Deutsch-jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert


Vorlesungsmitschrift, 2013

49 Seiten, Note: bestanden


Leseprobe


Deutsch-jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert

Endlich emanzipiert: Neue Möglichkeiten, alte Grenzen

Emanzipation = rechtliche Gleichstellung

1780-1918 = dramatischste Umwandlung im jüd. Leben überhaupt (in ganz Europa)

à dramatisch u. unerwartet

Ausgangspunkt: Ende d. 18. Jhdt.

Juden hatten wichtige ökonomische Funktion auf der niedrigsten Ebene (Trödler, Hausierer)

Endpunkt: Kaiserreich, ab 1918

Rathenau als wichtiger Politiker

Ausgangspunkt

- Ende d. 18. Jhdt. etwa 70.000 Juden im Bereich des zukünftigen Reichs
- nach 1815 doppelt so viele Juden
- u. im Habsburgerreich noch mal 70.000 dazu (hauptsächlich in Böhmen u. Mähren)
- und 200.000 in Galizien
- ohne Habsburger Länder: Juden etwa 1% der Bevölkerung

- Wien, Berlin, Frankfurt hatten mehr, aber trotzdem immer weniger als 5% d. Bevölkerung
- (vgl. heute Berlin 15% Türken)
- aber Juden waren sehr sichtbar u. in der Mittelschicht
- 50 % aller deutschen Juden lebten in Preußen, 20% in Bayern

Juden waren zu dieser Zeit sehr beweglich, sind viel gereist, gewandert – kulturelle Grenzen sind zu dieser Zeit wichtiger als die politischen Grenzen

sehr untersch. Gesetzgebungen in d. untersch. Städten/Ländern

- Bsp. in Fürth lebten Juden
- in Nürnberg durften sie sich nur tagsüber aufhalten

was f. d. meisten Juden zutrifft

- hauptsächlich urban (außer in Bayern, dort sehr ländlich)
- nur 6 Gemeinden mit über 1 000 Mitgliedern
- Frankfurt, Hamburg, Glogau, Mannheim, Zülz, Fürth
- zu dieser Zeit noch bescheidener Mittelstand im Handel, noch nicht an Universitäten
- viel in Geldgeschäften, Trödler u. Hausierer
- nur 1/3 d. Juden lebte eine gesicherte Existenz, restlichen 2/3 waren arm
- und daneben eine kleine Minderheit v. Reichen u. Einflussreichen

à Juden waren eine typische Randgruppe in d. Gesellschaft

Juden standen unter besonderen Gesetzen
- Leibzoll
- konnten nicht ohne Erlaubnis heiraten
- gab auch Verfolgungen u. Ausweisungen

Randgruppe mit einer anderen
- Religion
- Berufsstruktur (keine Bauern; kaum Arbeiter, d. für andere Menschen arbeiten)
- Lebensgewohnheiten
- Sprache
- Kleidung

Forschungsdiskussion, ob man von gesellschaftlicher Isolation sprechen kann

à wer handelt u. interagiert, kann ja nicht komplett isoliert sein

Endpunkt 1918
- Juden sind (immer noch) etwa 1% d. Bevölkerung
- besitzen nun aber vollen Bürgerrechte
- sind fast in ihrer Gesamtheit Teil des Bürgertums
- städtische Gruppe, hauptsächlich kommerziell im Handel, gebildet u. wohlhabend
- 60% im Kleinhandel
- 25% immer noch arm
- die sehr reichen u. kulturell sehr bedeutenden u. sichtbaren Personen (wie Rathenau) bleiben Minderheit

Emanzipation u. Integration parallele Entwicklungen?

zw. 1780 u. 1918 also Umwandlung v. isolierten Menschen zu Emanzipation u. Integration

ab Ende d. 18. Jhdt. versuchen Juden „Eingang“ in d. dt. Gesellschaft zu finden

à durch Besitz
à durch Bildung (dt. Sprache u. Kultur erlernen)
à Eingang in die Bourgeoise finden

weil d. Juden sich um Emanzipation bemühen
à streiten sich Nicht-Juden über gesetzliche Gleichstellung d. Juden

Aufklärungsgedanke: Minderheiten müssen Teil d. neuen aufgeklärten Staates sein

Christian Wilhelm Dohm

- war preußischer Beamter
- u. erster, der sich dafür einsetzt
- schrieb Buch „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (1781)

=> 1. Forderung nach Gleichstellung d. Juden

in Habsburgermonarchie unter Josef II. eine Reihe von Toleranzedikten

- dürfen nun in deutsche Schulen
- dürfen nun mit Nicht-Juden gemeinsam arbeiten

Unterschied zu Frankreich: Rechte nach u. nach, wenn sich Juden assimilieren

à FRAU: zuerst Rechte, dann assimilieren

sehr viel Ähnlichkeit mit d. Emanzipation d. Frau – auch d. sollten zeigen, dass sie im Stande sind, gleichgestellte Bürger zu sein in all diesen jüdischen Emanzipationen ging es nur um Männer – jüdische Frauen, waren doppelt belastet immer Frage, wie man das zeigt? Wie kann man andere überzeugen, dass man bereit ist? Assimilation hieß z.B. schönes Hochdeutsch zu sprechen

1812: Edikt d. Preußischen Staates – „ betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden“

- Paragraph 1: „Die in unseren Staaten jetzt wohnhaften, mit General-Privilegien, Naturalisations-Patenten, Schutzbriefen und Konzessionen versehenen Juden und deren Familien sind für Einländer und Preussische Staatsbürger zu achten.“
- Paragraph 7: „Die für Einländer zu achtenden Juden sollen [...] gleiche bürgerliche Rechte und Freiheiten mit den Christen geniessen.“

gab dann versch. Erweiterungen + Einschränkungen

1833 Erweiterungen: Bsp. Reisefreiheit in Preußen

innerhalb v. Preußen beginnt dann eine Migration v. Osten nach Westen

1848er-Revolution

- Juden nehmen aktiv teil

- Verleihung d. Wahlrechts

- Gleichstellung d. Juden wird v. Revolutionären als selbstverständlich angesehen

- Paulskirchenverfassung wollte

- Paragraph 16: „Durch das religiöse Bekenntnis wird der Genuß der bürgerlichen und Staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt.“

während dieser fortschrittlichen Gedanken während d. Revolution, gab es

ABER gleichzeitig eine Reihe v. gewalttätigen Ausschreitungen gg. Juden im ganzen Reich

à Verknüpfung v. Juden mit Adel, mit Ausbeutung

nach d. Revolution: Emanzipation verteidigt von oben, attackiert von unten

- Regierungen weiter bemüht, Juden gleichzustellen
- Widerstand kam von unten: von Parlamentariern u. v. niederen Bürgern

Unsicherheit in Bevölkerung: gehören Juden zum deutschen Volk?

gleichzeitig begann dann industrielle Revolution, wirtschaftliche Blüte der 1850er, 1860er in dieser Zeit war dann die Frage nach d. dt. Juden nicht mehr interessant plötzlich gibt es keine Gegenwehr mehr

nach 80 Jahren Streit, geht es dann plötzlich durch ohne Diskussionen:

vgl.: auch Emanzipation d. Frauen ging nach dem 1. WK ohne Diskussion durch

endgültige Schritte zur Gleichberechtigung dann 1869-1871

- 3. Juli 1869: Gesetz „ betreffend der Gleichberechtigung d. Konfessionen “ hat nur einen einzigen Artikel: „Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hiermit aufgehoben.“

=> neues deutsches Kaiserreich beginnt mit voller Emanzipation d. (männlichen) Juden

Die Euphorie nach der „Vereinigung“

= ein Erfolg, wo andere noch lange nicht emanzipiert sind,

unter diesen neuen Umständen wächst diese Prosperität d. Juden weiter

à zeigt sich an Steuerzahlen
- um 1900 zahlen 1/4 d. Juden überhaupt keine Einkommenssteuer (zu arm)
- Vgl.: generell zahlt aber Hälfte d. dt. Bevölkerung keine Steuer
- Juden sind reicher als Gesamtbevölkerung –wenn man sie mit allen vergleicht

wenn man jüdischen Mittelstand mit restlichem Mittelstand vergleicht, sind sie auf alle Fälle wesentlich gebildeter
à sehr hoher Anteil in Schulen, in Universitäten
à tlw. 10 Mal mehr jüdische Mädchen in Schulen als d. restlichen Mädchen

in Großstädten neue berufliche Möglichkeiten à Studium u. freie Berufe

aber über 60 % immer noch im Kleinhandel

à f. Nicht-Juden bedeutete Emanzipation, dass Juden mit d. Zeit nicht mehr jüdisch sein werden
à f. Juden bedeutete Emanzipation, mit allen anderen gleichberechtigt zu sein, aber jüdisch zu bleiben
à konvertieren konnte man ja auch schon früher, das hatte dann Assimilation als Folge

Ziel => anpassen, ohne eigene Identität aufzugeben

untersch. Gemeinden – untersch. Grad d. Religiosität

- orthodox u. liberal
- Traditionelle- u. Reformsynagoge
- Reformjudentum = Versuch, Juden zu bleiben, während man deutsch ist, das Judentum zu ändern, aber nicht aufzugeben

à Jüdische Identität behalten, während man deutsch wird

Zu dieser Zeit sehr viel jüdische Aktivität:

- jüdische Presse
- jüdische Wohlfahrtsorganisationen
- jüdische Schulen
- jüdische Studentenvereine

Ist es Integration, wenn man sich selber innerhalb seiner Minderheitengruppe organisiert?

à nennt man in Forschung oft „Negative Integration“

à man tut dasselbe wie die anderen, aber separat à es gibt christliche Studentenvereine, jetzt gründen wir jüdische

=> Strategie, sich den anderen anzupassen, durch separate Organisationen

Was war wichtiger: Erfolg oder Integration?

Volkov: f. Juden waren andere Sachen wichtiger als Integration à sozialer Aufstieg u. Erfolg

Erfolg in Gesellschaft, in Wissenschaft, in Wirtschaft, in Theater

à Juden waren bahnbrechende Modernisierer

Resultat: Juden waren wieder anders als andere à mehr in Bildung, mehr in Wissenschaft

f. sie war es nicht so wichtig, gemeinsam mit Nicht-Juden zu sein à wichtiger war es, dasselbe zu sein (selben Möglichkeiten, selben Positionen)

Erfolg gelang à hier waren Juden erfolgreich

à vielleicht weniger erfolgreich in Integration

nach Schule spielten jüdische Kinder nicht mit den nicht-jüdischen, sondern untereinander

man fuhr gemeinsam auf teure Kuraufenthalte

wichtig ist, dass man es tun kann, dass man es sich leisten kann

nicht wichtig ist, es gemeinsam mit Nicht-Juden zu tun

Jüdische Vorteile auf dem Weg in d. Moderne

- Demographischer Vorsprung (weniger Kindersterblichkeit durch mehr Hygiene)
- Beweglichkeit (Emigration u. Immigration – mussten beweglich sein wg. Vertreibungen) – deswegen mehr Wert auf Geld als auf Landbesitz
- Drang in d. Städte (auch bessere Schulen, Bildungsmöglichkeiten)
- Bildungsdrang
- d. richtigen (städtischen) Berufe u. nicht die gewünschte Produktivisierung (lernten jetzt nicht handwerkliche Berufe, obwohl sie durften, sondern blieben im Handel)

Volkov: Juden waren eine Generation vor den anderen modernisiert

à das heißt, man könnte sagen, die anderen haben sich dann an ihnen assimiliert

f. Juden war es wichtiger moderner, erfolgreicher, dynamischer zu sein als integriert

Mögliche Gründe f. diese Modernisierung
- religiöse Vorschriften?
- Traditionelle Normen?
- Erziehung?
- Beweglichkeit?

Nachteile d. Modernisierung
à Nationalismus
à Entwicklung einer nationalstaatlichen Ideologie

à nicht klar, ob Juden zum Volk gehören
- Sind Juden eine Minderheit (wie andere auch)?
- Sind Juden ein Fremdkörper?
- Sollen sie wie „unsereins“ sein? (Theodor Mommsen)

à unterschiedliche Auffassungen d. Emanzipation durch Juden u. Nichtjuden

à nach Emanzipation entstand Antisemitismus

Der moderne Antisemitismus – Neu oder dasselbe?

Gastvortrag von Frau Prof. Shulamit Volkov

Antisemitismus = eigentlich keine Frage d. jüdischen Geschichte, sondern eine Frage der sie umgebenden Gesellschaften

à leider wird Antisemitismus aber fast ausschließlich in der jüdischen Geschichte behandelt

à jahrhundertlange Tradition d. Hasses gg. Juden

gab schon Antisemitismus vor d. christlichen Zeit à Vertreibung aus Ägypten wird in römischer Geschichtsschreibung genau gegenteilig dargestellt

=> aber hier meint es ein europäisches Phänomen
- mit theologischen u. sozialen Motiven
- gab religiöse Motive (Antijudaismus)
- aber auch soziale Gegnerschaft – z.B. weil Juden immer in spezifischen Berufen waren
- alte Stereotype und wiederholte Beschuldigungen
- vgl. MA: Knabenmörder, Hostienschänder, Brunnenvergifter, etc.

also jahrhundertlange Tradition, wo Juden ausgegrenzt wurden – u. wenn sie nicht gehasst wurden, dann wurden sie zumindest auf Distanz gehalten

- war akzeptiert als Teil d. jüdischen Lebens, auch sie selbst setzen auf diese Distanz Historiker nennen Judenhass ab Ende 19. Jhdt. à modernen Antisemitismus
- klingt so als wäre etwas Neues passiert
- Frage, ob es wirklich etwas Neues war? Wo setzt man da die Unterschiede?

Säkularisierung u. Rationalismus im 18. Jhdt. helfen nur wenig

à Aufklärung änderte nichts an Abneigung gg. Juden

Emanzipationsforderungen oft trotz Abneigung

à Intellektuelle, d. Emanzipation d. Juden fördern, wollen das zu Gunsten des Staates – in ihren Forderungen beschreiben sie Juden trotz allem sehr „schwarz“

Ende d. 19. Jhdts. in Dtl. 650.000 Juden – sehr kleine Minderheit, weniger als 1%

Vormärz und Revolution

auch nach Franz. Revolution u. Aufklärung gab es immer wieder Ausschreitungen gg. Juden

schon 1819 gewalttätige Ausschreitungen gg. Juden => „ Hep-Hep“-Unruhen

- von Bayern aus nach Westen, dann auch in Nord- u. Ostdeutschland
- Erklärungsversuche: erste Schritte d. Modernisierung in Dtland. à Unruhe in Bevölkerung wg. Gesellschaftsänderungen
- unruhige Zeit: gab auch andere Unruhen
- z.B. gg. Adlige od. Protestanten

Frage: Sind das jetzt immer noch antijudaistische (religiös geprägte) Ausschreitungen?
à Eigentlich nicht, aber im MA waren sie ja auch nicht 100%ig religiös.

1830er Jahre, Revolution 1848-49 = Höhepunkt d. dt. Liberalismus u. d. Emanzipation

à aber trotzdem Unruhen gg. Juden

immer wenn sich gesellschaftlich etwas Großes ereignet, gibt es parallel dazu Ausschreitungen gg. Juden

Der post-emanzipatorische Antisemitismus

trotz allem gab es mit Reichsgründung 1871 rechtliche Gleichstellung f. Juden

es schien für eine Zeit lang so zu sein, als ob es nach Reichsgründung u. erlangter Emanzipation keinen Antisemitismus mehr gebe

ABER:

jetzt beginnt was Historiker modernen od. post-emanzipatorischen Antisemitismus nennen

1873: Wirtschaftlicher Kollaps

- Schmerzen der Modernisierung – Wer gewinnt? Wer verliert?
- es gab natürlich Gesellschaftsschichten, die Modernisierung ablehnten
- Juden waren immer sehr stark für jede Modernisierung – Juden waren da immer ein Stück weiter, schneller modernisiert als d. Rest
- das konnte man sehen im öffentlichen Leben, das rief einige Probleme herauf
1879: Politische Umwälzungen
- Menschen suchen sich nach 1879 neue politische Richtungen
- Krise des Liberalismus, Kampf gg. Sozialismus

um diese Zeit auch neue publizistische Blüte
- nach 73 beginnt man in Zeitschriften über Schuld d. Juden zu lesen
- wirft ihnen Börsencrash vor, weil sie in Börse so aktiv sind

à Scheitern d. Liberalismus wirft man nicht d. Liberalismus vor, sondern den Juden !
- z. B in
- Germania – katholische Zeitung
- Kreuzzeitung – konservative Zeitschrift
- Gartenlaube – Mittelschicht, vormals liberal, aber jetzt viele Artikel über Schuld d. Juden

à man muss da aber immer vorsichtig sein, weil wir ja nicht wissen, was die Menschen geredet haben, man darf solche Texte nicht überbewerten, solange man nicht weiß, wie weit verbreitet sie waren

à in den 1870ern war diese Judenfeindlichkeit aber tatsächlich sehr weit verbreitet => Trend

- auch Reihe von Schriften, die sich mit Judenproblem beschäftigen
- August Rohling: Der Talmudjude (1871)
- Otto Glagau: Die soziale Frage ist die Juden Frage
- d. h. lösen wir d. Judenfrage, haben wir d. sozialen Probleme gelöst
- Wilhelm Mar: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum (1879 – 12 Auflagen)
- darin erstmals Verwendung des neuen Begriffes: Antisemitismus

Warum brauchte man eigentlich ein neues Wort für Judenhass?
- Wort hat Ähnlichkeit mit Antiliberalismus, Antisozialismus à das klingt wissenschaftlicher als „Hass“
- Hass ist emotional, aber ein ismus ist überlegt, kann eine Ideologie sein
- Juden plötzlich Semiten zu nennen, ist auch merkwürdig – kommt aus Philologie (semitische Sprachfamilie)
- Zeitgleich beginnt man Gegensatz Arier ßà Semiten, um historische Stämme zu unterscheiden
- Wort Antisemitismus ist praktisch, um es v. d. alten mittelalterlichen Judenhass zu unterscheiden

Wort Antisemitismus verbreitet sich wie Feuer, wird auch von Juden selber benutzt

à am Ende der 1870er war Wort AS so verbreitet, als hätte es immer schon existiert

Christlich-soziale Arbeiterpartei (später Christlich-soziale Partei)

- gegründet vom Hofpfarrer Adolf Stoecker
- konservative Bewegung, um Arbeiter vom Sozialismus zurück zur Herrschertreue zu bringen
- erste antisemitische Organisation
- Adolf Stoecker hat mit sehr großem Erfolg Menschen durch antisemitische Reden angezogen (nicht zwingend Arbeiter, aber Handwerkern u. Mittelschicht)

Rede v. Adolf Stoecker, 19. Sept. 1879

„Wir hassen niemand, wir hassen auch die Juden nicht; wir achten sie als unsere Mitbürger und lieben sie als das Volk der Propheten und Apostel, aus welchem unser Erlöser hervorgegangen ist, aber das darf uns nicht abhalten, wenn jüdische Blätter unseren Glauben antasten und jüdischer Mammongeist unser Volk verdirbt, diese Gefahr zu kennzeichnen.“

- interessant, dass er anfangs sagt, er hasst die Juden nicht – man kann also Antisemit sein, ohne die Juden zu hassen
- richtet sich gg. Zeitungen u. Mammongeist (Vorherrschaft im Finanzwesen)

„Die Juden sind und bleiben ein Volk im Volke, ein Staat im Staate, ein Stamm für sich unter einer fremden Rasse.“

- interessante Mischung: Juden sind ein Staat im Staate (= alte Beschuldigung, das wird ihnen seit 200 Jahren vorgeworfen)
- neu ist: Benutzung von Wort Rasse - fremde Rasse

„Israel muß den Anspruch aufgeben, der Herr Deutschlands werden zu wollen.“

- Gefühl, dass diese kleine Minderheit, Deutschland beherrschen will

Der Berliner Antisemitismusstreit

Heinrich von Treitschke (berühmter Historiker v. Preußen)

à unter ihm wurde Antisemitismus „salonfähig“

„Unsere Ansichten“, Preußische Jahrbücher, 15. November 1879

“Nein, der Instinkt der Massen hat in der That eine schwere Gefahr[...] richtig erkannt; es ist keine leere Redensart, wenn man heute von einer deutschen Judenfrage spricht…”

“über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen.“

- richtet sich nicht gg. deutsche Juden !
- à Angst vor Einwanderung von osteuropäischen Juden
- wieder Hinweis auf Zeitungen u. Börsen
- spiegelt Tatsache der sehr großen Emigration aus Osten wieder (sehr viele Juden)
- die sich sehr schnell integrieren, da sie ambitioniert sind u. dem Staat keine Belastung werden wollen
- das erzeugt Unsicherheit, Angst, Neid in deutscher Bevölkerung

„Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben, ist einfach: sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen - unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns Allen ehrwürdig sind.“

- klingt tlw. wie Stoecker – wir ehren Juden, wir achten ihren Glauben, als unseren (christlichen) Vorgänger
- ABER sie sollen Deutsche werden
- à Frage, woran sich das zeigt
- Unterschied: früher verlangte man, Juden sollen Christen werden
à jetzt neue Forderung: Juden sollen Deutsche werden

„Denn wir wollen nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folge.“

- neue Angst (neben Börsen u. Zeitungen): Eindringen d. Kultur
- Angst vor einer Mischkultur (jetzt wo wir endlich eine geeinte dt. Kultur haben)

„Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!“

- Beschreibung dieser gebildeten, liberalen Männer (wie Autor)

Frage: Wer hat Treitschke gelesen?

- Preußische Jahrbücher waren sehr intellektuell, wenig gelesen
- aber er war ein populärer Lehrer u. hatte viele Studenten
- spätere Antisemiten sprachen oft von seinem großen Einfluss

Reaktionen

tragischer Moment f. viele Juden – Gefühl, dass die endlich erreichte rechtliche Gleichstellung umsonst war

- „Umsonst gelebt und gearbeitet“ (Berthold Auerbach in einem Brief)

- „Wir Jüngeren hatten wohl hoffen dürfen, daß es uns allmählich gelingen würde, in die Nation Kants uns einzuleben... Dieses Vertrauen ist uns gebrochen. Die alte Beklommenheit wird wieder geweckt.“ (Hermann Cohen, 1880)

à tiefes Gefühl v. Enttäuschung

à anderer Tenor: gebt uns ein bisschen mehr Zeit uns einzuleben

Reaktion v. nicht-jüdischer liberaler Seite

à Theodor Mommsen (berühmter Althistoriker) schreibt Antwort auf Treitschke

„Der Eintritt in eine Große Nation kostet seinen Preis; die Hannoveraner und die Hessen und wir, Schleswig-Holsteiner, sind daran, ihn zu bezahlen...Auch die Juden führt kein Moses wieder in das gelobte Land; mögen sie Hosen verkaufen oder Bücher schreiben, es ist ihre Pflicht, soweit sie es können, ...auch ihrerseits die Sonderart nach bestem Vermögen von sich zu tun und mit entschlossener Hand niederzuwerfen.“

- das ist die beste Verteidigung, die es damals v. d. Liberalen gab !
- eigentlich fordert er genau dasselbe: Deutsch werden, assimilieren

[...]

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Deutsch-jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Jüdische Geschichte)
Veranstaltung
Deutsch-jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert
Note
bestanden
Autor
Jahr
2013
Seiten
49
Katalognummer
V285168
ISBN (eBook)
9783656854173
ISBN (Buch)
9783656854180
Dateigröße
528 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Walter Rathenau, DPs, Endlösung, Weimarer Republik, 1. Weltkrieg, Assimilation, Antisemitismus, 2. Weltkreig, Ghetto, Juden, Jüdische Geschichte
Arbeit zitieren
Lilly Maier (Autor:in), 2013, Deutsch-jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/285168

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