflichkeiten zu referieren; der Hinweis auf die Absenz eines basalen Konsens’ über Begriffe muss genügen – und Simanowskis diplomatische Zusammenfassung der unterschiedlichen Positionen: „Was die genuinen Eigenschaften der digitalen Literatur betrifft, so sind diese recht vielfältiger Natur und weisen im Grunde nur die Tatsache notwendiger digitaler Existenz als gemeinsamen Nenner auf“ (Simanowski (2001a), S. 4).[15]
Um dem unscharfen Begriff dennoch beizukommen, bestimmt er digitale Literatur als „eine künstlerische Ausdrucksform, die der digitalen Medien als Existenzgrundlage bedarf, weil sie sich durch mindestens eines der spezifischen Merkmale digitaler Medien auszeichnet: Interaktivität, Intermedialität, Inszenierung“ (a. a. O.). Mit Interaktivität meint er die Teilhabe der Leser/Rezipienten an der Konstruktion des Werkes; entweder tun sie dies in Interaktion mit dem Werk selbst (programmierte Interaktivität) oder mit anderen Rezipienten (netzgebundene Interaktivität). Die Intermedialität bezeichnet die Kombination von Ton, Text und Bild zu einem neuen Gesamtkunstwerk, das nur noch unter einem weiten Textbegriff als Literatur gefasst werden kann. Inszenierung bezieht sich auf den programmierten Auftritt des Textes: Er ist nicht mehr nur starr, sondern kann sich in Gestalt, Form und Farbe ändern (vgl. ebd., S. 5). Auffällig, wenn auch wenig überraschend an dieser Definition ist der starke und unübersehbare Bezug zum Trägermedium.[16]
Die bislang aufgezählten Novitäten digitaler Literatur (die sicht zum Teil aus den Spezifika des Hypertextes ergeben) sind nun zu ergänzen um die Erweiterbarkeit digitaler Literatur, speziell jener im Internet. Uwe Wirth hat dies konzis zusammengefasst:
„Jeder Teiltext ist automatisch Bestandteil eines allumfassenden Textes, der ständig im Entstehen begriffen ist. Im Unterschied zu Hypertexten auf CD-ROM, die immer noch etwas vom ‚Werkcharakter‘ behalten haben, ist Online-Literatur im Internet potentiell jederzeit erweiterbar. Dies wird nun aber gerade dadurch möglich, daß es sich bei der Internetliteratur nicht mehr um Texte in Buchform handelt, sondern um Hypertexte. Texte also, die man aufgrund ihrer internen Verweisstruktur nicht drucken kann und die deswegen keine ‚realen‘ Grenzen haben. Die gesetzte Grenze zwischen Text und Kontext markiert der Buchdeckel. Diese Grenze entfällt im Internet. Insofern ist Literatur im Internet durch den Verlust des Buch- und Werkcharakters ausgezeichnet. Sie löst den Literaturbegriff von seinem ‚klassischen Träger‘, dem gedruckten Buch. Der Begriff des Textes ist nicht mehr an die Form des Buches gebunden“ (Wirth (1997), S. 324).
[...]
[1] Die Häme und der Zynismus des Spiegel -Artikels sind evident. Dass die Autoren auf die Euphorie der Anfangszeit rekurrieren, in der das Ende des Buches proklamiert wurde, ist zulässig, wirkt jedoch als Kontrastierung im Jahre 2002 nicht als Neuigkeit, sondern als Aufguss des Altbekannten. Zudem scheint hier der Versuch stattzufinden, bestehende Vorurteile zu verifizieren. Diese Attitüde ist nicht neu im Bereich digitaler Literatur; neu ist nur der an Schadenfreude gemahnende Ton, der eine kritische, aber offene Auseinandersetzung mit der Thematik als mindestens fragwürdig erscheinen lässt.
[2] Schröder hat in einem anderen Beitrag bereits die von Petersen und Saltzwedel nachgezeichnete Problematik der Internetliteratur, z. B. die Reputation, die Verdienstmöglichkeit und dergleichen mehr aufgegriffen und kritisch diskutiert, vgl. dazu Schröder (1997).
[3] Die Entstehung Neuer Medien führte nach Nemedi dazu, dass „die Literaturwissenschaft … über diese [= zur Aufzeichnung und Distribution notwendigen Medien] noch nie so intensiv reflektiert [hat] wie heute. Die medienwissenschaftliche Orientierung seit Anfang der neunziger Jahre hängt … mit der Einführung der Digitalmedien eng zusammen. Seit 1990 entstehen nämlich literarische Artefakte in den und für die digitalen Medien“ (a. a. O.). Vgl. dazu auch Heibach (2003), S. 40ff.
[4] Beide Zitate aus: Hiebel, Hans H. et al. (Hg.) (1999): Große Medienchronik. Technik und Leistung, Entstehung und Geschichte neuzeitlicher Medien. München, S. 12. Zit. nach: Nemedi (2004)
[5] Vgl. ebd., S. 71ff. und Idensen (2001b), S. 91ff. sowie Schröder (1998) Die Funktionsweise des MEMEX ist hier näher beschrieben. Es gibt jedoch auch Kritik an der Theorie der nicht-linearen Vernetzung. Daiber (1999) stellt mit Rekurs auf neurophysiologische Erkenntnisse fest: „ Die mentale Gewinnung und Repräsentation der Information ist parallel, die Umsetzung dieser Information in Sprache – und damit hat es Hypertext zu tun – jedoch erfolgt seriell und linear. Sprache gibt es nur, wenn Wort auf Wort folgt, Satz auf Satz gesetzt wird. Mit anderen Worten: Der Vergleich zwischen Hypertextstruktur und mentaler Wissensrepräsentation vermengt die Ebenen von textueller Strukturierung (die sprachlich und damit linear ist) und neuronaler Organisation von Wissen. Linear bleibt die Produktion und Rezeption von Sprache immer, wie man es auch dreht und wendet. Lediglich die Organisation der sprachlich produzierten Information vermag nicht-linear zu erfolgen.“
[6] Nelson schreibt selber über XANADU, es handele sich um ein „computer program intended to make possible a new unified electric literature, a computer program intended to re-kindle the freedoms of yesterday and extend them into the eletronic future of tomorrow, a computer program intended to tie everything together and make it all available to everyone.“ (Nelson, Theodor Holm: „Preface to the 1993 Edition“, unnummerierte Seite vor dem Inhaltsverzeichnis. In: Ders.: Literacy Machines 93.1, o. S., Sausalito 1993. Zit. nach: Rau 2000, S. 22) Als XANADU zwanzig Jahre nach der Idee tatsächlich erhältlich war, hatte das Internet längst aufgeholt und das Programm obsolet wirken lassen.
[7] Die Parallelen zu MEMEX sind evident.
[8] Häufig wird Hypertext auch als „nicht-linear“ bezeichnet, was Rau (2000) an anderer Stelle (S. 25) moniert: „Hypertext wird generell als nicht-linear gekennzeichnet; Analysen versuchen immer wieder, die Nicht-Linearität von analogen und digitalen Hypertexten zu beschreiben. Angemessener wäre eine neue Terminologie: Hypertext ist weder linear noch nicht-linear, sondern extra-linear, das Konzept der Linearität greift für Hypertext nicht mehr.“
[9] Zwar ist dies auf die Kategorie Webfiction bezogen, aber nach der unter Kapitel 1 herausgestellten Gestaltungsmöglichkeit Multimedialität erscheint eine Adaption auf den Hypertext nur folgerichtig.
[10] Die Synonymisierung ist typisch für den Bereich der digitalen Literatur und erschwert das Verständnis. Exemplarisch sei Simanowski angeführt, der das Begriffsdilemma zeigt, indem er zunächst Norbert Langs Beitrag „Multimedia“ in dem von Werner Faulstich herausgegebenen Werk „Grundwissen Medien“ (München 1998, Langs Beitrag: S. 296-313, Zitat von S.305) anführt:
„[‚]Es gibt kaum noch reine Hyper-’Text’-Applikationen, und auch Multimedia ist ausschließlich hyper-strukturiert. Insofern sind Multimedia und Hypermedia inzwischen weitgehend Synonyma und werden in diesem Beitrag auch so verstanden. Der Unterschied ist nur noch ein akzentueller: soll die Medienintegration oder die Hyperstruktur der vordergründige Gesichtspunkt sein?[‘]
So vollzieht sich nicht nur die Grundwortbesetzung – Hypertext oder Hypermedia –, sondern auch die Definition des Bestimmungswortes – Hypermedia oder Multimedia – in einer begrifflichen Grauzone. Während Hypertext und Hypermedia synonym verwendet werden und Hypermedia wiederum kaum von Multimedia unterschieden wird, weisen auch Hypertext und Multimedia eine Deckungsgleichheit auf.“ (Simanowski 2001c, S. 123)
[11] Pfefferkorn (2000) schreibt hierzu: „Das aus literaturwissenschaftlicher Sicht entscheidende dessen, was landläufig als Hypertext bezeichnet wird, das, was ein Hypertext mehr ist als ein konventioneller Text, ist der explizit formulierte Verweis aus einem Textblock in einen anderen. Der Autor hat auf eine noch zu untersuchende und zu charakterisierende Weise Teile seines Textsystems mit anderen Teilen, die nicht direkt linear auf erstere folgen, verbunden. Diese Verbindung kann für den Leser direkt sichtbar sein, sie kann aber auch nur auf Umwegen erschließbar oder überhaupt erfahrbar sein. Dabei sind diese Verbindungen wesentlicher Bestandteil des Hypertextes, die einzelnen Textblöcke sind nicht sinnvoll allein oder in linearer Abfolge konsumierbar.“
[12] „Rhizom“ ist durch Felix Guttaris und Gilles Deleuzes gleichnamiges Werk zu einem Begriff in der Texttheorie geworden. Idensen (2001a) schreibt: „Die topologische Metapher vom Rhizom eignet sich ideal als Denkmodell für hypermedale Diskurs verknüpfungen. [sic!] Die Charakteristika einer rhizomatischen Struktur sind die folgenden:
a) Jeder Punkt des Rhizoms kann und muß mit jedem anderen Punkt verbunden werden.
b) Es gibt keine Punkte oder Positionen in einem Rhizom; es gibt nur Linien.
c) Ein Rhizom kann an jedem Punkt abgebrochen oder neu verbunden werden, indem man einer der Linien folgt.
d) Das Rhizom ist anti-genealogisch. [...]
f) Ein Rhizom ist kein Abdruck, sondern eine offene Karte: es kann abgebaut, umgedreht und beständig verändert werden. [...]
h) Niemand kann eine globale Beschreibung eines ganzen Rhizoms liefern; nicht nur weil das Rhizom multidimensional kompliziert ist, sondern auch, weil seine Struktur sich in der Zeit ändert; darüber hinaus gibt es [...] auch die Möglichkeit widersprüchlicher Schlüsse [...]
j) An keinem seiner Knoten kann man die globale Ansicht aller Möglichkeiten haben, sondern nur die lokale Ansicht der am nächsten gelegenen [...] und denken heißt, nach dem Weg zu tasten. Das ist der Typ von Labyrinth, an dem wir interessiert sind. Er stellt ein Modell für eine Enzyklopädie als regulative semiotische Hypothese dar. (Eco, Umberto: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, Leipzig 1990, 106, 107)“
[13] Zu den von Suter vorgeschlagenen vier Arten rhizomatisch organisierter Hypertexte (Labyrinth, Labyrinth-Tour, Rhizom und multiples Rhizom) vgl. ebd, S. 10f.
[14] Man beachte die Parallele zu XANADU, siehe S. 2.
[15] Zur Terminologie vgl. Simanowski (2001c)
[16] Vgl. dazu auch Heibachs Äußerung auf S. 2. Heibach, die sich primär der Online-bzw. Netz-Literatur widmet, stellt einen starken Bezug zum Medium her, indem sie im gleichnamigen Band „Literatur im elektronischen Raum“ nur als solche definiert, „die mindestens eines dieser Elemente in irgendeiner Form nutzt – die technischen Dokumenten- und/oder Akteursvernetzung ins Zentrum rückt oder die Struktur des Mediums [Internet] ästhetisch zum Ausdruck bringt“ (Heibach (2003), S. 46). Zwei Jahre zuvor hatte Heibach eröffnet, es erscheine am fruchtbarsten, „von einer Ontologie des Mediums auszugehen, das heißt, die Typologie der ästhetischen Phänomene auf einer Beschreibung ihrer technischen Grundlage aufzubauen. Wir haben es hier insofern mit neuen künstlerischen Phänomenen zu tun, als sie mit und in einem Medium arbeiten, dessen ästhetische Potenziale noch weitgehend Neuland sind. Daher erscheint eine Herangehensweise von der spezifischen Struktur des Computers und des Internets empfehlenswert“ (Heibach (2001), S. 31).