Underreporting. Narration und Dramaturgie der Lüge im aktuellen Mindgame-Film


Examensarbeit, 2014

72 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitende Übersicht zum Thema Mindgame-Filme und methodisches Vorgehen

2. Mindgame-Filme
2.1. Mit wem wird gespielt?
2.2. Warum wird gespielt?
2.3. Wie wird gespielt?
2.4. Warum das Spiel funktioniert

3. Narration und Dramaturgie
3.1. Narration und Dramaturgie in Literatur und Film
3.2. Cinematic narrator; Erzählfunktion; Fokalisator

4. Unzuverlässige Narration
4.1. Ein Definitionsversuch
4.2. Arten der Unzuverlässigkeit
4.2.1. Selbstbetrug
4.2.2. Misreporting
4.2.3. Underreporting

5. Underreporting: Analyse der Filme Shutter Island und Black Swan
5.1. Filmauswahl
5.1.1. Shutter Island
5.1.2. Black Swan
5.2. Indizien auf die intendierte Lüge
5.2.1. Indizien in Shutter Island
5.2.2. Indizien in Black Swan
5.3. Twist und Auflösung
5.3.1. Plot Twists und Auflösung in Shutter Island
5.3.2. Plot Twists und Auflösung in Black Swan

6. Fazit

7. Quellen
7.1. Literaturverzeichnis
7.2. Filmverzeichnis
7.3. Verzeichnis der Internetseiten
7.4. Sonstige Quellen
7.5. Abbildungsverzeichnis

1. Einleitende Übersicht zum Thema Mindgame-Filme und methodisches Vorgehen

Seit den 90er Jahren sind vermehrt Filme auf den Markt gekommen, die nach Elsaesser unter dem Begriff „Mindgame Movies“[1] gefasst werden. Unter Mindgame Movies werden Filme mit komplexer Erzählstruktur und schwer berechenbaren Handlungsverläufen verstanden, welche intendiert mit konventioneller Narration brechen und gewohnte Muster vermeiden[2]. Motive sind häufig eine veränderte Realitätswahrnehmung des Protagonisten, „Verschiebung von Raum und Zeit, Änderung der Kausalität und Durchmischung von Traum und Realität“[3]. Merkmale von Mindgame-Filmen sind häufig unzuverlässige Erzählung und fehlende wie unmarkierte subjektive Einstellungen[4].

Aus der Literatur sind schon früh Werke bekannt, die diesen Kriterien entsprechen:

Von Boccaccio, Cervantes und Lawrence Sterne lässt sich eine Linie verfolgen bis zu Chesterton, Borges, Gide, Nabokov und Calvino (jeder ein Meister der Geschichten mit gegenseitiger/ mehrfacher Rahmung), die auch klassische Modernisten von Flaubert bis Proust, von Virginia Woolf und Joyce bis Conrad, Thomas Mann und Faulkner umfasst.[5]

In der Filmbranche zählt Das Cabinet des Dr. Caligari [6] von 1920 zu den Vorreitern[7]. Doch sind auch schon frühere Werke bekannt, die sich des, in Mindgame-Filmen typischen, unmarkierten Mindscreen bedienen, wie etwa die Kurzfilme Let Me Dream Again [8] (1900) und Rêve et réalité [9] (1901).[10] Unter Mindscreen versteht man „Bewusstseinsbilder, die die subjektive Wahrnehmung einer Person oder Figur zeigt.“[11]

Als der Pionier der Mindgame-Filme gilt Luis Beñuel[12]. Seine Werke umfassen einen Entstehungszeitraum von 1929 (Un Chien Andalou [13] ) bis 1977 (Cet obscur objet du désir[14] ). Er ist bekannt dafür, mit der Wahrnehmung seiner Charaktere zu spielen und gleichzeitig den Zuschauer in dieses fiktive Leben zu involvieren[15]. Aber auch Fritz Lang, Alfred Hitchcock und Orson Welles gelten als „Meister der Überraschung, des Suspense und der Doppeldeutigkeit“[16]. Jedoch unterscheiden sich heutige Mindgame-Filme von ihren Vorreitern dadurch, dass sie auf Irreführung setzen und bewusst die finale Überraschung inszenieren[17].

Diese neue Form der Mindgame-Filme erlebte in den 90er Jahren einen regelrechten Boom. So erschienen in kurzer Folge Jacob's Ladder [18] (1990), The Silence of the Lambs [19] (1991), The Crying Game [20] (1992), Twelve Monkeys [21] und The Usual Suspects [22] (1995), Lost Highway [23] (1997), The Truman Show [24] (1998) und Fight Club [25] sowie The Sixth Sense [26] (1999). Der Kultstatus von Jacob’s Ladder und Brazil [27] (1985) wurden von The Usual Suspects und The Crying Game abgelöst. Diese Behauptung stützen die Oscar-Auszeichnungen und beachtlichen Gewinne, die diese Filme einspielten[28]. Nach Jonathan Eig löste The Sixth Sense (1999) die allgemeine Faszination für Mindgame-Filme aus, da in diesem Film nicht mit Rückblenden erzählt wird, sondern die Illusion des Protagonisten Malcolm Crowe konsequent verfolgt wird[29]. Außerdem kommentiere The Sixth Sense kaum soziale, politische oder wirtschaftliche Mächte des 20ten Jahrhunderts, sondern beschränke sich auf die persönliche Geschichte des Protagonisten. Der finanzielle Erfolg habe dann auch das öffentliche Bewusstsein für diese Art Film geweckt und die Türen nach Hollywood geöffnet[30].

Es folgten Blockbuster wie z.B. Memento [31] (2000), The Others [32] (2001), The Secret Window [33] (2004), Inception [34] (2010), Total Recall [35] und Life of Pi [36] (2012). Den Filmen gemein ist, dass sie mit gängigen Erzählstrukturen brechen und dem Zuschauer die Konstruiertheit der filmischen Realität durch ein undurchsichtiges Spiel von bewussten oder unbewussten Manipulationen vor Augen führen. Sie beabsichtigen, „die Zuschauer zu desorientieren oder in die Irre zu führen“[37]. Betrachtet man die Erzählstruktur der Filme genauer, stellen sich folgende Fragen: Kommt ein Mindgame-Film ohne unzuverlässigen Erzähler aus oder wird jeder Film mit einem unzuverlässigen Erzähler zum Mindgame Movie? Spielt es eine Rolle, mit wem gespielt wird, damit ein unzuverlässiger Erzähler anwesend sein kann oder muss?

Um die Charakteristika des Mindgame-Films deutlich zu machen, beginnt diese Arbeit mit einem Überblick zu den Spielregeln, derer sich die Filme bedienen. Es sollen die Fragen beantwortet werden, mit wem und wie in Mindgame-Filmen gespielt wird, was der Antrieb sein kann, sich auf dieses Spiel einzulassen, und warum Mindgame-Filme einen solchen Erfolg verbuchen. Anhand von aussagekräftigen Filmbeispielen sollen die einzelnen Elemente des Spiels exemplarisch erläutert werden. Die Filmtitel werden im Text kursiv hervorgehoben und nur bei der Erstnennung mit einer Fußnote versehen. Im Folgenden beziehen sich die Filmtitel jeweils auf den im Filmverzeichnis angegebenen Film.

Da die Besonderheiten des Mindgame-Films vor allem auf der Ebene der Narration und der Dramaturgie zu finden sind, wird anschließend hierfür die Theorie näher erläutert. Für die spätere Analyse ist es von Bedeutung, an dieser Stelle die Kategorien und zentralen Begriffe zu klären. Um bestimmen zu können, auf welcher Instanz gelogen wird, soll insbesondere die Erzählinstanz untersucht und zwischen cinematic narrator, der Erzählfunktion und dem Fokalisator unterschieden werden.

Um bestimmen zu können, wie eng der unzuverlässige Erzähler mit den Mindgame-Filmen in Kooperation steht, soll im Weiteren intensiv auf diesen eingegangen werden. Obwohl es nach Andreas Solbach keine gültige Definition für einen unzuverlässigen Erzähler gibt[38], soll hier wenigstens eine Annäherung an eine Definition vorgestellt werden. Im Kern wird es um die Fragen gehen, wann ein Erzähler als unzuverlässig gelten kann, wer als unzuverlässiger Erzähler auftreten kann und wer dies bestimmt. Drei verschiedene Arten der unzuverlässigen Narration werden in diesem Zusammenhang vorgestellt: Selbstbetrug, Misreporting und Underreporting. Es sollen jeweils folgende Fragen geklärt werden: Wer bedient sich der Lüge und ist sie intendiert oder nicht?

In der anschließenden Analyse zweier Filmbeispiele wird Underreporting als Form der unzuverlässigen Narration vertieft. In der Analyse sollen die Fragen geklärt werden: Welche Hinweise erhält der Zuschauer, um die Täuschung vorzeitig zu entlarven? Wie wird die innere Fokalisierung aufgelöst und entsteht für den Zuschauer ein Überraschungseffekt? In meiner Auswahl habe ich mich auf Filme dieses Jahrzehnts beschränkt, die exemplarisch für diese Art des Underreporting stehen. Shutter Island [39] wird als Beispiel für jene Lüge dienen, die sowohl auf der verbalsprachlichen narrativen Ebene, als auch auf der schauspielerischen Ebene inszeniert wird. Im zweiten Filmbeispiel Black Swan [40] liegt der Fokus vielmehr auf der visuellen, sowie auf der symbolischen Ebene, wie anhand von Time-Codes und Screenshots belegt werden wird. Die Time-Code-Angaben werden in Klammern angegeben und beinhalten stets den Beginn der erwähnten Szene, bzw. des Zitates und beziehen sich auf das Abspielen mit dem VLC Player.

Shutter Island hält die unmarkierte Fokalisierung bis zum finalen Plot Point durch. Wie diese dann aufgelöst wird und wie der Zuschauer im Finale doch überzeugt werden soll, dass der Protagonist Teddy psychisch krank ist, wird im letzten Kapitel analysiert. Black Swan hingegen gibt schon vor dem Finale preis, dass der Zuschauer die Sicht der Protagonistin Ninas teilt. Die Spannung wird also nicht bis zum Finale aufgespart. Dem Zuschauer kommt vielmehr die Aufgabe zu, Ninas Wahnvorstellungen von der fiktiven Realität zu unterscheiden. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Filme hinsichtlich Narration und Dramaturgie werden im anschließenden Fazit noch einmal herausgearbeitet. So soll durch die exemplarische Analyse erforscht werden, wie Mindgame-Filme funktionieren können und was sie so erfolgreich macht.

2. Mindgame-Filme

Einleitend sei ein Blick auf folgendes Rätsel geworfen: Cleopatra und Cäsar liegen tot auf dem Boden. Was ist passiert?[41]

Ein möglicher Gedankengang zur Lösung des Rätsels könnte sein, alle historischen Informationen über Cleopatra und Cäsar abzurufen. Zu welchem Anlass könnten sie sich getroffen haben? Wer könnte ein Attentat auf sie verübt haben? Wie könnte es ausgeführt worden sein? Oder hat es damals Erdbeben oder sonstige Naturkatastrophen gegeben? Wurden ihre Gebeine vielleicht gefunden und liegen nun Archäologen vor?

Die Antwort lautet: Das Glas ist umgekippt und Cleopatra und Cäsar sind erstickt. Doch diese Antwort scheint immer noch nicht logisch. Eine entscheidende Information fehlt, um dem Ganzen einen Sinn zu geben: Es handelt sich bei Cleopatra und Cäsar um Goldfische.

Für die wissenschaftliche Untersuchung von Erzählstrukturen im Film mag die Analyse dieses Rätsels erst einmal erklärungsbedürftig erscheinen. Bei genauerer Betrachtung legt es jedoch spielerisch und mit einfachen Mitteln die Grenzen unserer Erkenntnis offen, indem es mit den klassischen Denk- und Erzählkonventionen bricht und Wirklichkeit als ein Konstrukt entlarvt. In diesem Sinne kommt dieses Rätsel dem Mindgame in Filmen schon sehr nahe, jedoch mit dem Unterschied, dass der Zuschauer im Mindgame-Film in ein Rätsel verwickelt wird, ohne es zunächst zu merken. Seine Gedanken werden angeregt, doch kann er das Rätsel meist erst lösen, wenn er die noch fehlenden Informationen erhält.

Bernd Kiefer bringt auf den Punkt, worum es beim Mindgame-Film geht:

Immer steht in diesen unzuverlässigen Erzählungen das Gedächtnis auf dem Spiel: das Gedächtnis der Figuren und das (kulturelle) Gedächtnis des Rezipienten, also das »wichtigste Sinnesorgan« (Gerhard Roth) des Menschen, das, von dem wir glauben müssen, es sei zuverlässig, das, von dem wir wissen, dass es das nicht ist. Dennoch ist das Gedächtnis für die Konstruktion des Subjektes elementar [...]. Interpretation geschieht aus dem Gedächtnis: aus der Vorstellung eines Ganzen, wie sie das Gedächtnis bereitstellt und doch nie einhält. Interpretation folgt einem »Anschauungsbegehren« des Ganzen, das es nicht gibt.[42]

Es ist also klar, dass es um das Spiel mit dem Verstand geht und dass am Ende des Spiels der ein oder andere Mitspieler verunsichert zurück bleibt. Doch wie dieses Spiel im Einzelnen funktioniert, wer die Mitspieler sind und auch warum gespielt wird, soll im Folgenden genauer betrachtet werden.

2.1. Mit wem wird gespielt?

Um Mindgame-Filme zu verstehen ist es wichtig, zwischen den verschiedenen Akteuren, mit denen gespielt wird, zu differenzieren. Es können grob vier Varianten unterschieden werden:

1. Mit dem Protagonisten wird gespielt.

The Truman Show ist ein gutes Beispiel für die Variante, dass mit dem Protagonisten gespielt wird, ohne dass dieser es weiß. Der Zuschauer weiß, dass Truman eine Figur in einer Reality Show ist, doch Truman selbst weiß es nicht. In The Silence of the Lambs hingegen wird ebenfalls mit den Protagonisten gespielt, doch wissen die Polizei und die gefangene Frau nicht, dass Buffalo Bill ein Spiel mit ihnen spielt. Parallel spielen Hannibal Lecter und Clarice Starling ein Spiel[43]. Ein Mindgame-Film, in dem nur mit dem Protagonisten gespielt wird, benötigt keinen unzuverlässigen Erzähler. Die Spannung ergibt sich aus dem Wissen um das Spiel.

2. Der Protagonist spielt ein Spiel mit den anderen Figuren und gleichzeitig mit dem Zuschauer.

In The Usual Suspects wird diese Form des Spiels dargeboten, indem Verbal als der Protagonist die Ermittler, seine Gang und zuletzt auch den Zuschauer hinters Licht führt. Der cinematic narrator ist hierbei der Komplize, der die Worte Verbals mit Bildern unterstreicht und sogar falsche Fährten legt, indem er dem Zuschauer z.B. zu Anfang des Films glauben macht, Verbal sei ein Augenzeuge und müsse so als zuverlässiger Erzähler gelten. Auch Confessions [44] fällt unter diese Kategorie. Die Lehrerin spielt ein perfides Spiel mit ihren Schülern, wie auch mit dem Zuschauer, der trotz der Einleitung nicht ahnt, wie weit sie in diesem Spiel gehen wird.

3. Mit dem Zuschauer wird ein Spiel gespielt.

Sowohl der Erzähler des Films als auch, sofern er sich vom Protagonisten unterscheidet, der Protagonist wissen um die Unzuverlässigkeit der Darstellung. Nur dem Zuschauer werden Informationen vorenthalten[45]. Beispiele für diese Art des Mindgames sind Fight Club und Lost Highway. Der Rezipient ist konstant herausgefordert, rückwirkende Revisionen anzustellen, ständige Abgleiche mit der neuen Realität durchzuführen, Informationen zu ersetzen, nicht nur die zeitliche Abfolge, sondern auch psychische Ebenen zu überarbeiten sowie einen möglichen Wechsel zwischen Auslöser und Auswirkungen zu erwarten[46]. Diese Herausforderung impliziert auch die letzte Variante:

4. Mit dem Zuschauer wie auch mit dem Protagonisten wird gespielt.

Die Informationen, die dem Zuschauer vorenthalten werden, werden auch dem Protagonisten verheimlicht. Z.B. wissen in The Sixth Sense und in The Others weder die Zuschauer noch die Protagonisten selbst, dass die Hauptdarsteller bereits verstorben sind und als Geister auftreten, oder dass die Protagonisten in The Secret Window, Shutter Island oder Black Swan an einer psychischen Erkrankung leiden.

Wird mit dem Zuschauer gespielt, so kommt meist ein unzuverlässiger Erzähler zum Einsatz, denn durch die Unzuverlässigkeit des Protagonisten oder der primären narrativen Instanz wird der Zuschauer hinters Licht geführt.

Die häufigste Variante der Mindgame-Filme ist die, dass (auch) mit dem Zuschauer gespielt wird. Manche Regisseure planen die Erwartungshaltung des Zuschauers explizit mit ein, wie etwa Lars von Trier, der vor der Premiere seines Spielfilms The Boss of It All [47] verkündete, dass im Film fünf bis sieben „Lookeys“ (deplatzierte Objekte) versteckt seien[48]. Doch warum lassen sich Zuschauer auf dieses Spiel ein? Warum erlebt diese Art von Film seit den 90ern einen solchen Boom?

2.2. Warum wird gespielt?

Filme dienen zuallererst der Unterhaltung und somit dem Lustgewinn. Welche Lust gewonnen werden soll, wird meist bereits im Genre angekündigt: Der Krimi speist die Rätsellust, der Horrorfilm die Lust an der Furcht, der Liebesfilm die Lust an großen Gefühlen und der Western die Lust am Abenteuer. Doch welcher Lust wird in Mindgame-Filmen nachgegangen? Meistens weiß der Zuschauer nicht, dass er sich auf ein Mindgame einlässt. Denn „Mindgame-Movies sind kein eigenes Genre“[49]. Diese Klassifizierung würde die Filme von vorneherein zum Scheitern verurteilen. Sie sind vielmehr ein „Zeitgeist-Phänomen“[50].

Mindgame-Filme können den unterschiedlichsten Genres angehören. Sehr häufig jedoch gehören sie zum Genre des Dramas, des Mysteries oder des Thrillers. Typisch für ein Drama sind Figuren, die eine Lebenskrise durchleben, vor einer lebensverändernden Entscheidung stehen, oder ihr Leben auf Grund von unvorhersehbaren Ereignissen neu formieren müssen.[51] Der Zuschauer ist also gefordert, sich mit „Werten des Lebens und den Emotionen, die alltäglich Handelnde am tiefsten betreffen“[52] auseinander zu setzen. Die Lust dahinter ist das (passive) Miterleben von tiefen psychischen Schmerzen.

Im Genre der Mystery geht es mehr um das Enträtseln von Geheimnissen. Der Mystery-Thriller ist nochmal eine verschärfte Variante der Mystery, in dem die Spannung noch mehr inszeniert wird und Angst und Furcht eine größere Rolle spielen[53].

Immer ist die Quelle der Gefahr unbekannt, läßt [!] sich vom Helden (und meist auch vom Zuschauer) nicht genau identifizieren, ist eine geheime, oft jegliche Moral mißachtende [!] Interessengemeinschaft ,unterhalb’ der gesellschaftlichen Oberflächen.[54]

Die Lust dieses Genres macht sowohl das Lösen von undurchschaubaren Rätseln als auch das Erleben von Furcht aus.

Der Thriller für sich genommen ist „eine besondere Spielart von Spannungsfilmen“[55], in der der Zuschauer sich auf dem gleichem Informationsstand wie der Protagonist befindet. Es wird immer aus der Perspektive des Protagonisten, in der Regel eines Normalbürgers, erzählt, was dazu führt, dass der Zuschauer sich mit dem Protagonisten identifiziert und genauso wenig die Geschichte überblicken oder beherrschen kann wie dieser[56].

Zusammengefasst stecken hier also die Lust am Rätseln und Vorahnen, das Miterleben von tiefen psychischen Schmerzen und menschlichen Abgründen sowie die Lust am Lösen undurchschaubarer Situationen hinter der Begeisterung der Zuschauer.

Über die Lust hinaus bedienen die verschiedenen Genres auch bestimmte Themen, wie etwa Gender, ödipale Familie und dysfunktionale Gesellschaften oder Gruppen[57]. Mindgame-Filme thematisieren darüber hinaus auch

epistemologische Probleme (Wie wissen wir was wir wissen?) und ontologische Zweifel (über andere Welten und die Innenwelt der anderen), die im Zentrum jener Art von philosophischer Fragestellung stehen, die sich auf menschliches Bewusstsein, Gehirn und Geist, multiple Realitäten und mögliche Welten bezieht.[58]

Doch Mindgame-Filme im Besonderen bergen noch einen weiteren Faktor, der sie so interessant für den Zuschauer macht: Sie brechen mit den üblichen Gesetzen der Mainstream Hollywoodfilme[59]. „Sowohl für Neo-Noir- wie auch für Mindgame-Filme ist die Irritation der Wahrnehmungskonventionen konstitutives Merkmal.“[60] Diese Irritation wird häufig erreicht, indem zeitlich lineare Wahrnehmungsprinzipien dekonstruiert werden und aus der Sicht des Protagonisten erzählt wird. Der Zuschauer hat keine Möglichkeit, das Erleben der Charaktere mit einer objektiven Ordnung abzugleichen.[61] Dieser Schwierigkeit sieht sich ein Rezipient alltäglich gegenüber, wenn er nur die Nachrichten anschaut. Medien werden als kaum kontrollierbar erlebt und der Rezipient muss jedes Mal selbst entscheiden, welche Quelle und welche Information er für glaubwürdig hält. „Es geht um eine prinzipielle Infragestellung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten von Realität und zugleich um eine Reflexion der medialen Darstellungsmittel einer solchen Wahrnehmung.“[62] Der Mensch strebt nach Zuverlässigkeit, doch wird sie ihm in der Realität häufig verweigert. Diese „Filme spielen mit diesem Bedürfnis des Rezipienten und decken zugleich die Illusion der Zuverlässigkeit auf.“[63]

Das Resultat kann zweierlei sein: Auf der medialen Ebene können diese Filme herausfordern, genau hin zu schauen. Sie können den Zuschauer anspornen, die Tricks zu durchschauen, um dieses Wissen auf alltägliche Medien zu übertragen oder sogar selbst kreativ zu werden. Sie können den Rezipienten nach eingehendem Studium befähigen, effektiver über Medien zu reflektieren und einen verantwortlichen Umgang mit ihnen zu finden. Besonders für die mediale Ausbildung in Schule und Studium ist dieser Punkt interessant, argumentiert Elsaesser, indem er sich auf Steven Johnson, einem amerikanischen Sozialwissenschaftler bezieht. Dieser schätze Mindgame-Filme als „gut“ für die Jugend ein, weil sie neue kognitive Fähigkeiten trainierten und angemessene Arten der Reaktion auf und Interaktion mit automatisierten Überwachungs- und Kontrollsystemen einübe, die zunehmend unseren Alltag dominieren und in Fabriken und Büros ebenso zu finden sind wie zu Hause und in der interpersonellen Kommunikation[64].

Mindgame-Filme eignen sich ebenso für verschiedene Bereiche der Wissenschaft, indem sie heuristisch analysiert werden.

Auf der persönlichen Ebene wird dem Rezipienten bewusst, wie subjektiv Wahrnehmung ist.

Diese Erkenntnis [dass es keine Grenzen zwischen Realität und Fiktion gibt] bleibt jedoch nicht auf den Film beschränkt, sondern verweist zugleich darauf, dass auch die außerfiktionale Wirklichkeit durch Fiktionen, Einbildungen, Wünsche und Ängste konstituiert sein könnten.[65]

Dies kann zunächst zu einer Verunsicherung des Rezipienten führen. Besonders solche Filme zeigen den Effekt, die keine Auflösung bieten, wie etwa die Filme des Regisseurs David Lynch. Hier wird der „überspitzt dargestellte Wahnsinn einer alltäglichen Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Selbst- und Weltwahrnehmung“[66] thematisiert. Die „verwirrten und überforderten Charaktere [scheinen] Sinnbilder menschlichen Daseins in einer als komplex und wenig durchschaubar empfundenen Welt zu sein.“[67]

Positiver betrachtet können diese Filme auch eine Möglichkeit bieten, sich konstruktiv mit der eigenen Wahrnehmung und derer Anderer auseinanderzu-setzten. Viele Mindgame-Filme bieten am Schluss eine Erklärung für alle Ungereimtheiten an, wie etwa eine psychische Störung, einen Traum oder ein Lügenspiel des Protagonisten. Sie erzeugen ein Aha-Erlebnis beim Zuschauer und motivieren ihn, den Film erneut zu rekonstruieren und ihn auf den neuen Informationen basierend zu verstehen. Möglicherweise helfen diese Erklärungen am Schluss aber auch einfach nur, den Wahnsinn zu ertragen. Ein gutes Beispiel für diese These ist der Film Das Cabinet des Dr. Caligari. Er zeigt puren Wahnsinn, doch mit der Erklärung, dass dies die Fantasie eines psychisch Kranken ist, ist er auszuhalten.

Doch haben Mindgame-Filme auch eine Relevanz auf der gesellschaftlichen Ebene. Sie können als Spiegel der Gesellschaft betrachtet werden.

Die Bedeutung, die Zuschauer mit Film- und Fernsehtexten produzieren, sind eng mit den in einer Gesellschaft zirkulierenden Diskursen verknüpft. […] Als Diskurs wird eine Praxis verstanden, in der Zeichensysteme benutzt werden, um eine soziale Praxis aus einem bestimmten Blickwinkel darzustellen. […] Diskurse vermitteln einen bestimmten Blick auf die soziale Wirklichkeit und auf soziale Praktiken.[68]

Der Diskurs, um den es in Mindgame-Filmen geht, ist die Unzuverlässigkeit des Erzählers und der Inszenierung in Medien, der Kultivierung von Paranoia als auch das Spiel mit Ohnmacht und Kontrolle. Wie bereits erwähnt leiden die Protagonisten der Mindgame-Filme häufig an massiven psychischen Problemen. Doch werden sie nicht als bemitleidenswerte Figuren dargestellt. Vielmehr wird ihr „Defizit“ kultiviert und gesellschaftsfähig oder zumindest in irgendeiner Weise produktiv gemacht: In The Sixth Sense wird es möglich mit Geistern zu kommunizieren, Donnie Darko [69] erahnt bevorstehende Katastrophen und in Fight Club entsteht eine einflussreiche Protestbewegung.[70] Die Sozialisierung geschieht, indem entweder eine (individuelle) Lösung als die Lösung eines Gesellschaftsproblems präsentiert wird, „or the illness is made to work, fitting a body (through its mind no longer ‘in control’) around a new set of social tasks and political relations.“[71] Elsaesser resümiert mit Foucault daraus, dass Mindgame-Filme eingesetzt werden könnten, um „den Körper und die Sinne auf eine neue Überwachungsgesellschaft vorzubereiten.“[72] Er sieht mit Deleuze, Foucault und Benjamin das Kino als eine Disziplinarmaschine, die die Sinne für die Modernität und das urbane Leben trainiere, zugleich diene sie aber auch als Übergang zu einer spiegelbildlich umgekehrten Theorie zur sinnlichen Neuordnung durch die Medien und zur Neuausrichtung unserer somatischen Reaktionen auf die sensorische Überbelastung modernen Lebens[73]. Konkret beinhaltet dies, flexibel, anpassungsfähig und interaktiv zu bleiben und darüber hinaus die Regeln des Spiels zu kennen[74].

2.3. Wie wird gespielt?

Wenn man sich auf ein neues Spiel einlässt ist es wichtig, die Spielregeln zu kennen. Darum soll nun geklärt werden, wer die Akteure des Spiels sind, welche Motive vorliegen können und wie das Spiel in der Regel aufgebaut ist. Außerdem sollen ein paar typische Spielzüge in den Fokus gerückt werden.

Mindgame-Filme drehen sich oft um psychisch labile Charaktere. Besonders häufig vertreten sind die Krankheitsbilder der Paranoia, Schizophrenie und Amnesie[75]. Dadurch, dass die Geschichte meistens aus der Sicht des Protagonisten dargestellt wird, wird dieser Aspekt des mentalen Zustandes betont und die Kategorien zurechnungsfähig vs. geisteskrank und Opfer vs. Täter in Frage gestellt[76]. Häufig basiert die psychische Störung auf einem Trauma, welches die Gegenwart beeinflusst[77]. In Memento, Shutter Island oder Inception ist z.B. der Tod der Ehefrau das auslösende Trauma.

Die Protagonisten der Mindgame-Filme können aber auch geleitet werden von dem Anliegen, die wahre Identität zu verschleiern (The Usual Suspects) oder der Verweigerung, die Realität anzuerkennen (The Others, The Sixth Sense). In beiden Fällen wird ebenfalls bevorzugt aus der Sicht des Protagonisten erzählt, um den Zuschauer in die selbstgestrickte Lüge zu verwickeln.

Ein eher seltener Antrieb des Protagonisten ist Rache, wie etwa in Confessions. Um den Rachefeldzug eines einzelnen Protagonisten möglichst lange zu verschleiern, wird hier die Perspektive von mehreren Protagonisten eingenommen. Diese Vorgehensweise ist allerdings nicht zwingend typisch. Oldboy [78] hingegen ist z.B. aus der Perspektive des Racheopfers erzählt.

Summarisch hat Thomas Elsaesser sechs Motive zusammengetragen, die häufig in Mindgame-Filmen Verwendung finden:

1. Der Protagonist weiß nicht was passiert.
2. Der Protagonist muss die Realität bezweifeln.
3. Der Protagonist fantasiert Menschen.
4. Der Protagonist weiß nicht, wer er ist oder ob er noch lebt.
5. Der Plot basiert auf einer irrtümlichen Prämisse oder Wahrnehmung.
6. Der Protagonist wird durch nahestehende Personen verwirrt.[79]

Diese Liste kann noch um das Motiv des intendierten Verwirrungsstiftens Seitens des Protagonisten erweitert werden. Zu finden ist dieses Motiv beispielsweise in The Usual Suspects, Confessions oder in The Silence of the Lambs.

Das Motiv wird unmerklich schon zu Beginn des Films, wenn der referenzielle Rahmen etabliert wird, angelegt. Spätere Informationen werden in diesen Rahmen eingefügt und unter Umständen gebeugt[80]. Dieser Prozess ist besondere wichtig für Mindgame-Filme, da die Auflösung ja sehr häufig zurück auf den Anfang verweist. Als Beispiel sei hier The Sixth Sense angeführt. Der Film handelt von einem Kindertherapeuten, auf den zu Beginn des Films von einem ehemaligen Patienten, der ihn des Versagens beschuldigt, geschossen wird. Der Zuschauer sieht den Protagonisten weder sterben noch genesen. Ein markierter Zeitsprung signalisiert ihm allerdings, dass der Therapeut überlebt haben muss. Im Epilog sowie im weiteren Verlaufs wird dem Zuschauer zudem die Motivation für des Protagonisten weiteren Handelns vermittelt, eben sein Versagen durch die Therapie eines ähnlichen Falles zu kompensieren. Erst am Schluss wird klar, dass dieser Zeitsprung den Zuschauer zu einer falschen Annahme kommen ließ. Ähnlich verhält es sich mit im Film auftretenden Ungereimtheiten, die schwierig auf der Annahme, der Therapeut habe überlebt, zu interpretieren sind. Warum z.B. spricht seine Frau nicht mehr mit ihm, obwohl sie ihn offensichtlich so vermisst und jeden Abend das Hochzeitsvideo anschaut? Die Antwort ist rückwirkend einleuchtend: Der Protagonist ist tot und kann somit nicht mehr auf natürlichem Weg mit ihr kommunizieren. Mindgame-Filme sind in der Regel so angelegt, dass sie mehrmals vom Zuschauer gesehen werden können oder sogar müssen, um alle versteckten Hinweise im Spiel zu entdecken. Dies erfordert eine Vervielfältigung auf DVD und hat den Vorteil, dass auch Bonusmaterial zur Entschlüsselung hinzu gezogen werden kann[81].

Der Aufbau eines Mindgame-Films kann darüber hinaus klassisch geschehen. Black Swan ist z.B. nach dem Vorbild der Heldenreise aufgebaut[82]: Zunächst ist die Protagonistin Nina nur eine gewöhnliche Tänzerin, die dann aber den „Ruf des Abenteuers“[83] hört, als sie den weißen und den schwarzen Schwan tanzen soll. Ihr Wille dazu ist da, doch weigert sich ihr (nach der Freud’schen Definition) ICH[84], sich auch auf die dunkle, unkontrollierte Seite – den schwarzen Schwan – einzulassen. Sie begegnet ihrem „Mentor“ in der Mitstudentin Lily als auch dem Choreographen Thomas Leroy. Mit Hilfe dieser beiden Mentoren lässt sie mehr und mehr das ES[85] Kontrolle über sich gewinnen. Diese Kontrollübernahme geschieht allerdings schleichend und wird dem Zuschauer nicht expliziert vorgeführt. Der Zuschauer nimmt beim ersten Sehen nur merkwürdig anmutende Vorgänge wahr. Die weitere Reise führt die Protagonistin immer tiefer in ihre eigene Psyche. Das ÜBER-ICH[86] und ES ringen um die Kontrolle über die Protagonistin. Die entscheidende Prüfung findet in der finalen Ballettaufführung statt, in der die Protagonistin erfolgreich beide Schwäne verkörpert. Die Belohnung ist der Applaus und die Anerkennung der Zuschauer und der Kollegen, doch der Preis ist ihre Gesundheit, möglicherweise sogar ihr Leben. Der Rückweg findet in Form einer Desillusion statt, in der sie realisiert, dass es ihr ES und ihr ÜBER-ICH waren, die gegeneinander gekämpft haben. Mit dieser neuen Erkenntnis kehrt sie zurück auf die Bühne und resümiert, dass ihr Tanz perfekt gewesen sei.

Häufiger sind allerdings Bona-Fide-Mindgame-Movies[87], welche durchgängig gestaltet sind. Zum Beispiel wird in Memento das Verlieren des Kurzzeitgedächtnisses filmisch konstant übernommen und umgesetzt. Der Zuschauer bekommt immer nur fünf Minuten der Geschichte am Stück, mal vorwärts und mal rückwärts, präsentiert. Der Zuschauer ist dadurch herausgefordert, Muster zu erkennen und die „kinematografischen Bilder als Bilderrätsel, Datenarchieve oder ›Rebus-Bilder‹ statt als indexikalische, realistische Darstellungen“[88] zu lesen.

In einer anderen Form des Bona-Fide-Mindgame-Movies werden Parallelwelten nicht als solche markiert, wie z.B. in The Sixth Sense [89] . Diese Art des Erzählens erfordert gründliche Überprüfung, da die Geschichte auf zwei Ebenen schlüssig sein muss, um die Zuschauer am Schluss überraschen zu können. Elsaesser nennt diese Art des Nicht-einhalten des Erzählpaktes „narrational double-takes“[90], welcher in der Regel im zweiten Plot Point als Plot Twist aufgelöst wird[91]. Damit der zweite Plot Twist, welcher meist zu Beginn des letzten Viertel des Films etabliert wird, effektiv sein kann, müssen falsche Überzeugungen beim Rezipienten durch das Vorenthalten von „Informationen über Handlungszeit oder -ort, die Identität der handelnden Figuren oder der Erzählperspektive“[92] erzeugt werden. Elsaesser fasst diesen Punkt zusammen, indem er andeutet, dass Mindgame-Filme mit einem Satz Regeln brechen (Realismus, Transparenz, Linearität), um Raum für einen anderen Satz zu schaffen. Zudem würden ihre formalen Merkmale einen Kompromiss darstellen, der selbst flexibel, anpassungsfähig, differenziert und wandlungsfähig sei[93].

Das Vorenthalten der Informationen geschieht in Mindgame-Filmen in der Regel nicht nur durch einfache Nichterwähnung. Expositorische Informationen werden z.B. vorenthalten durch versteckte Szenenwechsel, durch verborgene Parallelmontagen, um eine Serie versteckter Ortswechsel zu inszenieren, durch unscheinbares parallel editing, welches einen Wechsel von nicht gleichzeitig ablaufenden Linien verschleiert, und durch versteckte Handlungswechsel[94]: „Die Schnittfolge suggeriert, dass es sich um die beiden Figuren aus der ersten Szene handelt, die am Beginn der darauffolgenden Szene zunächst nur zu hören sind.“[95] Da Mindgame-Filmen häufig auf psychischen Störungen des Protagonisten aufbauen, spielt der versteckte Wechsel zur mentalen subjektiven Perspektive einer Figur eine große Rolle[96].

Die Narration wechselt entweder von der Darstellung der äußeren diegetischen Realität unvermittelt zur Wiedergabe von Träumen, Fantasien, Visionen, Halluzinationen etc. von Figuren und klärt den Rezipienten erst später über diesen Wechsel in der Erzählperspektive auf. Oder aber die Erzählung beginnt sogar mit einer nicht als solcher ausgewiesenen Darstellung der Innenperspektive einer Figur.[97]

„Die unzuverlässig vermittelte verzerrte Selbst- und Fremdwahrnehmung dient der filmischen Veranschaulichung gestörter Identitätskonstruktionen.“[98] Durch die unmarkierte innere Fokalisierung erscheint dem Zuschauer diese Sichtweise als unpersönlich und nicht figurengebunden[99]. Dies ermöglicht es dem Rezipienten, die psychische Störung unbewusst mitzuerleben und möglicherweise Empathie zu entwickeln. „Die Adressierung eines Publikums, die Erweckung und Lenkung der Aufmerksamkeit und die affektive Stimulierung sind die Ziele der Filmrhetorik.“[100] Ethos und Pathos werden in Mindgame-Filmen also gleichermaßen angesprochen:

Das ethos beschreibt, wie milde, länger andauernde Affekte beim Adressaten zu stimulieren sind, die besonders über die Identifikation mit dem Geschehen auf der Leinwand hervorgerufen werden können. Pathos hingegen umfasst die intensiven Affekte und hat das äußere Ziel, das Publikum in einen Zustand der Ekstase zu versetzen, einen Zustand, in dem die emotionale Disposition eine rationale Kontrolle außer Kraft zu setzen scheint.[101]

Doch werden psychische Wahrnehmungsstörungen nicht nur durch eine innere Fokalisierung erreicht, sondern auch durch subliminale Bilder, Zeitraffer, Zeitlupe und unwirkliche, verzerrte Bilder[102]. Eine vollständige Aufzählung, wie der Rezipient verwirrt wird, ist unmöglich zu geben. Denn wie Elsaesser bemerkt: „mind-game films make ‘mind-games’ out of the very condition of their own (im)possibility: they teach their audiences the new rules of the game, at the same time as they are yet learning them themselves.”[103]

[...]


[1] Vgl. Elsaesser 2009, S. 237–263

[2] Vgl. Glinka 2013

[3] Ebd.

[4] Vgl. Elsaesser 2009, S. 243

[5] Ebd., S. 245

[6] Im Folgenden werden alle Filmtitel durch kursive Formatierung im Text gekennzeichnet. Wiene 1920

[7] Vgl. Elsaesser 2009, S. 244

[8] Smith 1900

[9] Zecca 1901

[10] Vgl. Pinkas 2010, S. 144

[11] Kamp und Braun 2011, S. 261

[12] Vgl. Eig 2003, S. 1

[13] Buñuel 1929

[14] Buñuel 1978

[15] Vgl. Eig 2003, S. 1

[16] Elsaesser 2009, S. 240

[17] Vgl. Eig 2003, S. 2

[18] Lyne 1990

[19] Demme 1991

[20] Jordan 1992

[21] Gilliam 1995

[22] Singer 1995

[23] Lynch 1997

[24] Weir 1998

[25] Fincher 1999

[26] Shyamalan 1999

[27] Gilliam 1985

[28] Vgl. Eig 2003, S. 1

[29] Vgl. ebd., S. 1

[30] Vgl. Eig 2003, S. 2

[31] Nolan 2000

[32] Amenabar 2001

[33] Koepp 2004

[34] Nolan 2010

[35] Wiseman 2012

[36] Lee 2012

[37] Elsaesser 2009, S. 240

[38] Vgl. Solbach 2005, S. 63

[39] Scorsese 2010

[40] Aronofsky 2010

[41] Dieses Rätsel gibt es in verschiedenen Varianten. Eine sehr ähnliche Version findet sich in der Rätselspielebox der Black Stories von Moses.

[42] Kiefer 2005, S. 80

[43] Vgl. Elsaesser 2008, S. 14

[44] Nakashima 2010

[45] Vgl. Elsaesser 2008, S. 14

[46] Vgl. ebd., S. 21

[47] Trier 2006

[48] Vgl. Elsaesser 2008, S. 13

[49] Glinka 2013

[50] Elsaesser 2009, S. 237

[51] Vgl. Schlichter 2012

[52] Ebd.

[53] Vgl. Kaczmarek 2012

[54] Ebd.

[55] Wulff und Brunner 2012

[56] Vgl. ebd.

[57] Vgl. Elsaesser 2009, S. 240

[58] Ebd.

[59] Vgl. Elsaesser 2008, S. 13

[60] Glinka 2013

[61] Vgl. ebd.

[62] Poppe 2009, S. 69

[63] Ebd., S. 81

[64] Vgl. Elsaesser 2009, S. 256

[65] Poppe 2009, S. 80

[66] Ebd.

[67] Ebd., S. 81

[68] Mikos 2003, S. 57

[69] Kelly 2001

[70] Vgl. Elsaesser 2008, S. 31

[71] Ebd., S. 32

[72] Elsaesser 2009, S. 255

[73] Vgl. Elsaesser 2009, S. 256

[74] Vgl. Elsaesser 2008, S. 34

[75] Vgl. Elsaesser 2008, S. 24f.

[76] Vgl. ebd.

[77] Vgl. ebd.

[78] Chan-wook Park 2003

[79] Vgl. Elsaesser 2008, S. 17f.

[80] Vgl. Hartmann 2005, S. 159

[81] Vgl. Elsaesser 2008, S. 38

[82] Vgl. Kamp und Braun 2011, S. 92-99

[83] Ebd., S. 94

[84] Vgl. Zimbardo und Hoppe-Graff 1995, S. 487

[85] Ebd.

[86] Ebd.

[87] Vgl. Elsaesser 2008, S. 20

[88] Elsaesser 2009, S. 261f.

[89] Vgl. Elsaesser 2008, S. 20

[90] Ebd., S. 19–20

[91] Vgl. ebd.

[92] Blaser 2007, S. 19

[93] Vgl. Elsaesser 2009, S. 260

[94] Vgl. Blaser 2007, S. 24–28

[95] Ebd.

[96] Vgl. Blaser 2007, S. 29–30

[97] Ebd., S. 29f.

[98] Poppe 2009, S. 74

[99] Vgl. ebd., S. 70f.

[100] Joost 2008, S. 30

[101] Ebd., S. 220

[102] Vgl. Poppe 2009, S. 74

[103] Elsaesser 2008, S. 39

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Underreporting. Narration und Dramaturgie der Lüge im aktuellen Mindgame-Film
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für Deutsche Sprache und Literatur II)
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
72
Katalognummer
V286657
ISBN (eBook)
9783656869856
ISBN (Buch)
9783656869863
Dateigröße
7172 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mindgame, Mind-Game, Dramaturgie, Erzählinstanz, cinematic narrator, Erzählfunktion, Fokalisator, unzuverlässiger Erzähler, Spiel, Selbstbetrug, Underreporting, Misreporting, Lüge, Shutter Island, Scorsese, Black Swan, Aronofsky, Narration
Arbeit zitieren
Mirjam Sommer (Autor:in), 2014, Underreporting. Narration und Dramaturgie der Lüge im aktuellen Mindgame-Film, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/286657

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