Intertextuelle Bezüge in Oliver von Schaewens Roman „Räuberblut“


Examensarbeit, 2013

69 Seiten, Note: 2,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Intertextualitätsbegriff
2.1. Grundlagen
2.1.1. Michail Bachtin
2.1.2. Roland Barthes
2.1.3. Jacques Derrida
2.1.4. Julia Kristeva
2.2. Typologien
2.2.1. Michael Riffaterre
2.2.2. Gérard Genette
2.2.3. Renate Lachmann
2.2.4. Ulrich Broich / Manfred Pfister

3. Festlegung der verwendeten Theorie und Begründung

4. Oliver von Schaewens „Räuberblut“
4.1. Handlung und Aufbau des Romans
4.2. Überblick der intertextuellen Bezüge und Prätexte
4.3. Die Arten von intertextueller Markierung
4.3.1. Nullstufe
4.3.2. Reduktionsstufe
4.3.3. Vollstufe
4.3.4. Potenzierungsstufe

5. Fazit

Anhang

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Kein literarischer Text entsteht aus dem Nichts. Vielmehr führt dieLiteraturgeschichte auf den Schauplatz der Weltliteratur, auf dem wir in jedemschriftlichüberlieferten Text auf die mehr oder weniger sichtbaren Spurenanderer Texte stoßen.1

Tonger-Erk und Berndt sagen damit nichts anderes, als dass Intertextualität ein essenzieller Bestandteil unserer Literatur und damit natürlich auch unserer Kultur ist. Aber heißt das dann, dass wir dazu verdammt sind, immer und immer wieder dieselben Texte zu wiederholen ohne je etwas Neues und Innovatives erdenken zu können? Mitnichten, denn obwohl sich in jedem Text, fasst man nun den Literaturbegriff ganz eng oder definiert fast jede kommunikative Äußerung als Text, Anklänge und Hinweise auf vorangegangene Texte finden, ist die Leistung der Textproduktion nicht zu unterschätzen. Das variable Nutzen und Kombinieren verschiedenster Referenztexte und damit das Umformen dieser Texte zu einem neuen Ganzen ist die Leistung jedes neuen Textes. Doch was ist Intertextualität und welche Funktion hat sie?

Intertextualität ist einer der zentralen Aspekte der Literatur- und Kulturtheorie, der vor allem von den Strukturalisten und den Poststrukturalisten untersucht wurde. Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts rückt dieser wissenschaftliche Gegenstand immer mehr in den Fokus der Literaturwissenschaft.

So ist es nicht verwunderlich, dass es zahlreiche Strömungen und Denkmodelle innerhalb der Intertextualitätsdiskussion gibt. Grob definiert, umfasst Intertextualität die Gesamtheit der Text-Text-Beziehungen und ihre Phänomene, wobei die Meinungen schon allein beim Thema der Definition des Textbegriffs innerhalb der Forschung weit auseinander gehen. Die Vielschichtigkeit der Intertextualitätsforschung im Ganzen zu erfassen scheint heute kaum noch möglich und Intertextualität als solche scheint in ihrer Komplexität schwer erfassbar zu sein.

Um welche Beziehungen es sich in Konkreten jedoch handelt und wie man sie beschreiben kann, darüber gibt es die verschiedensten literaturwissenschaftlichen Meinungen.

Sie reichen von einem sehr eng gefassten, nur literarisch-ästhetisch und schriftlich fixiertem Text bis hin zu einer Textdefinition, die jegliche Art von sprachlicher Kommunikation, sei sie nun verbal oder nonverbal, beinhaltet.

Einige Theorien schließen Phänomene wie Intermedialität und Intratextualität mit in den Bereich der Intertextualität ein, andere grenzen den Begriff so ein, dass nur reine Text-TextBeziehungen im letzteren Sinn der Textdefinition zu untersuchen sind.

Diese Arbeit gliedert sich zum einen in einen theoretischen Teil, in dem Raum für erste Hypothesen der Grundlagenforschung der Intertextualität, sowie daraus resultierende, untereinander aber stark differenzierte Typologien, betrachtet werden sollen. Zum anderen beinhaltet sie einen praktischen Teil, in dem die konkreten intertextuellen Bezüge und Markierungen in Oliver von Schaewens Krimiroman „Räuberblut“ näher untersucht werden sollen.

Die erste Hälfte der Arbeit untergliedert sich dementsprechend nach folgenden Kriterien.

Im nachstehenden ersten Abschnitt sollen die wichtigsten Grundlagen zum Verständnis des Intertextualitätsbegriffs beschrieben werden. Hierunter zählen vor allem Bachtins Dialogizitätstheorie, sowie die Prägung und ersten Definitionsversuche des eigentlichen Begriffs der Intertextualität durch Kristeva.

Doch auch das Begriffsverständnis zweier Philosophen, die versuchen sich dem Wesen der Intertextualität durch Metaphorologie anzunähern, soll hier Rechnung getragen werden. Darauf sollen dann taxonomische und typologische Ansätze von Literaturwissenschaftlern wie Michael Riffaterre, Gérard Genette und Renate Lachmann bis hin zu Ulrich Broich und Manfred Pfister näher beleuchtet werden.

Abschließend wird der Markierungsbegriff, wie ihn Jörg Helbig propagiert, vorgestellt. Da Helbigs Ausdifferenzierung der Arten intertextueller Markierung den zweiten Hauptteil dieser Untersuchung strukturell gliedert, wird zuvor auf Abstufung dieser Kategorien näher erklärt und definiert.

In dem textanalytischen, zweiten Teil dieser Arbeit soll vor allen Dingen die praktische Anwendung der Progressionsskala von intertextuelle Markierung nach Helbig in Bezug auf Oliver von Schaewens „Räuberblut“ betrachtet werden.

Nachdem die Handlungsstränge und der Aufbau des Romans kurz zusammengefasst wurden, soll ein Überblick über die mannigfaltigen, literarischen Prätexte, auf die von Schaewens Kriminalerzählung referiert, gegeben werden.

Exemplarisch werden die Arten intertextueller Markierung in ihrer sich steigernden Deutlichkeit danach hauptsächlich an den Konnexen zu Schillertexten im Allgemeinen und Schillers „Die Räuber“ im Konkreten sowie, wo es legitim erscheint, an zusätzlich weiteren Beispielen aus dem Kontext näher untersucht. Hierbei soll auch auf die jeweilige Funktion der intertextuellen Markierung eingegangen werden.

Helbigs Progressionsskalierung und Pfister und Broichs Intertextualitätstheorie wird so also auf ihre praktische Anwendbarkeit am konkreten Textbeispiel geprüft.

Weiterhin soll geklärt werden, ob es sich bei Oliver von Schaewens Roman nur um eine bloße Kontrafaktur des Schiller-Dramas handelt, oder ob aus der Intertextualität heraus ein neues, kreatives und damit auch literarisch wertvolles Schriftgut produziert wurde, welches das Drama nur als Basis nutzt und sich ansonsten separiert entwickelt.

2. Intertextualitätsbegriff

Obwohl literarische Texte schon seit der Antike dazu neigen, sich nicht nur auf die außerliterarische Wirklichkeit sondern auch auf einander zu beziehen, ist die Intertextualitätsdebatte in der Literaturwissenschaft noch relativ jung.

Nachfolgend sollen einige Grundlagen für die Entwicklung eines solchen Intertextualitätsbegriffs und -verständnisses näher beleuchtet werden, wobei diese Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit in der Darstellung der Grundlagenforschung und den daraus abgeleiteten Typologien erhebt.

Die hier beschriebenen Ansätze stehen hierbei stellvertretend für die wichtigsten Strömungen dieses Forschungsgebiets.

2.1. Grundlagen

Der eigentliche Begriff der „Intertextualität“ wurde erst in den 1960er Jahren von Julia Kristeva entwickelt. Zuvor und auch in der Zeit dieser Begriffsprägung gab es Grundlagenforschungen, die eine derartige Entwicklung erst möglich gemacht haben oder sie wissenschaftlich ergänzt und ihr vorgebaut haben.

Dazu gehören prägend für den Intertextualitätsbegriff Michail Bachtins Dialogizität, sowie die Beiträge auf metaphorologischer Ebene von Roland Barthes und Jacques Derrida, die mit ihren Gleichnissen zum Beispiel aus der Biologie theoriebildend gewirkt haben. So haben diese Beiträge zur Formung und Durchsetzung des Intertextualitätsprinzips als feste Begrifflichkeit der Literaturtheorie beigetragen und sind daher zum Verständnis des Bedeutungsinhalts dieses Terminus unbedingt erforderlich.

2.1.1. Michail Bachtin

Die Grundlage dieser ersten greifbaren Intertextualitätstheorie bildet jedoch der Rückgriff auf das theoretische Konzept der „Dialogizität“ von Michail Bachtin aus den 1920er Jahren während der Kulturrevolution.2 Um also Kristevas Konzeption von Intertextualität vollständig verstehen zu können, muss man zuerst Bachtins Ansatz näher beleuchten. Der russische Literaturwissenschaftler stieß in seinen Studien über Dostoevskij auf sprachliche Äußerungen, die sich nicht auf die reale Welt, ob es sich dabei nun um Objekte, Personen oder Sonstiges handelte, sondern wiederum auf andere literarische Sachverhalte bezogen. Damit erschlossen sich ihm zwei Bedeutungsebenen des poetischen Wortes in einem literarischen Kontext.

Das Wort hat hier eine zweifache Ausrichtung, es ist sowohl auf denGegenstand der Rede, wie das gewöhnliche Wort, als auch auf ein anderes Wort, auf eine fremde Rede gerichtet. 3

Demnach und vereinheitlichend ist laut Bachtin die Sprache allgemein und somit alle Texte schon von dialogischer Natur. Unterdrückt man theoretisch diese Dialogizität, erreicht man eine Art von Monologizität, für Bachtin das „feste, tote, abgeschlossene und unbeantwortete Wort“4. Bachtin selbst glaubt jedoch nicht an die Existenz einer solchen reinen Monologizität. Doch seine Erfahrungen in dem sich neu bildenden kommunistischen Russland, in dem Bachtins Schriften zum Teil zensiert oder ganz verboten wurden, zeigen ihm, dass auch monologische Gesellschaften möglich sind, in denen die verschiedenen Worte oder Sprachen sich einer einzigen Weltanschauung und damit nur einer Lesart unterordnen müssen.

Die Dialogizität hingegen repräsentiert bei ihm die Möglichkeit der freien Entfaltung von ganz unterschiedlichen Sinninterpretationen desselben Wortes, die nur in einer pluralistischen Gesellschaft möglich ist.

An dieser Stelle bemerkt man die politische Einfärbung von Bachtins Theorien, die es zum Teil problematisch macht mit ihnen neutral zu arbeiten, da Bachtin Dialogizität und Monologizität ideologisch mit Staatssystemen zu verknüpfen scheint und aufgrund dessen eine starke Wertung vornimmt.

Dialogizität umfasst außerdem bei Bachtin eine Ambivalenz innerhalb des dialogischen Wortes, indem der präsente und absente Sinn ständig interferieren und so eine fixe und eindeutige Sinnbildung verhindern.5 Ein und derselbe Wortlaut kann also, je nach Verwendungssituation, einen unterschiedlichen Sinn transportieren.

Dies bedeutet konkret, dass laut Bachtin drei Typen des Prosawortes existieren, zum einen das substantielle und direkt gerichtete Wort, die Erzählrede, zum anderen das Wort des Autors, das er seinen Figuren in den Mund legt. So ist dieses dargestellte Wort gleichzeitig fremd gerichtet, da der Autor ja dessen eigentlicher Schöpfer ist, und wiederum direkt gerichtet, da es innerhalb des Textes unmittelbar als Figurenrede gesprochen wird. Der dritte Typ ist nun die Überlagerung beider Redetypen. Hier existieren beide Bedeutungsspielräume nebeneinander und miteinander. Dies benennt Bachtin als Redevielfalt.6 Es kommt also zu einem Dialog der Worte innerhalb eines Textes, der gleichzeitig aber auch ein Dialog mit fremden Worten außerhalb des Textes ist. Diese Redevielfalt führt schlussendlich zu einem so genannten „polyphonen Roman“, in dem viele Stimmen der Worte synchron zusammen klingen.7

Anklänge einer Intertextualität finden sich in Bachtins „Ästhetik des Wortes“, wenn er proklamiert:

Es gilt, gegen oder für alte literarische Formen zu kämpfen, sie sind zubenutzen und zu kombinieren, ihr Widerstand ist zuüberwinden oder in ihnenist Unterstützung zu suchen. 8

Hier beschreibt er eindeutig intertextuelle Problematiken die später, wie im Fall des Überwindens des Widerstandes eines vorhergegangenen Textes von anderen Literaturtheoretikern wie Harold Bloom, pointierter in Form der These des ewigen „Kampfes zwischen starken Dichtern“ aufgenommen und weiterentwickelt wurden. Die Dialogizität wendet Bachtin jedoch zumeist auf nur ein einzelnes Wort in einem einzelnen Text an, was sie eher zu einem intratextuellen Phänomen macht. Indem er jedoch von einem sehr weitgefassten Textbegriff ausgeht, der zum Beispiel auch sprachliche Kommunikation umfasst, kann man die Dialogizität auch in gewisser Weise als intertextuelle Eigenschaft annehmen, da „es keine Äußerung ohne Beziehung zu anderen Äußerungen“9 gibt. Dieser ausgeweitete Textbegriff lässt zu, ihn als Vertreter eines universalen Intertextualitätsprinzips zu sehen.

Die Konzentration auf das alleinige Wort sowie der weitgefasste und unscharfe Textbegriff in Verbindung mit der starken intratextuellen Konnotation und den politisierenden Wertungen seiner einzelnen Prinzipien machen diesen frühen theoretischen Ansatz für die hier geplante Untersuchung ungeeignet, wenn er auch als Grundlage des Verständnisses von Intertextualität unerlässlich ist.

2.1.2. Roland Barthes

1967 veröffentliche der Philosoph Roland Barthes seinen Aufsatz „Der Tod des Autors“, in dem er die poststrukturalistische Theorie vertrat, dass der Autor für die Interpretation von Literatur weitaus weniger Bedeutung hat als der Rezipient.

Gegen die Vorstellung der originellen Autorenschaft des 18. Jahrhunderts stellt Barthes das Konzept des Schreibers, denn für ihn sind Texte lediglich „Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.“

Da das Wort „texere“ im Lateinischen bereits „weben“ oder „flechten“ bedeutet, liegt diese stoffliche Metapher zur Neuverflechtung bereits existierender Materialien, die in diesem Fall aus Vorgängertexten entnommen werden, quasi auf der Hand.

Der Schreiber [kann] nur eine immer schon geschehene, niemals originelle Geste nachahmen. Seine einzige Macht besteht darin, die Schriften zu vermischen und sie miteinander zu konfrontieren, ohne sich jemals auf eineeinzelne von ihnen zu stützen. 10

Der Schreiber wiederum ist keine Person, sondern nur eine Instanz, die nur zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes existiert hat, zuvor aber nicht bestand und auch nachdem Schreibvorgang keinerlei Substanz innehat.

Diese nicht gegenständliche Instanz wählt aus einem fast unendlich großen „inneren“ Vokabularium aus und entnimmt diesem den Text.

Dieses Wörterbuch ist nichts anderes als der texte général, der wiederum aus nichts anderem besteht, als der Vernetzung aller bisher dagewesenen Texte. Jeder Text ist laut Barthes also auch ein Intertext, der sich auf diverse Texte vor ihm gründet und selbst Quelle für nachfolgende Texte sein wird. Aus diesen Verbindungen der Texte untereinander entsteht das, was Barthes als Gewebe oder Netz metaphorisiert.

Die Worte „Gewebe“ und „Netz“ gehören ganz klar zu den typischen poststrukturalistischen Metaphern und sollen vor allem eine Ablehnung eines rein hierarchisch geprägten Ordnungsmodells symbolisieren.11

„So enthüllt sich das totale Wesen der Schrift“12, schreib Barthes weiter. Sie ist nichts anderes als eine Echokammer, in der vorangegangene Texte widerhallen.

Der Tod, metaphorisch nichts anderes als die Dekonstruktion des Autors und der Widerhall von Referenztexten in einer Schrift, bedingt jedoch auch die Geburt des Lesers, der bei Barthes als ein abstrakter Raum verstanden wird. Ihm fällt in der Lektüre die Aufgabe des Verständnisses und vor allem der Einheitsbildung zwischen den Versatzstücken der verschiedenen Texte, aus denen ja eine Schrift laut Barthes besteht, zu. „Die Einheit eines Textes liegt nicht im Ursprung, sondern in seinem Zielpunkt.“13

Diese eindringlichen Metaphern Gewebe, Netz und Echokammer erleichtern das Verständnis für Kristevas Theorie des vierdimensionalen Raums, den ein Text bildet. Tatsächlich entwickelt Kristeva ihren Intertextualitätsbegriff auch im Rückgriff auf Barthes. Allerdings handelt es sich bei Barthes Theorie keinesfalls um eine eigenständige

Intertextualitätsidee. Vielmehr unterstützen seine Metaphern mehrere Intertextualitätshypothesen durch ihre ergänzenden und erklärenden Einsichten. Zudem denkt der Philosoph Barthes die revolutionierende Idee des weiten Textbegriffs Kristevas mit all ihren Konsequenzen für die Autor-Text-Leser-Beziehung zu Ende und vervollständigt sie so auf gewisse Weise.

2.1.3. Jacques Derrida

Einen weiteren metaphorologischen Ansatz verdankt die Intertextualitätsforschung Jacques Derrida, dem Philosophen und Begründer der Dekonstruktion, der als „graue Eminenz der Intertextualitätstheorien“14 gilt.

Doch Derridas Einfluss reicht viel weiter, als einen bloßen ergänzenden Kommentar in die theoretische Diskussion um die Intertextualität zu bringen. Zunächst soll hier auf Derridas besondere Auffassung des Textbegriffs eingegangen werden, da diese später von Kristeva aufgegriffen wird und die Basis ihrer Hypothesen.

Die Grundlage für diese Textualitätstheorie ist die Annahme, dass Texte in verschiedenen medialen Formen vorkommen können, da sie lediglich Ketten von sinnstiftenden Zeichen sind die ein System bilden.

Der konkrete Text - insbesondere der literarische, auf den sich Derrida immer wieder beruft -, ist nur eine unter mehreren medialen Formen der Schrift. […]

Schließlich [spricht er] vom allgemeinen Text (texte général), wenn es um die Erzeugung komplexer Bedeutung an und für sich geht. 15 In diesem allgemeinen Text wird alles zusammengefasst, was komplexe Bedeutung generiert. Darunter zählen sowohl literarische Texte als auch im weitesten Sinn Bilder.

In jeden Text schreiben sich Spuren - und seien sie auch noch so undeutlichund verwischt - des ganzen Universums der Texte ein, des„texte général“, inden sich für Derrida die Wirklichkeit aufgelöst hat.16

Das heißt, dass jeder Text wiederum aus anderen Texten besteht, die aus anderen Texten bestehen und so weiter. Es gibt also per se keine eigentliche Wirklichkeit mehr, sondern nur dieses abstrakte Gebilde aller Texte, die miteinander in Beziehung stehen und sich gegenseitig bedingen.

Sowohl Kristeva als auch Barthes greifen diesen Textbegriff auf und entwickeln an ihm ihre Hypothesen.

Und eben das ist der Inter-Text: die Unmöglichkeit, außerhalb des unendlichen Textes zu leben - ob dieser text nun Proust oder die Tageszeitung oder der Fernsehbildschirm ist.17

Schon allein damit hat Derrida einen enormen Einfluss auf die Intertextualitätsforschung ausgeübt.

Was nun aber seinen metaphorologischen Beitrag in diesem Diskurs betrifft, so entlehnt er diese These der leicht nachvollziehbaren Welt der Biologie, Medizin und Botanik. Sein „zitathaftes Aufpfropfen“ bezieht sich auf eine ursprünglich botanische Methode der Pflanzenveredelung, bei der ein Pfropfen in Form eines Edelreises auf die Basis eines eingeschnittenen Jungbaumes gesteckt wird, sodass dieser den Pfropfen annimmt und gemeinsam mit ihm wächst.

Überträgt man diesen Vorgang jetzt gleichnishaft auf den poetologischen Diskurs, so ergeben sich daraus intertextuelle Verfahren, wie zum Beispiel das des Zitierens.18 Darüber hinaus birgt diese Metapher jedoch noch weiteres Potential, denn als Gegenentwurf zur Parasitentheorie von Austin, bei der das Eingefügte denn Sinn und die eigene Aussagekraft des Textes mindert, kann ein Zitat bei Derrida „von dort aus (von seiner Stellung in dem neuen Kontext, d. Verf.) mit jedem gegebenen Kontext brechen, und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte erzeugen“19.

Das Verpflanzen eines Wortes oder Zeichens in einen neuen Kontext ist für ihn also ein Transplantationsakt, der sowohl die ursprüngliche Bedeutung dieses Zeichens mit überträgt und der damit erhalten bleibt, als auch das Zeichen in dem neuen Zusammenhang und damit dem neuen Bedeutungsspektrum ermöglicht.

Zusammen genommen mit dem allgemeinen und sehr weiten Textbegriff ergeben sich völlig neue Möglichkeiten der Intertextualität und der Intermedialität, denn in diesem Kontext wird es nun möglich Zeichen, die ganz unterschiedlichen Systemen entnommen zu sein scheinen, in ihrer Komplexität und der Kompliziertheit als intertextueller Bezug in einem neuen Zusammenhang besser erfassen und einordnen zu können.

So haben Derridas Terminologien und Argumentationen erheblichen Einfluss auf Kristevas Intertextualitätstheorie genommen und auch den weiteren Diskurs nachhaltig angeregt.

2.1.4. Julia Kristeva

Der bulgarischstämmigen Literaturtheoretikern Julia Kristeva ist nun die Übertragung des Konzepts des dialogischen Wortes von Bachtin auf Texte allgemein zu verdanken. In ihrem 1967 veröffentlichten Buch „Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman“ (dt. „Wort, Dialog und Roman bei Bachtin“, übers. v. Michel Korinman und Heiner Stück) versucht sie dieses Dialogizitätsmodell in eine Art Koordinatensystem zu übertragen, in dessen Zentrum das poetische Wort steht.

Die horizontale Ebene dieses Systems wird hier als Dialog zwischen dem Sender, hier also dem Autor, und dem Empfänger, dem Leser, mittel des Wortes beschrieben. Autor und Leser sind aber nicht als tatsächlich reale Personen anzusehen, sondern lediglich als implizite und damit dem Text innewohnende Subjekte zu sehen. Vertikal tritt das poetische Wort in Beziehung zu dem Bedeutungsinhalt des vorangegangenen fremden Textes und des derzeitigen Kontextes, wodurch eine stete Ambivalenz des Bedeutungsinhalts des Wortes erreicht wird.20

Die ursprüngliche Wortbedeutung und ihre neue Uminterpretation stehen also zeitgleich nebeneinander, während das Wort weiterhin als Brücke zwischen impliziten Autor und Leser fungiert. Dass man dieses Grundkonzept umakzentuiert auch auf ganze Texte übertragen kann, zeigt Kirsteva nachfolgend.

So wohnt dem Text ebenso eine Ambivalenz inne wie dem Wort. Jeder Text impliziert also andere ihm vorausgegangene Texte und zitiert sie somit. Dies entspricht der vertikalen Ebene des Modells und wird weiter von Kristeva so definiert.

Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption undTransformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs derIntersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität , und die poetischeSprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen. 21

Ganz klare Bezüge lassen sich an dieser Stelle zu Barthes These des Todes des Autors erkennen. Der Autor ist also vielmehr nur der Schreiber eines sich selbst produzierenden Textes. Somit kommt es zu einer klaren Aufwertung des Textes auf Kosten des Autors. Pfister nennt diese These Kristevas „Konzeption einer subjektlosen Produktivität des Textes“22, da sowohl der vorliegende Text als auch seine Vorgänger sich von keinem Subjekt abhängig aus sich selbst erzeugt haben.23

Der literarische Text läßt sich in die Gesamtheit der Texte einfügen: er ist eine geschriebene Antwort auf einen anderen Text. 24

Der Text ist also eingeschrieben in ein „Gewebe“ von Texten wie es Barthes bezeichnet. Mit Derrida gesprochen, wurden die Zitate anderer Text in einen neuen Text transplantiert oder auf dessen Basis aufgepfropft ohne den eigenen Wert zu verlieren, aber in der Absicht neuen Sinn zu generieren.

Kristevas Ansatz geht aber noch weiter. Für sie führt das „Mosaik von Zitaten“ zu einer völligen Entgrenzung des Textbegriffs. Denn wenn jeder Text sich nur aus anderen Texten zusammensetzt und damit alle Texte intertextuell zu verstehen sind, gibt es kein „Außerhalb“ dieser Texte mehr. Die Gesamtheit der Texte ist entlehnt von Derrida als texte général zu beschreiben.

Hierunter fallen alle sprachlichen Äußerungen und jedes Zeichensystem, zum Beispiel Gesten, Bilder, Kleidung, Mimik und vieles mehr.

Intertextualität bedeutet also bei Kristeva lediglich einen „Übergang von einem Zeichensystem zu einem anderen“25 und ein Text wiederum ist „nicht nur die Aktualisierung eines Zeichensystems, sondern auch dieses selbst“26

Das hat zur Folge, dass ein Text nicht mehr als geschlossenes System betrachtet werden kann. Ebenso wenig lassen sich individuelle Prätexte aus dem texte général isolieren.27 Hieraus ergeben sich aber viele praktische Probleme. Zum einen macht der weitgefasste Textbegriff, die rein intertextuelle Untersuchung einer Schrift fast unmöglich ohne auch die intermedialen Dimensionen zu berücksichtigen. Intertextualität und Intermedialität sind also kaum noch voneinander zu trennen.

Des Weiteren macht es eine detaillierte praktische Untersuchung eines Textes dahingehend unmöglich, dass der texte général als Gesamtheit ohne einzeln zu bestimmende Prätexte nur ein theoretisches Gebilde ist. Eine Untersuchung eines Textes in Bezug auf den Gesamttext wäre also mit der Aussage, er ist Teil eines solchen bereits beendet und somit wenig fruchtbar.

Der von Kristeva vorgeschlagene weite und universale Textbegriff und die damit einhergehende Intertextualitätstheorie eignen sich also keinesfalls für die hier angestrebte Analyse.

2.2. Typologien

Der Intertextualitätsbegriff und die damit verbundene Forschung waren nie homogen. Zwar nahmen die Literaturwissenschaftler immer wieder aufeinander Bezug, doch auf ein gemeinsames analytisches und deskriptives Instrumentarium in Bezug auf die anwendungsorientierte Intertextualitätstheorie konnte man sich bisher nicht einigen. Es gibt eine ganze Zahl von Literaturtheoretikern, die sich an der Erstellung eines solchen Instrumentariums versucht haben. Nachfolgend finden sich vier Vorschläge für eine geeignete taxonomische Klassifikation, deren Ursprünge in literatursemiotischen, strukturalistischen, kultursemiotischen und kommunikationstheoretischen Thesen zu suchen sind.28

Hierbei decken die Entwürfe ein Spektrum ab, das von Intertextualität als einer allgemeinen Eigenschaft von Texten reicht, bis hin zu der These, dass Intertextualität nur einem ausgewählten Kreis an literarischen Texten eigen ist und diese als Gruppe von anderen literarischen Texten deutlich separiert.

Die Reihenfolge der nachfolgenden Passagen soll aber keine Wertung dieser Taxonomien beinhalten. Vielmehr handelt es sich bei der Anordnung um ein grob chronologisches Kriterium der Gruppierung.

2.2.1. Michael Riffaterre

Michael Riffaterre entwickelt Ende der 1970er Jahre seine Intertextualitätstheorie, die Intertextualität als „allgemeine, semantische Eigenschaft von Texten“29 definiert. Hier besteht also ein direkter Bezug zu Derridas Werken.

Um nun aber die Brücke zu seinen repräsentativen Gedichtanalysen zu schlagen, entwirft Riffaterre eine argumentative Abhängigkeitskette zur Begründung dieser bewussten Entscheidung für die Lyrik.

„Intertextualität ist Textualität, Textualität ist Literarizität, und Literarizität ist Lyrizität.“30

Sein Textbegriff unterscheidet sich also vehement von dem Kristevas oder Derridas. Auch dies ist in der Lyrizität begründet, denn der alltägliche und somit herkömmliche Sprachgebrauch, ob nun in mündlicher oder schriftlicher Form, zeichne sich laut Riffaterre gerade dadurch aus, dass er möglichst eindeutige Bedeutungen und Informationen vermittle. Während in der Literatur das komplette Gegenteil, nämlich eine Art des indirekten Sprechens geboten sei. Literatur zeichne sich gerade „durch ihren Willen zu Vieldeutigkeit aus“31.

Innerhalb dieser Äquivozität von Literatur im Allgemeinen und Lyrik im Speziellen unterscheidet Riffaterre weitere drei Formen.

Zum einen die Bedeutungsverschiebungen wie Metaphern und zum anderen Bedeutungsentstellungen wie Paradoxien. Bei der dritten Art handelt es sich um die Performativität, die alle nicht-semantischen Verfahren wie zum Beispiel Klangfiguren umfasst.32 Ambiguität in der Literatur kann also laut Riffaterre auf verschiedenste Weisen erzeugt werden, ohne aber dass sich ein Text jemals auf nur ein Bedeutungsspektrum festlegen muss. Alle drei Arten können sich in einem Text vereinen und so die Signifikanz seiner Gesamtstruktur vermitteln.

Intertextualität ist nun für ihn wie oben bereits dargestellt „die Grundlage der Textualität“33. Genauer definiert Riffaterre Intertextualität, die er klar vom Intertext trennt wie folgt:

[Intertextuality] is the web of functions that constitutes and regulates the relationships between text and intertext. These functions either are fully activated as they are embodied in perceived relationships, or they are activated in programmatic form, in which case they are merely postulate an intertext […]. 34

Riffaterre begreift Intertextualität also weniger als Phänomen als viel mehr als Eigenschaft, die Texte miteinander verbindet.

Das von Barthes beschriebene Gewebe aller Texte, grenzt Riffaterre dahingehend ein, dass Intertext für ihn lediglich „the corpus of texts the reader may legitimately connect with the one before his eyes, that is, the texts brought to mind by what he is reading “35 impliziert. Hier liegt also besonderes Augenmerk auf dem Leser und der Interpretation aus seiner Sicht. Deutlich kann man hier erneut Anklänge von Barthes Theorie der Geburt des Lesers auf Kosten des Todes des Autors erkennen. So geht auch Riffaterre, wie Barthes und auch Kristeva, von einer prinzipiellen Intertextualität von ästhetischen Texten aus, „doch sind für ihn die prätextuellen Vorgaben nicht auf den Bereich von Literatur und Dichtung eingeschränkt“36. Vielmehr handelt es sich hierbei um implizite Vorraussetzungen und Präsuppositionen.37

Der Leser selbst ist jedoch keine reale Person, sondern lediglich eine „allegorische Personifikation der semiotischen Struktur eines literarischen Textes“38. Für Riffaterres weitere Theorie ist ein solcher idealer Leser jedoch unbedingt erforderlich, da von ihm die Art der Wahrnehmung ausgeht, als die Riffaterre seinen Intertextualitätsbegriff sieht.39

[...]


1 Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. S. 7.

2 Vgl. Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. S. 1.

3 Bachtin, Michail: Probleme der Poetik Dostoevskijs. S. 206.

4 Ebd. S. 284.

5 Vgl. Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. S. 19. 6

6 Vgl. Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. S. 3.

7 Vgl. Pfister, Manfred: Intertextualität. S. 197.

8 Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes. S. 120.

9 Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. S. 32. 7

10 Barthes, Roland: Der Tod des Autors. S. 190.

11 Vgl. Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. S. 51.

12 Barthes, Roland: Der Tod des Autors. S. 192.

13 Barthes, Roland: Der Tod des Autors. S. 192.

14 Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. S. 55. 9

15 Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. S. 56.

16 Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. S. 13

17 Barthes, Roland: Die Lust am Text. S. 53 f.

18 Vgl. Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. S. 58. 10

19 Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext. S. 32.

20 Vgl. Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. S. 37. 11

21 Kristeva, Julia: Wort, Dialog und Roman bei Bachtin. S. 348.

22 Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. S. 8.

23 Vgl. Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. S. 39.

24 Kristeva, Julia: Zu einer Semiologie der Paragramme. Bachtin. S. 170. 12

25 Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. S. 69

26 Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. S. 7.

27 Vgl. Ebd. S. 13.

28 Vgl. Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. S. 99.

29 Ebd. S. 100.

30 Ebd.

31 Ebd. S. 101.

32 Vgl. Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. S. 101.

33 Riffaterre, Michael: Sémiotique intertextuelle: L’interprétant. S. 128.

34 Riffaterre, Michael: Compulsory Reader Response. The Intertextual Drive. S. 57.

35 Riffaterre, Michael: Syllepsis. S. 626.

36 Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. S. 14.

37 Vgl. Ebd.

38 Berndt, Frauke; Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. S. 106.

39 Vgl. Riffaterre, Michael: Syllepsis. S. 625.

Ende der Leseprobe aus 69 Seiten

Details

Titel
Intertextuelle Bezüge in Oliver von Schaewens Roman „Räuberblut“
Hochschule
Universität Stuttgart  (Seminar für Deutsche Philologie - Neuere Deutsche Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
-
Note
2,5
Autor
Jahr
2013
Seiten
69
Katalognummer
V286611
ISBN (eBook)
9783656871262
ISBN (Buch)
9783656871279
Dateigröße
667 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
intertextuelle, bezüge, oliver, schaewens, roman, räuberblut
Arbeit zitieren
Roxana Romahn (Autor:in), 2013, Intertextuelle Bezüge in Oliver von Schaewens Roman „Räuberblut“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/286611

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