Leseprobe
Wie im Titel des Buches schon zu erkennen ist, beschäftigt Foucault sich mit der Entwicklung der Strafsysteme im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Er zeigt Prozesse in der Geschichte auf, in denen aus der einfachen Kausalkette „Vergehen - Verantwortliche_r - Strafe“ ein kompliziertes und komplexes Konstrukt wurde und wird1. Der französische Philosoph legt dar, wo die Grenzen zwischen „Gerechtigkeit“ und „Macht“ verschwimmen2. Marter, Züchtigung und Strafe sind einerseits Spiegelung und somit Vergeltung des Verbrechens und andererseits Mechanismen und Instrument für Macht: Die Stärke bzw. Grausamkeit der Strafe gilt ebenso als Übermächtigung, Durchbruch der Macht und festlichen Triumph des Souveräns3. Die lange und komplexe Geschichte der Strafe reicht von Folter und Sklaverei über Martern als „Fest“ in der Öffentlichkeit, über „Vermenschlichung der Strafe“4 und über eine regulierte Gewaltwirkung5 bis hin zum „modernen“ Strafrecht6 und dem Gefängnis. Die Geburt oder besser: Entwicklung des Gefängnisses ist zunächst unvereinbar mit den bisherigen Techniken der Strafwirkung und -vorstellung: Es ist ein Ort von „Finsternis, Gewalt, Verdacht“ und wird der Verschiedenheit der Verbrechen nicht gerecht, so die Kritik mancher Reformer7. Doch das Gefängnis hat zunächst die Verwahrung und Sicherstellung von Personen, nicht die Bestrafung derer zur Aufgabe8. Dies ist der Grund weshalb heute z.B. illegale Migranten wie der Chilene Andrés9 einfach „von der Straße weg“ inhaftiert und „verwahrt“ werden können. Dass das Gefängnis seine Existenz eher einer Entwicklung als einer Geburt zu verdanken hat, entnehme ich dem Kapitel III: Disziplin. Die „Verteilung der Individuen im Raum“ ist durch die Einschließung, Parzellierung, Schaffung nutzbaren Raums und auch Rangordnungen geregelt. An all dies erinnert schon die Beschaffenheit von Klöstern, Kasernen, der Alltag in den Schulen des 18. Jahrhunderts und sogar die Raumaufteilung eines Krankenhauses10. Foucault beschreibt und untersucht also einen über ein Dreivierteljahrhundert dauernden Prozess der Ablösung der Martern durch die Haft: Die Haft als genau ausgeklügelte Technik zur Modifikation der Individuen.
Die oben angedeutete „Strafgeschichte“ ist keine, deren einzelne Phasen allesamt nacheinander fortschrittlich abgelöst wurden. Angewandt auf die Migrationspolitik lässt sich aus meiner Sicht keinesfalls sagen, dass frühere Formen der Strafe gänzlich überwunden und durch ein humanes Strafsystem ersetzt wurden: Betrachte ich beispielsweise die Lagersituation11 für Migrant_innen an Europas Land- und Seegrenzen, so begegne ich weiterhin einer Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen und „unmenschlichen Lebensbedingungen“12 (Hunger, Gewalt, mangelnde medizinische Versorgung, psychische Gewalt). In diesem Textkommentar möchte ich mich nun aber ausführlicher mit dem Migranten als zu bestrafenden „Delinquenten“ beschäftigen, und lasse die Themen Martern, das Kerkersystem und auch den Ponoptismus weitestgehend unberührt.
Die „Ausschließungsrituale, mit denen man [im 17. Jahrhundert] auf die Lepra antwortete“13, so Foucault, erinnern mich an das heutige Entlarven, Wegsperren, Zurückweisen und Bestrafen von illegalen Migrant_innen. Der Leprakranke wird gesellschaftlich „verbannt: ausgesetzt; draußen lässt man ihn in einer Masse verkommen, die zu differenzieren sich nicht lohnt.“14 Europas Grenzschutz erinnert an die Stadtmauern, die zum Schutz und der Verbannung auch vor/von Pestkranken dienten. Das hbel soll „draußen“, die Gesellschaft „sauber“ und „rein“ bleiben: Flüchtlinge auf hoher See werden noch auf dem Meer zur Rückkehr gezwungen: „Kriegsschiffe gegen Flüchtlingsboote, Massenabschiebung im Schutz der Nacht“15. Asylsuchende bleiben rechtlich unaufgeklärt und in Lagern eingesperrt, Informationen und Hilfe werden ihnen verweigert, die Einreise möglichst erschwert16. Im Grenzraum herrscht Ausnahmezustand und Rechtsfreiheit17. Selbst wenn Migrant_innen, wie die Teilnehmenden in Susann Huschkes Studie „Kranksein in der Illegalität“, es tatsächlich in das Innere Europas schaffen, sind sie weiterhin täglich Denunziationen, Festnahmen und Inhaftierung und der Gefahr von Abschiebung ausgesetzt. Andrés, wie oben schon erwähnt, stellt eines von vielen Beispielen dar, wie der Alltag, Traum und die Wirklichkeit undokumentierter Migration (vornehmlich von Lateinamerikaner_innen in Berlin) aussieht. Folgendes Szenario aus dem Buch lässt sich unmittelbar auf sein Beispiel anwenden:
„Der Dienst der Polizeibeamten und -offiziere gehört zu den wichtigsten; seine Aufgabenbereiche sind gewissermaßen unbegrenzt und können nur in hinreichend detaillierter Prüfung wahrgenommen werden: das unendlich Kleine der politischen Gewalt. Zu ihrer Durchsetzung muss sich diese Macht mit einer […] allgegenwärtigen Überwachung ausstatten, die imstande ist, alles sichtbar zu machen, sich selber aber unsichtbar. Ein gesichtsloser Blick, der den Gesellschaftskörper zu seinem Wahrnehmungsfeld macht: Tausende von Augen, die überall postiert sind; bewegliche und ständig wachsame Aufmerksamkeiten; ein […] hierarchisiertes Netz, das […] Kommissare, […] Inspektoren, dann die regelmäßig bezahlten „Beobachter“, die […] Spitzel, […] Denunzianten und schließlich die Prostituierten umfasst.“18
Diese „allgegenwärtige hberwachung“, diese „Tausende[n] von Augen“ sind Alltag im illegalisierten Leben. Das Bewusstsein der eigenen Abschiebbarkeit und der Möglichkeit des „erwischt Werdens“ wird so tief verinnerlicht, dass es sogar die Körperhaltung, die Bewegung und auch die Art zu sprechen formt. Es „ließe sich hier von einem spezifischen Illegalitäts- Habitus sprechen“19, so Huschke. Dennoch: Andrés, ein nach Berlin migrierter Chilene, unterhielt sich in spanischer Sprache auf einer Bank sitzend mit seinem Schwager. Eine Zivilstreife der Polizei („Augen, die überall postiert sind“) wurde aufmerksam. Andrés wurde aufgefordert, sich auszuweisen, als „illegal“ entlarvt und festgenommen. Seine ganze Familie wurde deportiert.
Beim Lesen der Lektüre immer wieder die Brücke zum Seminarthema schlagend, drängt sich mir ein Gedanke besonders auf: Inwieweit ist „Migration“ bzw. „Leben in der Illegalität“ überhaupt ein Vergehen? Inwiefern sind illegal Migrierende wirklich Verbrecher_innen, abgesehen von der Antwort, die uns das Wort „illegal“ bereits gibt. Sind aus den Migrationsmotiven „lernen, sich entwickeln, weiterkommen, Geld zusammensparen“20 kriminelle Energien zu lesen? Also: Entspricht das Verbrechen „illegale Migration“ dem Begriff „Delinquenz“, den Foucault umfassend behandelt?
[...]
1 Vgl. S. 29
2 Vgl. S. 56
3 Vgl. S. 74
4 S. 116. Dies soll Folgen wie „Herzensverhärtung, Gewöhnung an Unmenschlichkeit oder unbegründete(s) Mitleid“ unterbinden.
5 Vgl. S. 117
6 Vgl. auch S. 140, 2. Absatz zum Thema „öffentliche Arbeiten“
7 S. 147
8 Vgl. S 152
9 Huschke, Susann „Illegalisiertes Leben. Träume und Wirklichkeiten undokumentierter Migration „ S. 117, Andrés ist Forschungsteilnehmer in ihrer Studie, auf die ich später noch eingehen werde
10 Vgl. 189-199
11 Silja Klepp „Unerträgliche Bedingungen“, In: „Notstand auf den Inseln“ S. 7-9. siehe auch: „Flüchtlingspolitik als Lagerpolitik“ S.40 ff. siehe auch: Kusha Bahrami „Angefeindet und Eingesperrt: Asylsuchende und Migrantenin und Griechenland“
12 Tobias Pieper „Das Lager als variables Instrument der Migrationskontrolle“, S.224
13 S. 254
14 Ebd.
15 S.40 Informationsstelle Militarisierung (Hg.) Frontex
16 S.3 Informationsstelle Militarisierung (Hg.) Frontex
17 Vgl. Silja Klepp „Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsschutz“ S. 361
18 S. 275
19 Huschke, Susann „Illegalisiertes Leben. Träume und Wirklichkeiten undokumentierter Migration“ S. 110
20 Huschke, Susann „Illegalisiertes Leben. Träume und Wirklichkeiten undokumentierter Migration „ S. 94