Der Roman Effi Briest von Theodor Fontane, erstmalig erschienen 1894, gilt als ein Literaturklassiker, dessen Faszination über die Literaturwissenschaft hinaus strahlt: Bereits fünf Mal wurde das Werk filmisch umgesetzt, dabei zeigt die letzte Verfilmung EFFI BRIEST (Hermine Huntgeburth, BRD 2009) die fortwährende Aktualität des Klassikers.
Interessanterweise wurde diese Literaturneuverfilmung mit einer sehr konträren Adaptionsstrategie zu dem vorherigen filmischen Werk FONTANE EFFI BRIEST (Rainer Werner
Fassbinder, BRD 1972/1974) inszeniert. Während FEB im Sinne Brechts verfremdet dargestellt ist, soll in EB durch filmische Mittel, die Empathie erzeugen, eine Identifikation des Rezipienten mit der Protagonistin Effi erzeugt werden. Motiviert von diesen elementar differierenden Textinterpretationen der beiden Verfilmungen, soll in dieser Ausarbeitung die Frage nach der filmischen Methode dieser Interpretationsstrategien beantwortet werden: Wie können Filme als ein divergentes Medium Literatur interpretieren? Welche filmspezifischen
Mittel sind entscheidend für die Interpretationskonzepte der ausgewählten Verfilmungen EB und FEB? Sind diese Konzepte bereits in dem Roman vorhanden? Folglich steht im Fokus dieser Arbeit die Methode der Textinterpretation der gewählten
Verfilmungen.Als Grundlage für die transmediale und werkimmanente Analyse soll zunächst der Begriff der Literaturverfilmung erläutert werden, der in dieser Ausarbeitung
ohne normative Wertung als eine mediale Veränderung verstanden wird (Kap. 2.1).
Da die Narratologie als das wichtigste Vergleichsmoment der Transformation von Textsystemen gilt (Jahrhaus 2003:751), soll im ersten Analyseteil untersucht werden, wie sich die Erzählinstanz im Roman EB verhält. Dafür wird diese nach den Kategorien von Genette, bzw. nach dem Perspektivbegriff von Schmid betrachtet. Darauf basierend werden die audiovisuellen Erzählstrategien in den expositorischen Sequenzen untersucht, die diese genannten Konzepte der Textinterpretation gestalten (Kap. 4, 5). Um einen angemessenen Arbeitsumfang zu gewährleisten, fokussieren die Analysen pars pro toto die ersten zwei Kapitel des Romans und die ersten vier (FEB) bzw. drei (EB) Sequenzen der Filme. Für ein optimales Vergleichsmoment ist für alle drei Werke auf inhaltlicher Ebene die gleiche Textstelle6 als Ende gewählt: das „Effi, komm!“-Motiv, dem in der Sekundärliteratur eine große Bedeutung zugeschrieben wird.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Literaturverfilmung: Definition und Problematik
2.2 Narratologische Kategorien fur die Literaturanalyse (nach Genette und Schmid)
2.3 Das filmnarratologische Analysemodell (nach Kuhn)
3. Analyse des Romans Eff Briest (Theodor Fontane)
3.1 Die Zeit in Effi Briest (nach Genette)
3.2 Die Stimme in Effi Briest (nach Genette)
3.3 Die Perspektive in Effi Briest (nach Schmid)
4. Analyse der expositorischen Filmsequenzen in FONTANE EFFI BRIEST.. .
4.1 Analyse der visuellen Erzählinstanz in FONTANE EFFI BRIEST
4.1.1 Kamera
4.1.2 Mise-en-Scène
4.1.3 Szenenübergänge
4.2 Analyse der sprachlichen Erzählinstanz in FONTANE EFFI BRIEST
4.3 Das Zusammenspiel der Erzählinstanzen
4.4 Vergleich mit dem Roman Effi Briest
4.5 Fassbinders Erzähltechnik in FONTANE EFFI BRIEST als Textinterpretation
5. Analyse der expositorischen Filmsequenzen in EFFI BRIEST
5.1 Analyse der Bildebene in EFFI BRIEST
5.1.1 Kamera
5.1.2 Montage
5.2 Analyse der Tonebene (Musik)
5.3 Das Motiv der Körperlichkeit
5.4 Vergleich mit dem Roman Effi Briest
5.5 Huntgeburths Erzähltechnik als Textinterpretation
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Roman Effi Briest von Theodor Fontane, erstmalig erschienen 1894, gilt als ein Literaturklassiker, dessen Faszination über die Literaturwissenschaft hinaus strahlt: Bereits fünf Mal wurde das Werk filmisch umgesetzt, dabei zeigt die letzte Verfilmung EFFI BRIEST (Hermine Huntgeburth, BRD 2009)1 die fortwährende Aktualität des Klassikers. Interessanterweise wurde diese Literaturneuverfilmung mit einer sehr konträren Adaptionsstrategie zu dem vorherigen filmischen Werk FONTANE EFFI BRIEST2 (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1972/1974) inszeniert3. Während FEB im Sinne Brechts verfremdet dargestellt ist, soll in EB durch filmische Mittel, die Empathie erzeugen, eine Identifikation des Rezipienten mit der Protagonistin Effi erzeugt werden. Motiviert von diesen elementar differierenden Textinterpretationen der beiden Verfilmungen, soll in dieser Ausarbeitung die Frage nach der filmischen Methode dieser Interpretationsstrategien beantwortet werden: Wie können Filme als ein divergentes Medium Literatur interpretieren? Welche filmspezifischen Mittel sind entscheidend für die Interpretationskonzepte der ausgewählten Verfilmungen EB und FEB? Sind diese Konzepte bereits in dem Roman vorhanden? Folglich steht im Fokus dieser Arbeit die Methode der Textinterpretation der gewählten Verfilmungen. Die Ausarbeitung soll keine Interpretation der Werke liefern - das weit ausdifferenzierte Forschungsfeld ist von interpretatorischen Betrachtungen mehr als gesättigt4 -, sondern die Arbeit fokussiert die Methode und Inszenierung dieser filmischen Interpretationen. Als Grundlage für die transmediale und werkimmanente Analyse soll zunächst der Begriff der Literaturverfilmung erläutert werden, der in dieser Ausarbeitung ohne normative Wertung als eine mediale Veränderung verstanden wird (Kap. 2.1).
Da die Narratologie als das wichtigste Vergleichsmoment der Transformation von Textsystemen gilt (Jahrhaus 2003:751), soll im ersten Analyseteil untersucht werden, wie sich die Erzählinstanz im Roman EB verhält. Dafür wird diese nach den Kategorien von Genette, bzw. nach dem Perspektivbegriff von Schmid betrachtet, da Genettes Parameter der Fokalisierung für die Analyse zu ungenau ist. Der Romananfang zeichnet sich durch ,komplexes‘ Erzählen aus, d. h. dass beide konträre Adaptionsstrategien - FEB zeichnet sich durch ,distanziertes‘ Erzählen im Sinne Brechts aus, in EB hingegen wird ,empathisch‘ erzählt - bereits in der Erzählstrategie des Romans angelegt sind. Darauf basierend werden die audiovisuellen Erzählstrategien in den expositorischen Sequenzen 5 untersucht, die diese genannten Konzepte der Textinterpretation gestalten (Kap. 4, 5). Die Filmanalysen gehen über eine narratologische Analyse hinaus und beinhalten auch hermeneutische Deutungen. Die Analyse der Verfilmungen basiert als theoretische Grundlage auf einem Modell von Markus Kuhn, das der Untersuchung der Erzählsituationen im Medium Film dient (Kap. 1.4).
Um einen angemessenen Arbeitsumfang zu gewährleisten, fokussieren die Analysen pars pro toto die ersten zwei Kapitel des Romans und die ersten vier (FEB) bzw. drei (EB) Sequenzen der Filme. Diesem Analysekorpus wird als Teil der Exposition eine besondere Bedeutung zugesprochen: Sie sind der ,erste Eindruck6, den sich der Rezipient von dem Buch oder Film macht, und stellen alle Hauptfiguren vor. Somit kommt der Exposition als dramaturgisches Element eine besondere Bedeutung zu. Zudem ist für die Wahl des Analysekorpus entscheidend, dass bereits die ersten Seiten oder Szenen fundamentale Strategien der Narration in den Werken einführen. Für ein optimales Vergleichsmoment ist für alle drei Werke auf inhaltlicher Ebene die gleiche Textstelle7 als Ende gewählt: das „Effi, komm!“-Motiv, dem in der Sekundärliteratur eine große Bedeutung zugeschrieben wird.8 Die dramaturgische Frage, ob dieses gewählte Ende auch dem Schluss der Exposition entspricht, soll in dieser Ausarbeitung nicht erörtert werden. Nach der Analyse sollen in einem abschließenden Fazit die Ergebnisse gebündelt und weiterführende Forschungsfragen aufgeworfen werden (Kap. 5).
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Literaturverfilmung: Definition und Problematik
Der Begriff der Literaturverfilmung beschreibt elementar formuliert die Umsetzung eines literarischen Textes in das Medium Film. Während die genaue Definition des Begriffs der Literatur nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist, bezeichnet Verfilmung die „Produktion der Umsetzung eines schriftsprachlich fixierten Textes in das audiovisuelle Medium des Films“ (Jahrhaus 2003:751). Literaturverfilmung meint folglich eine transmediale Transformation eines sprachlichen und literarischen Ausgangstextes in das divergente Medium Film.
Der Begriff der Literaturverfilmung wurde in der deutschen Literatur- und Filmwissenschaft der 70er und 80er Jahre konträr diskutiert. Grund hierfür war die omnipräsente Vorstellung des ,alten‘ Mediums Literatur, dem das neue Medium Film als „Vermassung“ und „Versimplung“ gegenüberstehe (Estermann 1965:14). Diese Glorifizierung der Literatur stand eng in Verbindung mit der Forderung nach der sogenannten „Werktreue“, also einer Verfilmung, die sich möglichst dicht an das ,Original‘ halte, um seiner Aussage und seinem „Geist“ gerecht werden zu können (Goetsch 1988:58). In dem Reallexikon der Literaturwissenschaft wurde sogar noch vor nicht allzu langer Zeit die „Höherbewertung der Literatur gegenüber dem Film“ formuliert (Jahrhaus 2003:752).
Der Medienwissenschaftler Knut Hickethier bemerkt zu diesem Diskurs, dass allein schon der Begriff der Literaturverfilmung eine qualitative Abwertung impliziere, da er auf die Vorwürfe der Ferfälschung oder Ferstümmelung der Literatur durch den Film anspielen würde (Hickethier 1989:183). Dieser Argumentation muss aber entgegengehalten werden, dass das Präfix „ver“ nicht zwangsläufig mit einer negativen Konnotation verbunden sein muss. Der Begriff der Verfilmung beschreibt vielmehr einen Medienwechsel: „Der Vorgang der ,Ferfilmung‘ impliziert notwendigerweise Ferschiebung und Feränderung.“ (Bohnenkamp 2005:16) Diese mediale Transformation fordert eine differenzierende und eigenständige Betrachtung der verschiedenen Medien Roman und Spielfilm ohne eine Hierarchisierung der selbigen (Albersmeier 1989:18). In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion stimmen viele Literaturwissenschaftler dieser Ansicht zu und sind der Meinung, dass das Konzept der Werktreue und die damit verbundene normative Wertung heutzutage überwunden seien (Schwab 2006:41, Gast 21999:7).
Inwieweit unterscheiden sich die divergenten Medien Buch und Film voneinander? Nach dem Literaturwissenschaftler Helmut Kreuzer werden in der interpretierenden Transformation als eine Art der Literaturverfilmung der Inhalt sowie der Sinn vom Zeichenmaterial des Buches in das andere Zeichenmaterial des Films übertragen. Im Vordergrund dieser hybriden Kunstform stehe dabei „nicht nur das Was, sondern auch das Wie der Darstellung, das uns auf den Akt des Erzählens verweist [...].“ (Kreuzer 1999:28) Die Erzählsituation zeigt somit nach Kreuzer am deutlichsten Unterschiede zwischen Buch und Film: Das Medium Buch erzähle eine Geschichte durch geschriebene Sprache mit imaginativem Charakter und lasse Leerstellen für die Fantasie frei (Bohnenkamp 2005:31f). Der Film hingegen zeichnet sich nach den Narratologen Silke Lahn und Jan Christoph Meister durch eine „Konkretheit der dargestellten Welt“ aus und zeigt durch seine Visualität und Akustik konkrete vollständige Inhalte (Lahn/Meister 2008:270). Das Visuelle erzähle primär mit der Ausdruckdimension des Zeigens mittels kinematographischer Elemente der Bildgestaltung, die konstitutiv für das Medium Film sind, wie Licht- und Tontechnik, Kamera, Montage, Mise-en-Scène und Darstellung der Schauspieler. Diese facettenreichen9
Darstellungsformen technischer Eigenarten ,zeigen‘ die Geschichte im Film, die im Roman einzig mit Sprache erzählt wird, und schaffen somit einen wesentlichen stärkeren Realitätseindruck - so Lahn und Meister. Während in einem Roman die Innenwahrnehmung einer Figur durch die Erzählung präsentiert werde, zeigten Mimik und Gestik des Darstellers in einem Film aus einer Außenperspektive die Gefühle der Figur, wobei sich audiovisuelles Erzählen aber auch durch Perspektivierung auszeichne, d. h. dass das Kameraauge ähnlich oder deckungsgleich mit der Figurenperspektive sein könne und somit zumindest visuell annähernd eine Innenperspektive einnehmen könne (Lahn/Meister 2008:265-286, 273). Weiter könnten im Film über die Bild- und Tonebene auch verschiedene oder gar konträre Informationen überliefert werden, dies sei in der Literatur nicht möglich. Zudem komme es im Spielfilm aufgrund der begrenzten Zeit im Gegensatz zum Roman zu Änderungen, Weglassungen oder Ergänzungen nach visuellen Gesichtspunkten. Ferner zeichnet sich das Medium Film nach Lahn und Meister durch eine Kombination des Zeichenmaterials aus, sodass Standbilder, Schrift und Sprache im Bild oder die Tonebene mehrschichtig und komplex inszeniert sein können (Lahn/Meister 2008:268).
Die genannten Unterschiede zwischen den Medien Buch und Film zeigen die Notwendigkeit transmedialer Anpassungen und die Eigenständigkeit des Films als autonomes Kunstwerk. Aufgrund der konstitutiven audiovisuellen Mittel des Films in Kombination mit Rückreflektionen auf die Inhalte der Romanvorlage können Literaturverfilmungen als eine transmediale Textinterpretation betrachten werden (Koebner/Ruckriegl 2002:353). Dabei ist jede Literaturadaption automatisch auch eine Interpretation, da jeder Regisseur durch seine filmische Umsetzung, Akzentsetzungen und Art und Weise der Präsentation seine eigene Auseinandersetzung mit der Vorlage inszeniert (Hickethier 2001:6). Literaturverfilmungen können die Vorlage sogar bewusst korrigieren (Kanzig 1994).
Diese Aspekte werden an Hand der Beispielanalysen im Hauptteil konkretisiert und weiter ausgeführt. Angesichts der beschriebenen Diskurse und Problematiken des Begriffs der Literaturverfilmung sei abschließend noch einmal explizit darauf hingewiesen, dass der Begriff der Literaturverfilmung in dieser Arbeit eine normative Wertung ausschließt und als intermediale Veränderung einer literarischen Vorlage in eine filmische Version definiert wird.
2.2 Narratologische Kategorien für die Literaturanalyse (nach Genette und Schmid)
Nachfolgend sollen narratologische Kategorien der Erzählform nach dem französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette zusammenfassend dargestellt werden, die er in seinem Werk Diskurs der Erzählung10 vorstellt, um diese im Folgenden auf die Roman- analyse anzuwenden. Da Genettes Fokalisierungsbegriff in der Forschungsliteratur häufig als ungenau beschrieben und kontrovers diskutiert wird,11 wird an seiner Stelle der Perspektivbegriff des Slawisten Wolf Schmid dargestellt.
Genette unterscheidet in seinem Modell drei Ebenen der Erzählung (die Geschichte [„histoire“], die Erzählung [„discours“] sowie den Erzählvorgang [„narration“]), die mit den Kategorien Zeit, Modus und Stimme12 geordnet werden (Genette 1998:16).
Hinsichtlich der Zeit, die das Verhältnis zwischen erzählter Zeit („Zeitspanne der Geschichte“) und Erzählzeit („Zeit der Erzählung“/Seitenumfang) meint, differenziert Genette zwischen der Ordnung, Dauer und Frequenz (Genette 1998:21). Die Ordnung beschreibe dabei die Reihenfolge der erzählten Geschehnisse, die chronologisch oder anachronisch, durch Rückblenden (Analepsen) und Vorgriffen (Prolepsen), präsentiert werden. Zu letzteren zählt er auch Vorhalte, die er als „Vorbereitung“ beschreibt, die „ohne etwas zu antizipieren [...], bloß eine Erwartung wecken sollen.“ (Genette 1998:51)
Die Dauer beschreibt das Verhältnis zwischen Erlebnis und Erzählung bzw. die Erzählgeschwindigkeit. Diese kann zeitdeckend sein (der Erzählvorgang [EV] entspricht ca. der Dauer des geschilderten Ereignisses), zeitdehnend13 (der EV ist länger als das geschilderte Ereignis) oder zeitraffend (der EV ist kürzer als das erzählte Ereignis). Diese Arten werden durch die Techniken der Pause, bei der die Erzählgeschwindigkeit im Stillstand steht, und Zeitsprünge (Ellipsen) erreicht (Genette 1998:76t). Die Kategorie der Frequenz wurde von Genette eingeführt und beschreibt, wie oft ein Ereignis präsentiert wird. Dabei kann ein einmaliges Ereignis einmal erzählt werden (singulatives Erzählen) oder wiederholt (repeti- tives Erzählen), oder ein wiederholtes Ereignis wird wiederholt (singulativ, da im Verhältnis 1:1) oder einmal erzählt (iteratives Erzählen) (Genette 1998:82f). Als Zweites wird der Perspektivbegriff von Schmid beschrieben:
Der Slawist Schmid stellt fünf Parameter der Perspektive auf: die perzeptive Perspektive, die ideologische, räumliche, zeitliche und sprachliche Perspektive. Schmid wertet die perzeptive Perspektive als die wichtigste, da sie die Frage beantwortet, aus wessen Sicht die Diegese wahrgenommen wird. Präsentiert die Erzählinstanz aus der Sicht eines allwissenden Erzählers (narratorialer Standpunkt), oder stellt sie die erzählte Welt ,mit den Augen‘ einer Figur dar, indem das Ereignis mit den Wertungen und dem Stil der Figur betrachtet wird (figurale Perspektive) (Schmid 2008:136f)? Im Übrigen ist jede nicht-figurale Perspektive automatisch narratorial - auch wenn der Erzähler nicht auffällig markiert ist und das Erzählen objektiv zu sein scheint. Die ideologische Perspektive beschreibt „das Wissen, die Denkweise, die Wertungshaltung, den geistigen Horizont“ der Erzählinstanz im Verhältnis zur Figur bzw. zum Ereignis der Diegese (Schmid 2008:132). Die räumliche Perspektive meint den „räumlichen Standpunkt“, von dem aus das Geschehen wahrgenommen wird, und die zeitliche Perspektive bezeichnet den zeitlichen Abstand zwischen dem Ereignis in der Diegese und Darstellung desselbigen (Schmid 2008:131, 133). Der Sprachgebrauch des Erzählers wird unter dem Parameter der sprachlichen Perspektive untersucht. Dabei gilt es zu unterscheiden, ob sich die Sprache der Erzählerinstanz von der der Figuren unterscheidet, oder ob die Sprache eine Wertung ausdrückt, welches zu einer Schnittmenge mit der ideologischen Perspektive führt (Schmid 2008:134f).
Der Parameter Stimme schließlich bezeichnet, um zu Genette zurückzukehren, ihm zufolge den Erzähler, d. h. die fiktive narrative Instanz, die den Erzähltext erzählt. Damit sind nicht der implizite14 oder reale Autor gemeint. Genette führt den Zeitpunkt der Erzählung an, der retrospektiv, gleichzeitig, vorangehend oder interpoliert sein kann (Genette 1998:157162). Weiter differenziert er verschiedene Ebenen, auf denen sich der Erzähler befindet: Eine narrative Erzählinstanz einer ersten Geschichte (Diegese) sei extradiegetisch - dies meint den ,klassischen‘ Erzähler, der eine Geschichte erzählt -, eine Erzählung innerhalb der erzählten Diegese (Intradiegese) hingegen sei intradiegetisch. Auch unterscheidet Genette zwischen einem Erzähler, der Teil der Diegese ist (homodiegetisch) und einem, der in der erzählten Geschichte abwesend ist (heterodiegetisch) (Genette 1998:175).
2.3 Das filmnarratologische Analysemodell (nach Kuhn)
Markus Kuhn hat eine Erzähltheorie des Films mit filmnarratologischem Analysemodell entwickelt, in dem er die bereits beschriebenen Kategorien von Genette diskutiert und für die Anwendung auf narrative Filme aufbereitet (Kuhn 2011:368). Aus diesem breit aufgestellten Modell sollen zwei Konzepte als theoretische Grundlage für die Filmanalysen gebündelt vorgestellt werden: die verschiedenen Erzählinstanzen im Film sowie den Parameter der Okularisierung.
Auf die Frage, wie im Film erzählt werde, führt Kuhn zwei verschiedene narrative Instanzen an: die (audio-)visuelle Erzählinstanz (VEI) - der Schwerpunkt liegt auf der Visualität - und die sprachliche Erzählinstanz (SEI).15 Zu der VEI zählt Kuhn die Mise-en-Scène, Montage und Kamera. Die Mise-en-Scène transportiere durch Komposition, Ausleuchtung und Raumgestaltung narrative Informationen, die für die Konstruktion der diegetischen Welt relevant seien. Weiter könnten Gegenstände der Ausstattung ,symbolisch‘ erzählen (Kuhn 2011:90f).
Die Montage fungiere durch Hierarchisierung, Änderung der Ordnung des dargestellten Geschehens oder der Zeit durch Raffung oder Dehnung als narrative Instanz. Die Kamera agiere ebenso als „perspektivierende, selektierende, akzentuierende und gliedernde Vermittlungsinstanz.“ (Pfister 112001:48) Da der Rezipient nur das sehen kann, was das filmische Kameraauge ihm in Kombination mit der Montage zeigt, sind diese filmischen Mittel Kuhn zufolge narrative Instanzen im Film - auch wenn sie ,sprachlos‘ sind (Kuhn 2011:78). Die VEI hat folglich die Funktion, die filmische Welt zu zeigen.
Neben der VEI beschreibt Kuhn eine sprachliche Erzählinstanz (SEI), die eingesetzt wird, um die diegetische Welt zu erzählen, z. B. mittels Voice-Over, Figurenrede, Schrifttafeln oder Inserts. Während die VEI laut Kuhn für einen Film obligat ist, ist die SEI fakultativ (Kuhn 2011:95). Dabei können sich die VEI und SEI gegenseitig ergänzen oder wie eine Schere auseinanderklappen und gegeneinander agieren. Kuhn verweist dafür auf Sarah Kozloff, die das Verhältnis zwischen der VEI und der SEI in disparat, komplementär und überlappend differenziert. Dabei kann eine disparate Relation zum einen meinen, dass die VEI und die SEI Verschiedenes thematisieren, zum anderen können sie auch Widersprüchliches erzählen (Kozloff 1988:103).16 Die Analyse von FEB (Kap. 4) wird zeigen, dass die VEI und SEI in diesem Film eine bedeutende Rolle für die Inszenierung des Interpretationskonzeptes spielen.
Das zweite zu präsentierende Konzept ist das der Okularisierung,17 welches die Frage nach dem Subjekt der visuellen Wahrnehmung beantwortet. Im Gegensatz zur Aurikularisierung, die beschreibt, wer hört, meint die Okularisierung die visuell wahrnehmende Instanz, die durch Kameraeinstellungen und -bewegungen sowie weitere filmische Mittel inszeniert wird. Kuhn unterteilt die Okularisierung in drei Arten: Die Nullokularisierung beschreibt, dass die VEI an keine Figur gebunden ist, sondern alle Figuren ,von außen‘ gezeigt werden. Wenn die VEI ungefähr das zeigt, was eine Figur gerade wahrnimmt, z. B. durch Point of View Shots oder subjektive Kamera, wird von einer internen Okularisierung gesprochen, da ein „Blick von ,innen‘ “ ermöglicht werde (Kuhn 2011:128). Zuletzt beschreibt die externe Okularisierung als Ergänzung den seltenen Fall, dass eine Figur etwas wahrnimmt, was die VEI nicht zeigt (Kuhn 2011:128). Die interne Okularisierung ist die fundamentale Strategie der Kamera in EB, wie der Analyseteil (Kap. 5) zeigen wird.
3. Analyse des Romans Effi Briest (Theodor Fontane)
Da eine umfassende Romananalyse für sich schon die Seiten dieser Ausarbeitung füllen könnte, sind die Untersuchungen auf die Aspekte beschränkt, die grundlegend für die Analysen der Verfilmungen sind. Somit liegen die Schwerpunkte in EB auf der Untersuchung der Zeit nach Genette sowie der Perspektivierung nach Schmid. Für einen kurzen Überblick soll zunächst der Aufbau des Romans wiedergegeben werden:
In EB wird das Schicksal einer jungen Frau beschrieben, die jung verheiratet an ihrer unglücklichen Ehe leidet, aus Langeweile und Frustration Ehebruch begeht und daraufhin von ihren Eltern und der Gesellschaft verachtet wird. Der 36 Kapitel umfassende Roman lässt sich in fünf Abschnitte unterteilen (Grawe 1985:49): In der Exposition wird die 17jährige Effi in ihrer gewohnten Umgebung in Hohen-Cremmen als ausgelassenes, wildes, frohes „Naturkind“ vorgestellt (Seite 41, Zeile 20). Bereits im ersten Kapitel wird die Protagonistin eingeführt, zunächst wird sie über ihr äußeres Erscheinungsbild charakterisiert, dann erzählt sie die Geschichte von Baron Innstetten und leitet ihn auf diese Weise indirekt ein. Effis behütete Kindheit endet abrupt, als der um Jahrzehnte ältere Mann um ihre Hand anhält und die junge Frau heiratet (Kap. 1-5). Der zweite Abschnitt ist durch einen Ortswechsel markiert und beschreibt Effis liebloses und von Albträumen geplagtes Eheleben in Kessin (Kap. 6-14). Der dritte Teil basiert auf der Einführung der Figur Crampas, der Effi auf einer Schloonfahrt küsst und mit ihr Ehebruch begeht (Kap. 15-22). Im vierten Abschnitt lebt das Ehepaar in Berlin, Innstetten erfährt durch einen Zufall von dem Ehebruch und entscheidet sich zu einem Duell, in dem Crampas ermordet wird (Kap. 23-31). Im fünften Teil lebt Effi ohne ihre Tochter und von ihren Eltern verurteilt in einer Wohnung in Berlin. Effis seelischer und gesundheitlicher Zustand verschlechtern sich immens bis sie schließlich in Hohen-Cremmen stirbt (Kap. 32-36).
3.1 Die Zeit in Effi Briest (nach Genette)
Auf den ersten Blick scheint EB bezüglich der Ordnung der ordo naturalis zu entsprechen. Die Erzählung ist nicht anachronisch, sondern geht von einem Moment aus (Mutter und Tochter stricken im Garten) und stellt seine Entwicklung dar. Wenn man den Roman nach den Parametern von Genette betrachtet, fallen allerdings einige Prolepsen auf - wenn auch als indirekte Vorhalte. Genette versteht unter Vorhalten „Vorgriffe“ auf Ereignisse in der Geschichte, wobei deren Bedeutung erst mit Kenntnis des Endes offensichtlich wird (Genette 1998:51). Fontanes Roman EB spielt mit Vorhalten, davon sind viele direkt auf die ersten Seiten fokussiert. Bereits im Eingangskapitel werden alle bedeutungsvollen Themen angedeutet (Hamann 1981:73): Die erste Seite beginnt mit einer Beschreibung des Anwesens Hohen-Cremmen, das einen Schatten auf die Sonnenuhr wirft (S. 5,5-10). Ist die Sonnenuhr am Anfang lediglich ein Element unter vielen, wird sie am Ende des Romans wieder aufgegriffen:18
Auf dem Rondell hatte sich eine kleine Veränderung vollzogen, die Sonnenuhr war fort, und an der Stelle, wo sie gestanden hatte, lag seit gestern eine weiße Marmorplatte, darauf stand nichts als ,Effi Briest‘ und darunter ein Kreuz. (S. 349,1-5)
Die bereits am Anfang erwähnte Sonnenuhr wird zu Effis Grabstein. Die Anmerkung der Erzählinstanz, dass das elterliche Anwesen einen Schatten auf die Sonnenuhr werfe, kann vor diesem Hintergrund als ein Vorhalt auf Effis Tod gesehen werden, der bereits am Anfang des Romans seinen ,Schatten voraus wirft‘ (Grawe 1985: 55).
Des Weiteren unterhält sich Effi im ersten Kapitel mit ihren Freundinnen. Hulda erzählt, dass sie hoffe demnächst zu heiraten: „Fräulein Effi, was gilt die Wette, wir sind hier noch in diesem Jahre zu Polterabend und Hochzeit.“ (S. 10,8-10) Diese Aussage ist äquivok: Bezieht sie sich im primären Sinne auf Hulda, die im Roman nicht heiraten wird, deutet die Wette zugleich auf Effis Verlobung hin, die innerhalb der nächsten Stunden vollzogen wird. Ein weiteres Beispiel ist die Schlusenversenkung Effis und ihrer Freundinnen. Die Protagonistin führt bei der Gelegenheit die Anekdote an, dass „so vom Boot aus [...] früher auch arme unglückliche Frauen versenkt worden sein [sollen], natürlich wegen Untreue.“ (S. 14,7-9) Damit deutet die Schlusenversenkung klar auf Richtung, Verlauf und Ende der Geschichte hin (Hamann 1981:74): Effi begeht Ehebruch, nachdem sie in der Kutsche im Schloon versinkt (S. 188,6-10).
Das Versteckspielen von Effi und ihren Freundinnen beinhaltet ebenso einen Vorhalt: Als Effi erzählt, wo sie sich versteckt hat, kommentiert ihre Freundin darauf: „Pfui.“ (S. 16,17). Dieser Ausruf sticht zunächst nicht besonders ins Auge, er wird am Ende des Romans allerdings in einem anderen Kontext wieder aufgegriffen: Als Roswitha davon erzählt, wie sie unehelich schwanger wurde, sagte auch ihre Schwester zu ihr: „Pfui.“ (S. 208,27). Somit verstärkt der Ausruf die Parallele zwischen Roswitha und Effi und weist bereits am Anfang des Romans auf den Ehebruch hin, den Effi begehen wird. Mittels dieser Vorhalte werden Anfang und Ende miteinander verbunden. Die Literaturwissenschaftlerin Armine Mortimer führt an, dass Anfänge oft in dieser Weise geschrieben werden, indem sie als kombinierte Konstruktion auf das Ende hindeuten und mit ihm regelrecht verknüpft sind: „In a coherent system, beginnings lead to endings, and endings determine how we understand beginnings.“ (Mortimer 2008:213) Somit machen Vorausdeutungen auf die Planung des Erzählvorgangs und das Vermitteltsein der Diegese aufmerksam. In diesem Sinne schaffen sie für den Rezipienten das Empfinden einer Distanz zur erzählten Welt, da der aufmerksame Leser die intentionale Struktur des Textes bemerkt und sie ihn daran hindert, die Diegese als ,wahre Welt‘ zu betrachten. Die Vorausdeutungen ziehen sich weiter durch den Roman, wenn auch nicht in derselben Dichte wie in der Exposition. Zusammenfassend ist EB tendenziell chronologisch erzählt, wobei als Ausnahmen pro- leptische Vorhalte und eine Analepse von der Chronologie abweichen.19
Was fällt bezüglich der Dauer im Roman auf? EB beginnt mit einer Zeitdehnung mittels narrativer Pause: Die erste Seite beschreibt das Anwesen der Familie Briest. Das Einzige, das passiert, ist, dass das Haus einen Schatten auf das Rondell wirft (S. 5,5-10). Elementar formuliert passiert gar nichts. Erst nach dieser Pause setzt die Handlung ein und die Erzählinstanz beschreibt, wie Mutter und Tochter „auch heute wieder [Hervorhebung hier und im Folgenden A.S.] “ stricken, die Wollnadeln „hin und her“ gehen und Effi „von Zeit zu Zeit‘ die Nadel niederlegt, um Gymnastikübungen zu machen, bei denen ihre Mutter ihr „immer nur flüchtig“ zusieht. „Eben hatte sich Effi wieder erhoben“, als ihre Mutter, „die gerade wieder“ aufblickte, sie anspricht (S. 6,17-28; 7,5-7). Die Hervorhebungen markieren die iterative Darstellung der Frequenz: viele sich wiederholende Ereignisse werden einmalig präsentiert. Allerdings wird zwei Mal davon berichtet, wie sich Effi erhebt und ihre Mutter daraufhin zu ihr hinüberschaut. In diesem Fall ist die Frequenz singulativ, da ein wiederholtes Ereignis wiederholt erzählt wird. Die Figur Effi ist von diesen sich wiederholenden Ereignissen der Stickerei gelangweilt (S. 8,30f), und die Frequenz markiert den Grund dafür: Die Figur tut dies nicht zum ersten Mal.
Die iterative, repetitive oder singulative Darstellung von sich wiederholenden Ereignissen zieht sich durch den ganzen Roman.20 Auf diese Weise präsentiert der Parameter der Frequenz Effis eintöniges Leben - immer wieder erlebt sie das Gleiche. Dieses Imitieren des Zeitempfindens der Protagonistin gestaltet eine Nähe zur Figur Effi.
Nach der beschriebenen Textstelle folgen Dialoge, die so kennzeichnend für den Roman sind und in denen erzählte Zeit und Erzählzeit abgesehen von einigen Raffungen ,deckend‘ sind, sich also ungefähr entsprechen. Im weiteren Verlauf der Exposition fällt eine Besonderheit ins Auge: Im Gegensatz zu dem für Effi ereignislosen Stricken, das länger als eine Seite beschrieben wird (S. 6,2-7,8), wird die Zeit, als Effis Freundinnen sie besuchen, gerafft präsentiert. Die Ankunft von ihren Freundinnen bedeutet für Effi eine positive Abwechslung zu ihrem alltäglichen Stricken. Zusammen mit den Mädchen amüsiert sich die Protagonistin, sodass die Zeit für sie „im Nu“ vergeht (S. 9,12). Äquivalent dazu wird das Gespräch der Freundinnen lediglich gerafft mittels einer Zusammenfassung präsentiert: „Sie sprachen noch eine Weile so weiter [...].“ Auch die Bootsfahrt der Freundinnen wird lediglich in einem Satz beschrieben (S. 14,2-5). Die Erzählinstanz setzt also die Frequenz ein, um das Zeitempfinden der Protagonistin zu imitieren: Wenn für Effi die Zeit schnell vergeht, werden die Ereignisse gerafft erzählt. Scheint die Zeit für sie nicht zu vergehen, werden auch die Ereignisse gedehnt präsentiert (Tucker 2007:192). Dieses Prinzip, Effis Zeitempfinden mittels narrativer Strategie auszudrücken, zieht sich weiter durch den Roman. Der Urlaub in Hohen-Cremmen z. B., der für Effi eine Flucht aus ihrem Alltag in Kessin bedeutet, wird bloß in einem Satz beschrieben (S. 138,1-2). Dies transportiert Effis Gefühl der Kurzweile. Im Gegensatz dazu nimmt der erste Abend in Kessin, an dem Effi alleine ist und sich langweilt, verhältnismäßig viel Raum ein. Auf neun Seiten wird erzählt, wie Effi erfolglos versucht, der Einsamkeit zu entfliehen und sich eine Beschäftigung zu suchen (S. 79-88). Die Langeweile der Figur wird mittels dieser langen Beschreibung eines ereignislosen Abends auch auf den Rezipienten projiziert.
Die zweite Besonderheit der Zeit in EB sind die Zeitsprünge oder Ellipsen: Das zweite Kapitel endet mit dem „Effi, komm“-Motiv, als Effi Innstetten zum ersten Mal gegenübertritt. Danach beginnt das dritte Kapitel mit dem Satz: „Noch an demselben Tage hatte sich Innstetten mit Effi Briest verlobt“ (S. 19,1). Die Erzählinstanz verschweigt die Reaktion der jungen Frau auf den Ruf ihrer Freundinnen, sie solle kommen, und auf den Heiratsantrag. Der Leser wird mit der Frage allein gelassen, was Effi auf den Antrag geantwortet haben könnte (Källström 2002:124). Dieses Beispiel zeigt, dass das Erzählen an Drehpunkten von EB elliptisch ist, „um die Augenblicke der Entscheidung nicht schildern zu müssen.“ (Schmiedt 2000:205) Dieses Prinzip der Zeitsprünge zieht sich weiter durch den Roman, vor allem bei Kapitelsetzungen.21 An welchen Stellen sind die Ellipsen positioniert und was sparen sie vom Inhalt aus?
Es ist auffällig, dass ein Großteil der Ellipsen am Kapitelanfang oder nach Unterabschnitten platziert ist, die graphisch mit einem Strich markiert sind. Somit visualisiert die Präsentation der Erzählung die Ellipsen in Form von Leerzeichen vor einem neuen Kapitel oder als Strich auf graphischer Ebene (Peritext). Die Kapiteleinteilungen schaffen bedeutungsschwere Pointen (Hamann 1981:17), denn die Ellipsen sparen narratives Geschehen aus, das für den Verlauf der Geschichte von immenser Bedeutung ist. So wird z. B. Effis Affäre mit Crampas nur an einer Textstelle explizit präsentiert (S. 190,2-3). Die Erzählinstanz verzichtet also darauf, Szenen, die zwischenmenschliche Annäherung mit Erotik darstellen, explizit zu machen (Grawe 1985:50). Auch Effis Tod wird nur angedeutet: „Ein Gefühl der Befreiung überkam sie. ,Ruhe, Ruhe.‘ “ (S. 348,261) Diese Worte werden durch einen anschließenden Strich als Unterbrechung des Kapitels exponiert, danach folgt ein mehrwöchiger Zeitsprung: „Es war einen Monat später [...]“ (S. 348,28). Effis Sterben lässt die Erzählinstanz implizit ,zwischen den Zeilen‘ stehen. Somit eröffnet das elliptische Erzählen der Erzählstimme in EB einen großen Raum für die Phantasie des Rezipienten und für Interpretationsansätze. In der Forschung besteht Konsens darüber, dass diese Unbestimmtheiten in EB ein konstitutives Textmerkmal darstellen, die die zahlreichen Interpretationen begünstigen (Grawe 1993:109, Källström 2002:134). Zudem durchbrechen22
Ellipsen die Linearität des Erzählens und machen somit bewusst, dass das Geschehen vermittelt und konstruiert ist (Andermatt 1987:121). In dieser Hinsicht haben Ellipsen eine distanzierende Wirkung auf den Rezipienten, da sie den Erzählfluss unterbrechen und Sachverhalte offen lassen. Die Auslassungen zwingen den Rezipienten zum Mitdenken, da er sich die fehlenden Elemente selbst erklären muss.
3.2 Die Stimme in Effi Briest (nach Genette)
Unter dem Parameter der Stimme interessieren Genette der Zeitpunkt des Erzählens, die Position des Erzählens und die Stellung der Erzählinstanz zum Geschehen.
Die Erzählinstanz berichtet im epischen Präteritum und im Plusquamperfekt von den Ereignissen der Diegese. Daraus kann aber noch nicht der Schluss gezogen werden, dass der Erzählzeitpunkt retrospektiv ist, da das Präteritum beim Leser nicht immer den Eindruck einer späteren Narration erzeuge (Genette 1998:247) und „reine Genrekonvention“ sei (Lahn/Meister 2008:92). In EB werden keine Anhaltspunkte über den Abstand zwischen der späteren Erzählung und dem Geschehen oder einer Variation der Relation des Abstandes geliefert.
In EB wird auf mehreren Ebenen erzählt, dabei gilt nach Genette folgendes Prinzip für Ebenenunterschiede: „Jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächsthöheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende Akt dieser Erzählung angesiedelt ist.“ (Genette 1998:163) Zunächst erzählt die Erzählinstanz, die nicht Bestandteil der Diegese ist, auf der ersten Stufe die Geschichte. An keiner Stelle nimmt der Erzähler Kontakt mit den Figuren auf, die Weltentrennung ist strikt. Somit ist die Erzählinstanz in Effi Briest extradiegetisch-heterodiegetisch (Hamann 1984:416).
Innerhalb der Geschichte werden die Figuren punktuell zu intradiegetischen Erzählern. Dieses Prinzip wird in der Exposition eingeführt, als Effi die Geschichte der Liebesbeziehung zwischen Innstetten und ihrer Mutter erzählt (S. 11,23-12,4). Diese Intradiegese fungiert als indirekte Figurencharakterisierung der Figur Innstetten durch Effi und zeigt die Vorgeschichte des Romans sowie thematische Bezüge zu dem weiteren Verlauf des Romans auf: War Innstetten damals jung, so wird auch Effi jung heiraten. Hat Frau Briest aus Vernunft Herrn Briest und nicht Innstetten geheiratet, wird Effi ebenso handeln. Die Intradiegese fungiert dementsprechend als Vorhalt und Effi als intradiegetisch-homo- diegetische Erzählerin, da sie auch in der Geschichte vorkommt (sie berichtet von ihrer Geburt). In dem Roman folgen noch weitere Intradiegesen, die in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu der Rahmengeschichte stehen (Lämmert 92004:52f). Vor allem die von Crampas erzählte Geschichte von Don Pedro (S. 163f) weist klare parallele Züge zu der23
Diegese auf: Äquivalent zu Crampas, geht es in der Intradiegese um einen Ritter, der wegen einer heimlichen Liebe hingerichtet wird.
3.3 Die Perspektive in Effi Briest (nach Schmid)
Bezüglich der perzeptiven Perspektive, die nach der Instanz fragt, die die Diegese wahrnimmt, lässt sich feststellen, dass die Erzählinstanz in EB zwischen dem figuralen und narratorialen Standpunkt wechselt, wobei tendenziell im Roman die figurale Perspektive dominiert und speziell in der Exposition die narratoriale überwiegt. So beginnt der Roman bereits mit einem Erzählerbericht, der das Anwesen Hohen-Cremmen beschreibt (S. 5-6,8). Auch erste Kommentare der Erzählinstanz fallen schon in der Exposition auf. Effis Spielen mit ihren Freundinnen, nachdem die Mutter weggegangen ist, wird wie folgt kommentiert: „Und da war nun die Jugend wirklich allein.“ (S. 8,9) oder „Ja, man konnte sich nicht genug damit thun [sic!].“ (S. 14,22) Einige Erzählerkommentare zeichnen sich sogar durch eine klare Markierung des Einschubes mittels Klammern aus. Die Satzzeichen betonen hierbei auf graphischer Ebene den Einschub der extradiegetischen Erzählinstanz, wenn sich diese z. B. selbst unterbricht, wie folgendes Beispiel zeigt, als Effi mit ihren Freundinnen verstecken spielt: Effi „[...] sich nach den Zwillingen hin umwendend (Hulda war noch weiter zurück) rief [...] diesen zu [...].“ (S. 16,34-17,2) Von der Exposition abgesehen sind die Erzählerkommentare vor allem aufgrund der langen Dialogpassagen lediglich versteckt und sparsam im Roman eingesetzt, sodass die Erzählinstanz tendenziell im Hintergrund bleibt (Hamann 1981:445).
Vereinzelt präsentiert die Erzählinstanz in der Exposition aber auch vom figuralen Standpunkt aus, indem sie personale Gedanken und Gefühle anzeigt (Zalesky 2008:103). Im Allgemeinen fokussiert sich der Erzähler auf die Wiedergabe der Gedanken, Gefühle und Meinungen Effis (Hamann 1981:429), wie das folgende und einzige Beispiel aus der Exposition zeigt: „Effi fand, daß [sic!] [er] nur zu sehr Recht habe, [...] vermied es aber trotzdem, einen Unterschied zwischen den drei Freundinnen zu machen.“ (S. 8,25-28) Die Darlegung der Gedanken und Gefühle von Effi wird im Laufe des Romans ausgebaut und zieht sich durch den gesamten Roman. Dabei arbeitet die Erzählinstanz häufig mit einer komplexen Verschmelzung der Erzähler- und Figurenperspektive mittels Redewiedergaben, um fast unmerklich Informationen über Effis Wahrnehmung und ihren Charakter zu liefern (Andermatt 1987:84). Dieser Aspekt der figuralen perzeptivischen Perspektivierung schafft eine Nähe zu der Figur Effi, da ihre Gefühle und Gedanken präsentiert werden und vom Leser nachvollzogen werden können. Allerdings ist diese figurale Strategie, wie bereits beschrieben, in der Exposition nur leicht vertreten und kommt erst ab dem zweiten Ab-24 schnitt zur vollen Ausprägung.
Die ideologische Perspektive in EB soll zusammen mit der sprachlichen Perspektive betrachtet werden. Es fällt auf, dass sich Figuren- und Erzählerrede in dem Roman im Sprachduktus nicht unterscheiden, sondern der Redestil einheitlich ist (Zalesky 2008:84). Signifikant für den Roman sind zahlreiche lange ,unvermittelte‘ Dialoge, die schon in der Exposition dominieren und mit wenigen Inquitformeln auskommen (S. 15-16). Verba dicendi, wie „sagen“ oder „fragen“ vermitteln einen Neutralitätseindruck, als ob die Erzählstimme lediglich beobachte und erwähne, was sie selbst sehe. Diese langen szenischen Dialoge, in denen der Erzähler im Hintergrund bleibt und der dramatische Modus im Vordergrund steht (showing) erwecken einen Eindruck von Unparteilichkeit. Allerdings wird bei einer detaillierten Analyse augenscheinlich, dass die Erzählinstanz ab und an implizit Wertungen äußert: Sie charakterisiert Effis Freundin Hulda Niemeyer und beschreibt sie als „langweilig und eingebildet“, als eine „lymphatische Blondine [...] mit blöden Augen.“ (S. 8,20-22) Dieser Kommentar des Erzählers ist allerdings die einzige offensichtliche Wertung in der Exposition. Auch im weiteren Verlauf des Buches kommen- tiert und wertet die Erzählinstanz zwar, aber stets implizit als versteckte Ausnahmen. Selbst Ereignisse, wie der Ehebruch oder das Duell, die Wertungen provozieren, werden neutral präsentiert. Diese scheinbare Neutralität zwingt den Rezipienten zu einer eigenen Meinungsbildung, weil er sich selbst zu dem präsentierten Geschehen positionieren muss (Zalesky 2004:82).
Die räumliche Perspektive entspringt beginnend einem narratorialen Standpunkt. Die Erzählinstanz am Anfang des Romans wirft einen umfassend weiten Blick auf das Grundstück Hohen-Cremmen:
In Front des [.] Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an einem Rande mit Canda Indica und Rhabarberstauden besetztes Rondell warf. (S. 6,1-10)
Mit diesen Worten beschreibt die Erzählinstanz gleichermaßen die Frontseite des Hauses, wie die Gartenseite des Anwesens. Effi und ihre Mutter sitzen im Garten vor dem Fenster neben einer kleinen Treppe (S. 6,4-6). Aus figuraler Perspektive könnte nur dieser kleine Ausschnitt des Gartens beschrieben werden. Aufgrund des multiperspektivischen Gesamtüberblickes des Grundstücks, ist die räumliche Perspektive zu Beginn des Romans narra- torial. Diese ,Allwissenheit‘ bezüglich des Raumes schafft eine Distanz zu der beschränkten25 Wahrnehmung der Figuren.
Im Roman kommt es aber immer wieder punktuell zu Abweichungen, in denen Räume vom figuralen Standpunkt aus präsentiert werden, zumeist aus Effis Sicht: Als Effi gerade erfahren hat, dass Innstetten um ihre Hand angehalten hat, „hörte sie schon des Vaters Stimme von dem angrenzenden, noch im Fronthause gelegenen Hinterzimmer her, und gleich danach überschritt Ritterschaftsrat von Briest [...] die Gartensalonschwelle (S. 18,13-17) In dieser Textstelle ist die Wahrnehmung des Raumes dadurch begrenzt, was Effi sieht und hört. Die Darstellung orientiert sich an der räumlichen Wahrnehmung der Figur Effi. Insgesamt wechselt die räumliche Perspektivierung in EB zwischen narrational und figural, wobei der figurale Standpunkt tendenziell dominiert.26 Diese figurengebundene Wahrnehmung hingegen steigert die Nähe zur Figur Effi, da die Räume nur aus ihrer Perspektive gezeigt werden.
Abschließend sei eine kurze Anmerkung zur zeitlichen Perspektive gemacht, die aufgrund fehlender Hinweise im Text nicht weiter bestimmt werden kann: Einschübe der Erzählinstanz, die auf Vergangenes verweisen, wie „auch heute wieder“ (S. 6,3) oder „wie immer“ (S. 280,30) verdeutlichen, dass die Erzählinstanz die Fähigkeit hat, einen großen Zeitraum zu überblicken. Diese temporalen Merkmale verweisen auf die narratoriale Perspektive der Erzählinstanz.
Die Analyse von EB hat aufgezeigt, wie komplex das Erzählen in dem Roman ist. Techniken, die auf das Vermitteltsein aufmerksam machen (telling) und somit distanzierend wirken, wie Ellipsen oder Vorhalte, werden im Roman ebenso angewendet, wie Strategien, die eine Unmittelbarkeit und Nähe zur Diegese evozieren (showing). Dabei liegt der Fokus vor allem auf der Figur Effi, wie die Analysen der Perspektiven nach Schmid sowie der Frequenz und Dauer gezeigt haben. Die Konzepte der Verfilmungen - ,distanziertes‘ Erzählen in FEB und ,empathisches‘ Erzählen in EB - sind also bereits beide als Lesarten im Roman angelegt. Auch in der aktuellen Literaturforschung herrscht darüber Konsens, dass der Roman EB durch seine Unbestimmtheiten die Möglichkeit vieler verschiedener Lesarten eröffnet (Källström 2002:134).
4. Analyse der expositorischen Filmsequenzen in FONTANE EFFI BRIEST
4.1 Analyse der visuellen Erzählinstanz in FONTANE EFFI BRIEST
4.1.1 Kamera
Zunächst werden die Positionen der Kamera27 und das Kameraverhalten in den expositorischen Filmsequenzen analysiert, damit im zweiten Schritt betrachtet werden kann, wie diese Beobachtungen im Verhältnis zum weiteren Film einzuordnen sind.
In der ersten Einstellung28 zeigt die Kamera die Frontansicht von Hohen-Cremmen, der Film beginnt statisch. Dieser Establishing Shot dient der Orientierung des Zuschauers (Kamp 1996:66). Ein Baum rahmt den Bildkader auf der rechten Seite. In der zweiten Einstellung ist die Kamera desgleichen erst statisch, dann folgt eine dezente und langsame Kamerafahrt. Die Kamera ist hinter den Schaukelstangen positioniert und somit in Distanz zu den Figuren. Zudem ist die Kadrierung total, sodass die Gesichter der vorgestellten Figuren nicht deutlich gesehen werden können. Bei Einstellung 3 handelt es sich um eine angedeutete Plansequenz. Die Kadrierung ändert sich nicht wesentlich, die Kamera filmt stringent aus einer leichten Untersicht. Diese Konstante soll die Aufmerksamkeit auf die Figurenrede lenken, da in dieser Einstellung Baron von Innstetten über Effis Erzählung indirekt eingeführt und charakterisiert wird. Erneut ist die Kamera in einem räumlichen Abstand hinter den Schaukelstangen positioniert. Einstellung 4.1 29 zeichnet sich durch eine spezielle Kameraposition aus: Die Kamera steht vor einem Spiegel und filmt das Spiegelbild. Das Kameraauge nimmt von dem Gegenstand der Requisite getrennt das dargestellte Geschehen nicht unmittelbar wahr. In 4.2 zeigt die Kamera einen direkten Over the Shoulder, bei dem die Hälfte des Bildes Effis nicht-fokussierter Hinterkopf in der Nahen ausmacht. 4.3 zeigt die Figuren in statischer Kamera in leichter Untersicht und in 4.4 bewegt sich die Kamera in gleicher Weise nicht. Der künstliche Charakter der Kamera wird in Einstellung 4.5 deutlich, als die Kamera nach dem motivischen „Effi, komm!“-Ruf langsam aus leichter Untersicht auf Innstetten zufährt und unterdessen keine Bewegung vor der Kamera von der Fahrt ablenken könnte30. Im weiteren Verlauf des Films befindet sich die Kamera weiterhin mit hoher Frequenz hinter Gegenständen der Mise-en-Scène31, die angeschnitten im Bildkader platziert sind. Die räumlichen Elemente stehen ,zwischen‘ Effi und dem Rezipienten. Dies schafft eine distanzierte Mittelbarkeit zum Rezipienten und macht auf das Medium der Kamera aufmerksam (Schachtschabel 1983:95). In FEB dominieren bezüglich der Kameraeinstellungen Totale und Halbtotale in der Normal- Perspektive, in denen die Kamera sich nur unmerklich oder gar nicht bewegt. Im Gegensatz zu EB ist lediglich eine Einstellung aus der Sicht der Figuren gedreht. 32 Claudia Gladzie- jewski spricht in diesem Kontext von „statischen Bildern“ (ebd. 1998:89t). Diese Einstellungen, die fotografischen Charakter haben, treten schon in der Exposition auf (1.4, 2.4, 4) und ziehen sich weiter durch den Film. Doch wie in Sequenz 4.5 gibt es im weiteren Filmverlauf gleichfalls künstlerische Abweichungen der Kamera von dieser statischen Dominanz, die zum Teil figurenunabhängig und durch ihren sparsamen Einsatz betont sind33. Sie machen auf das „Kamera-Verhalten“ und somit auf die Kamera als visuelle Erzählinstanz (VEI) aufmerksam (Schwab 2006:315). Diese Betonung der Kameraführung ruft dem Rezipienten ins Bewusstsein, dass das Gesehene ,nur‘ ein Film ist - eine Geschichte, die gezeigt wird und keine Realität. Dieses Kameraverhalten entspricht dem narrativen Modus (telling),34 da alles durch die Erzählinstanz der Kamera präsentiert wird und der Vorgang des Erzählens im Fokus steht. Zudem erinnert diese distanzierende Methode an ein wichtiges Element aus Brechts Theatertheorie: den Verfremdungseffekt, kurz ,V-Effekt‘. Eine verfremdete Abbildung ist für Brecht „eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber zugleich fremd erscheinen läßt.“ (Brecht 1963:32) Indem er die Einfühlung des Rezipienten verhindert, weckt der ,V-Effekt‘ eine aufmerksame und kritische Rezeptionshaltung des ideellen Zuschauers des epischen Dramas. Er denkt mit, anstatt nur mitzufühlen (Brecht 1963:42).
4.1.2 Mise-en-Scène
Der Spielfilm FEB verweigert die gewohnte Farbgestaltung, die Bilder sind in SchwarzWeiß inszeniert. Dieser Verzicht auf den Farbfilm impliziert einen ,historischen Charakter35 des Films (Schwab 2006:313) und erinnert im Geiste von Brechts ,V-Effekt‘ und des narrativen Modi nach Genette an die künstliche Konstruktion des Films. Auch die auffälligen Hell-Dunkel-Kontraste kommen durch den Farbverzicht stärker zur Geltung und betonen ebenfalls die künstlerische Inszenierung des Films (Geppert 2006: 121f).
Fassbinder setzt in seiner Ausstattung der Mise-en-Scène natürliche Begrenzungen im Bild durch „architektonische[...] oder natürliche Raumkomponenten“ als Begrenzung des
[...]
1 Für weitere Informationen zu den Filmen siehe: Filmverzeichnis, S. 48. Um den Lesefluss zu erleichtern, wird der Roman Effi Briest im Folgenden mit EB abgekürzt, der Film FONTANE EFFI BRIEST wird folgend als FEB bezeichnet und die Verfilmung EFFI BRIEST wird EB genannt.
2 Der vollständige Filmtitel lautet: „Fontane Effi Briest oder Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen und dennoch das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen.“
3 Die Dreharbeiten zu FEB begannen im Sommer 1972, mussten aber aufgrund einer Krankheit des Hauptdarstellers Wolfgang Schenk für ein Jahr unterbrochen werden (Töteberg 2002:85f).
4 Von den zahlreichen Interpretationen dominieren sozialhistorische Betrachtungen mit Fokus auf der gesellschaftskritischen Dimension (z. B. Grawe 1991, Müller-Seidel 1973, Lübbe 1973). Weiter wurde z. B. die Gartenbeschreibung im Romananfang häufig interpretiert (Meyer 1993, Grawe 1985, Hajduk 2010) oder die Raumarchitektur im Allgemeinen (Andermatt 1987) sowie Bezüge des Romans auf die Bibel (Mandelartz 1997) oder auf mythologische Subtexte (Erhardt 2008) dargestellt.
5 Alle kursiv gedruckten Begriffe sind im Anhang Nr.2: „Glossar filmanalytischer Begriffe“ erläutert.
6 Ausnahme ist die Einblendung eines Portraits von Effi in FEB (00:05:31-00:05:59 Min.), die allerdings von großer Bedeutung ist, da sie auf die verschiedenen Erzählebenen und die Vermittlung des Films hinweist.
7 Das „Effi, komm“-Motiv wurde in der Sekundärliteratur zahlreich untersucht (vgl. Hamann 1981, Downes 2000, Ostheimer 2007). Es markiert einen dramatischen Wendepunkt (das Ende von Effis Kindheit und der Beginn der Erwachsenenzeit) und kann als „vorausdeutendef..] Warnung“ vor „Gebundenheit“ und „Unfreiheit“ aufgefasst werden (Källström 2002:128). Am Ende des Romans wird das Motiv erneut aufgegriffen, als Herr Briest Effi zurück nach Hause ruft.
8 Kreuzer differenziert vier Arten der Literaturadaption: Adaption als Aneignung von literarischem Rohstoff, Adaption als Illustration, als interpretierende Transformation oder als Dokumentation (Kreuzer 21999:27-31).
9 Genette, Gérard: Diskurs der Erzählung. Ein methodologischer Versuch. In Vogt, Jochen (Hrsg.): Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München (Wilhelm Fink) 21998:11-192.
10 Während die Unterscheidung zwischen den Fragen „Wer sieht?“ (Modus) und „Wer spricht?“ (Stimme) als Neuheit an Genettes Typologie bewertet wird (Lahn/Meister 2008:32), wird eben dieser Perspektivbegriff in der Forschungsliteratur als unspezifisch bewertet (Bal 1977:107-127, Wenzel 2004:123-125, Fludernik 2006: 116-118, Martinez 2011:133, Kozloff 1988:42, Schmid 2008:119f).
11 Mit diesen Analysekategorien spezifiziert Genette die Erzählsituation bei Stanzel, der einen Typenkreis aufstellt und die Erzählsituation in personal, auktorial und Ich-Erzählung gliedert (Stanzel 82008:68-108).
12 Dieser Begriff ist mit Vorsicht zu behandeln, weil schriftliche Texte generell nur eine Pseudo-Zeitlichkeit aufweisen, da der performative Akt des stummen oder lauten Lesens von verschiedensten Lesetempi geprägt ist und es nie eine absolute Isochronie geben kann (Genette 21998:213).
13 Auf die Problematik des Konzepts des impliziten Autors von Wayne Booth soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
14 Siehe Anhang Nr.1, Schaubild 1.1): „Das Zusammenspiel der Vermittlungsinstanzen beim filmischen Erzählen.“ Auch im weiteren Verlauf der Ausarbeitung werden die Konzepte der visuellen und sprachlichen Erzählinstanz mit ihren Abkürzungen VEI bzw. SEI bezeichnet.
15 Siehe Anhang Nr.1, Schaubild 1.2): „Das Verhältnis der sprachlichen und visuellen Erzählinstanz.“
16 Der Begriff stammt aus dem Französischen (von franz: ocularisation) und geht auf François Jost zurück.
17 Bei Angaben dieser Art handelt es sich um die Angabe der Seitenzahl und der Zeilenangabe (hinter dem Komma). Sie beziehen sich auf folgende Ausgabe des Romans EB: Hehle, Christine: „Theodor Fontane. Effi Briest. Roman.“ In: Erler, Gotthard (Hrsg.): Theodor Fontane. Grosse Brandenburger Ausgabe. Das Erzählerische Werk. Berlin (Aufbau) 15/1998.
18 „[...] und das war ein großer Tag für beide gewesen, so sehr, dass dieses Tages hier noch nachträglich gedacht werden soll.“ (S. 308,6-8) Dieser Kommentar der Erzählinstanz markiert die einzige Analepse.
19 Effis Furcht vor dem Chinesen wird z. B. eine besondere Bedeutung zugemessen, drei Mal wird von verschiedenen Instanzen präsentiert, wie sie Geräusche von oben hört: einmal von der EI, dann von der Figur Effi und zuletzt aus Sicht der Figur Johanna (S. 86-89). Die Tätigkeit des Briefeschreibens wiederholt sich ebenfalls immerzu.
20 Diverse Ellipsen markieren in Effi Briest Zeitsprünge von einer Nacht („Es war schon heller Tag, als Effi am andern Morgen erwachte.“ [S. 59,1]), über mehrere Wochen („Ende August war da [...].“ [S. 27,19]) bis hin zu mehreren Monaten („Inzwischen war Mitte November herangekommen“ [S. 157,26]).
21 Peritexte sind eine Form von Paratexten, die Begriffe gehen auf Genette zurück. In diesem Zusammenhang meint Peritext „Elemente in den Zwischenräumen des Haupttextes“, also die Kapiteleinteilungen und Striche (Lahn/Meister 2008:45).
22 Der Begriff geht auf Käte Hamburger zurück und beschreibt, wie das Präteritum in fiktionalen Texten seine temporale Qualität verliert und an Stelle dessen die Fiktivität der Fiktion markiert (Hamburger 31977:59-71).
23 Ein Beispiel hierfür: Nachdem Effi den Zug gesehen hat, der nach Hohen-Cremmen fährt, präsentiert die Erzählinstanz ihre Gefühle: „Effi war, als der Zug vorbeijagte, von einer herzlichen Sehnsucht erfasst worden. So gut es ihr ging, sie fühlte sich trotzdem wie in einer fremden Welt.“ (S. 103,11-13)
24 Dieser Meinung begegnet man oft in der Sekundärliteratur (z. B. Hamacher 1984:93, Andermatt 1987:87-93, Settler 1999:93, Zalesky 2004:82).
25 Am Ende des dritten Kapitels z. B. wertet die Erzählinstanz deutlich eine Einschätzung von Frau Briest über Effi. „Das alles war auch richtig, aber doch nur halb.“ (S. 25,34) Crampas wird ebenso ironisch bewertet: „Er that [sic!] das mit unglaublicher Bonhommie [sic!].“ (S. 158,24) Als Effi Dagoberts Bibelwitz nicht versteht, kritisiert die Erzählinstanz Effi mit Ironie: „[...] Sie gehörte ganz ausgesprochen zu den Bevorzugten, die für derlei Dinge durchaus kein Organ haben [...].“ (S. 229,21-24)
26 Weitere Beispiele für die figurale räumliche Perspektive sind Effis Ankunft in Kessin, als sie sich einen ersten Eindruck von den Räumlichkeiten macht (S. 56,17-34), am ersten Morgen ihren Raum betrachtet (S. 59,5-13) und von Innstetten durch das Haus geführt wird (S. 68,7-34; 69,1-27).
27 Alle kursiv gedruckten Begriffe sind im Anhang Nr.2: „Glossar filmanalytischer Begriffe“ erläutert.
28 Siehe Anhang Nr. 3: „Einstellungsprotokoll expositorische Filmsequenzen FONTANE EFFI BRIEST (1974).“ Die folgenden Beschreibungen der Sequenzen 1-4 von FEB beziehen sich auf dieses Einstellungsprotokoll.
29 Einstellung 4.1 beschreibt die erste Einstellung der vierten Sequenz.
30 Vgl. Tableaux Vivants im Kapitel 4.1.2: „Mise-en-Scène“, S. 19.
31 Vgl. Kapitel 4.1.2: „Mise-en-Scène“, S. 17.
32 Die einzige interne Okularisierung stellt Sequenz 71 dar, als Innstetten die Briefe von Crampas findet und sie liest. Dies wird mit einem POV-Shot präsentiert.
33 In Sequenz 9 z. B. weicht die Kamera von der Normalperspektive ab und wird, auf der Straße positioniert, aus der Untersicht von dem Pferdegespann ,überrollt‘. Des Weiteren agiert die Kamera in Sequenz 56 autonom: Am Ende der Sequenz schwenkt die Kamera von Innstetten und Effi weg und zeigt stattdessen eine Januskopf-büste. Diese autonome Kameraführung, die sich von den Figuren löst, wird „gelöste Kamera“ genannt (Hurst 1996:139). Für Beispielsequenzen ab Sequenz 5, die im Fließtext in Klammern gesetzt sind, siehe Anhang Nr.4: „Sequenzprotokoll FONTANE EFFI BRIEST (1974)“.
34 Vgl. Kapitel 2.2: „Narratologische Kategorien für die Literaturanalyse (nach Genette und Schmid), S. 4.
35 Auf die Hell-Dunkel-Kontraste soll im Detail nicht eingegangen werden. Es sei aber erwähnt, dass Effi überwiegend in weißen Kleidern, hell und weich ausgeleuchtet dargestellt wird, während Innstetten und Johanna, die die Gesellschaft repräsentieren, mit hartem Licht beleuchtet werden und ausschließlich schwarze Kleidung tragen (Siehe z. B. Einstellung 4.3 im Einstellungsprotokoll Anhang Nr.3).
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