Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Rede
3. Kontext der Rede
3.1. Historischer Hintergrund
3.2. Kommunikative Situation
4. Inhaltliche Analyse
4.1. Interpretation
5. Pragmatische Analyse
5.1. Einführung
5.2. Sprechaktanalyse
5.3. Konversationsmaxime und Präsuppositionen
5.4. Wir- Gebrauch
6. Lexikalisch-semantische Analyse
7. Textlinguistische Analyse
8. Fazit
9. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Bei der Rede von Richard Karl Freiherr von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestags des 20. Juni 1944 handelt sich es um eine Gedenkrede zum Andenken an die Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus.
Mein Ziel ist es, die Rede hinsichtlich pragmatischer, semantischer und syntaktischer Merkmale zu analysieren. Des Weiteren werde ich versuchen einen Überblick über die Rede und eine Einordnung dieser zu geben, sowie eine Analyse der linearen Argumentationsstruktur. Abschließend werte ich aus, ob es Weizsäcker gelungen ist, seine intendierte Wirkung zu erzielen.
2. Die Rede
Richard von Weizsäcker
Entscheidungen des verantwortlichen Gewissens
Ansprache des Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker am 20. Juli 1984 im Schloss Bellevue, Berlin[1]
Es ist das erste Mal, dass ich während meiner Amtszeit in meinem Berliner Wohnsitz, im Schloss Bellevue, Gäste begrüßen darf. Für mich hat es eine tiefe Bedeutung, dass dies am 20. Juli geschieht. Denn die Gedanken und Taten der Männer und Frauen, an die wir uns heute erinnern, und die ganze Zielrichtung des 20. Juli 1944 wurde die prägende Grundlage im Reifeprozess meiner Generation und meines eigenen Freundeskreises.
Zugleich wurde sie eine zentrale Thematik im Gespräch mit der nachfolgenden Generation. Dieser Austausch diente der Information, er war oft begleitet von Verständigungsschwierigkeiten, von Leidenschaften und Konflikten. Es war und bleibt ein ebenso schwieriges wie notwendiges Gespräch, damit wir Orientierung im heutigen Leben finden.
Lassen Sie mich am Abend dieses Tages der Erinnerung und des Ausblicks kurz drei Gedanken vortragen:
1.
Es ist gut und notwendig, dass wir den heutigen Tag miteinander in Berlin verbringen. Berlin war das Zentrum des Deutschen Reiches. Berlin war zwar nicht Geburtsort der nationalsozialistischen Herrschaft, wurde aber als Hauptstadt zwangsläufig ihr Machtmittelpunkt. Hier wurden Entscheidungen getroffen, die zu Leid und Unrecht, zu Krieg und Holocaust führten.
Die Berliner waren aber ihrer Natur und Tradition nach ein schlechter Nährboden für die nationalsozialistische Diktatur. Sie hatten schon früher immer wieder verfolgten Menschen Schutz geboten. Auch und gerade unter den unvorstellbar schwierigen Bedingungen des Dritten Reiches gab es hier immer wieder und bis zuletzt mutige und selbstlose Taten der Menschenhilfe, des Protestes gegen Unrecht und des Widerstandes. Die meisten Taten dieser Menschenliebe vollzogen sich in der Stille. Sie sind bis heute nicht öffentlich bekannt. Berlin hat für Krieg und Unrecht in besonderem Maße gelitten und bezahlt. Hier im Zentrum des geteilten Berlin erleben wir wie nirgends sonst die Folgen der nationalsozialistischen Diktatur bis auf den heutigen Tag.
Der besondere Status der Stadt, der dem Viermächteabkommen zugrunde liegt, kennzeichnet die Lage Berlins. Wir achten ihn und leben in seinem Rahmen. Dies heißt – bei Aufrechterhaltung und Entwicklung der Bindungen zwischen dem westlichen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland – auch, dass Berlin nicht von der Bundesrepublik Deutschland regiert wird.
Die Bundesrepublik Deutschland wäre aber ihrerseits in einem geistig-politischen Sinne ohne Berlin unregierbar. Denn ohne Berlin wäre sie orientierungslos in Bezug auf Geschichte und Zukunft.
Die Geschichte ist kein bloßer Museumsgegenstand. Sie wirkt mit Macht in unsere Gegenwart hinein. Jeder kann es in Berlin täglich sehen und spüren im Leben der Menschen auf beiden Seiten der Mauer. Es liegt an uns, was wir aus dieser Geschichte und Gegenwart für die Zukunft machen. Nirgends ist ihr Zusammenhang so deutlich wie in Berlin. Ihre Gefahren zu erkennen, ihre Chancen zu nutzen ist unsere Verantwortung. Die Zukunft der Deutschen untereinander und im Verhältnis zu den anderen Völkern entscheidet sich primär an Berlin. Deshalb ist es gut, dass wir uns am heutigen Tage in Berlin versammeln und von hier aus an Vergangenheit und Zukunft denken
2.
Es gab, wie wir alle wissen, keine staatliche oder gesellschaftliche Institution, keinen Berufsstand und keine Schicht als ganzes, die den Widerstand gegen Hitler getragen hätte. Vielmehr waren es Gedanken und Entscheidungen einzelner Menschen, die sich zur Einsicht durchrangen, es müsse Widerstand geleistet werden durch Wort und Tat, und zwar gegen die erzwungene, widerwillige oder freiwillige Haltung ihrer eigenen Institution oder Schicht. Widerstand war ein Akt höchstpersönlicher Verantwortung.
Aus allen Landschaften und Schichten der Bevölkerung, aus unterschiedlicher, ja oft gegensätzlicher geistigen, sozialen und politischen Tradition kamen verantwortlich handelnde Menschen. Es hatte tiefe Gräben unter ihnen gegeben, aber sie hatten erkannt, wie unwichtig dies gegenüber ihren gemeinsamen und nun lebensgefährlich bedrohten Überzeugungen der Humanität geworden war.
Es waren Entscheidungen des verantwortlichen Gewissens. Das Gewissen ist persönlich, nicht kollektiv. Folglich gab es auch ganz unterschiedliche Gewissensentscheidungen. Sie reichten vom Attentat des 20. Juli bis zu dem stummen und immer nachdrücklicheren Protest des Arbeiters im Wedding, den uns Fallada in seinem Stück „Jeder stirbt für sich allein“ so eindrücklich vor Augen geführt hat.
Die Unterschiedlichkeit der Entscheidungen war verständlich und sachgemäß. Was dem Widerstand gemeinsam ist, war nicht die soziale Herkunft, die politische Überzeugung oder der Glaube, sondern die Kraft, sich dem Gewissen in seiner ganzen Last zu stellen, für den anderen einzutreten und das eigene Leben für die Folgen einzusetzen.
Wir leben heute in einer anderen Zeit. Die Herausforderungen, vor die sie uns stellt, sind weniger handgreiflich, sie sind oft komplex und unklar. Probleme und Lösungswege erscheinen im Vergleich zu damals verschwommen.
Aber die Anforderungen an ein verantwortliches Leben gelten heute wie damals. Die Menschen, derer wir heute gedenken, bieten uns dafür Maßstäbe. Es sind nicht historische Zusammenhänge oder politische Berechnung, die vom damaligen Widerstand fortwirken, sondern Wesen und Charakter, Worte und Taten der Personen, ihre Zielrichtung war auf die zentralen Fragen des Lebens bezogen, ihr Gewissen war ihr Antrieb.
Dies hat viele von ihnen zu einer geistigen Kraft im Leben geführt, hat sie befähigt, ihr Leben nach dem Wesentlichen zu orientieren, wie dies zu unserer Zeit selten anzutreffen ist. Gerade auch in diesem Sinne sprechen ihr Leben und ihre Liebe über den Tod hinaus zu uns.
[...]
[1] Quelle: http://www.20-juli-44.de/pdf/1984_weizsaecker.pdf, Zugriff am 20.11.2012