Der Sozialstaat in der postmodernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts

Staatsrecht - Völkerrecht - Sozialrecht - Philosophie - Politikwissenschaften - Soziologie


Forschungsarbeit, 2014

609 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Das einzige, was die Armut beseitigen kann, ist miteinander zu teilen. (Mutter Teresa)

Was für alle gilt – Verlässlichkeit und Zielgläubigkeit Menschen mit Behinderung –Rechte in der Arbeitsgesellschaft –– Menschenwürde im täglichen Leben –

Das komplexe Haus des Sozialstaates zu erneuern, braucht einige Planungshilfen:

Richtfest für das soziale Mehrgenerationenhaus – als inklusives Mehrebenenhaus – das rationale und kohärente Recht als Begleiter - mit einem Richtspruch

Das einzige, was die Armut beseitigen kann, ist miteinander zu teilen. (Mutter Teresa)

Über die Armut braucht man1 sich nicht zu schämen, es gibt mehr Leute, die sich über ihren Reichtum schämen sollten. (Johann Nestroy)2

Ein Pamphlet ist immer Aufruf zur Aktion! Es fordert jedoch weder Aufruhr, noch Revolution, sondern besinnt sich am Ende auf jene Tugenden, die jedem Gemeinwesen von jeher gut angestanden haben: Solidarität, Gemeinsinn, Mitleid, Bescheidenheit und Verantwortung3 - Tugenden, die jeder Einzelne für sich gerne in Anspruch nimmt, deren Umsetzung in der Praxis aber regelmäßig den äußeren Umständen zum Opfer fällt. Wären sie jedoch als Kollektivtugenden wieder eingeführt, folgte das Notwendige fast von selbst.4

Deutschland altert!5 - Schattenseiten dieser unbestreitbaren Erkenntnis sind die hierzulande steigenden Zahlen von Pfle­gebedürftigen6 sowie von Demenz betroffenen Menschen. Trotz der Aussichten auf ein im Durchschnitt längeres und aktiveres Leben dürfen Ältere, die in prekären Verhältnissen leben, nicht aus dem Blick geraten. Das Risiko der Altersarmut bleibt vor allem für Beschäftigte im Niedriglohnsektor.7

Der vorsorgende8, aktivierende und absichernde Sozialstaat9 /10 /11 in der Postmoderne12 - das bedingungslose13 /14 Grundeinkommen15 – die Rationalität

Die Vernunft formt den Menschen, das Gefühl leitet ihn. Jean-Jacques Rousseau16

Direktor des FOI (bei der DHBW) Prof. Dr. jur. utr. Dr. rer. publ. Siegfried Schwab, Assessor jur., Mag. rer. publ., Kreisverwaltungsdirektor a. D.

*** unter Mitarbeit von Diplom-Betriebswirtin (DH) Silke Schwab und

*** Lehrerin Heike Tippl, geb. Schwab

„Wenn wir die Zukunft gestalten wollen, wenn wir sie menschlich gestalten wollen, brauchen wir Zweierlei. Vertrauen in die, die für uns Verantwortung tragen und die Bereitschaft, selbst Verantwortung zu übernehmen, Johannes Rau.

Rationalität im Recht17 ist eine ebenso selbstverständliche und evidente Forderung der Gemeinschaft der Bürger, wie die nach Begründung staatlicher Entscheidungen. Wenn die Entscheidung des Richters, der Verwaltung bei der Ausführung von Ermessensentscheidungen alle relevanten Aspekte zu berücksichtigen hat und sich nicht von sachfremden Zwecken leiten lassen darf, wenn der Gesetzgeber ein für die angestrebten Zwecke und verfolgten Ziele ein objektiv ungeeignetes den Bürger unangemessen belastendes Mittel nicht einsetzen darf und wenn staatliche Hoheitsakte für den Bürger verständlich und inhaltlich nachvollziehbar sein müssen, immer scheint die Rationalität als eine Grundbedingung des Rechts im aufgeklärten Staat durch. Die so gesicherte Rationalität soll und kann, ja muss der Staat bei seinen Entscheidungen offenlegen, gegenüber dem Bürger um die praktische Wirksamkeit und Förderung der Akzeptanz zu sichern. Die Rationalität ist ein im Recht durch zahllose Einzelnormen ausgeformtes, inhaltlich konkretisiertes und verwirklichtes Grundprinzip (auf das Verwaltungsverfahren bezogen: etwa das Recht auf Akteneinsicht, der Bestimmtheitsgrundsatz - § 37 VwVfG, die Begründungspflicht - § 39 VwVfG, die Heilung von Verfahrensfehlern und die Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern - §§ 45, 46 VwVfG). Rationalität ist auch im demokratischen Gedanken verankert, schließlich gilt die Losung: Autorität nicht Majorität. Für Verwaltung und Rechtsprechung ist die Rationalität durch die Gesetzesbindung Art. 20 Abs. 3 GG gesichert, die gemeinsam mit den wiederum rationalen Auslegungsregeln ein für den informierten Bürger jedenfalls nachvollziehbares und vernünftiges Ergebnis sichert und die Akzeptanz auch nachteiliger Entscheidung durch Nachprüfbarkeit der für die Entscheidung maßgebenden Gründen sichert. Die Begründung hilft nicht nur die Akzeptanzbereitschaft zu fördern, sie hat durch die Nachvollziehbarkeit auch eine wesentliche Überzeugungsfunktion und Befriedungsfunktion. Der überzeugte, zur Überprüfung der Gründe in die Lage versetzte Bürger beschreitet nicht den eröffneten Rechtsweg. So hat denn die Begründung auch noch eine wesentliche Entlastungsfunktion der staatlichen Instanzen durch die in der Begründung liegende "Selbstrechtfertigung" der Entscheidung.18

So kritisch manche Urteile aufgenommen wurden, es ist nicht zu erkennen, dass sie das Grundvertrauen in die deutsche Justiz erschüttert hätten.19 Dieses Vertrauen20 /21 ist groß. Zwei Drittel der Bürger haben großes Vertrauen in die deutschen Gerichte. Generell ist das Vertrauen in das gesamte Rechtssystem22 groß, in die Gesetzte wie in die Rechtsprechung nach diesen Gesetzen. Das GG gilt heute als eine der größten Leistungen und Erfolge des Landes. 60 % zählen das GG zu den größten historischen Leistungen der Bundesrepublik. Zwei Drittel der Bürger diagnostizieren einen Bedeutungsverlust des GG durch die europäische Integration, wobei die meisten allerdings den Eindruck haben, dass der Einfluss von GG und BVerfG bisher nicht gravierend geschmälert worden ist. Die Bürger unterschätzen im Allgemeinen den Einfluss der europäischen Ebene. Wie schwer sich die Bevölkerung mit dem Transfer von juristischen Kompetenzen auf die europäische Ebene tut, zeigt die verbreitete Aversion gegen den Einfluss des EuGH. Obwohl die Mehrheit ihr Grundvertrauen in die Justiz auch auf den EuGH überträgt, kann sich nur eine Minderheit dafür erwärmen, dass dieses Gericht über Fälle urteilt, die zunächst ausschließlich Deutschland betreffen, wie dies der Fall bei dem jetzt untersagten Nachweis von Sprachkenntnissen für nachziehende türkische Ehepartner war. Viele sehen in der Justiz auch eine Bastion, mit der die politische und gesellschaftliche Ordnung des Landes verteidigt wird. Die überwältigende Mehrheit erwartet, dass nach der geltenden Rechtsordnung und den in ihr enthaltenen Wertvorstellungen Recht gesprochen wird ohne Berücksichtigung der Herkunft und kulturellen Prägungen der Prozessbeteiligten. Der Justiz wird damit eine wesentliche Integrationsfunktion zugeschrieben, die Durchsetzung der Maßstäbe und Werte auf denen das deutsche Recht aufbaut, in einer immer heterogeneren Gesellschaft.23

Bis vor kurzem war es geradezu en vogue, den Staat zu verachten: für die einen war der Staat eine Krake, die sich mit ihren vielen Armen in nahezu alle Lebensbereiche dränge; andere sahen in einem einen Repressionsstaat. Dritte empfanden den Staat als schwach und unfähig die Herausforderungen der Globalisierung und des sozialen bzw. gesellschaftlichen Wandels zufrieden zu bewältigen. Manche vermissten beim Staat die eigenen Ideale und Werte. Unter dem Druck knapper Kassen und steigender Soziallasten wurde die Frage aufgeführt, ob wir uns diesen Staat noch leisten können. Den Staat, der Risiken kompensiert, aus sozialen Notlagen befreit, aber nicht zur Eigenverantwortung auffordert. Die zentrale Aufgabe des Staates bleibt trotz Kritik und kritischem Hinterfragen: die Stiftung und Vertiefung des innergesellschaftlichen Friedens und die Absicherung der Freiheit nach innen und außen. Dazu muss der Staat ständig behutsam aber erfolgreich Macht ausüben; dafür benötigt er auch das ihm übertragene Gewaltmonopol und das Primat des Rechts und der Politik. Der moderne Verfassungsstaat vollbringt seine Leistungen unter den Bedingungen der verlässlichen24, gesicherten Freiheit. Er orientiert sich bei der Aufgabenerfüllung an der Personalität der Bürger und Bürgerinnen und stützt sein Handeln auf deren Vertrauen. Der Staat mag manchmal ein "lästiges Gemeinwesen" sein, aber er ist unentbehrlich nötig. Er lebt als soziales Gebilde von den Menschen und für die Menschen. Er sichert Belange des Gemeinwohls, fördert Eigenverantwortung der BürgerInnen und stärkt die Menschen durch subsidiäre Nothilfeeinrichtungen: den sozialen Sicherungen. Der vorsorgende Staat garantiert auch "Notfall- und Intensivstationen" für die sozialen Wechselfälle und Schicksalsschläge des Lebens. Er leistet einen wesentlichen Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft auf der Basis der Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit25 und Solidarität. Er setzt auf Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit vom frühen Kindesalter an. Der Staat lebt vom Vertrauen der Bürger und der Bereitschaft, Vorbild zu sein, und den Fliehkräften der dynamischen Welt standhalten zu wollen.26

Die freiheitliche demokratische Ordnung setzt für ihr Funktionieren als Grundbedingung Verlässlichkeit bezüglich des Bestandes und ihres Inhalt voraus.27 Vertrauen, das im allgemeinen Sprachgebrauch ein festes Überzeugt sein von der Verlässlichkeit einer Person oder Sache nennt und aus Sozialwissenschaftlicher Sicht in den "bewusst riskierten" Verzicht auf mögliche weitere Informationen zum Ausdruck kommt, steht für ein Spannungsverhältnis zwischen Individualfreiheit und Stabilitätserwartungen an das Recht einerseits und Anpassungsflexibilität und Innovationsoffenheit des Rechts andererseits. Der rechtsunterworfene Bürger soll nicht durch eine rückwirkende Beseitigung erworbener Recht in seinem Vertrauen in die Verlässlichkeit der Rechtsordnung28 enttäuscht werden. Veränderungsdynamik, Diversität und gesellschaftlicher Wandel erfordern eine Begrenzung des Vertrauens. Vertrauen als verfassungsrechtliche Größe wird aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit hergeleitet. Der Rechtsstaat als "Schleusenbegriff" ist inhaltlich keine vorgegebene Gewissheit, ermöglicht keine klare Ableitung, sondern kann nur in hermeneutischen Zirkeln laufend ermittelt werden. Der Demokratische Staat ist kein Effizienzstaat, denn undemokratische Lösungen dürfen vielmehr effizienter sein. Kennzeichnend für die Demokratie ist die geistige Auseinandersetzung - der stete Kampf der Wertungen und Interessen - um die beste Lösung eines Problems, die niemals von vornherein deutlich feststeht.29 Mit Paul Kirchhof30 - Recht ist niemals nur in Sprache ausgedrückte Wirklichkeit, sondern willentlich geformte Realitätsgerechtigkeit, oft auch lediglich gesetzgeberische Dezession. Rationalität im Sinne von Nachvollziehbarkeit und Vernünftigkeit findet in vielen Einzelforderungen an die Staatsgewalten31 seinen legitimen Ausdruck.32.

Im Zustand der Orientierungslosigkeit findet man Halt und sichere Orientierung, wenn man sich der Qualitäten sozialstaatlichen Handelns bewusst, den komplexen Prozess der Orientierungsfindung aus Eigenverantwortung und der Idee der Gemeinschaftlichkeit mit dem Katalysator der Erinnerung in Einklang bringt. Die Soziale Marktwirtschaft galt als ordnungspolitische Konzeption einer gelungenen Symbiose aus sozialer Gerechtigkeit33 und wirtschaftlichem Erfolg. Wenn der Sozialstaat Einschnitte in individuelle Freiheitsrechte durch Gesetze legalisiert, wirft dies die Frage nach der Legitimität solchen Rechts auf. Hat der Bedürftige individuelle Rechtsansprüche auf die Gewährleistung eines soziokulturellen Mindeststandards? Ohne transparente Legitimation zu legalisierende Eingriffe in die Marktergebnisse wird und muss eine beschränkende Umgestaltung des Sozialstaats an dem Beharrungsvermögen in den Köpfen der Bürgerinnen scheitern.34 Die Vereinbarkeit von Effizienz und sozialer Gerechtigkeit - Soziale Gerechtigkeit klingt milde und warm, fast wie nach einem Leben im Paradies. Effizienz klingt rational hart nach ökonomischer Vernunft, nach Berechenbarkeit und harter wirtschaftlicher Realität. Kann die soziale Wirklichkeit der vielleicht auch überschätzten Effizienz ausgleichend gegenübergestellt werden? Es geht um das richtige, ausgeglichene Maß, einem Abwägen. Der liberale, legitimierte Sozialstaat ist eine der Menschenwürde verpflichtete rechtsstaatliche Sozialordnung, die solidarisch, d. h. aufgrund einer gegenseitigen juristischen Verpflichtung ihrer Mitglieder, Eingriffe in die Verteilungsergebnisse des Marktes durchführt. Die rechtfertigungspflichtigen Kriterien der Rechtsstaatlichkeit und der Solidarität sind dabei stets an das legitimierende Oberprinzip der Menschenwürde gebunden. Mit der rechtsstaatlichen Einordnung der sozialen Ordnung werden Anarchie und Willkürherrschaft ausgeschlossen.35. Jede soziale Ordnung setzt bereits einen Staat, eine rechtliche Gemeinschaft voraus, der befugt ist, Regeln für ein Miteinander von untereinander abhängenden Individuen aufzustellen. Rechtsstaatlichkeit fordert eine formale und inhaltliche Bindung der staatlichen Organe an das geltende Recht, vgl. Art. 20 Abs. 3 GG. Der Rechtsstaat verspricht und gewährleistet Rechtssicherheit und Verlässlichkeit der von ihm gesetzten und verantworteten Rechtsordnung. Er ist bei der Vollziehung hoheitlicher Akte an Gesetz und Recht gebunden. Rechtssicherheit entsteht durch Schutz des bürgerlichen Vertrauens auf die normative Rechtslage und durch die Einhaltung des Rückbewirkungsverbots (echte Rückwirkung) bei belastenden Gesetzen36 und der formalen rechtsstaatlichen Grundsätze. Der Rechtsstaat gewinnt seine Daseinsberechtigung als Instanz zur Gewährleistung der Menschenwürde. Gerecht und legitim ist der Rechtsstaat, der die Menschenwürde garantier: "Nell-Breunig - Er schafft damit ein Recht, das richtig ist."

Die Würde, die nach Art. 1 Abs. 1 GG dem Menschen zukommt, bezeichnet den hohen Rang innerhalb des Rechtssystems, aber auch den Anspruch auf Achtung. Jedermann kommt unabhängig von Stand, Herkunft, Bildung, sozialen und beruflichen Fähigkeiten, körperlicher und seelischer Gesundheit, ob reich oder arm dieser Achtungsanspruch zu. Ökonomische Verhältnisse begründen oder nehmen nicht die menschliche Würde. Die Würde verkörpert ein Stück Hoheit.37 Die Überlegenheit der Menschen über alle Zwecke und Funktionen. Menschenwürde hat keinen Preis. Sie erhebt sich über Dinge, die einen Preis haben. Als Wert innerhalb des staatlichen und gemeinschaftlichen Wertesystems steht sie über allen anderen Werten. Der Staat steht im Dienst der Menschenwürde. Der Mensch ist nicht für den Staat da, sondern der Staat für den Menschen, dessen Würde er zu wahren und zu schützen hat. Das Gewissen ist ethisch sittliches Richtmaß, die Vernunft und die Selbstbestimmungsfähigkeit, die Autonomie der Willensbildung und die Fähigkeit zu sittlichem, eigenverantwortlichen und freiem Handeln <"dominum sui actus"> bezieht sich auf ein vollkommenes Wesen <"persona-perfectissimum in tota natura") und kennzeichnet dessen Würde.38 Die Würde ist nach Pufendorf "Vorgabe und Maßstab des Gesellschaftsvertrages und der Begründung einer staatlichen Gemeinschaft als Rechts- und Lebensgemeinschaft. Kant behandelt das Thema der Würde im" Rahmen seiner Tugendlehre, nicht jedoch seiner Rechtslehre. Die Idee der realen menschlichen Freiheit des frei geborenen Wesens Mensch, verbindet schlüssig die äußere Sphäre des Rechts mit der Inneren, der Moral. Freiheit bedeutet frei und unabhängig von der Willkür des anderen. In dem das Recht den Menschen Freiheit zuerkennt und lediglich die Freiheitsausübungsvoraussetzungen gestaltet, respektiert das Recht die sittliche Würde des Menschen. Diese wirkt indirekt in das Recht hinein. Das Recht hat folglich seinen sittlichen Grund und seine sittliche Grenze. Da der Mensch zur Selbstbestimmung und Eigenverantwortung berufen ist, kommt ihm Würde zu. Er beansprucht gegenüber dem Staat rechtlich gesicherte Freiheit. Die Humanität, die im Begriff der Menschenwürde lebt, wird in die politische und normnative Welt der Gesellschaft übernommen. Die Idee, ursprünglich Signatur der Individualität der Person, wird auch Signatur ihrer Solidarität. Menschenwürde lässt sich nicht abstufen.39. Würde kann nicht geschichtet werden; sie existiert auch jenseits ökonomischer Zwänge. Im Unterschied zur Relativität des normativen positiven Rechts verkörpert die Unantastbarkeit der Menschenwürde einen absoluten Geltungswillen. Fairness ist Gerechtigkeit als Korrektiv juristischen Vorgehens.40 Das Ziel des Sozialstaates ist es als Rechtsstaat Gerechtigkeit zu schaffen und damit den legitimen Rechts- als Sozialstaat zu begründen und lebendig in Kraft zu setzen.41

Rationalität42 /43 - Das grundlose Entscheiden - über Recht katapultiert das Geschehen aus dem Rechtssystem hinaus in die blanke Politik. Wo der Staat aber seine Befugnis zur Zwangsanwendung als von der freien Entscheidung souveräner Bürger abgeleitet begreift, ist selbstverständlich, dass jede staatliche Gewaltanwendung gegenüber den "eigentlichen", wahren und berechtigten Inhabern der Gewalt einer hinreichenden Legitimation bedarf.44. Das Recht an dem die Entscheidungen auszurichten sind Art. 20 Abs. 3 GG muss im Wesentlichen auch unter den Bedingungen moderner und hochausdifferenzierter Gesellschaften vernunftbegleitet, eine rational begründete Entscheidung im Grundsatz ermöglichen. Die Vernunft soll Zirkularität (Kreisschlussfolgerungen) durchbrechen helfen.45 Die kommunikativ verstandene prozeduralisierte Vernunft soll Skeptizismus und Relativismus durchbrechen. Das Recht ist ein Bauwerk auf mehreren Ebenen; Das Dach bildet die Idee der Gerechtigkeit46 (die einzelne Zimmer aufteilt: soziale, Chancengerechtigkeit, Generationengerechtigkeit und Gendergerechtigkeit). In den Stockwerken darunter befinden sich die völkerrechtlichen, europarechtlichen, verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Zimmer: der Verbindungsgang stellt die Frage - wie wird das Recht angewendet. Rechtsanwendung im konkreten Fall verlangt von dem redlichen Rechtsanwender, dass er objektive Kriterien <Tatbestandsstruktur, Begriffsmerkmale und Subsumtion> und schließlich subjektive, begründbare47 Wertungen - dass dieses schöpferische Elemente enthalten kann ist bei offenen Tatbestandsstrukturen, z. B. unbestimmten Rechtsbegriffen und Handlungs- und Gestaltungsspielräumen durch das gesetzgeberisch eingeräumte Ermessen m. E. unbestreitbar. Rechtsanwendung ist aber kein kreativ, schöpferisches Geschehen sondern ein rechtsstaatlich genormtes Entscheidungsverfahren Art. 20 Abs. 3 GG. Rechtsfindung48 beinhaltet auch Rechtsschöpfung, da durch die Anwendung von Rechtsnormen neues Recht geschaffen wird. Recht entsteht aus Gerechtigkeitsvorstellungen der Rechtsgemeinschaft.49 Recht50 und Gerechtigkeit sind aufeinander verwiesen. Das geschriebene Recht sucht sich aus Idee und Ideal der Gerechtigkeit sittlich-moralisch zu rechtfertigen. In dieser Rechtfertigung sucht es die breite Zustimmung der Adressaten der Rechtsnormen zu gewinnen. Recht hat eine Herkunft und eine Zukunft; diese kann offen, gestaltbar oder unüberschaubar sein. Recht entsteht aus guter, bewährter

Gewohnheit und sozialer Akzeptanz sowie gesicherten politischen Erfahrungen und aus dem in der menschlichen Gemeinschaft anerkannten Verhalten und dem gebilligten Denken.

Freiheit heißt, sein Leben selbst zu gestalten und die Gesellschaft zu verändern, Kässmann, Die Zeit vom 18. April 2013, S. 66.

Glaubwürdigkeit ist ein hoher sozialer Wert und Grundlage gesellschaftlicher Debatten. Glaubwürdigkeit steht auch für den Mut und die Beharrlichkeit, (soziale) Missstände aufzuzeigen und anzuprangern, vgl. Elitz, Abwarten gilt nicht, FAZ vom 10. Mai 2013, S. 39.

Art. 1 Abs. 1 GG macht die elementare Struktur des Rechtsstaates brennpunktartig deutlich; konsequenterweise ist die Achtungs- und Schutzpflicht des Art 1 Abs. 1 S. 2 GG eine elementare rechtsstaatliche Pflicht. Rechtsstaatlichkeit zeigt sich darin, dass der Staat durch Grundrechte gebunden ist, und innerhalb einer rechtsstaatlichen Ordnung die Freiheit und Gleichheit seiner Bürgerinnen anerkennt.51 Vor dem Primat des Demokratiegedankens reduziert sich die Idee der Gewaltenteilung auf einen Unterfalleines umfassenden Prinzips der Kontrolle, das die Realisierung der Volksherrschaft sicherstellt. Das GG bekennt sich in Art. 20 Abs. 2 S. 2, Art. 1 Abs. 3 zur binnenstaatlichen Kontrolle und Mäßigung und zur proportionalen Machtdifferenzierung.52 Das juristische Regelwerk ist gewollten Modernität und elementarer Verhaltenserwartung.53 Der Staat hat sich in Gestalt von Rechtlichkeit fortentwickelt und gestaltet die Lebenswirklichkeit angepasst dynamisch und problemoffen. Staatlichkeit wird durch das Zusammenspiel durch das Recht geschaffener Organe gestaltet und in hoheitlicher Herrschaftsausübung thematisiert. Die Staatsgewalt in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG ist nicht etwas Vorrechtliches, sondern eine ideelle Konstruktion, die rechtlich eingesetzt, die Volksmacht in eine durch drei rechtskonstituierende Organe ausübt, Gewalt transformiert und sie gleichzeitig rechtlich bindet. Die drei Gewalten sind nach Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet, die Würde des Menschen zu schützen.54 Art. 20 Abs. 3 GG bindet die Gesetzgebung an die Verfassung ("Höchstrangigkeit der Verfassung"). Das GG verwendet das Verb "bindet". Nach allgemeiner Auffassung lassen sich die Normen des GG nach Art und Ausmaß ihrer normativen Verbindlichkeit die Gruppen aufteilen, z. B. Staatsstruktur und Zielbestimmungen.55 Die Einheit staatlicher Gewalt wird zum Zweck der Modernisierung und gegenseitigen Kontrolle aufgabenorientiert aufgeteilt: "check and balance". Modernisierung, Balancierung und Kontrolle und kompetenzregulierte Offenheit als Entwicklungsperspektive.56 Mit der Einbeziehung der Grundrechte als "hervorstechendes" äußeres Merkmal "rechsstaatlich-liberaler Verfassungen" in das Rechtsstaatsprinzip wird nahezu der gesamte Individualrechtsschutz der grundgesetzlichen Werteordnung Bestandteil des Rechtsstaatsgedankens. Die Grundrechte sind nicht nur Abwehrrechte, sie verpflichten den Staat darüber hinaus, die Voraussetzungen individueller Freiheitsentfaltung schützend zu gestalten und zu verteidigen und sich so schützend für die Freiheit des Einzelnen einzusetzen. In einem komplexen, arbeitsteilig organisierten und von vielfältigen existenziell bedeutsamen Abhängigkeiten geprägten Gemeinwesen ist die nachhaltige staatliche Freiheitsvorsorge unerlässlich, soll lebendige Freiheit gelingen. Das führt zielsicher auf das Feld der Abwägungen zwischen Gemeinwohlbildungen und konkurrierenden Freiheitsinteressen. Menschenrechtliche Freiheit ist gleiche Freiheit. Die grundgesetzliche Gewährleistung der allgemeinen Gleichheit vor dem Gesetz tritt verstärkend hinzu. Freiheit führt zu Unterschiedlichkeit, denn Freiheitsangebote können, müssen aber nicht wahrgenommen werden. Freiheit bedeutet auch Verantwortung für die Folgen des Handelns oder Unterlassens. Der Staat wird allerdings die aus Freiheit erwachsenen Unterschiede nur dann zum Anknüpfungspunkt für ausgleichende Regelungen nehmen, wenn und soweit dies zum Schutz der verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsvoraussetzungen zwingend geboten erscheint. Wie die private Freiheit, ist auch die politische Freiheit im Handeln und Denken eine Freiheit des Einzelnen. Das Gleichgewicht zwischen Demokratie und Rechtsstaat, zwischen privater und politischer Freiheit zu erhalten/gestalten, ist eine stetige Aufgabe der Organe des demokratischen Verfassungsstaats.57 Im Ideal des Rechtsstaates bestimmt das Recht den Staat. Das Recht gewährleistet eine Friedensordnung.58 Das Recht ist auf reale Wirksamkeit angelegt. Diese ist ein Widerlager zur Normativität des Rechts. Recht verlangt Klarheit und Bestimmtheit, Stetigkeit und Verlässlichkeit. Entscheidungen sind in methodisch exakter Handhabung der Rechtsnormen in angemessener Zeit zu treffen. Das Zeichen für Recht ist die Sprache. Recht verlangt Kommunikation. Das Hervorbringen und Vollziehen von Recht ist stets als ein Vorgang des Sprechens verstanden worden.59 Das Rechtsstaatsgebot zielt nicht auf eine maximale Verrechtlichung, sondern auf eine nüchterne, einfallsreiche und anpassungsfähige Rechtsformung, die auf eine allzeitigen Friedensordnung durch Recht zielt.60 Das Recht ordnet die Beziehungen der Verwaltung zu ihrer Umwelt und innerhalb des eigenen Organisationsgefüges. Es legitimiert, diszipliniert, steuert und effektuiert das Verwaltungshandeln.61 Die Rechtsbindung der Verwaltung ist ein auf Wirksamkeit angelegtes Verfassungsgebot. Der Rechtsstaat als Staat der Mäßigung verlangt im Umgang mit dem Recht Maß - das rechte Maß.62 Recht ist ein Medium besonders sensibler Art. Form und Gehalt, Rechtswerte und Rechtsverfahren, Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit, Beständigkeit und Wandelbarkeit müssen in ihm immer wieder zum Ausgleich gebracht werden. Rechtsanwendung und Rechtspolitik teilen sich diese Aufgabe. Der Rechtsstaat ist ein realistischer, ein nüchterner Staat. Die Offenheit, die in dem Medium Recht angelegt ist, wirkt in der Sache und in der Zeit.63 Nicht alles was unvollkommen erscheint, ist als rechtsstaatliches Defizit zu beklagen. Recht ist auf Wirksamkeit angelegt.64 Offenheit meint nicht Beliebigkeit. Reale Wirksamkeit ist das Widerlager zur Normativität des Rechts. Das Gebot der Klarheit und Bestimmtheit haben hier ihren Platz. Verlangt wird auch die Bereitschaft der staatlichen Funktionsträger zur Anwendung und Durchsetzung des Rechts. Entscheidungen sind in angemessener Zeit zu treffen. Mängel zu korrigieren und sanktionieren ist Aufgabe der Verfassungs- Verwaltungs- und Gerichtskontrolle

Entscheidend für die Legitimation des BVerfG ist die Legitimation an der Verfassung, die der alleinige Maßstab des Gerichts ist. Das GG ist ein Rationalitätsspeicher ein Logbuch der Vernunft, di Fabio, <Vom Recht, Recht zu sprechen>

Der Sozialstaat65 /66 von heute67 basiert nicht auf einer einheitlichen Definition an sozialer Gerechtigkeit, sondern muss verschiedene Aspekte sozialer Gerechtigkeit68 ausbalancieren: Produktions-, Verteilungsgerechtigkeit, Belastungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit und nachhaltige Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist vor allem eine Frage der angemessenen Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand. Die Chancengerechtigkeit bezieht sich auf die Voraussetzung gleicher Startbedingungen. Es geht darum, die Bürger zu Eigenleistungen zu befähigen. Die Umsetzung eines kulturellen, politischen, partizipativen Gesellschaftsleitbildes, das durch intensive und vielgestaltige soziale Kontakte geprägt ist, ist auf den vorsorgenden Sozialstaat angewiesen, der auf Humanressourcen der Gesellschaft setzt und den Bürgern das notwendige Werkzeug in die Hand gibt. Wer autonom, d. h. im Sinne seiner Grundanlagen zu handeln vermag, wird auch für Dritte nützlich sein – von der Elternarbeit bis zum Einsatz in sozialen Bewegungen. Der weitgehende Rückbau der ökonomischen Deutungshoheit und die Kritik der ökomischen Logik eröffnen wieder Raum für eine soziale und politische Einbettung des wirtschaftlichen Handelns in die soziale Solidarität und das Primat politischer, gesellschaftlich verantwortlicher Regelung. Eine „entfesselte“, ja selbst eine (ein)gezähmte Marktwirtschaft kann nicht allein auf eigenen Füßen stehen. Sie kann nicht den sozialen Frieden und Zusammenhalt in der menschlichen Gemeinschaft herbeiführen und sichern. Sie braucht vielmehr die soziale Solidarität als Hilfe und begleitende orientierende Unterstützung. Märkte müssen ein ausgleichende, einhegende, sozial rekonstruktive Politik nicht nur beachten, sondern achten und als Begrenzung akzeptieren und mit verwirklichen. Mit der „ökonomischen Zeitenwende und trotz der funktionalen Anpassung an die internationale und supranationale Rechtsordnung bleibt der Staat für die Menschen und die politisch-rechtlichen Lösungen ihrer sozialpolitischen Fragen und Probleme ein entscheidender Zurechnungspunkt. Der Staat bleibt grundsätzlich zuständig für die Regelung gesellschaftlicher Probleme und die Gewährleistung sozialer Sicherungsleistungen, die er nicht nur in hektischer, dem Druck der Märkte folgender politischer „Hau-Ruck“-Gestaltung, sondern in verantwortlichem Denken in Langfristigkeit und problembewusster Steuerung in strategischen Gestaltungs- und Innovationsprozessen für die gesellschaftliche Zukunft lösen muss. Eine neue, ausgeprägte Verantwortungsethik ist hierzu gefragt und gefordert.69

Die Vernunft70 /71 - die Kohärenz72 /73 des Rechts74 - Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaftsdynamik – der demografischen75 /76 /77 /78 Herausforderung Die Altersgesellschaft79 heute und Konzepte für die Zukunft und die Gestaltungsprozesse80 /81 der Gesellschaft82 des 21. Jahrhunderts83 Den einen erscheint der Sozialstaat als Auslaufmodell, das abgebaut und ausgemistet gehört, den anderen als Errungenschaft, die in Gefahr steht, bei den Umbaumaßnahmen, die sukzessive vorgenommen wurden preisgegeben zu werden. Statt Freiheit und Selbstverantwortung - Gerechtigkeit und soziale Sicherheit? Auf der Suche beide Antipoden miteinander zu vereinen wurden Fragen der Vorsorge, der Aktivierung, der Selbstverantwortung und des sozialen Ausgleichs aufgeworfen und versucht, human zum Ausgleich zu bringen

Direktor des FOI (bei der DHBW) Prof. Dr. jur. utr. Dr. rer. publ. Siegfried Schwab, Assessor jur., Mag. rer. publ., Kreisverwaltungsdirektor a. D.

*** unter Mitarbeit von Diplom-Betriebswirtin (DH) Silke Schwab und

*** Lehrerin Heike Tippl, geb. Schwab

„Man muss von Politikern erwarten können, dass Wort und Tat übereinstimmen.“ Hans-Jochen Vogel.

„Die Politik muss die Initiative zurückgewinnen gegenüber wirtschaftlichen und anderen Einzelinteressen. Die politische Gestaltung muss zurück ins Parlament. Die Abgeordneten müssen mit ihrer Stimme die Richtung bestimmen.“ Johannes Rau.

Wir widmen diesen Beitrag unserem langjährigen Lehrbeauftragten an der Dualen Hochschule Mannheim und privaten Freund, Herrn Oberstudienrat a. D. Karl Peter Wettstein, MdL Karl Peter Wettstein hat nach dem Abitur 1959 in Schwetzingen Wirtschaftswissenschaften, Politik, Geschichte, Germanistik und Sport u. a. an der Universität Heidelberg studiert. Er war von 1972 bis 2004 Lehrer am Gauß Gymnasium in Hockenheim (alle drei Verfasser dieses Beitrages waren dort Schüler). Er lehrte darüber hinaus an der Fachhochschule des Bundes und der Berufsakademie in Mannheim. Zu seinem 65. Geburtstag titelte der Mannheimer Morgen „von Ruhestand ist noch lange keine Rede“. Karl Peter Wettstein gab seine reichhaltigen Erfahrungen gerne an junge Menschen weiter. Diese profitieren von seinen umfassenden Kenntnissen, die er sich als bildungs- und später als wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD Fraktion im Landtag von Baden – Württemberg erworben hat. Dabei war es ihm immer eine Herzensangelegenheit, seinen interessierten Studenten zu vermitteln, was er auch gelebt hat: Politik (und der Politiker) muss als erstes für die Menschen da sein. Kontinuität und Verlässlichkeit sind zwei Tugenden, die Karl Peter Wettstein auszeichneten. Er gehörte dem Landtag sieben Legislaturperioden von 1972 bis 2000 an. 8 Jahre - von 1976 bis 1984 - konnte er seine Erfahrungen, Ideen und sein politisches Geschick in die präsidiale Arbeit des Landtages einbringen. Karl Peter Wettstein war einmalig: Realitätsnah, verlässlich, bewusst und engagiert hatte er sich stets über Parteigrenzen hinweg für das Wohl seiner Mitmenschen eingesetzt und dadurch Zeichen eines verantwortungsbewussten und lebendigen Miteinanders und verantwortungsbewussten Füreinanders gesetzt. Er hat uns zwar verlassen; aber die, die ihn kannten werden sich immer gerne und voller Freude und Dankbarkeit an ihn erinnern. Danke Karl Peter!

„Geschichte ist eine Schule, in der die Stundenpläne selten eingehalten werden“ Olaf Palme.

Existenzsicherung und atypische Bedarfslage*84 - Das neue Grundrecht85 /86 auf ein Existenzminimum87 - Richterrecht88 und Rechtsfortbildung89 /90 /91 /92 /93 /94

Das Sozialstaatsprinzip ist als verfassungsrechtlicher Auftrag an den Gesetzgeber ausgestaltet. Es überlässt dem Gesetzgeber im Rahmen der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit die Wahl der zur Zielverfolgung und Zielverwirklichung einzusetzenden Mittel. Das Sozialstaatsprinzip ist als solches keine Grundlage subjektiver Rechte. Der Gesetzgeber kann aber geeignete Maßnahmen treffen, die zur Zügelung der ungleichen Dynamik einer freien Wirtschaftsgesellschaft geboten und angemessen sind. Das Sozialstaatsprinzip besitzt durch die offene Fassung der allgemeinen Verpflichtung95 für eine gerechte96 Sozialordnung zu sorgen, eine große durch den Gesetzgeber konkretisierungsfähige Flexibilität, wird dabei durch die Orientierung auf den Schutz des Schwächeren und das Ziel eines menschenwürdigen Daseins verlässliche Orientierungspunkte.97

Der Sozialstaat ist wie ein Eimer mit Wasser, der von der Quelle zu denjenigen getragen wird, die das Wasser trinken sollen. Doch leider hat der Eimer eine ganze Menge Löcher, so dass einiges Wasser auf dem Wege verloren geht. Anders ausgedrückt: Die „Verwaltungskosten“, die Reibungsverluste98 des Sozialstaates sind enorm hoch, seine Effizienz gering.99

Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat, für eine gerechte100 Sozialordnung zu sorgen. Es besagt jedoch nicht, dass der Gesetzgeber für die Verwirklichung dieses Zieles nur behördliche Maßnahmen vorsehen darf; es steht ihm frei, dafür auch die Mithilfe privater Wohlfahrtsorganisationen vorzusehen.101

„Kinder102 aus bedürftigen Familien, und hier sind vor allem Schulkinder gemeint, sollen nicht darunter leiden müssen, dass ihre Eltern von staatlichen Hilfen leben“. „Notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten gehören zu ihrem existentiellen Bedarf", lautet einer der Kernsätze des Urteils: „Ohne Deckung dieser Kosten droht hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen,103 weil sie ohne Erwerb der notwendigen Schulmaterialien wie Schulbücher, Schulhefte oder Taschenrechner die Schule nicht erfolgreich besuchen können.“104

1. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums 105 aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG106 sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.107

2. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht108 in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber109, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand110 des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.

3. Zur Ermittlung des Anspruchumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.111

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG.112 (Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch. Das Sozialstaatsgebot113 des Art. 20 Abs. 1 GG wiederum erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag114, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukommt, die mit der Bestimmung der Höhe des Existenzminimums verbunden sind.115 Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht116 in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu. Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar und verpflichtet alle staatliche Gewalt, sie zu achten und zu schützen.117 Als Grundrecht ist die Norm nicht nur Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Der Staat muss die Menschenwürde auch positiv schützen.118 Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages119 verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt120 und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann. Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit.121 als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen.122 Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG. Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung123 eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch ein Parlamentsgesetz erfolgen, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält. Dies findet auch in weiteren verfassungsrechtlichen Grundsätzen seine Stütze. Schon aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergibt sich die Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen.124 Dies gilt in besonderem Maße, wenn und soweit es um die Sicherung der Menschenwürde und der menschlichen Existenz geht.125 Zudem kann sich der von Verfassungs- wegen bestehende Gestaltungsspielraum des Parlaments nur im Rahmen eines Gesetzes entfalten und konkretisieren.126 Schließlich ist die Begründung von Geldleistungsansprüchen auch mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für die öffentlichen Haushalte verbunden. Derartige Entscheidungen sind aber dem Gesetzgeber vorbehalten. Dafür reicht das Haushaltsgesetz nicht aus, weil der Bürger aus ihm keine unmittelbaren Ansprüche herleiten kann.127

Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.128 Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig. Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben.129 Der Umfang dieses Anspruchs kann im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden.130 Er hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen.131 Das Sozialstaatsgebot132 des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen, die sich etwa in einer technisierten Informationsgesellschaft anders als früher darstellt. Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen. Ihm kommt zudem Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen133 zur Sicherung des Existenzminimums134 zu. Dieser umfasst die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs und ist zudem von unterschiedlicher Weite: Er ist enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben135 geht. Zur Konkretisierung des Anspruchs136 hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen.137 Hierzu hat er zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen. Das Grundgesetz schreibt ihm dafür keine bestimmte Methode vor.138 Er darf sie vielmehr im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auswählen. Abweichungen von der gewählten Methode bedürfen allerdings der sachlichen Rechtfertigung.

Das dergestalt gefundene Ergebnis ist zudem fortwährend zu überprüfen und weiter zu entwickeln, weil der elementare Lebensbedarf139 eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er besteht.140 Der Gesetzgeber hat daher Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht. Dem Gestaltungsspielraum141 des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums entspricht eine zurückhaltende Kontrolle142 der einfachgesetzlichen Regelung durch das Bundesverfassungsgericht. Da das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs erlaubt, beschränkt sich - bezogen auf das Ergebnis - die materielle Kontrolle darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind.143

Innerhalb der materiellen Bandbreite, welche diese Evidenzkontrolle belässt, kann das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums keine quantifizierbaren Vorgaben liefern. Es erfordert aber eine Kontrolle der Grundlagen und der Methode der Leistungsbemessung daraufhin, ob sie dem Ziel des Grundrechts gerecht werden. Der Grundrechtsschutz erstreckt sich auch deshalb auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums, weil eine Ergebniskontrolle am Maßstab dieses Grundrechts nur begrenzt möglich ist. Um eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Nachvollziehbarkeit des Umfangs der gesetzlichen Hilfeleistungen sowie deren gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, müssen die Festsetzungen der Leistungen auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigen sein. Das Bundesverfassungsgericht prüft deshalb, ob der Gesetzgeber das Ziel, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, in einer Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gerecht werdenden Weise erfasst und umschrieben hat, ob er im Rahmen seines Gestaltungsspielraums144 ein zur Bemessung des Existenzminimums im Grundsatz taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und schließlich, ob er sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt hat.

Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang. Andere Grundrechte, wie zum Beispiel Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 6 Abs. 1 GG, vermögen für die Bemessung des Existenzminimums im Sozialrecht keine weiteren Maßstäbe zu setzen. Entscheidend ist von Verfassungs- wegen allein, dass für jede individuelle hilfebedürftige Person das Existenzminimum nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ausreichend erfasst wird; eines Rückgriffs auf weitere Grundrechte bedarf es hier nicht.145

„Materielle Gleichheit ohne die Freiheit in Handeln und Denken erstarrt zu Unmündigkeit. Erst durch die Verbindung von Freiheit und Gleichheit kann der Mensch mündig sein und sich zugleich ohne Not entfalten“.146

Der Sozialstaat ist mit den Formulierungen „sozialer Bundesstaat“ sowie „sozialer Rechtsstaat“ als allgemeine Staatszielbestimmung staatlicher Intervention und sozialer Regulierung mit dem Ziel soziale Gerechtigkeit147 herzustellen, in das GG aufgenommen worden. Dass er in der geschichtlichen Entwicklung an seine Grenzen stoßen wird148, war nicht absehbar. Die Illusion frisst ihre Kinder, Steigende Steuern, höhere Sozialabgaben, mehr Selbstbeteiligung – doch echte Notfälle gehen leer aus! Die Illusion vom fürsorglichen Sozialstaat – mit neu geschaffenen Leistungen wie Elterngeld und staatlicher Stütze für nicht ausgelastete Selbstständige ist schnell dahin. Stattdessen heißt es privat statt Staat. Erwerbstätige, die heute die Renten oberhalb einer staatlichen Mindestsicherung finanzieren, werden später selbst kaum mehr als eine Grundrente erhalten. Der Grundsatz „generationengerechter Alterslohn für Lebensleistungen“ wird zunehmend durch die demografische Veränderung der Gesellschaft, aber auch durch die Beitragsausfälle in der Sozialversicherung durch alternative Arbeitsformen wie Teilzeitarbeitsplätze und Minijobs (geringfügige Beschäftigungsverhältnisse) in Frage gestellt.149

Die Verfassung150 /151 /152 /153 - Solidarität154 /155 /156 /157 mit Hilfsbedürftigen158 - Menschenwürde159 - Behinderte und Diskriminierungsschutz - Schule160 und Inklusion161

Warum werden Wesensmerkmale wie Behinderung, Begabung oder sexuelle Identität wegdiskutiert? Das Neuste auf dem „Paradiesgärtlein der Inklusion“. Die Debatte über Inklusion sei in eine "Schieflage" geraten, erklärte kürzlich die Berliner Arbeitsmarktforscherin Jutta Allmendinger auf "Spiegel online". Schief sei, die Wahrnehmung, "dass Inklusion praktisch nicht funktionieren" könne. Schief sei, versteht man richtig, überhaupt die Kritik an einem gesellschaftspolitischen Projekt, das sich doch eigentlich von selbst verstehe: die Normalisierung der Vielfalt als politische Querschnittsaufgabe. Dabei geht es um die sukzessive Herstellung einer inklusiven Gesellschaft, weit über den Schul- und Bildungsbereich hinaus. Insbesondere bei Inklusionsfeldern wie beispielsweise der Behinderung liegen die Nerven blank.162 /163

Im Blick auf die Einwände, die gegen die umstandslose Übersetzung von sozialer Gerechtigkeit in den "politischen Kampfbegriff" der Gleichstellung vorgebracht werden, versteht Frau Allmendinger die Welt nicht mehr. Sie fragt: "Warum ist die Inklusion in Deutschland noch immer so umstritten?" Noch immer? Immer mehr! Immer mehr zeigt sich der utopische, weltfremde Charter einer Heilsidee, die über keinen positiven Begriff von Ungleich verfügt. Als gäbe sich aus der Gleichheit vor dem Gesetz (oder vor Gott) die Notwendigkeit, jedweden empirischen Unterschied zu ignorieren. Alles wird Zuschreibung! Nicht jeder kann alles. Und nicht jeder kann das, was er kann, genauso gut wie jemand anderer, der es besser kann. Die Pointe der Inklusionssemantik liegt aber darin, jeden Unterschied als Ungleichheit zu deuten und jede Ungleichheit als Ungerechtigkeit. So wird unter der regulativen Idee der "Vielfalt" (Schule der Vielfalt, "diversity Management in Unternehmen) ein egalitäres Anspruchsdenken installiert, das so weit geht, Unterschiede als solche möglichst gar nicht mehr namhaft zu machen. Geschlecht, Behinderung, Alter oder Intelligenz gehören dann gar nicht erwähnt, sie erscheinen als bloße Zuschreibungen im Auge des Betrachters. Die Analyse kategorialer Unterschiede wird als Essentialismus geschmäht, dem ein naiver Wesensbegriff zugrunde liege. Die propagierte Dekategorisierung ("alles ist Zuschreibung") vollzieht sich aber zunehmend auf dem Rücken der Betroffenen. Frau Allmendinger macht beispielsweise unfreiwillig die diskriminierenden Folgen für die Behinderten sichtbar, ja, befördert sie selbst. So kritisiert die Arbeitsmarktforscherin, "dass viele Bundesländer Inklusion fördern wollen, ihr Förderschulsystem aber unangetastet lassen". Sie fordert, "Förderschulen konsequent zu schließen" - und lässt damit die Katze aus dem Sack. - Diskriminierung durch Ausblenden! - Inwiefern? Die Antwort lautet: Wenn schwer und mehrfach Behinderte als solche nicht mehr bezeichnet werden dürfen, dann fallen sie über kurz oder lang auch als Träger eines besonderen Förderbedarfs aus. Dann kann man Sonder-schulen schließen, ohne zu wissen, wie diese ihrer speziellen Betreuung beraubten Kinder und Jugendlichen auf inklusiven Schulen zurechtkommen sollen. Denn das sind Schulen, die - ohne klare Perspektiven für die finanzielle und personelle Ausstattung - derzeit in der Regel Provisorien nach dem Prinzip „Daumen drücken“ darstellen. Vergleichsdaten zur Inklusion164 aus dem Ausland beziehen sich bei näherem Hinsehen auf andere Förderkriterien, werden aber hierzulande propagandistische ausgeschlachtet. Heute steht man vor dem Paradox, dass die begriffliche Gleichstellung der Unterschiede - ihr „Unsichtbarwerden“ - recht eigentlich erst die lebensweltliche Diskriminierung schafft, die man doch verhindern will. Man kann im Interesse der Betroffenen nur davor warnen, die unterschiedlichen Bedürfnisse so weit zu nivellieren dass sie am Ende nicht mehr geltend gemacht werden können. Wer im Zuge einer überdrehten Gender-Ideologie das Muttersein für ein Zuschreibungsmerkmal hält, das der berufstätigen Frau nur "äußerlich" ist, der entlastet den Arbeitgeber im Zweifel von dem Druck, auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie spezifische, über den rechtlichen Rahmen hinausgehende Rücksicht nehmen zu sollen. Vielfalt wird im Grunde gegen die Interessen der Betroffenen propagiert, die sich nun dem Verdacht einer Überempfindlichkeit bis zum Wirklichkeitsverlust ausgesetzt sehen. Gefährliche Gemeinschaftsideologie - Das tut der Erlösungsstrategie der Inklusion aber keinen Abbruch. In ihrem Zentrum steht die Verabsolutierung des Prinzips der sozialen Partizipation. Es stellt alle anderen Bedürfnisse der Betroffenen in den Schatten. Gemeinschaft ist Trumpf! Alle sollen sich überall zugehörig fühlen können.165

Das ist die Gegenthese zur ausdifferenzierten Gesellschaft, ein sozialer Radikalismus, vor dem der Anthropologe Hartmuth Plessner in seiner Schrift" Grenzen der Gemeinschaft" gewarnt hat. Die Inklusion als Aufgabe ernst nehmen und das Recht auf Teilhabe nicht zu einem Gnadenakt "verkommen zu lassen" ist keine sozial radikale Gesinnung, sondern Werte- und Rechtsbewusstsein. Vielfalt kann eine Bereicherung sein! Das Miteinander mit Behinderten ist jedenfalls eine Herausforderung an die Gesellschaft als solidarische Gemeinschaft. Vielfalt mag kein Wertbegriff sein, so Otto Speck - "Dem Prinzip der Gleichheit, das einer Pädagogik der Vielfalt zugrunde liegt, entsprechen zu wollen ("alle Kinder haben gleiche Rechte"<m. E. auch gleiche Chancen!> Das bedeutet nicht willkürliche Gleichmacherei.), heißt noch nicht, dass alle Ungleichheiten unwirksam und unwichtig werden, wenn Vielfalt erzeugt wird.166 Mit "ehrlicher" Ungleichheit muss eine aufgeklärte Gesellschaft leben können oder es notfalls lernen, schließlich sind Menschen keine "geklonten Wesen", die völlig identisch sind. Zum natürlichen Wesen der Menschen gehört die besondere eigenständige Persönlichkeit, die unterschiedlichen körperlichen und geistigen Eigenschaften und Fähigkeiten. Aus der zu achtenden Menschenwürde folgt eine moralische Pflicht der Gemeinschaft, aus den Unterschieden keine diskriminierenden Folgen zu ziehen, das würde den Menschen zum Objekt willkürlicher Betrachtung und schematischer Wunschvorstellung machen. Der menschliche Faktor des gesellschaftlichen Lebens ist ein lebendiger Aspekt, kein 3 D-dimensioniertes, künstliches Objekt, sondern ein sozial zu achtendes Subjekt, dessen Würde zu achten für die Gemeinschaft keine "Nebensächlichkeit" sein darf, sondern eine Rechtspflicht ist, unabhängig davon, ob der andere Mensch den eigenen Vorstellungen von Menschsein entspricht. Die sozial-ethische Verantwortung ist nicht digitalisierbar, sie ist in der wirklichen, der realen Welt und der realen Freiheit zu leben.

„Der freiheitliche Staat ist in dem, was seine Zielrichtung ausmacht, bezogen auf die einzelnen als Menschen und Bürger, nicht auf losgelöste, transpersonale Güter und Zwecke. Im Mittelpunkt stehen Sicherheit Recht, Freiheit Möglichkeit der Entfaltung für die einzelnen, dies aber für die einzelnen in ihrer Gesamtheit, nicht lediglich für eine bestimmte Schicht, Gruppe oder Klasse.“167 Daraus ergeben sich notwendige Aufgaben für den Staat. Er hat sie entweder selbst wahrzunehmen oder ihre Wahrnehmung durch andere zu organisieren und zu regulieren und jedenfalls die sachgemäße Wahrnehmung sicherzustellen.168

Inklusion umsetzen bedeutet zielorientiert gesellschaftliche Barrieren abzubauen, damit eine Beeinträchtigung nicht zu einer Behinderung wird. Sozialpolitik mit Weitblick gestalten, heißt den Rechtsanspruch auf gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gemeinschaft verantwortungsvoll zügig zu verwirklichen und nach dem Motto zu handeln: <Von der Fürsorge zur Selbstbestimmung, Schwab, 2014>.

Die grundrechtliche Freiheit ist nicht eine Freiheit schlechthin, sie ist eine Freiheit, die auf bestimmte Ziele hin orientiert ist, nämlich die Realisierung des institutionell- objektiven Sinns der Freiheitsgewährleistung. Freiheitsumfang und Freiheitsschutz können insoweit nach der Art und Zielrichtung des Freiheitsgebrauchs differenziert werden. Gehört zum Sinn der rechtlichen Freiheit eine "Aufgabe" so ist es nur folgerichtig, dass die Erfüllung dieser Aufgabe auch staatlicherseits durch entsprechende Regelungen unterstützt, die Nichterfüllung durch staatliche Eingriffe oder eine Reduzierung bzw. Ablehnung des Freiheitsschutzes sanktioniert wird. So hat das BVerfG den Koppelungsdruck zum Beitritt zu Tarifverbänden mit der (negativen) Koalitionsfreiheit für vereinbar erklärt: diesen Druck übt der Gesetzgeber aus, dass er den Handwerkerinnungen als solchen Tariffähigkeit verliehen hat, so dass ein Fernbleiben von einer Arbeitgeberkoalition nur möglich ist, wenn zugleich auf die Mitgliedschaft in der Innung verzichtet wird. Das BVerfG hat diesen Koppelungsdruck mit der kennzeichnenden Begründung für verfassungsmäßig erklär, dass die Handwerker zum Beitritt zur Innung wegen der damit verbundenen sonstigen Vorteile eher bereit seien und die Regelung daher das Zustandekommen einer umfassenden tariflichen Ordnung begünstige.169

Freiheit ist Selbstbestimmung- Selbstbestimmung ist wie voraussetzungsvoll sie im Hinblick auf Sozialisation, Verstand und Bildung auch sein mag, in erster Linie individuelle Selbstbestimmung, Huber, Freiheit braucht Mut, in Festschrift für Hans Jürgen Papier, 2013, 308. Sie fließt aus der Persönlichkeit des einzelnen, verwirklicht sich in individuellen Präferenzentscheidungen Freiheit ist die Fähigkeit, seines Glückes Schmied zu sein. Die höchstpersönliche Prägung der Freiheitsausübung hat unweigerlich zur Folge, dass der, der sie in Anspruch nimmt, sich in einer Minderheit befindet. Freiheitsrechte sich deshalb auch potentielle Instrumente des Minderheitenschutzes. Die eigentliche Bewährungsprobe für die Freiheit170 ist heute die Behauptung im gesellschaftlichen Kontext, im Verhältnis zwischen Bürger und Bürger. Freiheit zu leben erfordert Mut.171

Die Freiheit ist kein Geschenk, von dem man billig leben kann, sondern Chance und Verantwortung. Freiheit ist Mitverantwortung (Richard von Weizsäcker).

Freiheit ist ein Gut, das durch Gebrauch wächst und durch Nichtgebrauch dahinschwindet (Richard von Weizsäcker).

Freiheit bedeutet, dass man nicht unbedingt alles so machen muss, wie andere Menschen (Astrid Lindgren).

Die Fähigkeit, Nein zu sagen, ist der erste Schritt zur Freiheit (Nicolas Chamfort).

Gleiche Bildungschancen sind die wichtigste Form sozialer Gerechtigkeit. Die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems hat abgenommen. Die Vitalität und Stabilität der Demokratie - auch der Wirtschaft - hängen letztlich eminent von der Durchlässigkeit der Gesellschaft ab. (Bundespräsident Köhler "Zur Freiheit gehört Ungleichheit"). Bildung begründet Hoffnung. Der Sozialstaat muss Nachsorgen, wo der Zusammenhalt nicht mehr funktioniert. Bildung, die wichtigste Investition ist Vorsorge.

Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen und eine unerlässliche Grundlage für ein friedvolles Zusammenleben der Menschen in der sozialen Gemeinschaft.172

Wirtschaftlich-soziale Machtverhältnisse und Machtbildungen können schon die Entstehung der Freiheit als realer Freiheit verhindern, indem sie die Verwirklichung der rechtlich garantierten Freiheit nicht zustande kommen lassen. Sie tun das immer dann, wenn sie aus sich heraus bewirken, dass einzelne oder ganze Gruppen von Menschen über keine oder wenig soziale Unabhängigkeit und soziale Sicherheit verfügen, dass ihnen dadurch die sozialen Voraussetzungen zur Realisierung ihrer rechtlichen Freiheit fehlen Der Staat muss also, um Freiheit für alle zur Entstehung zu bringen, über die formale rechtliche Gewährleistung der Freiheit hinaus auch vorhandene oder entstandene gesellschaftliche Macht selbst begrenzen, kanalisieren, sie daran hindern, dass sie gegenüber den Un-mächtigen ihre Überlegenheit voll ins Spiel bringt und deren rechtliche Freiheit dadurch erstickt. Nur so lässt sich wenigstens annähernd die Gleichheit des Ausgangspunktes, verstanden als die Realisierung der Freiheit herstellen. Ist die Freiheit als reale Freiheit in dieser Weise entstanden und hergestellt, stellt sich das Problem von neuem und vielleicht noch schärfer. Denn Rechtsgleichheit und allgemeine Erwerbsfreiheit, letzter nur begrenzt durch die gleiche Freiheit des anderen und die elementaren Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, beseitigen keineswegs die natürliche und wirtschaftliche Ungleichheit der Menschen, sondern setzen sie allererst zu ihrer vollen Entfaltung frei.

Nicht jede Vielfalt lässt sich in erfolgreicheres Lernen umsetzen, so nachdrücklich.173

Die Vielfalt der schwer Verhaltensgestörten, die in unseren Schulen Einzug hält, bedeutet immer auch: Hier wird vielfältig ein Unterricht gestört, der den Lernzielen noch nicht zugunsten einer bloßen Schülerverwahrung abgeschworen hat. Eine krass überforderte Lehrerschaft soll es ausbaden. Diese kritische Äußerung von Geyer müsste die Lehrerschaft eigentlich als motivierende Herausforderung verstehen. Geyer fährt fort: Wie man es auch dreht und wendet: Inklusion ist ein relationaler Begriff, den man nicht den ideologischen Verfechtern einer Totalinklusion überlasen darf. Der Einzelne steht immer in einem mehrfachen Spannungsverhältnis zwischen Inklusion und Exklusion. Das hat damit zu tun, dass er stets in ein bestimmtes Teilsystem einbezogen und zugleich aus anderen Teilsystemen ausgeschlossen ist. Ein behindertes Kind, so Otto Speck, kann in seiner Teil-Lebenswelt- einer Sonder- oder Förderschule - sich durchaus inkludiert fühlen und doch zugleich von einem externen Bezugspunkt aus als exkludiert betrachtet werden. Dies betrifft jedoch alle, nicht nur behinderte Kinder. Nicht jedes Kind kann an Hochleistungssportkursen und Musikklassen teilnehmen; Kategorien wie Begabung und körperliche Dispositionen können nicht einfach getilgt werden. Die Frage ist doch: Warum und wie sollte man solche Ungleichheiten kompensieren müssen? In welchem "Wolkenkuckucksheim" fühlt sich keiner mehr durch irgendwen und irgendwas zurückgesetzt? Die inklusive Gesellschaft, diese bewusst unscharf gehaltene politische Leitidee ist eine große Augenwischerei. Sie hantiert mit Erwartungen, die man seinen eigenen Kindern nicht früh genug ausreden kann, so Geyer. Vielfalt bedeutet, das Individuelle zulassen, statt per Etikettenschwindel abzuschaffen. Was inklusive Dogmatiker nicht sehen wollen, sind die Grenzen der Gemeinschaft: Wünschen hilft nicht immer weiter, so Geyer. Sollen aber zunächst utopisch klingende Vorstellungen überhaupt eine Chance haben, dass sich die Gemeinschaft ernstlich mit einer Problematik befasst, sind solche Wünsche ein zum "Nachdenken befördernder Katalysator" - realistisch natürlich kein Patentator für Erfolgswirklichkeit. Eine Gesellschaft wächst aber an Herausforderungen.

In ständiger Rechtsprechung beschreibt das Bundesverfassungsgericht die Menschenwürde174 als obersten verfassungsrechtlichen Grundwert, der keinen Relativierungen und

Einschränkungen durch andere Verfassungsgüter zugänglich ist.

„Der Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG ist keinerlei Einschränkungen zugänglich. Die Würde des Menschen ist der oberste verfassungsrechtliche Grundwert […] und zugleich als wichtigste Wertentscheidung tragendes Konstitutionsprinzip des Grundgesetzes […]. Deswegen unterliegt die Garantie der Menschenwürde, wie der Wortlaut des Grundgesetzes [‚unantastbar‘] verdeutlicht, auch keinen Einschränkungen durch andere Verfassungsgüter […]. Um den inflationären Gebrauch der Menschenwürde zu beenden und dem Begriff den Stellenwert zu geben, der ihm als oberstem Konstitutionsprinzip und dem Höchstwert der Verfassung angemessen ist, ist es zunächst dringend erforderlich, den Begriff der Menschenwürde hinreichend zu bestimmen.175.

Art. 3 [1] [2] [Gleichheit vor dem Gesetz]

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) 1Männer und Frauen sind gleichberechtigt. 2Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) [3] 1Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. 2Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Art. 3 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 2 angef. durch G v. 27. 10. 1994 (BGBl. I S. 3146).

Felix Welti: das in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG grundrechtlich, im europäischen Recht unionsrechtlich und in der UN-Behindertenrechts­konvention menschenrechtlich festgeschriebene Benachteiligungsverbot – diese Normen sind Teil eines neuen Verständnisses von Behinderung, das diese nicht mehr vor allem als individuelle Gesundheitsstörung, sondern als Beeinträchtigung gleicher Teilhabe an Rechten und Ressourcen der Gesellschaft176 begreife. Als erste Umsetzungsakte des rechte- und teilhabeorientierten Verständnisses von Behinderung.177

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK)178, seit dem 26. März 2009 in Kraft, ist in Deutschland angekommen. Ihre Bedeutung für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen ist kaum zu überschätzen.179 Die Konvention fordert zu Recht einen Wechsel von einer Politik der Fürsorge hin zu einer Politik der Rechte.180 Sie ist der neue, verbindliche und einklagbare Rechtsrahmen für die Behindertenpolitik in Deutschland und erhebt die Rechte von Menschen mit Behinderungen zur Grundlage und zum Maßstab verantwortlichen politischen Handelns.181 Die Konvention stärkt die universellen Rechte des Menschen. Sie schafft einen – verlässlichen, vertrauenserweckenden - Rechtsrahmen für die Behindertenpolitik in Deutschland. Sie verhindert aber auch, dass Behindertenpolitik als populistisches Lippenbekenntnis zu den Akten geheftet wird. Sie verlangt, dass die staatlichen Handlungsaufträge in Deutschland fortwährend entwickelt und nachhaltig umgesetzt werden.

Viele Menschen schreiben und sagen derzeit kluge und manchmal kluge Dinge über Inklusion. Und das ist gut so, da der gesellschaftliche Diskurs über die Frage, wie wir zukünftig miteinander leben wollen, bitter nötig ist. Der menschenrechtliche Auftrag sowie die Dimension der gesellschaftspolitischen Aufgabenstellung in punkto Inklusion geraten immer wieder aus dem Blick. Oft verharrt das Denken in Bahnen der Integration.182 Auch die Politik neigt dazu, die Inklusion, die mehr ist als Integration, weil sie einen Strukturwandel erfordert, eher nur als rhetorische Figur nutzen. Inklusion unterstreicht die staatliche Verpflichtung Menschen mit Behinderungen "gleichberechtigt mit anderen" die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Die Einzelperson, um deren Rechte183 auf freiheitliche Selbstbestimmung es immer nur gehen kann, ist damit der Ausgangspunkt, Bei der Förderung von Menschen mit Behinderungen geht es nicht um deren Besserstellung, sondern um Nachteilausgleich und die gerechte Verteilung von Lebenschancen. Inklusion darf aber auch nicht zu Verschlechterungen für Menschen mit Behinderungen führen. Deshalb geht es um weit mehr als um das Ziel, Menschen mit Behinderungen184 störungsfrei zu integrieren. Integration zielt lediglich darauf, im Einzelfall Zugänge herzustellen und Menschen, die als anders gelten, hereinzuholen. Inklusion zwingt darüber hinaus, die gesellschaftlichen Strukturen, also die als "allgemein verstandenen Orte, Dienste und Einrichtungen, so zu gestalten, dass sie für alle ´Menschen von Anfang an sinnvolle Antworten bieten. Inklusion nötigt zum kritischen Blick auf gesellschaftliche Strukturen, insbesondere wo sie ausgrenzen, benachteiligen oder gar diskriminieren.185 Katzer: Integration geht von einer Zwei-Gruppen-Theorie aus. Auf der einen Seite die Schüler ohne Handicap, auf der anderen die förderbedürftigen und behinderten, die in die erste Gruppe integriert werden sollen. Bei der Inklusion dagegen geht man von einer sehr hohen Heterogenität aller Schüler aus, von Hochbegaben bis zum Schüler mit einer geistigen Behinderung. Kern der Inklusion ist der gemeinsame Unterricht, in dem jedes Kind entsprechend seinen Möglichkeiten unterrichtet wird. Das heißt auch: Das Lernziel ist nicht für jedes Kind gleich. Wir haben ein neues Lernkonzept186 entwickelt, das der Unterschiedlichkeit der Schüler besser gerecht wird. Wir bieten einen individualisierten, handlungsorientierten, lebensweltlichen Unterricht an, fächerübergreifend und projektorientiert. Unser Anspruch war schon immer, die Kinder so viel wie möglich gemeinsam zu unterrichten und so wenig wie nötig zu trennen. Bei Eltern ist längst angekommen, dass die Inklusion unzureichend personell ausgestattet ist und es in sehr vielen Schulen fast unmöglich ist, auf die große Heterogenität in den Klassen adäquat zu reagieren. Menschen mit Behinderungen sind besonders hohen Risiken im Erwerbsleben ausgesetzt. Ihre Teilhabe am regulären Arbeitsmarkt187 ist stark eingeschränkt. Sozial- und arbeitsmarktpolitische Instrumente wie Eingliederungszuschüsse, konkrete sozial -begleitende und Hilfsleistungen im Arbeitsleben oder Unterstützungen durch Integrationsfachdienste bzw. Sozialpädagogen sollen helfen, die Barrieren im allgemeinen Arbeitsmarkt im Einzelfall zu überwinden. Überlegenswert wäre auch ein unterstützendes, begleitendes Arbeitsplatzbündnis eine betriebliche, soziale Partnerschaft zwischen Menschen mit Handicap und Menschen, die keine Behinderung haben. „Eine helfende, unterstützend Hand“ – „berufliche Begleitung“, statt Ausgrenzung!

Herausforderungen188 /189 der postmodernen190 /191 Gesellschaft192 – Armut/193 194 /195 /196 und sozialer Aufstieg – Gerechtigkeit197 /198 /199 und Bildung200 201 /202 /203

"Wissen204 ist Macht – Macht ist funktionales Wissen" - Der republikanische, demokratische und soziale Rechtsstaat ist die verfassungsrechtliche Verkörperung des Prinzips und der Bemühungen, Lebenschancen von der sozialen Herkunft einer Person loszulösen, die „Durchlässigkeit“ der Gesellschaft und den „Aufstieg“ durch Bildung und Ausbildung zu fördern205, Gleichheit, Freiheit sowie den Zugang zum und Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand zu fördern bzw. zu sichern. "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität" benannte die SPD seit ihrem Godesberger Programm von 1959 als die Grundwerte. Rechts- und Chancengleichheit, das Primat der Gerechtigkeit und die praktizierte und vor allem die mit inhaltlichem Sinn gelebte Solidarität. Was Solidarität erfahrbar meinte, wurde in organisierter Solidargemeinschaft praktiziert.206

Die Vision von einer "guten Gesellschaft", die sich durch mehr bürgerschaftliche Mitbestimmung, Basisbeteiligung und durch gelebte und praktizierte Solidarität in der Gemeinschaft auszeichnet, die assoziierten Bürger als effektive Gegenmacht gegen übermächtig erscheinende Marktkräfte und Staatsbürokratien einzusetzen denkt, diese Vision baut auf ein modernes und innovatives Verständnis von Gerechtigkeit, dass sich letztlich nicht in Chancengleichheit oder einer gerechten Verteilung des Wohlstands erschöpft. Die gute Gesellschaft will den Bürgern den ureigenen Freiheitsraum wieder einräumen, ihnen befreit von ungewollter Fremdbestimmung wieder die Kontrolle über das eigene Leben ermöglichen und die staatlichen Regelungen auf solche Anlässe beschränken, für die die politisch Verantwortlichen von den aktiv sich einmischenden Bürgerinnen ermächtigt wurden. Die gute Gesellschaft entwickelt funktionale Mechanismen der Ausbalancierung und Ausdifferenzierung - Mechanismen, die zwischen Pragmatismus und Visionen, Traditionalität und Moderne, Rationalität und Bindung, Sicherheit und Öffnung ein Spektrum von selbstorganisiertem und eigenverantwortlichem Handlungsfeld schafft, das sich durch zielstrebige, verantwortungsbewusste Nachhaltigkeit aber auch durch situative Reflexe auszeichnet.207

Wer in Deutschland heute nach oben will, hat es schwerer als früher. Die Bildungsbürger leben in Angst vor dem Absturz208 und separieren sich. Dadurch fehlen den Bildungsfernen überzeugende Vorbilder dafür, dass Leistung sich lohnt. Das große Versprechen der Bundesrepublik, dass es hier jeder nach oben schaffen kann, wenn er sich nur ordentlich anstrengt, gilt längst nicht mehr uneingeschränkt. Wissenschaftliche Studien weisen allesamt in dieselbe Richtung, auch wenn sie je nach Methode zu etwas unterschiedlichen Zahlen kommen. Die Chancen, als Kind bildungsferner Eltern eine große Karriere zu starten, sind in Deutschland geringer als in den Jahren des Wirtschaftswunders, und sie sind geringer als in vielen anderen Ländern. Nach dem neuen Bildungsbericht der OCD erreiche nur 20 % der Jüngeren einen höheren Abschluss als die Eltern. Im europäischen Durchschnitt sind es fast doppelt so viele. Die mangelnde Durchlässigkeit ist eines der größten Probleme unserer Gesellschaft. Die Gesellschaft ist auf dem Weg zurück zu einer Klassengesellschaft. Die Bevölkerung spürt diesen Trend auch ohne wissenschaftliche Untersuchungen. Das Institut für Demoskopie Allensbach hat über Jahrzehnte immer wieder ermittelt, ob Aufstieg209 durch Leistung nach Ansicht der Befragten in Deutschland möglich ist, ob jeder seines Glückes Schmied sein könne. Das Vertrauen in das Aufstiegsversprechen erreichte zwischen 1963 und 1975 seinen Höhepunkt. Danach fiel es deutlich ab. Der soziale Aufstieg wird schwieriger - die Zuversicht früher war größer. Aber: nur wer an seine Chancen glaubt, wird sie auch wahrnehmen können. WZB-Forscher Pollak spricht von Verlustängsten einer risikoscheuen Gesellschaft. In erster Linie versuchen Menschen, soziale Abstiege zu vermeiden. Der Verlust des einmal errungen sozialen Status wiege schwerer als der verpasste Aufstieg. Die Familien investieren mehr Energie, um das erreichte Niveau für ihre Kinder zu halten, als in Karrierepläne, die über die eigene Schicht hinausreichen könnten. Die richtige Bildungslaufbahn ist hierzulande auch deshalb so wichtig, weil Einkommen und sozialer Status in Deutschland so stark von formalen Abschlüssen abhängen wie nirgends sonst. Vom typisch deutschen "Berechtigungswesen" sprach man früher, WZB-Forscher Pollak spricht von "Bildungserträgen". Jenseits von Niedriglohnbranchen sind heute fast überall komplexere Fähigkeiten gefragt. Der Aufstieg von ganz unten nach ganz oben war selbst in den Jahren des Wirtschaftswunders eher eine Ausnahme. Aber der rasch wachsende Wohlstand ermöglichte den meisten Menschen den Aufstieg auf die nächsthöhere Stufe. Der Soziologe Ulrich Beck nannte das Phänomen, das sich fast alle eine Etage höher wiederfanden den "Fahrstuhleffekt". Im Festhalten an sozialen Hierarchien zeigt sich ein wettbewerbsfeindlicher Grundzug der deutschen Gesellschaft, der auch in statussichernden Mechanismen des Bismarck-Adenauerschen Sozialstaats eingeflossen ist. Wer aufsteigen will, muss sich von seinem Herkunftsmilieu trennen.210

Wer seinem Milieu entwächst, der fremdelt irgendwann im Kontakt mit früheren Freunden oder sogar der eigenen Familie. Man verliert einen Teil seiner Identität. Aufstieg211, das ist ein biographisches Risiko. Hart ist der Aufstieg212 allemal: Schule, jobben, Studium, jobben, Urlaub - jobben. Urlaub, verreisen? - Kein Geld, jobben! Diese Berichterstattung von Bollmann/Kloepfer über die Tagesschausprecherin Zervakis entspricht meiner eigenen Biografie. Nur in einem geht sie fehl - ich fremdle nicht mit meinem Herkunftsmilieu. Ich bin stolz, dass ich es geschafft.

Es ist vor allem die Dynamik kollektiver Strukturen und viel weniger das Verhalten einzelner Eltern213, die in der Debatte um Bildungsgerechtigkeit eine Rolle spielen muss.214 Bei unbeabsichtigten Nebenfolgen, und insbesondere bei "Rattenrennen", handelt es sich um typische Probleme kollektiven Handelns, die durch Verhaltensänderungen einzelner kaum gelöst werden können. Es sind daher nicht die Eltern qua Eltern, die Kritik verdienen - höchstens aus der Perspektive der Ballett- und chinesischunterichtgeplagter Kinder -, sondern die Politik, und damit letztlich wir alle als Bürger. Und es ist ja auch nicht so, dass das Thema die Öffentlichkeit nicht beschäftigen würde. Viele Rezepte sind bekannt und haben sich in Einzelfällen wunderbar bewährt, sei es dass die Schulen mit umfassenden Bildungskonzepten Defizite in den Elternhäusern ausgleichen, sei es durch zivilgesellschaftliche Initiativen, die informelles Mentoring und psychologische Unterstützung anbieten Aber es scheint der Wille - was in vielen Fällen konkret heißt; das Geld - zu fehlen, derartige Maßnahmen flächendeckend umzusetzen. Dabei wären hier die investierten Mittel gut angelegt, denn die Folgekosten von mangelnder Bildung und sozialer Exklusion ziehen sich über Jahrzehnte. Es geht, wohlgemerkt, nicht um Gleichmacherei und die Verleugnung von Leistungsunterschieden. Aber es geht darum, dass individuelle Förderung und das Entdecken unterschiedlicher Talente innerhalb eines gemeinschaftlichen215 Rahmens stattfindet, der allein eine Chance darauf gibt. Man merke an und behalte in der Merkstube - dem Gehirn: Investitionen in die Bildung der Kinder sind renditable Investitionen in die Zukunft der Gesellschaft! Wer an Bildungsinvestitionen spart, verbaut den Kindern und der Gesellschaft eine gute, lebenswerte Zukunft. Erst dann, wenn er dies bemerkt und nachsorgend Bildung und Qualifizierungsmaßnahmen starten will, nachsorgend reparieren möchte, was verpasst wurde, wird es richtig teuer, teurer als in die kindliche Bildung Aufmerksamkeit, Zeit und Geld zu investieren. Zukunft bauen ist sicherer und erfolgreicher als Zukunft reparieren und notfallmäßig zu flicken, Schwab.

Gerechtigkeitsvorstellungen, Zukunftsängste und ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis belasten das notwendige Vertrauen der BürgerInnen in die Gestaltungskraft der Politik! (Siegfried Schwab, 2014)

Die postmoderne216 /217 Gesellschaft218 /219 – die EU220 als Utopie221 /222 des Friedens223 und der Gerechtigkeit224 /225 /226 – Vertrauen227 /228 in die Zukunft229 /230 /231

Das Grundprinzip232 der postmodernen Gesellschaft233 ist, dass alle Menschen gleich und gleichwertig sind: Nicht Herkunft und Abstammung, sondern allein selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Handeln sollen den gesellschaftlichen Status eines Menschen bestimmen (meritokratisches Prinzip). Bildung234 /235 und eigene Leistung sollen den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen. Sie helfen die Komplexität236 der gesellschaftlichen Verhältnisse237 transparenter zu machen.238 In dieser Komplexen, postmodernen Gesellschaft239 wird häufig unterschieden zwischen Dazugehörigen" und "Nicht-Dazugehörigen" oder in ökonomisch "Nützlichen" und "nicht Nützlichen". Diese Unterscheidung fordert den gesellschaftlichen Zusammenhalt heraus und stellt die Solidarität240 in Frage. Die zunehmenden Abstiegsängste241 /242 gilt es wirkungsvoll zu bekämpfen.243 /244

Die offene Gesellschaft245 definiert sich nicht mehr über einen verbindlichen religiösen Kern. Zudem deutet der Befund zumindest an, dass sich nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität246 der Ligaturen in einer stabilen freien Gesellschaft insofern verändert, als dass sie deren Pluralismus, der sich aus dem freiheitlich-säkularen Staat ergibt, akzeptiert und verinnerlicht.

Das wichtigste Signum der neuen Zeit, der Schritt, der die Vierziger für immer von den Vorfahren entkoppeln würde, war der unbedingte Wille zur Gegenwärtigkeit247. Wir wurden fast ausnahmslos zu "Legionären des Augenblicks". Der Augenblick aber hatte bislang einen mäßigen Ruf gehabt. Ernsthafte Menschen lebten aus der Tradition in die Zukunft. Der Augenblick als Nahtstelle zwischen Tradition und Zukunft dient lediglich dem beschwerlichen Geschäft, die Zukunft zu gestalten. Die Entdeckung des Augenblicks als dem zeitlichen Lebensmittelpunkt hingegen entlastete die Vierziger von der Vergangenheit, die ohnedies die ihre nicht war, und befreite sie von der Verantwortung für die Zukunft, Kuntze, S. 42.

Demokratie bedeutet, dass die Bürger eines Staates bzw. politischen Systems die Möglichkeit haben (müssen), in allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen über das Regierungspersonal und die Grundrichtung (Inhalte und Ziele, Strukturen und mittelbar mit den Inhalten identifizierbare Personen aus dem politisch-gesellschaftlichen Leben) der Regierungspolitik zu entscheiden. Die Demokratisierung wird dabei durch die gemeinschaftlichen Bande einer sprachlich, kulturell und ethnisch zusammengehörenden – gewachsenen und durch ein Zusammengehörigkeitsgefühl und solidarisches Miteinander geprägten - Nation erleichtert, ist aber nicht zwingend an diese gebunden oder auf sie beschränkt.248 Die Attraktivität von Wahlen und damit die Wahlbeteiligung an Wahlen wird geprägt von der inhaltlichen Konfliktstruktur der Politik und den anstehenden politischen Richtungsentscheidungen bzw. durch die Persönlichkeiten, die das politisch – gesellschaftliche Leben prägen und strategische, pragmatische und dem Wähler plausibel erscheinende Lösungen für aktuelle politisch wirtschaftliche, gesellschaftlich strukturelle, umweltrechtlich nachhaltige oder fiskalisch ökonomisch motivierte die Zukunft des Staates249 prägende Fragen und Herausforderungen und grundlegende Richtungsentscheidungen250, Fragen des Überlebens der staatlichen Gemeinschaft und der friedensmäßigen geopolitischen Einordnung und den sozialen – strukturellen inneren Zusammenhalt überzeugend beantworten können.

Vor über 40 Jahren veröffentlichte der Club of Rome den Bericht „Grenzen des Wachstums“. Der Befund war damals alarmierend: Die herrschenden Produktions- und Lebensweisen industrialisierter Gesellschaften seien langfristig nicht tragbar; sie erschöpften die natürlichen Ressourcen und drängten die Erde an die Grenzen ihrer Tragfähigkeit. Der Schreckensbericht für die damals noch gedanken- und vor allem sorglosen Wohlstandsbürger bildete eine wichtige Grundlage für die Entstehung der neuen sozialen und ökologischen Bewegungen. 2011 wurde vom Deutschen Bundestag eine Enquete-Kommission „Wohlstand, Wachstum, Lebensqualität“ eingesetzt. Sie sollte politische Handlungsempfehlungen für ein „ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltiges Wirtschaften“ entwickeln. Diese Aufgabe stand für nichts Geringeres als die Neudefinition – und Neuvermessung – gesellschaftlichen Fortschritts. Wohlstand und Lebensqualität, Wachstum und natürliche Ressourcen, sozialer Frieden und generationsgerechter Ausgleich und Chancenerhaltung und Zukunftssicherung – hinterfragt werden sollten die Mentalitäten der Menschen und die Prognosen für die schonende ökologische, ökonomische und soziale Zukunftssicherung. Sozialphilosophische Positionen, ökonomische Wachstumsprognosen, ökologische Bilanzbetrachtung und Belastungserhebungen (etwa die Altstandortkartierungen in B-W), wurden mit den sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen in einem Prozess hochpolitischer Fragen zu einer hochkomplexen, logischen Beurteilung zusammengetragen. Es galt Lösungen zu finden, die auch den Wechselwirkungen von sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen und Entwicklungen (alternde und schrumpfende Gesellschaft251 Einerseits ist der Mensch – geprägt von der Erfahrung, erst einmal das Heute zu meistern, ehe er sich dem Morgen oder gar Übermorgen zuwendet – ein Kurzfristoptimierer. Andererseits vermögen neue Einsichten, gefördert von spürbaren Veränderungen der Lebensbedingungen und mehr noch von aufschreckenden Katastrophenberichten, durchaus bewusste und gezielte Umorientierungen zu bewirken, so Miegel, Welches Wachstum und welchen Wohlstand wollen wir?252 Miegel stellt bilanzierend fest: Der Fortschritt der Zukunft muss darauf gerichtet sein, das materielle und immaterielle Wohl der Menschen innerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde zu schaffen und zu sichern.253

Wahrheit254, Teilwahrheit, Unwahrheit, Lüge - wo sind die Grenzen. der gesellschaftlichen Akzeptanz und in der Definition? Die Teilwahrheit wird gern praktiziert, ist fester Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses. Die Unwahrheit ist nicht offiziell akzeptiert, bleibt aber in aller Regel folgenlos. Die Lüge ist offiziell gesellschaftlich geächtet. Und dennoch wird sie in Wirklichkeit in vielen Bereichen geradezu gesellschaftlich gefördert. Die Wahrheit ist schlichtweg unbequem. In jedem Fall ist unser gesellschaftliches Verhältnis zu Unwahrheit und Teilwahrheit völlig unverkrampft, wohingegen die reine Wahrheit255 wie auch die offenkundige Lüge - auf unterschiedliche Weise Anpassung und Verkrampfung in uns hervorrufen.256 /257 Ins besondere die Teilwahrheit258 nimmt in unserer Gesellschaft eine zentrale Rolle ein. Die Teilwahrheit259 wird im Grunde als die intelligentere Form260 der Wahrheit betrachtet261, macht man sich doch weder als Lügner angreifbar noch mit der unbequemen Wahrheit unbeliebt.262 Zum Lügner haben wir, wenn er dann überführt ist, ein gespaltenes Verhältnis. Der, der die Unwahrheit sagt, ist oftmals nur der Vergessliche. Der Teilwahrheitsager ist einfach der Kluge. Und der Wahrheitsager ist vor allem der Dumme - und das gleich im doppelten Sinne: Er wird als dumm angesehen, und auch das Ergebnis ist für ihn oft recht dumm. Jedenfalls bei kurzfristiger Betrachtung. Interessant ist dabei: In der Mitte des jeweiligen Kontinuums fühlen wir uns also wohl, mit den Rändern haben wir Probleme. Die Erklärung dafür ist ganz einfach: Unwahrheit und Teilwahrheit sind bequem, Lüge und Wahrheit hingegen schaffen Unbequemlichkeit. Die Wahrheit deshalb, weil sie in der Regel per se unbequem ist, und die Lüge deshalb, weil wir, obwohl wir mit ihr meistens weniger Probleme haben, in Wirklichkeit doch wissen, dass wir sie eigentlich nicht tolerieren dürften.

Lutz Claassen, Unbequem-konsequent263 erfolgreicher264 als andere, 2013, S. 12.

Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten heißt Eigenverantwortung265 ihrer Bürger266. Die Grenze der Eigenverantwortung wird da erreicht, wo elementare Lebenschancen und für die Bürger auch materielle Sicherheiten, das menschenwürdige Existenzminimum bedroht sind. Hier muss die Solidarität der Lebensgemeinschaft prüfen: Die EU als Rechtsgemeinschaft ist vital davon abhängig, dass in den Mitgliedstaaten die Effektivität des Rechts gewährleistet bleibt. Nichts ist schädlicher als ein kollektiver Rechtsbruch. Begangen durch aktives Handeln, durch willensbeeinflusste Tätigkeiten, aber auch durch Unterlassen. Staaten haben aus der Gemeinschaftsbezogenheit der europäischen Veränderungsprozesse eine Garantenstellung, die sie zum Handel verpflichtet. Erst Recht dann, wenn sie selbst am rechtswidrigen Vorverhalten aktiv beteiligt waren.267

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde268 und Recht geboren. Sie sind mit Vernunft269 und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte)

Wahre Nächstenliebe ist mehr als die Fähigkeit zum Mitleid, sie ist die Fähigkeit zur Zuneigung. Martin Luther King270

Die erste Frage soll nicht sein: Was kann ich von meinem Nächsten erwarten? sondern: Was kann der Nächste von mir erwarten?271 Friedrich von Bodelschwingh272

Wenn es überhaupt eine Möglichkeit gibt, einen anderen Menschen positiv zu ändern, dann doch nur, indem man ihn liebt, und ihn so langsam sich wandeln hilft von dem, was er ist, zu dem hin, was er sein kann.273 Joseph Ratzinger der spätere Papst Benedikt

Das angeborene Recht jedes Menschen sein eigener Herr zu sein, Recht274 als notwendige Bedingung und untrennbarer Teil der Freiheit275, weil es erst die Freiheit des einen mit der der anderen widerspruchsfrei zusammen bestehen lässt.276

Lebenslügen277 haben, bei begrenzter Haltbarkeit278, die schöne Eigenschaft, den Augenblick lebenswert zu halten.279 Ihre Nutznießer verteidigen sie deshalb entschlossen und oft über lange Zeit erfolgreich. Sie sind in den Köpfen der Menschen das Äquivalent zur Spekulationsblase und können, wie diese auch, weitergereicht werden. Dann müssen die Nachkommen280 sich um die Folgen ihrer unausweichlichen Vergänglichkeit kümmern. Der gesamte westliche Lebensstil nebst seinen Eckpfeilern Wohlstand und Wachstum gehört unerbittlich auf den Prüfstand. Alle bestehenden und geplanten Gesetze und Vorhaben müssen auf ihre ökologischen Folgen und die Belastungen für zukünftige Generationen hin geprüft werden.281

Die Streitkultur in unserer Gesellschaft hat sich an den Wertvorstellungen des Grundgesetzes282 zu orientieren, also an Freiheit, an Gleichheit283 und an Solidarität; die Streitkultur beruht auf dem Recht freier Meinungsäußerung und auf der Anerkennung der Würde des Menschen. Ausdruck dieser Streitkultur ist der alltägliche Umgang der Menschen miteinander; Ausdruck dieser Streitkultur ist aber auch die Arbeit der Justiz, deren Aufgabe es ist, in einem fairen und offenen Verfahren Entscheidungen zu treffen, die dem demokratisch zu Stande gekommenen Recht entsprechen. (Weber-Grellet)284

Gerechtigkeit285 ist für mich erreicht, wenn eine in einem demokratischen Verfahren zu Stande gekommene und den Gedanken der Humanität entsprechende Rechtsordnung im Alltag tatsächlich praktiziert wird. (Weber-Grellet)

Die Frage der Gerechtigkeit286 ist ja eine weite Frage. Einerseits geht es dabei darum, wie viel Geld wir für soziale Leistungen brauchen. Andererseits muss sich die Politik auch darum kümmern, dass dieses Geld auch erwirtschaftet wird. Denn wir alle haben mittlerweile mitbekommen: Auch das Leben auf Pump, das Schuldenmachen, ist zum Schluss eine Gerechtigkeitsfrage. Das Organisationsprinzip in unserem Land ist das sogenannte Subsidiaritätsprinzip – sperrig im Ausdruck, aber gut im Anliegen. Wir sagen: Was Einzelne oder kleine Gemeinschaften selber können, das sollten sie auch wirklich machen dürfen. Das heißt also, der Staat sollte sich eben nicht für alles zuständig erklären, denn ansonsten würde er für die Menschen nicht sehr attraktiv sein. Stattdessen muss der Staat für geeignete Rahmenbedingungen sorgen. Hilfe zur Selbsthilfe – das ist das Credo, das auch Sie als Wohlfahrtsorganisationen versuchen zu leben. Dabei geht es darum, Menschen wieder zu ertüchtigen und ihnen ein Stück Unabhängigkeit und Möglichkeiten der eigenen Lebensgestaltung287 zu geben. Wir wissen, dass wir eine Gesellschaft sind, die großen Veränderungen entgegensieht, die schon mitten im Gang sind. Der demografische Wandel wird unser Land sehr verändern. Wir sind eines der Länder auf der Welt, die am schnellsten mit dem demografischen Wandel konfrontiert werden. Die Aufgaben, die wir dabei zu erledigen haben, stehen heute vielleicht noch nicht allen von uns vollkommen vor Augen. Rede der Bundeskanzlerin zur Verleihung des Deutschen Sozialpreises 2012 27. November 2012

Was die Vierziger vor allem von ihren harten, illusionslosen Vorfahren unterscheidet, ist ein naiver, aber ehrlicher Glaube an das Gute im Menschen. Wie sie auf diese Idee gekommen sind, bleibt rätselhaft, denn die jüngste Geschichte hatte eher das Gegenteil gelehrt. Vermutlich war es eine Reaktion auf den nüchternen, unsentimentalen Realismus der Eltern. Der Glaube288 an das Gute im Menschen289 ist der Nährboden für Utopien290 /291 und Scheinwelten292. Von hier aus ist es gedanklich nicht mehr weit zur Überzeugung293, dass die Gesellschaft dringend generalüberholt werden muss, um dem unterdrückten Guten eine Chance294 zu geben295. Die Träume296, die jede Utopie297 träumt, sind deshalb selten authentisch gewesen. Die Vierziger hatten keine Ketten zu verlieren, um eine Welt zu gewinnen, denn sie waren bereits frei, und die Welt lag ihnen zu Füßen.298

Die Zukunftsforschung versucht die Zukunft299 in einem realitätsnahen300 Prognoseprozess abzubilden und vorherzusagen, sie kann aber Zukunft nicht wirklichkeitsnah planen und gestalten. Keiner kann die Zukunft und die real eintretenden Ereignisse präzise vorhersagen, sonst würde man Szenarien erfassen und präventiv versuchen, den Eintritt unangenehmer Entwicklungen antizipiert zu verhindern. Eine nicht "berechenbare" sondern nur prognostizierbare Zukunft kann manch schlaflose Nächte bereiten. Unsere Zukunft wird aus heutiger Sicht geprägt sein durch großes Leid, Klimaschäden, Verteilungskämpfe um Rohstoffe und differenzierte Bevölkerungsentwicklungen und regionale Bevölkerungswanderungen bzw. einem regionalen Bevölkerungswachstum und gleichzeitiger regionaler Alterung der Gesellschaft. Der Vergreisungsprozess der Gesellschaft in den Industrieländern der bisherigen westlichen Welt birgt Herausforderungen für die sozial-strukturelle Situation der Lebensgemeinschaften. Langfristigkeit-Prognosen sind antizipierte Bildbände der Zukunft, die dabei behilflich sind Zukunft begreifbarer zu machen und Reaktionsmuster und gegebenenfalls Gegensteuerungskonzepte rechtzeitig zu entwickeln. Aus kooperativen Kommunikationsstrukturen und kreativem Netzwerkleben können Frühwarnsysteme erwachsen. Disruptive Zukunftsbilder stimmen auf ökologische, soziale und gesellschaftliche Umweltveränderungen auf wirtschaftliche, soziostrukturelle und konvergierende Trends im Gesundheitswesen mit einer personalisierten Medizin und ressourcenbezogene Veränderungen ein. Wer so ein Bild von der Zukunft unter Berücksichtigung von Schlüsselfaktoren entwickelt, hat eine mögliche Chance sie ein Stück weit aktiv mitzugestalten. Differenzierte, komplexe und strategische Betrachtungen eröffnen die Chance eines Möglichkeitsraums für die Zukunftsentwicklung. Nach dem "Motto die Zukunft denken" - "think the unthikable" entstehen Entwicklungspfade und gestaltbare Kreativräume. Langfristigkeit-Prognosen sind antizipierte Bildbände der Zukunft, die dabei behilflich sind Zukunft begreifbarer zu machen und Reaktionsmuster und gegebenenfalls Gegensteuerungskonzepte rechtzeitig zu entwickeln. Aus kooperativen Kommunikationsstrukturen und kreativem Netzwerkleben können Frühwarnsysteme erwachsen. Disruptive Zukunftsbilder stimmen auf ökologische, soziale und gesellschaftliche Umweltveränderungen auf wirtschaftliche, soziostrukturelle und konvergierende Trends im Gesundheitswesen mit einer personalisierten Medizin und ressourcenbezogene Veränderungen ein. Wer so ein Bild von der Zukunft unter Berücksichtigung von Schlüsselfaktoren entwickelt, hat eine mögliche Chance sie ein Stück weit aktiv mitzugestalten. Differenzierte, komplexe und strategische Betrachtungen eröffnen die Chance eines Möglichkeitsraums für die Zukunftsentwicklung.301 Nach dem "Motto die Zukunft denken"302 - "think the unthikable" entstehen Entwicklungspfade303 und gestaltbare Kreativräume.304 Verstehen ist nach Heidegger ein Prozess des Daseins; das Dasein ist ein Seiendes, das nur unter anderen Seienden vorkommt. Der Beobachter blickt auf das Problem aus seiner eigenen Lebenswelt mit einem Erwartungshorizont. Erwartungen, die auch geprägt sind durch tagesaktuelle Diskussionen und Geschehnissen und Erfahrungen - ob gute oder schlechte. Erfahrungen generieren Wissen "sind Samenkörner aus denen Klugheit erwächst. Herausforderungen der Sozialpolitik heute in der postmodernen Gesellschaft in Deutschland sind immer auch Herausforderungen des Sozialrechts, und diese Herausforderungen des Sozialrechts grundgesetzlich gerahmt werden, vom Sozialstaatsprinzip und auch von den Grundrechten, jeweils auszulegen mit Blick auf das Unionsrecht und die in Deutschland geltenden Menschenrechte. Der Gedanke Sozialstaatlichkeit darf nicht auf dem Altar der politischen Notwendigkeit als Opfer für marktwirtschaftliche Dynamiken geopfert werden. Der Sozialstaatsgedanke braucht Beständigkeit im behutsamen Wandel, nicht Permanenz der einmal anerkannten Rechte, aber auch nicht eruptive totale Veränderungen. Nach heftig und streitig diskutierten Sozialreformen, Hartz IV-Gesetze> ist nun Kontinuität, d. h. ein Fortbestand der sachlichen Struktur und ein Fehlbleiben von bedeutsamen Unterbrechungen gefordert. Rechtsänderungen und rechtliche Entwicklungen müssen die Kontinuität zwischen der vorausgegangenen und der neuen, geplanten Rechtslage wahren.305 Rechtsbrüche <Kontinuitätsbrüche> sind nur im Einzelfall und nach Abwägung zwischen den für eine Rechtsänderung sprechenden Gründen und den für die Beibehaltung der früheren Rechtslage306 sprechenden Argumente in sachlich begründeten Ausnahmefällen zulässig.307

Der konstitutionelle Liberalismus Hayeks, der dem Wohle aller, nicht besonderer Schichten dienen wollte, wirkt heute noch fort. Durch allgemeine, abstrakte Regeln, die vom Staat unparteiisch und unabhängig vom Einzelfall durchgesetzt werden müssen, kann es jedem ermöglicht werden, seine individuellen Ziele und Zwecke unabhängig von der nötigenden Willkür durch andere zu verfolgen. Ohne die Herrschaft des Gesetzes (rule of law) gibt es nach Hayek keine Freiheit in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Der Neoliberalismus hofft, den Sozialstaat aus seiner erstarrenden und beengten Wirklichkeit zu befreien. Eingedenk Adam Smith und David Hume, die der Überzeugung waren, dass es einen Grundgebot für den Gebrauch menschlicher Freiheit sei, dass jedermann das Recht erhält, auf seine persönliche Weise seinen Zielen nachzugehen. Dem Staat kommt dabei eine dienend unterstützende und absichernde Funktion zu. Er schützt den Bürger durch ein ausgeprägtes, verlässliches und dynamisch reagierendes Rechtssystem, welches Rechtsverstöße ahndet und Sicherheit schafft und garantiert. Nur dort wo Privateigentum geachtet und die Vertragsfreiheit garantiert ist, werden die Menschen auf die Zukunft bauen können. Der klassische Liberalismus lebt von einer moralischen und philosophischen Grundidee. Respekt vor Freiheit und Wettbewerb als Entdeckungs- und Entmachtungsverfahrens des Wohlstands. Für von Hayek sind spontane Ordnungen immer staatlichen Eingriffen vorzuziehen. Der Markt als Experimentierfeld, „Trial and Error“, schließlich lernen Märkte besser und effizienter als Staaten.308 Für von Hayek ist Sozialpolitik der Anfang allen Unfugs. Denn sie setze voraus, der Staat könne zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit die Ergebnisse des Marktes im Nachhinein korrigieren. Der Ausdruck „soziale Gerechtigkeit“ gehört für ihn in die Kategorie Unsinn. Es ist allerdings das Ziel der Gesellschaft, die individuelle Freiheit zu bewahren.309 Freiheit setzt gleichberechtigte Teilhabe voraus und nicht die Ausnutzung von individuell Schwächeren. Dadurch wird der soziale Frieden in der Gesellschaft gesichert. Die Marktkorrekturen des sozialen Wohlfahrtsstaates (Kündigungsschutz, Tarifverträge) schränken deshalb individuelle Freiheit nicht ein, sondern leisten einen wichtigen und unerlässlichen, zuverlässigen Beitrag zu deren Sicherung. Sozialpolitik ist Ordnungspolitik (Walter Eucken). Man könnte sie auch als innere „Friedenspolitik“ bezeichnen. Der Staat garantiert die Wettbewerbsordnung und setzt Regeln. In diesem Rahmen soll sich dann Freiheit entfalten. Dies bedeutet nicht, dass über sozialpolitische Eingriffskorrekturen Verteilungsgleichheit hergestellt werden soll und kann, sondern, dass Chancengerechtigkeit bestehen soll, unabhängig von Herkunft und Milieu, dem Gleichheitsgedanken und dem sozialen Frieden in der Gemeinschaft verpflichtet.

Ein Land, das wie Deutschland einen demografischen Wandel310 hat, das in den nächsten Jahren erfreulicherweise mehr Menschen mit höherem Lebensalter, aber auch sehr viel weniger junge Menschen haben wird – mit all den Problemen, die damit verbunden sind –, muss dafür Sorge311 tragen, dass der Schuldenberg nicht immer weiter wächst. Wir machen derzeit nichts weiter – wir bauen ja noch keine Schulden ab –, als dafür zu sorgen, dass keine neuen Schulden hinzukommen. Wir sind jetzt – es wurde auch heute wieder veröffentlicht – bei über zwei Billionen Euro Schulden. Deshalb ist der beste Beitrag zur Generationengerechtigkeit312, wenn wir unseren jungen Leuten sagen: Wir geben euch die Zusicherung, dass der Schuldenberg wenigstens nicht weiter wächst. (Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Deutschen Handwerkstag am 19. September 2014)313 /314 /315

[...]


1 römisch-katholische Ordensfrau albanischer Herkunft

2 österreichischer Schauspieler, Sänger, Dramatiker und Satiriker, 1801–1862

3 Verantwortung haben wir für uns selbst und für andere. Beides ist nicht zu trennen, denn beides spielt ineinander. Das ist schon deshalb so, weil wir in erster Linie für unsere Handlungen verantwortlich sind, die oftmals auch andere betreffen. Für meine Handlungen aber bin ich verantwortlich; ich könnte sie anders oder gar nicht ausführen. Ob und wie ich dies tue, darin zeigt sich mein Charakter als handlungsfähige Person. So oder anders handeln zu können bedeutet schon, auch für die eigene Art etwas zu können. Obwohl ich für das, was ich bin, keineswegs in allen Hinsichten verantwortlich bin: darauf wie ich mich in meinem Tun und Lassen gebe, habe ich durchaus einen Einfluss - und kann gegebenenfalls dafür verantwortlich gemacht werden. Der Kern aller Verantwortung besteht in der Fähigkeit, eigenen und fremden Ansprüchen in das eigene Handeln zu entsprechen. Ein übersteigertes Zutrauen in die Reichweite des eigenen Handelns paralysiert die Fähigkeit, für sich und andere einzustehen. Der Wahn, in allem für sich selbst und überall für sich und für andere verantwortlich zu sein, führt unweigerlich zu einem Hörsturz des ethischen Vernehmens. Der Stimmen, auf die man zu antworten hätte, werden so viele, dass die Stimme des eigenen Gewissens in einem nichtssagenden Rauschen versiegt, vgl. Seel, 111 Tugenden - 111 Laster, Eine philosophische Revue, 2012, S. 141 "Verantwortung"

4 Sven Kuntze, Die schamlose Generation, 2014, S. 15.

5 Der demografische Wandel gehört zu den „Megatrends“ unserer Zeit. Der Anteil der älteren gegenüber den jüngeren Menschen wächst beständig, Das „Bestandserhaltungsniveau“ wurde auch durch politische Maßnahmen wie dem Elterngeld, der angestrebten besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie (Work-Life-Balance; Beruf und Familie Programme) nicht annähernd erreicht. Es ist folglich unerlässlich, sich auf die „alternde Arbeitsgesellschaft“ und die „intergenerationelle Schieflage“ realistisch einzustellen und Lösungsansätze in der staatlichen Gemeinschaft verantwortungsvoll zu erarbeiten, vgl. Piepenbrink, Editorial Demografischer Wandel, APuZ, 10–11/2011 • 7. März 2011

6 Unterdessen hält auch Kathrin Senger-Schäfer (Die Linke) ihre letzte parlamentarische Rede, und es gelingt ihr in wenigen Sätzen aus dem Innenleben des Pflegethemas zu sprechen. Plötzlich sieht man Menschen, die sich verwirrt mit dem Putzlappen reinigen statt mit dem Waschlappen. Man sieht die Demenzkranken, die das Waschen überhaupt vergesse. Im Bundestag werden manchmal Dinge öffentlich, die das Gemeinschaftsleben betreffen, eine Erinnerung an das, was das Leben draußen ausmacht. Diese Passagen wirken wie Zooms in existentielle Situationen und sind bisweilen so real, dass sich ein Missverhältnis auftut zwischen dem Anschauungsbericht und der politischen Konsequenz. Es sind die Momente, in denen die Realität die Politik blamiert, weil diese so fern ist. [...] Die Rednerin mobilisiert derweil die drei Basis-Instrumente der Dramatisierung - Angst: Der Pflege droht ein Flächenbrand. Freude: Ich freue mich sehr, dass man sich auf breiter Ebene zusammengeschlossen hat. Hoffnung: Die Wählerinnen und Wähler werden Sie hoffentlich im September nicht hängen lassen. Es ist Politik hat aber die Empfindsamkeit des Groschenromans. Minister Bahr eröffnet mit einem Bericht von seiner "kurzen Nacht" gekommen sei er trotzdem, so wichtig sei ihm die Pflege. Das Bild des modernen Vaters passt ins Konzept eines Gesundheitsministers, der sein Patronat über die Bedürftigen spannt. Wir sorgen dafür, sagt er, wir wissen, wir unterstützen, am liebsten aber und immer wieder, wir sorgen. Unter all dem sorgen, werden die Zwischenrufe immer lauter, und immer heftiger wird der Minister. "Ergebnisqualität muss das Ziel sein, brüllt er gegen die Linke gestikulierend und zeigt die Arroganz des Amtsträgers, der die Opposition dafür verachtet, nichts durchsetzen zu können. {...] Wir erleben eines langen Tages Reise in die Nacht. Roger Willemsen, Das hohe Haus - Ein Jahr im Parlament, 2014. S. 305f

7 Schwab, Normalarbeitsverhältnis und Prekariat, gesetzlicher Mindestlohn als sozialer Fortschritt oder Sargnagel der Tarifautonomie, 2014; ders. Arbeitsrecht und Arbeitsgesellschaft, 2014.

8 Das Sozialstaatspostulat lässt sich als verfassungsmäßige Verantwortung des Staates für die Förderung des sozialen Zusammenhalts durch eine hierzu geeignete Wirtschafts- und Sozialpolitik interpretieren. Der verfassungsrechtliche Befund bestimmt die politische Offenheit sozialstaatlicher Konkretisierung: So gewiss die soziale Verpflichtung und des Gemeinwesens ist, in dem sich die Gesellschaft verfasst hat, so ungewiss ist was sie meint, Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat: Soziologische Analyse,2009, S. 407 - unter Hinweis auf Zacher, vgl. Kaufmann, Denker des Sozialstaats: Hans F. Zacher 80 Jahre ZSR 54 (2008), S. 419, Als Sozialstaat tritt der Staat den wirtschaftlichen und wirtschaftlich bedingten Verhältnissen in der Gesellschaft wertend, sichernd und mit dem Zweck gegenüber, jedermann ein menschenwürdiges Dasein zu gewährleisten, Wohlstandunterschiede zu verringern und Abhängigkeitsverhältnisse verändert von mir - zumindest zu kontrollieren. Die wichtigsten Ziele des Sozialstaates sind: Hilfe gegen Not und Armut und ein menschenwürdiges Existenzminimum für jedermann. Zacher sah im Sozialstaatsprinzip den Auftrag der Inklusion und den Auftrag zur erneuten Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Entwicklungen. Der Sozialstaat müsse immer bereit sein, auch andere, insbesondere neue soziale Probleme wahrzunehmen und alte Fortschreibungen zu relativieren. Das soziale Staatsziel sei der verfassungsnormative Ausdruck der sozialen Grundnorm der Gesellschaft. Er bedürfe der Konkretisierung und die sei ein Prozess.

9 Der Sozialstaat blickt auf eine lange und etablierte Kooperation mit nichtstaatlichen Akteuren zurück. Lange bevor er die Institutionen schuf, die heute die sozialen Sicherungssysteme tragen und verantworten, hatten sich Kirchen und Gemeinden, humanitäre und berufsbezogene Vereinigungen und Betriebe sozialer Problemlagen angenommen, die der Einzelne zu bewältigen nicht in der Lage war. Der Staat war auf diese bürgergesellschaftliche Wahrnehmung sozialer Aufgaben zwingend angewiesen, als er zum Ende des 19. Jahrhunderts die soziale Sicherheit zu einer auch staatlichen Angelegenheit erklärte, Kingreen/ Rixen, Sozialrecht: Ein verwaltungsrechtliches Utopia? DÖV 2008, S. 745. Ausgangspunkt des Konzepts vom aktivierenden Sozialstaat, dessen Wurzeln im angelsächsischen Raum liegen, ist die soziale Aktivierung des hilfebedürftigen Sozialleistungsempfängers vom passiven Objekt staatlicher Hilfe zum aktiven Subjekt und Gesellschaftsmitglied. Während das traditionelle Konzept des vorsorgenden Wohlfahrtstaates die finanzielle Versorgung der Hilfebedürftigen im Auge hatte, steht beim aktivierenden Sozialstaat die Beschäftigungsfähigkeit der Erwerbsfähigen im Zentrum, Ziel der staatlichen Unterstützung ist hier die Befähigung zur Selbsthilfe bzw. zum Bestreiten des Lebensunterhalts unabhängig von Sozialleistungen, kurz: der Staat gewährt Hilfe zur Selbsthilfe, so ausdrücklich von Koppenfels-Spies, Kooperation unter Zwang? --Eingliederungsvereinbarungen des SGB II im Lichte des Konzepts des „aktivierenden Sozialstaats” NZS 2011, S. 2.

10 Die Sozialstaatsklausel wird von Lehre und Rechtsprechung als eine „Grundentscheidung des Grundgesetzes“ betrachtet, ohne dass sich doch daraus Grundlagen und vor allem Grenzen des staatlichen Wirkungsbereichs erkennen lassen, Von Unruh, Vorsorge für das Dasein, DÖV 2006, 779. Als öffentliche Macht“ hat der Staat durch „polizeiliche (d. h. administrative) Vorsorge“ die Deckung der Lebensbedürfnisse der Menschen zu bewirken, weil die Gesellschaft wegen des Fehlens der hierzu notwendigen Mittel nicht in der Lage ist, von Unruh, Vorsorge für das Dasein, DÖV 2006, S. 780. Der Würde des Rechts entspricht die Würde des Menschen, dessen „Dasein“ als Maßstab für Inhalt und Umfang der ihm gewidmeten Vorsorge im Zeitalter der Industriegesellschaft zu gelten hat, so von Unruh, Vorsorge für das Dasein, DÖV 2006, S. 780. Grenzen der Daseinsvorsorge - auch insoweit vermittelt Lorenz von Stein den Ansatz zu zeitgemäßer Einsicht. Wie er entschieden für die Notwendigkeit einer daseinsfördernden Verwaltung eintritt, so setzt er doch begrifflich der Daseinsvorsorge des Staates ihre Grenzen. Zur Wahrung der Idee der Freiheit grenzt Stein die leistende administrative Tätigkeit ab von einer „Wohlfahrtspflege“ des aufgeklärten Absolutismus, dem bevormundenden Zwang zum individuellen „Wohlsein“.

11 Sozialstaat, „ Ein Rückbau ist nicht verboten“, FAZ vom 15. Juni 2006. Reinhard Müller und Rudolf Gerhardt im Gespräch mit Prof. Papier, Präsident des BVerfG - Der Sozialstaat steht vor einer großen Bewährungsprobe. Immer öfter muss das BVerfG seine Grenzen festlegen. Der Sozialstaat wird sie bestehen müssen, wenn er langfristig überleben will. Ich – Papier – glaube, dass die Politik auch erkannt hat, vor welch großen Herausforderungen sie hier steht. Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes belässt dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum. So wie sich der Sozialstaat über die Jahrzehnte entwickelt hat, ist er nicht das Ergebnis eines von der Verfassung vorgegebenen Programms, sondern das Ergebnis politischer Gestaltung. Er ist aber auch Ausfluss eines zunehmenden Wohlstands. Der Gesetzgeber kann den Sozialstaat neuen Gegebenheiten anpassen und gegebenenfalls zurückbauen. Er muss dabei die Grundrechte und rechtsstaatlichen Prinzipien beachten. Es gibt aber kein allgemeines verfassungsrechtliches Verbot des Rückbaus. Das Sozialstaatsprinzip hat auch eine freiheitliche Dimension. Die Grundlagen unserer Verfassung basieren auf dem Prinzip der Eigenverantwortung. Es ist durchaus möglich, das Verhältnis von Solidarität auf der einen und von Eigenverantwortung und Subsidiarität auf der anderen Seite neu zu justieren um den Sozialstaat langfristig lebensfähig zu halten. Eine angemessene Lastenverteilung zwischen den Generationen ist eine der Voraussetzungen, um den Sozialstaat auf Dauer zu erhalten. Der Sozialstaat ist Teil unserer nationalen Identität und auch für den sozialen Zusammenhalt und die innere Einheit Deutschlands von großer Bedeutung. Um seine Funktionsfähigkeit auf Dauer zu erhalten, muss die Politik dafür sorgen, dass der Sozialstaat sich nicht übernimmt - gerade auch zum Schutz künftiger Generationen

12 Karl, Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaates – Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht – Eigenheiten und Zukunft von Sozialpolitik und Sozialrecht, NZS 2014, 657 - Nachdenken, Innehalten, genau das ist es auch, was die Denkschrift bewirken möchte. Ihr Ziel ist es – wie auch Franz-Xaver Kaufmann in seiner umfassenden Zusammenschau und Ausblick hervorhebt -, einen Anstoß zum Nachdenken über das Verhältnis von Sozialpolitik, Sozialstaat und Sozialrecht zu geben. Das Sozialrecht ist immer wieder Schwierigkeiten in Anbetracht der für die Rechtsfindung erforderlichen Einbeziehung vorhandenen, sich – mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen sich stetig wandelnden Wissens ausgesetzt, etwa im Bereich des evidenzbasierten Wissens der medizinisch-gesundheitlichen Versorgung oder mit neuen Erkenntnissen zur demografischen Altersstruktur. Der wirtschaftliche Wandel beeinflusst die Lage am Arbeitsmarkt und entlässt u. U. Beschäftigte unverhofft in die Arbeitslosigkeit. Die Erinnerungen an die Finanzmarktkrise sind noch nicht verblasst. In bleibender, nachdenklicher Erinnerung bleiben den politisch Verantwortlichen hoffentlich auch die prekären Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor, die zur Einführung gesetzlicher Mindestlöhne geführt haben, vgl. Schwab, Normalarbeitsverhältnis oder Prekariat, der Mindestlohn als sozialer Faktor oder Sargnagel der Tarifautonomie, 2014. Visionen zeitgenössischer Sozialreformen - Offiziöse und effektive Reformziele, Eichenhofer, Sozialreformen zwischen Vision und Wirklichkeit, NZS 2007, 57 - Für den Liberalen ist der Sozialstaat - wie der Staat generell - zwar notwendig ergänzt von mir - sichert er doch die individuellen Freiheitsräume ab, aber prinzipiell ein Übel. Er hat sich deshalb auf die „wirklich Bedürftigen” zu konzentrieren, denen er das zum Leben Notwendige schuldet. Darüber hinaus möge sich der Hilfsbedürftige auf die solidarisierende Wirkung sofern praktizierte Solidarität nicht dem Wertewandel „geopfert“ wurde sich verlassen, welche einer liberalen Gesellschaft aus einer staatlich möglichst unbeschränkten Individualfreiheit erwächst, so Eichenhofer, Sozialreformen zwischen Vision und Wirklichkeit, NZS 2007, 59. Sozialpolitische Reformen ähneln wissenschaftlichen Großversuchen. Die Herausforderungen, vor denen der pflichtbewusste ob aktivierende oder vorsorgend – humane Sozialstaat steht, sin groß; sie sind hoffentlich durch politisches Handeln beherrschbar.

13 Es ist das harmlos anmutende Wort „bedingungslos“, das letztlich den zentralen Bezugspunkt des gesamten Konflikts um das – dann eben – Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) markiert. Zwar sind selbstverständlich auch Finanzierungsfragen (nach dem Motto: wer soll das bezahlen?) beliebter Gegenstand heftiger Auseinandersetzung; aber dass das Finanzvolumen einer Grundeinkommensreform absehbar so groß geraten würde, liegt ja im Kern an nichts anderem als an der intendierten Bedingungslosigkeit der Leistung. Auch ist die Höhe des individuellen Grundeinkommensanspruchs immer wieder ein wichtiger Streitpunkt – wobei der Stellenwert des „Bedingungslosigkeits“-Kriteriums mit der Höhe des Grundeinkommenssatzes steigt und fällt, denn für Bedarfe oberhalb dieses Betrags besteht ja logischerweise doch wieder Abhängigkeit des Empfängers von privaten Unterhaltsleistungen, anderen Einkommensquellen bzw. Vermögensbeständen oder aber eben letztlich von eigener Erwerbstätigkeit. Schließlich wird das „Bedingungslose“ des Grundeinkommens teilweise auch wieder eingeschränkt, jedenfalls mit Bezug auf die dem Konzept zufolge eigentlich abzulehnende Einkommensprüfung – die nämlich gegebenenfalls ex post („durch die Hintertüre“ gewissermaßen) wieder Einzug halten kann, denn „natürlich wird das Grundeinkommen mit dem Steuer- und Beitragssystem abgestimmt“. Aber wie dem auch immer sei: Der Hauptstein des Anstoßes in der Debatte um das Grundeinkommen ist die Bedingungslosigkeit seines Bezugs. Und in diesem Kontext ist es wiederum vor allem anderen die von Seiten der Grundeinkommensbefürworter zur Schau gestellte Ablehnung des klassisch erwerbsgesellschaftlichen Vorbehalts sozialstaatlichen Leistungsbezugs, die im Zentrum des Konflikts steht: der Bruch mit der (mittelbaren oder unmittelbaren) Abhängigkeit des Anspruchs auf Sozial(transfer)leistungen von der individuellen Arbeitsleistung und Arbeitsbereitschaft des Begünstigten. Dieser ideen- und funktionslogische Gegensatz zum Prinzip der Arbeitnehmersozialversicherung stellt die Grundlogik des deutschen Sozialstaatsmodells gewissermaßen auf den Kopf – und erweist sich eben des- wegen als das eigentliche Skandalon der Grundeinkommensdebatte. Unter Grundeinkommensbefürwortern hat es sich eingebürgert, diese Idee einer Abkehr vom Erwerbsvorbehalt sozialer Sicherung unter der Formel der „Entkoppelung von Arbeit und Ein- kommen“ zu verhandeln. Dass diese Formulierung zumindest missverständlich ist, sei der weiteren (hier gewissermaßen stellvertretend für die beiden Konfliktparteien zu führenden) Diskussion kurz vorausgeschickt. Einerseits nämlich könnte man eben diese Entkoppelungsleistung als bereits durch die bestehenden sozialen Sicherungssysteme erbracht ansehen – denn was macht der real existierende Sozialstaat anderes, als jedenfalls bestimmten Personen in bestimmten Lagen unter bestimmten Bedingungen „arbeitsloses Einkommen“ zu zahlen? So gesehen, gäbe es bereits zahllose institutionelle Anknüpfungspunkte für die Realisierung der Grundeinkommensidee, und die Essenz einer Politik des Grundeinkommensläge schlicht und einfach – nicht mehr und nicht weniger – in der Universalisierung dieser gängigen sozialstaatlichen Praxis.

14 Bevor man überhaupt an Reformen denkt, muss man konkrete Perspektiven entwickeln, was für ein Gesamtziel und was für ein Gesamtideal man verwirklichen will. Nur so kann man die widersprüchliche Stückwerkreformerei verhindern, die in Deutschland zur Regel geworden ist. Das Gewirr der steuerlich finanzierten Sozialleistungen - Kindergeld, Wohngeld, Arbeitslosenhilfe - ist undurchdringlich. Es sichert dem Raffinierten Vorteile und lässt die wirklich Bedürftigen im Stich. Warum die vielen Leistungen und (verschwenderischen!) Bürokratien zu einer zusammenfassen? "Bürgergeld" heißt die Lösung. Nur das Finanzamt bliebe, das bei der Gesamtkalkulation der Steuerpflicht einen einfachen Transferanspruch (in Form einer Negativsteuer) für Menschen mit keinem oder niedrigem Einkommen errechnet. Bildung braucht Wahlfreiheit. Der Bürger weiß was am besten, was richtig ist, was benötigt wird - ist mehr Autonomie der Bildungseinrichtungen, mehr Privatinitiative, Otto Graf Lambsdorff, Mein Wendepapier 2004, Cicero 9/2004, S. 60, 62.

15 Bedingungsloses Grundeinkommen für jeden - eine alte Idee findet auch in Deutschland wieder Anhänger. Was ist davon zu halten? Es ist eine Idee, an der sich die Geister scheiden: Das bedingungslose Grundeinkommen führt zu einer gerechteren und freieren Gesellschaft, sagen die einen. Es macht faul, sagen die anderen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde den deutschen Sozialstaat komplett verändern. Die Idee ist, dass jeder Bürger vom Staat ein Einkommen gezahlt bekommt, mit dem er mindestens seine Existenz bestreiten kann. Und zwar unabhängig davon, ob er eine bezahlte Arbeit oder Vermögen hat, ob er arbeitslos ist oder Chef eines Dax-Konzerns. Bedingungslos heißt dieses Einkommen, weil keine Gegenleistung erwartet wird. Niemand soll gezwungen werden können, eine Arbeit anzunehmen. Die Befürworter eines Grundeinkommens gehören ganz unterschiedlichen Lagern an. Die Allianz der Unterstützer reicht vom Gründer der Drogeriemarktkette DM, Werner, bis zum Sozialwissenschaftler Opielka, von der Chefin der Linkspartei Kipping bis zum ehemaligen CDU Ministerpräsidenten Althaus. Die Grundidee lieferte Thomas Morus in seinem Roman Utopia im Jahr 1516 - er stellte die Forderung nach einem Lebensunterhalt für alle auf. In der jüngeren Vergangenheit erfährt diese Idee auch in Deutschland wieder erheblichen Zuspruch - allerdings nicht nur als Mittel zur Bekämpfung von Armut. Der Sozialstaat, der sich in erster Linie nach dem lebenslangen Normalarbeitsverhältnis und traditionellen Familienformen richtet, passte immer weniger zur Realität. Von stärkerer Wertschätzung der Arbeit nicht nur als klassische Erwerbsarbeit, sondern auch die Familien- und Erziehungs- bzw. Sorgearbeit könnten Wertschätzung erfahren. Otto Graf Lambsdorff wollte die üblichen staatlichen Transferzahlungen ersetzen und Bürokratie Kosten einsparen. Eubel, Grundeinkommen - Staatlicher Goldregen, Tagesspiegel vom 22. Juli 2013

16 1712 - 1778, französisch-schweizerischer Moralphilosoph, Dichter und Musiker

17 "Das Recht und die Rechtsordnung bedürfen eines ethisch-sittlichen Mindestgehalts, weil andernfalls die überwiegend freiwillige Befolgung der Rechtsgebote nicht mehr erwartet oder vorausgesetzt werden kann. Maßgebend für diesen Mindestgehalt ist allerdings nicht ein objektives normatives Sittengesetz, sondern das präsente ethisch-sittliche Bewusstsein bei den Menschen und in der Gesellschaft.“ Ernst-Wolfgang Böckenförde

18 Vgl. Schwab, Die Begründungspflicht nach § 39 VwVfG, Diss. 1990; Kischel, Die Begründung, 2003; ders. Die Rationalität und Begründung, in Leitgedanken des Rechts, Festschrift für Paul Kirchhof, 2013, § 34.

19 Das Recht gewinnt diese aus der verbindlichen Vorgabe des Gesetzgebers oder aus der gewachsenen Rechtsüberzeugung der Gemeinschaft. Die Ethik aber entwickelt ihre Vorstellungen aus selbstgesetzten Oberprinzipien, seien sie formeller Art wie die Forderungen der reinen praktischen Vernunft, seien sie materieller Art wie die Hypostasierung der Gemeinverträglichkeit oder der personalen Verantwortlichkeit. Rechtsnormen finden ihre Maßgaben in den konkreten Befindlichkeiten und Entscheidungen der Gemeinschaft, ethische Normen in abstrakten sittlichen Erwägungen und singulär gedanklichen Herleitungen, Schmidt-Jortzig, Die DNA-Analyse: Ethische Perspektiven aus Sicht des Verfassungsrechts, DÖV 2005, S. 733

20 Rationalität ist das universelle Heilsversprechen der Moderne, Greszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2011), S. 41. Der seit der Aufklärung geforderte Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten? Unmündigkeit gelingt nur durch und über die Vernunft. Allein vernünftiges Verhalten kann für sich in Anspruch nehmen, richtig und gut zu sein. Diese Forderung gilt auch für das Recht. Nur wenn und soweit dessen Vorgaben vernünftig sind, kann das Recht seinen inhärenten Anspruch auf Verbindlichkeit einlösen. Und da das für alle verbindliche Recht vom Staat gesetzt und vollzogen wird, gilt das Rationalitätsgebot auch für den Staat. Der Staat wird zu einer begründungs- und rechtfertigungsbedürftigen Einrichtung, die vernünftig sein muss, um dem Anspruch auf verbindliche Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens genügen zu können. Der Anspruch der Verfassung, rationale Grundordnung des Staates sein, muss differenziert eingelöst werden, indem Menschen als selbstbestimmt gedachte Individuen als Ausprägung und Endpunkt der Legitimation von Staat und Recht durch zwei Legitimationsmodi zu entsprechen: Demokratie und Rechtstaat. Der Rechtsstaat zielt mit den Grundrechten auf die Selbstbestimmung und die Freiheitssicherung; die Demokratie versteht sich als kollektive Selbstbestimmung der tragenden Staatsstrukturentscheidungen und der Fragen des menschlichen Zusammenlebens in der Gemeinschaft. Die Erfüllung der von Erwartungen geprägten Vorstellungen: der Staat ist eine rationale Einrichtung die rational vernunftgeprägt handelt, wird von vielen Stimmen der Rechtsstaatlichkeit zugeschrieben, Greszick, a.a.O. S. 51. Rationalität wird als Hauptversprechen moderner Staatlichkeit gesehen. Rechtsstaatlichkeit ist geprägt von Grundrechten, Regeln und Kompetenzen und das Verfahren der Gesetzgebung sowie die Rechtstaatlichkeit konkretisierende Einzelkonzepte, vgl. Schwab, Das Grundgesetz als normative Identität der Deutschen, 2014. Ein wesentliches Element der Rechtstaatlichkeit sind der Vorrang, der Vorbehalt des Gesetzes, der Vertrauensschutz und die Stetigkeit und Kontinuität des Gesetzes sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Rechtsprinzip der Kontinuität als objektives Prinzip des Rechts knüpft an den Fortbestand sachlich - inhaltlicher Strukturen, die Stetigkeit von Verläufen, das Fehlen bedeutsamer Unterbrechungen die Beharrung gerade im Wandel, jeweils für eine bestimmte überschaubare Zeitspanne mit dem Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft wertend an. Zur Feststellung der rechtlichen Kontinuität dann das Spektrum aufeinanderfolgender Entscheidungen herangezogen werden, das von den Endpunkten einer angenommenen Ausgangslage über die Gegenwartsituation bis zu einer gänzlich neuen Lage und Entscheidungssituation erstreckt. Die stetige Abfolge der Rechtslagen auf einer Zeitachse und die Beurteilung der Dauer der Abfolge geben objektiv dann Anlass, zu werten, ob eine kontinuierliche Abfolge zu bejahen ist, oder ob Zeitunterbrechungslücken eine Diskontinuität objektiv machen. Die Zeitbemessung darf nicht zu kurz gefasst sein, vgl. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2001, S. 188. Die emotionale und mediale Politik der postmodernen Gesellschaft - Emotionen spielen aber nicht nur beim „Verkaufen“ von Politik eine Rolle, sondern auch im politischen Prozess selbst, vgl. Piepenbrink, Emotionen und Politik, APuZ 32-33/2013, Editorial. Politische Entscheidungen wirken sich auch emotional, aus und bestimmen das „Lebensgefühl“ zahlreicher Menschen mit; gerade dann, wenn es um Frage der Gerechtigkeit und der solidarischen Sicherungssysteme und des sozialstaatlichen Ausgleichs („Ausfallbürgschaft in Notlagen) geht. Ein Gefühl ist in einer demokratisch verfassten Gesellschaft geradezu von systemrelevanter Wichtigkeit: Vertrauen. Ohne das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger darauf, dass ihre Grundrechte geschützt werden, dass Demokratie und Rechtsstaat funktionieren, fehlt dem Staat seine wichtigste legitimatorische Grundlage. Als subjektive Einstellung zur Umwelt bringt Vertrauen das Gefühl der Sicherheit. Vertrauen ist eine positive lebensbejahende Einstellung. Im menschlichen Zusammenleben setzt Vertrauen eine Beziehung zu einem Gegenüber voraus. Vertrauen ist Glaube an Kontinuität. Vertrauen lebt aus dem Vergangenen, ist aber in die Zukunft gerichtet. Vertrauen und Kontinuität sind Begriffe, die den Wert und die Identität der mitmenschlichen Beziehungen prägen. Vertrauen ist ein dynamischer Prozess, der sich in verschiedenen Phasen der Entwicklung der sozialen Beziehungen vollzieht. Vertrauen in das Recht wird objektiviert im Sinne von Berechenbarkeit und Stetigkeit, gesicherter Position, von Kontinuität i. S. von Bewahrung des Bestehenden und Fortentwicklung des Erreichten. Im freiheitlichen Verfassungsstaat geht es um die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns als notwendige Voraussetzung menschlicher Planung. Rechtsstaatliche Ordnung heißt Gewährleistung von Grundrechten und Schutz vor Willkür. Recht muss offen auf gewandelte gesellschaftliche Verhältnisse reagieren und neue Regelungskonzepte entwerfen. Verlässlichkeit und Wandlungsfähigkeit sind im Begriff der Gerechtigkeit angelegt. Gerechtigkeit ist ohne ständiges Bemühen um die Verwirklichung einer Ordnung, die sich am gemeinsamen Wohl aller orientiert, nicht denkbar. Gerechtigkeit enthält das Element notwendige Veränderung und Anpassung an den gewandelten tatsächlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen. Anpassung heißt behutsame evolutive Fortentwicklung, nicht hektische Reformen, Birk, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, DStJG 27 (2004), S. 12. Der fordernde Staat ermöglicht Vertrauen nur dadurch, dass er sich Selbstbeschränkungen auferlegt und sein Handeln berechenbar gestaltet. Rechtsstaatliches Handeln respektiert im Vertrauen getroffene Entscheidungen des Bürgers und entwertet diese nicht rückwirkend durch Veränderungen der Rechtslage. Der Staat sollte folglich auf die Beständigkeit seiner Entscheidungen achten. Kontinuitätsgebot und Vertrauensschutz sind Schranken gegen Gesetzesaktionismus. Vertrauensschutz der Bürger und die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers stehen im Spannungsfeld zwischen Individual- und Gemeinwohlinteresse. Vertrauen kann der Bürger nur dann schutzwürdig auf den gesetzlichen Regelungsinhalt als Ausfluss der Gesetzesbindung begründen, wenn die Gesetze klar, bestimmt genug, verständlich und widerspruchsfrei sind, sodass die behördliche Entscheidung voraussehbar und berechenbar ist. Rechtssicherheit bedeutet Vertrauensschutz für die Vergangenheit und zumindest Voraussehbarkeit für die Zukunft.

21 Man kann gesellschaftliche Abläufe nur effektiv steuern, wenn man die Rationalität des Steuerungsobjekts berücksichtigt. Insoweit lassen sich der Verfassung bereits Anhaltspunkte entnehmen, vor allem dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Wenn die Regelung stärker eingreift als zur Zweckerreichung nötig, kommt man mit der Erforderlichkeitsprüfung hin, Grimm, VVDStRL 71 (2011), S. 85.

22 Im Begriff des Rechtssatzes ist eine wichtige Aussage, nämlich die der Normativität subjektiv-öffentlicher Rechte enthalten. Das Kriterium der Rechtsmacht wiederum verklammerte (vermeintlich) die prozessuale Problematik der gerichtlichen Durchsetzbarkeit mit dem subjektiv-öffentlichen Recht. Der Begriff Interesse entwickelte sich aus der römisch-rechtlichen Formel des „id quod interest“, einer Differenz zwischen positivem Schaden und entgangenem Gewinn. Interesse als Begriff ist komplex. Es richtet die Aufmerksamkeit auf bestimmte Objekte, ist handlungsanleitend und hat etwas mit Nutzen und Vorteil zu tun. Interesse ist relational, indem es eine Verbindung zwischen Subjekt und Objekt herstellt. Zugleich enthält es ein Moment der Abgrenzung: Das Eigen- oder Sonderinteresse definiert sich in der Gegnerschaft zum Interesse des anderen. Interesse zeichnet sich aber vor allem in zweifacher Weise durch eine „duale Struktur“ aus: Es ist zum einen sowohl individuelle Lebensäußerung und -orientierung als auch gesellschaftlich vermittelt, so Reiling, Interesse als Rechtsbegriff? DÖV 2004, S. 181.

23 Köcher, "Im Namen des Volkes", FAZ vom 20. August 2014, S. 8

24 Gesetze müssen vernünftig sein; ein Gesetz das unvernünftig ist, kann nicht auf Akzeptanz hoffen. Das Leitbild der Rationalität der Gesetze - der Glaube an die von Verfassungs- wegen gesollte Herrschaft der Vernunft - steht in einem notwendigen Spannungsverhältnis zur Irrationalität des Menschen. Der Verfassungsstaat folgt der Einsicht, dass der Mensch kein reines Vernunftwesen ist - aus krummen Holz geschnitzt - er bemüht sich die Ausübung von Staatsgewalt in Rationalitätsgebote einzubinden und in Organisations- und Verfahrensregeln, in Ziele und Grenzen staatlichen Handelns, in Transparenz-, Publikations- und Begründungspflichten, nicht zuletzt in dem Rechtfertigungszwang von Grundrechtseingriffen. Der Verfassungsstaat verschafft auch der Irrationalität des Menschen Raum: den politischen Leidenschaften, den Windungen des Gemüts, der "German Angst". Raum bieten die Freiheitsrechte, die dem irrationalen Gebrauch offen stehen, Isensee, VVDStRL 71 (2011), S. 96. Der Wähler entscheidet nach legitimer Willkür unter dem Schutz des Wahlgeheimnisse

25 Gerechtigkeit ist ohne ständiges Bemühen um die Verwirklichung einer Ordnung, die sich am gemeinsamen Wohl aller orientiert, nicht denkbar. Gerechtigkeit enthält das Element notwendiger Veränderung und Anpassung an die gewandelten tatsächlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen. Anpassung heißt behutsame evolutive Fortentwicklung, nicht hektische Reformen, vgl. Birk, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, DStJGB 27, 12. Der fordernde Staat ermöglicht Vertrauen nur dadurch, dass er sich Selbstbeschränkungen auferlegt und sein Handeln berechenbar gestaltet. Rechtsstaatliches Handeln respektiert im berechtigten Vertrauen getroffene Entscheidungen des Bürgers und entwertet diese nicht Rückwirkung durch Veränderung der Rechtslage. Der Staat sollte folglich auf die Beständigkeit seiner Entscheidungen achten. Kontinuitätsgebot, Stetigkeit und Vertrauensschutz sind Schranken gegen Gesetzesaktionismus. Vertrauensschutz der Bürger und die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers stehen im Spannungsfeld zwischen Individualinteresse und Gemeinwohlbelangen. Vertrauen kann der Bürger nur dann schutzwürdig auf den gesetzlichen Regelungsinhalt als Ausfluss der Gesetzesbindung begründen, wenn die gesetzlichen Regelungen klar, bestimmt genug, verständlich und widerspruchsfrei sind, so dass die Entscheidungen der Verwaltung voraussehbar und berechenbar sind.

26 Hartmann, Der Staat - Von den Menschen, für die Menschen, Berliner Republik 4/2006

27 Kahl, Vertrauen, § 27 in Leitgedanken des Rechts, , Festschrift für Paul Kirchhof, 2013, RN 1.

28 Ausprägungen des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips sind die Anforderungen der Voraussehbarkeit, Rechtssicherheit, materiellen Richtigkeit und Gerechtigkeit staatlichen Handelns. Ausfluss des Grundsatzes der Rechtssicherheit wiederum ist insbesondere der Grundsatz des Vertrauensschutzes. Das Vertrauen des Bürgers in die Kontinuität von Recht im Sinne einer individuellen Erwartungssicherheit genießt somit Verfassungsrang. Der Bürger muss darauf vertrauen können, dass sein dem geltenden Recht entsprechendes Handeln von der Rechtsordnung mit allen ursprünglich damit verbundenen Rechtsfolgen anerkannt bleibt, Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung den Wegfall des schutzwürdigen Vertrauens in den Bestand der bisherigen Rechtsfolgenlage in der Regel auf den Zeitpunkt des endgültigen Gesetzesbeschlusses über die normative Neuregelung festgelegt, vgl. etwa BVerfGE 30, 272, 287. Zugleich hat das Gericht aber stets hervorgehoben, dass das Bekanntwerden von Gesetzesinitiativen und die öffentliche Berichterstattung über die Vorbereitung einer Neuregelung durch die gesetzgebenden Körperschaften die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in die bisherige Rechtslage noch nicht entfallen lassen, BVerfG, Beschluss vom 14-05-1986 - 2 BvL 2/83, NJW 1987, 1749. Durch die Rechtsprechung wird Gesetz nicht geschaffen, sondern lediglich angewandt. Das spricht vordergründig dafür, dass jedenfalls eine unmittelbare Anwendung der Grundsätze über Vertrauensschutz und Rückwirkung auf Rechtsprechungsänderungen nicht erfolgen kann, Lambrich/Göhler, Vertrauensschutz bei Rechtsprechungsänderungen im Arbeits- und Sozialrecht - Königsweg zur Abwehr von Equal-Pay-Klagen und Nachzahlungsbescheiden der DRV? RdA 2014, 299. Rechtsprechungsänderungen sind grundsätzlich dann unbedenklich, wenn sie hinreichend begründet sind und sich im Rahmen einer „vorhersehbaren Entwicklung” halten. Nach Ansicht des BVerfG gibt es somit keinen generellen Vertrauensschutz in den Fortbestand einer gleichbleibenden Rechtsprechung. Jedoch ist nicht zu verkennen, dass der Rechtsprechung, namentlich der Obergerichte, das Gesetzesrecht konkretisierende, mitunter substituierende und damit gesetzesgleiche Wirkung zukommt. Der Bürger – so das BAG – dürfe grundsätzlich auf den Fortbestand der durch höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisierten Rechtslage und darauf vertrauen, dass an abgeschlossene Tatbestände keine ungünstigeren Voraussetzungen gestellt würden. Eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung dürfe deshalb nicht dazu führen, „einer Partei Handlungspflichten aufzuerlegen, die sie nachträglich nicht mehr erfüllen kann, BAG: AP KSchG 1969 1 Namensliste Nr. 12 - Danach sind die Gerichte als Teil der Staatsgewalt an das Rechtsstaatsprinzip gebunden und müssen bei Änderung ihrer Rechtsprechung, nicht anders als der Gesetzgeber bei Gesetzesänderungen, den Grundsatz des Vertrauensschutzes beachten, BVerfG 14. 1. 1987 - 1 BvR 1052/79 - BVerfGE 74, 129, 153; BGH 18. 1. 1996 - BGH IX ZR 69/95 - BGHZ 132, BGHZ Band 132 Seite 6, BGHZ Band 132 11; Löwisch FS Die Arbeitsgerichtsbarkeit 1994 S. 601, 610; Buchner Gedächtnisschrift R. Dietz 1973 S. 175,. Vertrauensschutz bedeutet u. a. Schutz vor Rückwirkung. Zwar erzeugen höchstrichterliche Entscheidungen keine dem Gesetzesrecht vergleichbaren Rechtsbindungen. Sie stellen lediglich die Rechtslage in einem konkreten Fall fest. Gleichwohl kann und darf ein Bürger auf die durch die höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisierte Rechtslage und deren Bestand vertrauen. Er wird nicht unterscheiden müssen - und auch nicht können -, ob sich die Rechtslage direkt aus der Norm erschließt oder sich aus den Konkretisierungen der Rechtsprechung ergibt. Dennoch soll sich der Betroffene darauf verlassen dürfen, dass an einen abgeschlossenen Tatbestand nachträglich keine anderen - ungünstigeren -Voraussetzungen gestellt werden, als sie im Zeitpunkt der Vollendung des Sachverhalts gefordert wurden. Der Bürger darf erwarten und sich darauf verlassen, dass sein zum Zeitpunkt der Handhabung rechtlich gefordertes Verhalten von der Rechtsprechung nicht nachträglich als rechtswidrig oder nicht ausreichend qualifiziert wird, BVerfG 22. 3. 1983 - 2 BvR 475/78 - BVerfGE 63, 343, 357. Anders als in den Fällen, in denen es um die - bloße - rechtliche Beurteilung der Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts geht, liefe es in den Fällen, in denen ein Gestaltungsrecht bereits ausgeübt worden ist, auf eine unzulässige, im Ergebnis echte Rückwirkung hinaus, wenn eine Rechtsprechungsänderung voll durchschlüge. Deshalb darf nach der ständigen Rechtsprechung des BAG eine Rechtsprechungsänderung regelmäßig nicht dazu führen, einer Partei rückwirkend Handlungspflichten aufzuerlegen, die sie nachträglich nicht mehr erfüllen kann, BAG, AP BetrVG 1972 Nr. 31; 18. 1. 2001 – BAG- 2 AZR 616/99 - AP LPVG Niedersachsen § 28 Nr. 1 = EzA BGB § 620 Krankheit Nr. 4; vgl. auch BAG, Urteil vom 21. 1. 1999 - 2 AZR 624/98 - = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 39; Düwell Das reformierte Arbeitsrecht (2005) Kapitel 4 Abschnitt 4 RN 17.

29 Kischel, Rationalität und Begründung, in Leitgedanken des Rechts, Festschrift für Paul Kirchhof, 2013, § 34, RN 17.

30 Recht unter der Voraussetzung der Unbegründbarkeit?, Festschrift für G. Ress zum 70. Geburtstag, 2005, 14449, 1459,

31 Das BVerfG ist ein wichtiger und stabiler politischer Faktor im Regierungssystem der Bundesrepublik geworden. Das BVerfG hat verantwortlich die grundgesetzliche Ordnung wesentlich mitgeprägt und fortentwickelt – von den frühen Entscheidungen zur Bedeutung der Meinungsfreiheit in der Demokratie über die Rolle von Parteien und Medien bis zum Schutz der Privatsphäre (Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht auf Vertraulichkeit und Integrität; bemerkenswert sind auch die Entscheidungen zum Großen Lauschangriff, vgl. Schwab, Verfassungsbeschwerden gegen akustische Wohnraumüberwachung – (so genannter Großer Lauschangriff), Mannheimer Schriften zur Verwaltungs- und Versorgungswirtschaft, Band 25; ders. Vorratsdatenspeicherung - Das BVerfG schützt die Freiheit der Bürger, 2010 und die Entwicklung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimums, das Gegenstand dieser Arbeit ist. Das BVerfG gestaltet zwar nur indirekt, aber doch nachhaltig ganze Politikbereiche wie Steuerpolitik, Familienpolitik, Sozialpolitik, Rentenpolitik oder Hochschulpolitik mit. Das BVerfG ist von seiner Aufgabe und Funktion der autoritative Interpret der Verfassung und stellt deshalb mit seinen Entscheidungen immer auch den Anspruch auf die Hoheit über die verbindliche Deutung, so Vorländer, Regiert Karlsruhe mit? Das Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik, APuZ 35–36/2011, S. 18. Wenn das Deutungsangebot der Verfassungsrichter in einem konkreten Fall Zustimmung von den politischen Institutionen und der breiten Öffentlichkeit erhält, dann kann/muss von der Akzeptanz einer Entscheidung gesprochen werden. Über eine Kontinuität an zustimmungsfähigen Entscheidungen kann sich so ein generalisiertes Vertrauen in die Institution aufbauen, vgl. Köcher, gestern!!!!! Das hohe Institutionenvertrauen ist die entscheidende, den Mangel an Zwangsgewalt kompensierende Machtressource des BVerfG. Das BVerfG schafft Vertrauen durch Verlässlichkeit, Weitblick und Problembewusstsein, vgl. Kranenpohl, Hinter verschlossenen Türen: Beratungsgeheimnis des Bundesverfassungsgerichts, APuZ 35–36/2011, S. 23. Die Methodenvielfalt der klassischen Auslegungsmethoden erlaubt es dem BVerfG, situationsspezifisch bei konkreten Rechtsfällen zu reagieren und auch Überlegungen zu den Entscheidungsfolgen in den Beratungen und den Judikaten zu berücksichtigen: „Was das Gericht zu Methodenfragen äußert, ist nicht konsistent. Das Gericht ist in Wahrheit auf das ihm richtig erscheinende Ergebnis aus. Auf dem Wege hierzu beachtet das Gericht exegetische Grundregeln oder andere Prinzipien der Verfassungsinterpretation als Warnlampen, aber nicht als Gewähr für das richtige Ergebnis; sie sind Bojen, nicht Lotsen.“ Mahrenholz, Probleme der Verfassungsauslegung, in: Hans-Peter Schneider/Rudolf Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst, Heidelberg 1999, S. 53. Entscheidungen müssen im Ergebnis rational sein, mag auch der Weg beschwerlich zurückzulegen sein, das Ergebnis muss überzeugen. Welchen Beitrag leistet das BVerfG, die Gebote und die Identität der Verfassung unter stark gewandelten Bedingungen wirksam zu halten, wo ist es zu ängstlich, wo ist es zu weit gegangen? Mit einem realistischen Blick auf neue Grenzen, neue Möglichkeiten und andere Handlungsbedingungen können Legitimationsquellen auch wieder stärker sprudeln, und zwar für alle, die politische und rechtliche Verantwortung tragen, di Fabio, Vom Recht, Recht zu sprechen: Die Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, Essay, S. 7. Mit dem Grundgesetz besteht ein Rationalitätsspeicher, ein Logbuch der Vernunft, das in der juristischen Welt und sogar jenseits der juristischen Fachwelt einer vernunftorientierten Betrachtung Urteile des BVerfG als Produkte der Vernunft öffnet und nachvollziehbar macht. Rationales Handeln ist ein Katalysator für Akzeptanz und Befriedung.

32 Kischel, a.a.O. RN 22

33 Der Sozial- und Bildungsstaat wurde zu einem Fundament unseres Lebens. Jede Sozialstaats- und Bildungsleistung verändert wirtschaftliches Verhalten in der Gesellschaft. Der Sozial- und Bildungsstaat ist eingebettet in die Zivilgesellschaft, Pfeiffer, in Pfeiffer (Hg.), Eine neosoziale Zukunft, 2010, Einleitung, S. 13.

34 vgl. ähnlich Nass, Der humangerechte Sozialstaat - Symbiose aus ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit, 2006, S. 8.

35 Nass, Der humangerechte Sozialstaat - Symbiose aus ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit, 2006, S. 14

36 vgl. Nass. Der humangerechte Sozialstaat - Symbiose aus ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit, 2006, S. 15,

37 Isensee, in Papier/Merten, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, 2011, IV, § 87 RN 54,

38 Isensee, a.a.O. RN 72.

39 Isensee, a.a.O. RN 95

40 vgl. Nass, Der humangerechte Sozialstaat - Symbiose aus ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit, 2006, S. 17.

41 vgl. Nass, Der humangerechte Sozialstaat - Symbiose aus ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit, 2006, S. 19.

42 Wo die Sachlichkeit von Entscheidungen, die Rationalität von Strategien, die mit Statistiken belegte Objektivität von Einschätzungen gefordert werden, scheinen Emotionen nur zu stören. Empörung wird als demokratische Bürgertugend beschrieben. Westliche Demokratien sind in der Bearbeitung von Emotionen in der Politik und in der Sphäre des Politischen durch zwei sich widersprechende Paradigmen geprägt, den Liberalismus und den Republikanismus. Der bislang dominante, tendenziell emotionsaverse Liberalismus erweist sich dabei heute als ergänzungs- und korrekturbedürftig durch den prinzipiell emotionsaffineren Republikanismus, vgl. Schaal/Heidenreich, Politik der Gefühle - Zur Rolle von Emotionen in der Demokratie, APuZ 32-33/2013, S. 3. Die Tendenz zur Rationalisierung des politischen Willensbildungsprozesses und die Abtrennung einer privaten Sphäre der Gefühle stellen aus liberaler Sicht den besten Schutz gegen die Gefahr eines die Emotionen instrumentalisierenden Populismus einerseits oder einer totalitären „Volksbeglückung“ andererseits dar. Was meint Rationalität: Die Assoziationen sind geläufig: Begründbarkeit, Realitätsgerechtigkeit, Wissensverarbeitung, Zweckadäquanz von Handlungsmitteln; distanzschaffende Allgemeinheit und Regelhaftigkeit, Verallgemeinerungsfähigkeit, Stetigkeit, Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit. Die Zusammensetzung zeichnet eine Ziel-Pluralität auf. Es gibt aber keine eindimensionale Rechtsstaatlichkeit, also auch keine rechtsstaatliche Rationalität im Singular, so Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Gesetzgebung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl 2011, 1053f. Das kalkulierend-egoistische Vorgehen des Einzelnen trägt nach liberaler Vorstellung auch zum Gemeinwohl bei, weil das Eigeninteresse genügt, um kooperatives Verhalten zu begründen. Politik dient nach republikanischem Verständnis gerade nicht dazu, bereits definierte private Interessen nur auszugleichen, sondern in einem offenen Prozess das gemeinsame Interesse aller BürgerInnen zu definieren. Rechtsnormen sollen nicht nur erfüllt, sondern als Ausdruck von Werten nachdrücklich bestätigt und gelebt werden, d. h. mit menschlichem Sinn und Geist erfüllt werden. Moderne Gesellschaften sind Wissensgesellschaften aber auch Risikogesellschaften – doch mit der Zunahme an Wissen steigt auch das Maß an Unwissen - und die Ungewissheit der Verwirklichung von technologischen Risiken - und an politisch wie gesellschaftlich zu verarbeitender Unsicherheit. Vertrauen ist unerlässlich, um trotz dieser (existenziellen) Unsicherheiten individuell wie kollektiv handlungsfähig zu bleiben. Vertrauensmanagement als Teil eines politischen Emotionsmanagements gewinnt vor diesem Hintergrund grundlegende Bedeutung; es ist nicht nur symbolische Politik, es ist pragmatisch-lebendige Politik für die Menschen und die Zukunft des Gemeinwesens, vgl. auch Schaal/Heidenreich, Politik der Gefühle - Zur Rolle von Emotionen in der Demokratie, APuZ 32-33/2013, S. 9.

43 Rational sind Personen, die sich in ihrem Denken und Handeln an Gründen orientieren. Irrational sind Personen - aus demselben Grund. Nur sind es schlechte Gründe, von denen sie sich leiten lassen. Schon die bloße Fähigkeit eines Menschen, zu denken und zu handeln, setzt eine gewisse Empfänglichkeit für Gründe voraus. Andernfalls könnten wir nicht erkennen warum er diese oder jene Überzeugung hat und auf diese oder jene Weise handelt. Diese Gründe können abwegig sein. Aber nur wenn wir annehmen, dass sie die Ursachen für das wie immer befremdliche Verhalten einer Person darstellen, können wir ihr Tun und Lassen überhaupt als Handeln verstehen. Mit Gründen ist das so eine Sache. Es gibt unüberschaubar viele; sie sprechen für unüberschaubar vieles; sie stehen in unüberschaubar vielen Beziehungen zu anderen. Deshalb sind rationale Wesen Teilnehmer in einem Spiel des Gebens und Entgegennehmens von Gründen, das keiner der Mitspieler je vollständig kontrollieren kann. Man stellt sich Gründe gern als reine Gedankendinge vor, die in einer eigenen Seinssphäre hausen. Das Gegenteil ist richtig. Sie lagern und lauern an allen Ecken und Enden der bekannten wie der noch unbekannten Wirklichkeit. Gründe sind von dieser Welt. Sie sind Zustände oder Ereignisse, deren Kenntnis und Erkenntnis für Handelnde zum Rückhalt dafür werden, dies zu glauben und jenes zu wollen. Zu diesen Zuständen gehören auch die menschlichen Leidenschaften. Sie bewegen uns in diese oder jene Richtung, in die wir ihnen, solange wir bei Sinnen sind nicht jederzeit folgen wollen. Es wäre aber ein ganz falsches Bild eines vernünftigen Menschen, ihn von früh bis spät damit beschäftigt zu sehen, seine Leidenschaften im Zaum zu halten. Denn ohne ihre Bewegung aufzunehmen, gegebenenfalls umzuleiten und falls nötig zu transformieren, könnte nicht einmal ihre Zähmung gelingen. Wer vergisst oder verleugnet, dass seine Vernunft nur eine sein kann, die er mit anderen teilt, entwertet die Kraft der eigenen Gründe, da er glaub, sie von den Einsprüchen anderer ausnehmen zu können, Seel, 111 Tugenden, 111 Laster, Eine philosophische Revue, 2011, Rationalität, S. 225

44 So Becker, Was bleibt? Recht und Postmoderne, 2014, S. 9.

45 Becker, Was bleibt? Recht und Postmoderne, 2014, S. 12.

46 Zu unterscheiden sind vier Dimensionen sozialer Gerechtigkeit: Chancen-, Leistungs-, Bedarfs- und Generationengerechtigkeit. Das "magische Viereck". Hinzu kommt die Geschlechtergerechtigkeit. Dem Gerechtigkeitsbegriff könne man sich philosophisch annähern: Jeder solle nach seinen Fähigkeiten und nach seinen Bedürfnissen von seiner Arbeit/Tätigkeit menschenwürdig leben könne. Der soziale Rechtstaat gestaltet mit rechtlichen Regelungen die Lebensverhältnisse der Menschen, vgl. Göbel, FAZ vom 21. Mai 2014 - Die Lücken der Gerechtigkeit.

47 Ein genereller Transfer der Begründungspflicht in das Verfassungsrecht als Kontrollmaßstab gegenüber dem Gesetzgeber ist bisher nicht erfolgt. Es gibt allerdings einige Stimmen in der Literatur, die sich für eine Begründungspflicht, vgl. Kischel, Die Begründung: zur Erläuterung staatlicher Entscheidungen, 2003, von Gesetzen aussprechen, um die Rationalität der parlamentarischen Entscheidungen zu erhöhen, Groß, Von der Kontrolle der Polizei zur Kontrolle des Gesetzgebers, DÖV 2006, S. 859. Es ist im Verfassungssystem des Grundgesetzes unbestritten, dass nicht nur die Verwaltung, sondern auch der parlamentarische Gesetzgeber rechtlichen Bindungen unterliegt, insbesondere durch die Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip, Art. 1 Abs. 3 GG. Vor allem in den ersten Jahren der Bundesrepublik setzte sich eine weitgehende Juridifizierung der Politik durch, insbesondere in der Anwendung des neuen Kontrollinstrumentariums durch das Bundesverfassungsgericht. Bei der Gesetzgebung ist das Verhältnis zwischen Gestaltung und Bindung umgekehrt. Die demokratische Prärogative der Parlamente, wie sie auch in der Abstufung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung in Art. 20 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommt, überträgt ihnen weite politische Entscheidungsspielräume, die durch die Verfassung lediglich im Sinne einer Rahmenordnung eingeschränkt werden, so Groß, Von der Kontrolle der Polizei zur Kontrolle des Gesetzgebers, DÖV 2006, S. 861. Die Grundrechtsbindung setzt lediglich Schranken der Gestaltungsfreiheit, so dass der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nur eine Korrekturfunktion zukommt. Die Rechenschaft des Parlaments erfolgt durch politische Mechanismen der öffentlichen Meinungsbildung, nicht durch gerichtsverwertbare Begründungen – Am Wahltag ist „Be „Zahltag, muss die Politik Rechenschaft legen für verabschiedete Gesetze und deren rechtliche, soziale und wirtschaftliche Folgen für die Bevölkerung

48 Legitim ist ein Zweck dann, wenn er von einer grundrechtlichen Eingriffsermächtigung nicht ausgeschlossen wird, Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), 7 (17). Grundsätzlich liegt die Zwecksetzungskompetenz bei der Legislative. Die Organe, die die Gesetze beschließen, bestätigen und bestimmen damit gleichzeitig ihren Zweck, geben Inhalt und Grenzen des staatlichen Handelns vor. Die Notwendigkeit von Ausnahmen von diesem Grundsatzes resultiert daraus, dass der Verfassungsstaat des Grundgesetzes durch das GG nicht in einer Ordnung statuiert ist, die dem Gebot der Gewaltenteilung streng Folge leistet, vgl. Vollmeyer, Zweckprüfung und Zwecksetzung, DÖV 2009, S. 55. Die „dogmatisch später aktualisierte Funktion der Grundrechte als Schutzpflichten des Staates und Schutzrechte des Bürgers hat die früher aktualisierten zusätzlichen Grundrechtsfunktionen immer mehr in sich aufgenommen. Die objektiv-rechtliche Komponente von Art. 12 GG wird in der neueren Rechtsprechung und Dogmatik auf eine paradoxe Weise durch die Akzentuierung des „personalen Grundzugs“ der Berufsfreiheit erweitert: Indem sie sich vom Eingriffsabwehrdenken emanzipiert, eröffnet sie umgekehrt einen Raum staatlicher Gestaltungsfreiheit für die „Gewährleistung realer Handlungsmöglichkeiten“. Die Stärkung der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte hat ihr Pendant nicht nur normativ in einer Schmälerung der individuellen Freiheitsrechte, sie verändert auch die kognitiven Grundlagen für die Abstimmung des Verhältnisses zwischen Staat und Grundrechtssubjekten. Gerade im Angesicht von Ungewissheit ist die zulasten der gesellschaftlichen Selbstorganisation anerkannte „Einschätzungsprärogative“ des Staates bei Begrenzung und Ausgleich subjektiver Rechte ist gleichbedeutend mit einer weit reichenden Ermächtigung zur unkontrollierten und unkontrollierbaren „Gesellschaftssteuerung“, die sich auf nichts anderes stützen kann als die Absicht, das Gemeinwohl und dadurch zugleich die Grundrechte zu realisieren. Ladeur, Die objektiv-rechtliche Dimension der wirtschaftlichen Grundrechte, DÖV 2007, S. 1. Grundrechtliche Schutzpflichten, die dem Staat generell die Aufgabe zuweisen, gegen organisational und interorganisational „vermachtete“ gesellschaftliche Interessen durch Umverteilung von Handlungsoptionen vorzugehen, unterstellen ein diffuses Ziel und normativ dessen Realisierbarkeit sowie die Möglichkeit der Verhinderung negativer ungewollter (perverser) Effekte. Dies wäre ein Kontrapunkt zu einer klassischen liberalen Rechtsordnung, die in umgekehrter Richtung ihre eigenen systembildenden Unterscheidungen aus der grundsätzlichen Trennung von Staat und Gesellschaft gewinn, Ladeur, Die objektiv-rechtliche Dimension der wirtschaftlichen Grundrechte, DÖV 2007, S. Ein liberales Staats- und Rechtsdenken muss aber immer ein institutionelles Denken in Vermittlungen sein, das die gesellschaftliche Selbstorganisation, die Herausbildung von Mustern und Regeln in den Beziehungsnetzwerken zwischen den Individuen aus einer heterarchischen Position beobachtet und ggf. durch Setzung von Anreizen „irritiert“, so Ladeur.

49 Rationalitätsanforderungen sind als die Gesamtheit aller Handlungs- und Verhaltungserwartungen zu verstehen, die im Rahmen des gesamten Gesetzgebungsprozesse bei der Erzeugung des Produkts Recht eine Rolle spielen und deren Ziel es ist, die Grundlagen für die parlamentarische Entscheidung so weit wie möglich aufzubereiten, Lienbacher, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtssetzung im demokratischen Rechtsstaat, in VVDStRL 71 (2011), S. 11. Rationalität betrifft die Modalität menschlichen Verhaltens, die dadurch gekennzeichnet ist, das sie dieses an intersubjektiv vermittelbaren , argumentativ abgestützten, die situativen Besonderheiten aufnehmenden und widerspiegelnden Sachrichtigkeiten ausrichtet. Rationalität ist ein Sekundärwert, der an einen Primärwert gekoppelt ist und daher nur im Zusammenhang mit dem Bezugsfeld aufgegriffen und bestimmt werden kann. Die Diskussion der Rationalitätsanforderungen wird von beklagten Mängeln im Bereich der Gesetzgebung begleitet. Gesetzesflut, mangelnde Kohärenz und Unverständlichkeit von Gesetzestexten werden kritisch geäußert, Lienbacher, a.a.O, S. 11. Rationalitätsanforderungen sollen ein systematisches Vorgehen in der Rechtssetzung unterstützen. Rationalitätsanforderungen sollten Teil eines integrierten Vorgehens sein, das Wirkungszusammenhänge berücksichtigt und Auswirkungen von den in Aussicht genommenen gesetzlichen Regelungen auf andere Bereiche ins Auge fasst. Mit dem Begriff der Rationalitätsanforderungen sollen alle Instrumente erfasst werden, die unter den Rahmenbedingungen des parlamentarischen Rechtsetzungsprozesses versuchen, die Berücksichtigung der Grundlage und Konsequenzen eines gesetzgeberischen Aktes sicherzustellen. Rationalitätsanforderungen an die demokratische Rechtssetzung schöpfen ihre Legitimität aus den Strukturmerkmalen und Systembedingungen, die den politischen Prozess der Gesetzgebung begleiten und prägen. Sie sind daher systemimmanent zu begreifen und von den Strukturmerkmalen und Systembedingungen des Gesetzgebungsprozesses abhängig. Ausgangspunkt ist die Mehrheitsregel. Im Wettbewerb der Ideen, vor allem aber im Kompromiss, der erst die Mehrheitsbildung ermöglicht, liegen zentrale Elemente des politischen Prozesses, der sich Verfahrenspflichten, die in der Rechtsprechung bei der Verwaltungsentscheidung geläufig sind, entzieht. Begleitet wird die Mehrheitsbildung von der Ausgestaltung der parlamentarischen Rechtssetzungsprozesse, die üblicherweise im Zusammenwirken mehrerer Organe ablaufen. Sie arbeiten unter dem Druck der Öffentlichkeit und ist von parteipolitischer Konkurrenz geprägt. Die Gesetzgebung ist in einem komplexen Umfeld zu begreifen, in dem verschiedene Interessen und politische Kräfte zusammen oder auch gegeneinander wirken. Strukturell leben diese Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse von komplexen, interessenausgleichenden und interessenbalancierenden Kompromisssuchen in einem vom Recht nicht konturenscharf determinierten Bereich staatlicher Machtausübung. Die parlamentarische Demokratie schafft Rationalität durch das sie prägende Verfahren der politischen Willensbildung und durch die Publizität des Verfahrens. Dieses offene Entscheidungsverfahren belässt den Vorgang der politischen Willensbildung nicht im Dunkeln von Abmachungen – in außerparlamentarischen Konsensrunden erg. in bürokratischen Hinterzimmern, des intergouvermentalen politischen Austausches und Absprachen erg. - und überlässt es nicht Entschlüssen von unkontrollierten Machthabern (Konrad Hesse). Diese politische (Verfahrens)Rationalität deckt sich oft nicht mit den Rationalitätsforderungen an einen bestimmten Regelungsgegenstand eines Gesetzes (Fachrationalität), vgl. Lienbacher, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtssetzung im demokratischen Rechtsstaat, in VVDStRL 71 (2011), S. 15. Der repräsentativ demokratische Entscheidungsprozess ist ein Prozess, der darauf angelegt ist, möglichst viel Wissen, emotionale Argumente und Diskussionen verfügbar zu machen (Argumente werden gesammelt, verifiziert und ausgetauscht, Sachverstand wird eingebracht und Gutachten mäßig eingeholt, rationale Gesichtspunkte mit dem Ziel eingebracht, durch Überzeugungsarbeit Mehrheiten zu schaffen) und offen zu legen, unabhängig davon, ob es tatsächlich in Anspruch genommen wird. So weicht das „Produkt des Gesetztes“ mitunter von der Rationalität des bedingenden Gesetzgebungsverfahrens ab. Das publik werdende Wissen und die vernunftmäßige Argumentation haben im Prozess durchaus einen Selbstbestand. Sie lösen Begründungserfordernisse aus und erweisen sich als Katalysator für die faktische Effektuierung von Rationalitätsanforderungen. Der repräsentativ demokratische Entscheidungsprozess zeichnet sich noch durch eine dem Wesen des politischen Handelns eigene Besonderheit aus – die aber auch in gesellschaftlichen Alltagssituationen anzutreffen ist!: Der Prozess strebt nicht nach der absoluten Richtigkeitsgewissheit um jeden Preis, d. h. einer absoluten, unumkehrbaren, beweiskräftigen Richtigkeit und Zweckmäßigkeit, sondern nimmt pragmatisch von der Suche her suboptimale Entscheidungen – auch unter Zeitaspekten und Verwirklichungschancen – in Kauf, solange sie nur mehrheitlich legitimiert werden und mit der Verfassung und geltenden, eingegangenen rechtlichen Verpflichtung en übereinstimmen und nicht widersprechen. Formelkompromisse werden gefunden und mit dem Bewusstsein getragen mit und in der Erwartung, dass sich bei Wahlen Mehrheiten sich jederzeit ändern können. Und mit anderen Mehrheiten auch andere Sachentscheidungen möglich sein werden. In der Realität ist die Gesetzgebung kein rational zu strukturierendes, technisch optimierbares Verfahren.

50 Die postmoderne Rechtsordnung ist mehr als nur eine Summe von Rechtsnormen. Sie ist eine Einheit von hier und jetzt in Geltung stehenden Rechtsnormen, und sie bildet eine Einheit von Prozessen der Rechtssetzung und Rechtsanwendung. Recht ist ein Kulturprodukt. Es entsteht aus der Einsicht, dass formen menschlicher Vergemeinschaftung ohne ein Regelwerk nicht sinnvoll funktionieren, das die Interaktion in der Gemeinschaft reguliert. Recht ist eine Verkörperung menschlicher Erfahrungen und Gebräuche, die sich im sozialen Zusammenleben als praktisch -, streitschlichtend oder regulierend- erwiesen haben. Recht übernimmt die Aufgabe, in einer kulturellen Ordnung Formen der Kommunikation sinnhaft und befriedend zu regeln. Recht strukturiert sinnorientiertes soziales Handeln durch einen bestimmten sozialen Gebrauch von Zeichen. Morlok spricht von der "konsensualistischen Bedeutungstheorie" des Rechts. Recht verwirklicht in der Sprache die Ordnung des Gemeinwesens. Recht als ein auf die zwischenmenschliche Geltung angelegtes System, artikuliert sinnliche Geistesinhalte und Gerechtigkeitsvorstellungen und Regulierungsbedürfnisse. Recht ist so eine diskursiv - präsentative Grundordnung, vgl. Funke, Rechtstheorie, in Krüper (Hg.) Grundlagen des Rechts, 2011, S. 54.

51 So Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat: Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, 72

52 So Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat: Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, S. 32

53 Vgl. Luhmann, Gesellschaftliche und politische Bedingungen des Rechtsstaates, in Tohidipur, Der bürgerliche Rechtsstaat, S. 106.

54 Vgl. nachdrücklich Sobota, S. 33.

55 Sobota, a.a.O., S. 39.

56 Sobota, a.a.O, S. 73.

57 Kube, in Leitgedanken des Rechts, Festschrift für Paul Kirchhof, 2013, Grundrechte und Demokratie, § 17, S. 186.

58 Schmidt-Aßmann, in Leitgedanken des Rechts, Festschrift für Paul Kirchhof, 2013, § 22 Rechtsstaat, RN. 1.

59 Kirchhof, Deutsche Sprache, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II § 20 RN 23. „Das Wort ist stärker als sein Sprecher, Paul Kirchhof, 2005. Recht lebt in Sprache und entwickelt sich mit der Sprache; Auch das Recht, das seine Verbindlichkeiten in Sprache überbringt, nimmt teil an der Entwicklung der Sprache, Kirchhof, Das Wort ist stärker als sein Sprecher, FAZ vom 23. Nov. 2005, S. 43. Recht lebt in Vorschriften die den zukünftigen, noch unbekannten Fall regeln soll. Wenn eine solche Regelung auf die Zukunft vorgreift, ist sie mit der Verkündung schon veraltet. Das Recht ist der spannende Rahmen, in dem sich das staatliche Leben abspielt. Rechtsnormen sichern und begrenzen die staatlichen Handlungsspielräume. Recht gestaltet die Lebensverhältnisse, gewährt Ansprüche.

60 Schmidt-Aßmann, in Leitgedanken des Rechts, Festschrift für Paul Kirchhof, 2013, § 22 Rechtsstaat, RN 21.

61 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 48.

62 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 57.

63 Schmidt-Aßmann, Rechtsstaat, in Leitgedanken, § 22, RN 3

64 Schmidt-Aßmann, Rechtsstaat, in Leitgedanken des Rechts, § 22 Rechtsstaat, RN 4.

65 Der soziale Rechtsstaat ist im Hinblick auf den konstitutiven methodischen Individualismus aus der Idee der persönlichen Freiheit abgeleitet. Auch der als sozialstaatliche Leistung subsidiäre, unabdingbare Anspruch auf Existenzsicherung ist ein subjektivrechtlicher Ankerpunkt eines Staatsstrukturprinzips im Grundrechtssystem. Der Verfassungsstaat findet seinen eigentlichen Logos in der Einheitsherstellung durch konstitutive, dem Recht zugängliche Entscheidungen. Der Staat ist nicht nur die Resultante von grundrechtlichen Abwägungen, di Fabio, di Fabio, Leitidee der Grundrechte, in Mellinghoff/Puhl (Hg.), Leitgedanken des Rechts, Symposium aus Anlass des 70. Geburtstags von Paul Kirchhof, 2014, S. 40.

66 Der Sozialstaat ist keine bestimmte Staatsform, sondern eine bestimmte Dimension moderner Staatlichkeit. Daher hängt die Wirksamkeit sozialpolitischer Leistungen nicht nur von Gesetzen und Organisationen ab. Es kommt auf den Gesamtzusammenhang des Staates an, insbesondere auf eine nicht korrumpierte Rechtsstaatlichkeit und eine demokratische Regierungsform. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (1948) nahm die Idee einer nationalen und internationalen Wohlfahrtsverantwortung in abgeschwächter, aber präziser Form auf. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Art. 22-28AEMR) gelten als Menschenrechte. Demnach ist eine universalistische Programmatik staatlicher und internationaler Sozialpolitik in Grunddokumenten der Vereinten Nationen und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) enthalten. Nur solche Staaten können als Sozial- und Wohlfahrtsstaaten gelten, die eine Verantwortung für die elementare Wohlfahrt aller ihnen Zugehörigen als Staatsaufgabe anerkennen, in ihrer politischen Programmatik soziale Probleme berücksichtigen und entsprechende Maßnahmen treffen. Kritiker des Sozialstaats sehen seine Leistungen und deren Finanzierung als Belastung der Wirtschaft. Sie unterschätzen dabei den wirtschaftlichen Wert der Sozialpolitik. Das klassische Beispiel stellt die Politik der Arbeitszeitverkürzung dar. Vor allem die Reduktion der täglichen Arbeitszeit hat weithin zu Produktivitätssteigerungen geführt, welche den Ausfall der Arbeitszeit teilweise kompensieren. In Deutschland hat sich ein Verständnis des Sozialstaates durchgesetzt, das den Schwächeren hilft, der die Teilhabe an den wirtschaftlichen Gütern nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für jedermann zu bewirken sucht. Der Sozialstaat hat also den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu dienen. Soziale Gerechtigkeit steht im Spannungsfeld zwischen Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit, zwischen Besitzstand und Chancengerechtigkeit; zwischen Gleichheit und Ungleichheit, Kaufmann, Das Doppeltgesicht des Sozialstaats, FAZ vom 24. Februar 2014, S. 7.

67 Der vorsorgende Sozialstaat, Beck/Müntefering/Struck, FAZ vom 23. November 2006 – die SPD strebte eine Gemeinschaft an, in der jeder Mensch seine Persönlichkeit in Freiheit entfalten und als Teil einer Gemeinschaft verantwortlich am politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Menschen mitwirken kann. Die klare Botschaft, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Politik, nicht der Staat und nicht die Wirtschaft. Eigenverantwortlich und frei soll der Mensch am Gemeinschaftsleben mitwirken. Grundrechte und Menschenrechte sind Basis und Ausgangspunkt der Politik. Der Sozialstaat gründet auf freier Eigenverantwortung. Menschen entfalten natürlich ihre Freiheit nicht für sich allein. Eigenverantwortung ist ohne Sozialverantwortung nicht zu haben. Jeder muss zum Gelingen der Gesellschaft das ihm Bestmögliche beitragen. Dabei sind die Fähigkeiten der Menschen höchst verschieden, aber jeder hat seine Fähigkeiten. Menschen sind auf Menschen bezogen und auf Mitmenschlichkeit angewiesen. Darauf ist der Gesellschaftsvertrag, der Sozialstaat, aufzubauen. Er ist organisierte Solidarität. Jeder hat die Pflicht, seine eigene Kraft zu nutzen und jeder das Recht, die Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen, wenn er darauf angewiesen ist. Nach ihren gemeinschaftlichen Regeln. Die Gemeinschaft muss für den einstehen, der sich selbst nicht helfen kann. Vorsorgender Sozialstaat heißt, der Sozialstaat sorgt vor, indem er alles unternimmt, um zu verhindern, dass soziale Notlagen überhaupt entstehen. Sozialstaat und seine sozialen Sicherungssysteme dürfen nicht nur als Notfallsituationen begriffen werden, sondern auch als ökonomisch sinnvoll. Sie zu schwächen, ist töricht. Denn: „Gemeinsam sind wir stark“ ist auch eine ökonomische Wahrheit, nicht nur eine menschliche. Sozialstaat ist eine Voraussetzung von dauerhaften Wohlstand und nicht dessen Risiko. Der Sozialstaat ist nicht Problem, sondern Problemlöser. Der Sozialstaat gibt sich nicht zufrieden mit der Aufgabe, Fehlentwicklungen auszugleichen, den Schwächsten zu helfen. Er ist quasi eine „Intensivstation des menschlichen Lebens“. Den Menschen zu helfen, das muss er auch. Aber er hat die weitergehende Aufgabe, Gesellschaft zu gestalten, zu individuellen und zu subsidiären Lösungen von Problemen zu ermutigen, Risiken vorzubeugen und für sie vorzusorgen, Menschen zu ermutigen und zur Eigenverantwortung anzuhalten, aus dem Bündel von Individualinteressen eine soziale Gesellschaft zu formen. Unser Staat ist ein Sozialstaat. Die gerechte Ordnung der Beziehungen zwischen den Menschen ist ein Staatsziel. Der Sozialstaat kann umso besser gelingen, je sicherer stabiler Wohlstand gewährleistet ist und je umfassender Mitmenschlichkeit das Zusammenleben bestimmt. Die menschliche Gesellschaft, stabiler Wohlstand und der Sozialstaat sind tragende Säulen sozialer Demokratie. Eine menschliche Gesellschaft, die der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität verpflichtet ist, eine Zivilgesellschaft, die nach dem Prinzip der Subsidiarität in Familie, im Bund und anderen Gebietskörperschaften das Netzwerk einer solidarischen Gemeinschaft knüpft. Der Sozialstaat kann nur in einer leistungsfähigen Zivilgesellschaft stark sein, die auch vor Ort funktioniert und in der Solidarität als alltägliche Ressource erfahrbar ist. Das bürgerschaftliche Miteinander ist wichtig. Daraus erwachsen die Grundbedingungen eines funktionierenden und integrierenden Gemeinwesens, die der Staat selbst nicht garantieren kann. Der Sozialstaat gewährleistet die materielle Sicherheit und Stabilität im solidarischen Miteinander. Der vorsorgende Sozialstaat sichert die großen Lebensrisiken, dazu konkretisiert er sich in Rechtsansprüchen, gewährleitet soziale Gerechtigkeit und ist die organisierte Solidarität der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Der vorsorgende Sozialstaat ist noch stärker als bisher darauf gerichtet, das Eintreten von Hilfsbedürftigkeit schon im Voraus zu verhindern, abzufangen. Er befähigt die Menschen dazu, mit Umbruchsituationen eigenverantwortlich und solidarisch umzugehen. Er sichert das individuelle Recht auf Bildung im Sinne von Menschenwürde und Freiheit. Der vorsorgende Sozialstaat setzt auf die verantwortungsbewusste Lebensgestaltung und gibt den Menschen immer wieder neu die Chance zu Teilhabe an Gesellschaft und Wohlstand. Er schafft Chancen zu Neuorientierungen auf dem Arbeitsmarkt und der Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit durch Rehabilitation. Soziale Gerechtigkeit verlangt faire und gleiche Chancen zur Teilhabe aller an Bildung, Arbeit, Kultur und Demokratie, unabhängig von sozialer und ethnischer Herkunft. Weil aber die Ausgangsbedingungen unterschiedlich sind und sich die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung in der Regel gegen die Schwächeren und Benachteiligten wendet, muss für Verteilungsgerechtigkeit gesorgt werden. Der Staat muss gleiche Rechte und den Schutz aller garantieren und auf einen gerechten Ausgleich immer neu hinwirken. Sicherheit durch Wandel ist möglich, den Wandel aktiv gestalten ist ein Erfolgsfaktor. Arbeit haben bedeutet Teilhabe und Anerkennung, deshalb muss den Langzeitarbeitslosen und Menschen mit Vermittlungshemmnissen eine Perspektive geschaffen werden.

68 Auch das Sozialstaatsprinzip ermächtigt nicht zu beliebiger Sozialgestaltung, die das Gebot der Gleichheit auflösen würde“, hat das BVerfG bereits früh und mit klaren Worten entschieden, BVerfG, Urteil vom 17. 5. 1961 - 1 BvR 561, 579/60, 114/61, NJW 1961, 1107 - Einzelne Gruppen fördern heißt bereits, andere ungleich behandeln. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz liegt aber dann nicht vor, wenn ein legitimes Unterscheidungskriterium vorhanden ist, so dass die besondere Behandlung der Geförderten einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise entspricht. Dabei muss die verfassungsrechtliche Legitimität der Art und des Ausmaßes der Förderung, ihres Wirkungsbereiches und der dabei angewandten Mittel von Fall zu Fall geprüft werden; auch das Sozialstaatsprinzip ermächtigt nicht zu beliebiger Sozialgestaltung, die das Gebot der Gleichheit auflösen würde. die sozialstaatlich motivierte Bekämpfung von Ungleichheiten ihrerseits zu neuen Ungleichheiten. Die sozialstaatlich motivierte Bekämpfung von Ungleichheiten führt ihrerseits zu neuen Ungleichheiten. Angesichts der ubiquitären Umgehungsstrategien tut der Gesetzgeber gut daran, der Missbrauchsbekämpfung in den sozialen Sicherungssystemen einen hohen Stellenwert einzuräumen, so klar bilanzierend Huster/Kießling, Gesetzgebung im Sozialstaat und gleichheitsrechtliche Dogmatik, ZRP 2014, 174. Die „Rente mit 63“ – wie nahezu jede sozialpolitische Reform – zahlreiche Gleichheitsprobleme auf; dass z. B. von ihr vorwiegend Männer profitieren werden, ist auch bereits bemerkt worden. Man muss daher kein Freund der „Rente mit 63“ sein, um – und zwar sogar mit einer gewissen Offensichtlichkeit – zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die in § 51 Abs. 3 a Nr. 3 SGB VI vorgenommene Differenzierung nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt, Huster/Kießling, Gesetzgebung im Sozialstaat und gleichheitsrechtliche Dogmatik, ZRP 2014, 174.

69 Vgl. Kirchhof, in Koch/Rossi, Gerechtigkeitsfraggen in Gesellschaft und Wirtschaft, 2013, Geltungsgrund und Gestaltungskraft des Gesetzes, S. 146.

70 Was wir an unserem sozialen Rechtsstaat schätzen: Die Verbindung von Freiheit, individuellen Grundrechten und Verantwortung ist keine Option, sondern eine Verpflichtung. In den Artikeln 20 und 28 GG, wurde 1949 das Sozialstaatsprinzip verankert, unter anderem in der bemerkenswerten Formulierung ""sozialer Rechtsstaat"". Lassen Sie mich sagen, als Liebhaber sowohl der Literatur als auch der Demokratie empfinde ich diesen Begriff gleichzeitig verwegen und schön. Verwegen, weil er eigentlich etwas zusammenbringt, was traditionell nicht zusammen gedacht wurde. Schön deshalb, weil er aus unserem demokratischen Gemeinwesen etwas macht, was die Zuneigung, nicht nur die Zustimmung, Vieler zum demokratischen Gemeinwesen evozieren kann. Bemerkenswert ist dieser Begriff, weil eben im internationalen Vergleich der Verfassungstexte unüblich und bemerkenswert auch deshalb, weil dieser Begriff trotz seiner materiellen Unbestimmtheit in frappierender Kürze eine Verfassungsnorm definierte – die Pflicht des Staates, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen. Daraus erwuchs dann ein Gestaltungsauftrag an diejenigen Verfassungsorgane – allen voran der parlamentarische Gesetzgeber –, die für die Umsetzung gesellschaftspolitischer Aufgaben zuständig sind. Soziale Fürsorge, die Schaffung" sozialer Sicherungssysteme“, die Herstellung von Chancengleichheit – all das lässt sich ableiten, weil ""sozial"" im Grundgesetz nicht nur als eine Tugend verstanden wird, nicht als Barmherzigkeit oder Kann-Bestimmung. Es hat verbindlich Platz im Normenkatalog. Ob jemand verschuldet oder unverschuldet in eine Notlage gerät: Staatliche Hilfe für alle Bedürftigen ist ein geltendes Grundprinzip. Es geht also um ein Anrecht und nicht um ein Almosen. Der über weite Strecken liberale Charakter unseres Grundgesetzes hat damit doch eine wirklich entscheidende Ergänzung und Revolution erfahren. Neben der formalen Gerechtigkeit, die sich im Rechtsstaatsprinzip widerspiegelt, findet sich mit dem ""sozialen Rechtsstaat"" auch eine verbindliche Komponente materieller Gerechtigkeit. Und der Staat muss immer wieder neu definieren, ob er ein aktivierender oder ein vorsorgender Staat ist. Sozialpolitik wird nicht nur vom Geld, sondern auch vom gesellschaftlichen Klima bestimmt. Die Weiterentwicklung des Sozialstaats erfolgt keineswegs immer so ganz leicht. Oft ist es die Balance von Fordern und Fördern, die uns Probleme macht. Es gibt kein Entweder - Oder. Beides muss doch gelingen: Es muss ganz sicher sein, dass es eine Abfederung sozialer Härten gibt. Aber es darf auch nicht daran fehlen, dass es dem Einzelnen eine Ermächtigung gibt, ein Leben aus eigener Kraft zu führen und zu gestalten. Bundespräsident Joachim Gauck, 60 Jahre Bundessozialgericht, Kassel, 11. September 2014

71 Nun sollte man meinen, dass selbstverständlich ist: Wer arbeitet, muss auch einen anständigen, fairen Lohn erhalten. Dieser muss in erster Linie der hohen Leistungsfähigkeit der arbeitenden Menschen in unserer Wirtschaft und Gesellschaft entsprechen. Wer Vollzeit arbeitet, muss von diesem Lohn eine menschenwürdige Existenz für sich und seine Familie sicherstellen können. Eingeschlossen darin ist auch die volle Teilhabe am kulturellen und sonstigen gesellschaftlichen Leben. Dies ist - national und international - eine wesentliche Aufgabe der Tarifautonomie - also der Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden über Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen. In der Bundesrepublik hat sich die im Grundgesetz geschützte Tarifautonomie über viele Jahrzehnte bewährt und zu der beispielhaften wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen. (Ursula Engelen-Kefer, Mindestlöhne für Deutschland, Friedrich-Ebert Stiftung, 21. April 2010, Berlin)

72 Der Bundestag hat fortwährend kompromisshafte Wertentscheidungen zu treffen, die über abstrakt-generelle Gesetze eine temporäre Verbindlichkeit erlangen. Demokratische Herrschaft auf Zeit erlangt ihre Stärke nicht aus innerer Richtigkeit oder Kohärenz, sondern aus der Revidierbarkeit und damit Korrigierbarkeit in der Zeit. Diesen Vorzug haben Sittengesetze aus unvordenklicher Zeit nicht, die gern missbraucht werden, um Wertungen in normativen Stein zu meißeln und hierdurch der Politisierung zu entziehen. Damit wächst dem parlamentarischen Gesetzgeber aber auch die Verantwortung zu, rechtliche Ge- und Verbote hinreichend plausibel zu begründen. Auch wenn man den Wert intuitiver Alltagsvernunft nicht unterschätzen sollte, schon weil politische Kompromisse auf gesellschaftliche Anschlussfähigkeit und Praktikabilität zielen, aber keine reine Lehre ausbuchstabieren, greift die öffentliche Empörung über den Ethik rat zu kurz "Igitt" und "Pfui" sind keine Argumente, die den Rationalitätsanforderungen des Verhältnismäßigkeitsgebots genügen; und Intuition ersetzt keine Begründung. Die Rolle des Ethikrates kann nicht darin bestehen, dem Gesetzgeber die Verantwortung für Güterabwägungen und Wertentscheidungen abzunehmen. Er taugt bestenfalls als kritischer Begleiter, der unverbindlich Gesetzgebung problemsensibel macht, insoweit aber auch auf die politische Anschlussfähigkeit keine Rücksicht zu nehmen braucht. Ethische Expertise ist kein Politikersatz. Und jede Ethik ist nur das kontingente Produkt ihrer Zeit, auch wenn sie anderes behaupten mag, vgl. Gädritz, Pfui ist kein Argument, FAZ vom 1. Oktober 2014

73 Betrachtet man zusammenfassend die demokratische Ordnung des GG, so folgt bereits aus dem instrumentellen Charakter der dort niedergelegten Demokratie, die dem Frieden, der Gerechtigkeit, der Menschenwürde, auch mittels der Einhaltung der Menschenrechte dienen soll, damit letztlich in Verantwortung vor den Menschen geschaffen wurde, dass das GG trotz seines Beitrages zur Verrechtlichung und der darin verankerten grundsätzlichen Trennung von Ethik, Moral und Recht muss davon ausgegangen werden, dass eine systemimmanente Kohärenz des Rechts (ein Zusammenhang), also eine rein auf die positive Ordnung bezogene Kohärenz im Rahmen dieser Rechtsordnung nach ihrem eigenen Anspruch nicht ausreicht. Es ist daher für diese Rechtsordnung, die sich als Gerechtigkeitsordnung darstellt, eine überpositive Kohärenz erforderlich, d. h. eine Ausrichtung, die über das positive Recht hinausweist, Vöneky, Recht, Moral und Ethik, 2010, S. 225. Die Demokratie schlägt eine belastbare Brücke zwischen der Lebenswelt und der diese konkretisierenden normativen und deskriptiven Überzeugungen auf der einen Seite und dem politischen System auf der anderen Seite, vgl. Nida-Rümelin, Demokratie und Wahrheit, 2006, S. 26. Die bundesdeutsche Demokratie als materiell-ethische Staatsform ist geprägt von verbindlichen normativen Leitlinien, die steuern und lenken und dabei rückgebunden sind an gerechtfertigte, ethische - gesellschaftliche Wertvorstellungen, Vöneky, a.a.O. S. 226.

74 Das Rechtsstaatsprinzip gewährleistet die Rationalität der Herrschaftsausübung. Recht garantiert die Systemgerechtigkeit und konsistentes Entscheiden (di Fabio). Das Recht ist durch eine zunehmde, strukturelle Positivierung gekennzeichnet. Dabei stellt das GG für die Legislative eine Rahmenordnung dar, räumt dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum ein.

75 Ziele, Breite und Mittel strategischer Demografiepolitik: Politik sollte – wenn strategisch ausgeholt wird – Ziele vorgeben, die diesem Anspruch entsprechen. Gefahr liegt ja durchaus darin, dass leider nicht wie etwa in der Ökonomie ein Rat der Wirtschaftsweisen gesucht wird, sondern nur nach kleinräumigen, sozialspezifischen, gruppenorientierten Themen und eben nicht nach gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsrichtungen und deren Supervision gefragt wird. Eine Demografiestrategie bezieht die gestalterische Einflussnahme auf den demografischen Prozess in seiner ganzen Breite mit ein, so wie die Ökonomen zu Analysen in ähnlicher Größenordnung aufgelegt sind. Eben deshalb, wenn das Ganze in den Blick genommen werden soll, ist eine Strategie tatsächlich vonnöten. Politische Demografie begleitet, beobachtet und analysiert die entsprechenden Prozesse und respektiert die Ansprüche des politischen Systems ebenso wie die des demografischen Systems, von dem man in Zusammenfassung der demografischen Prozesse sprechen kann. Konzeptionell lässt sich der Kampf zweier Politikstrategien identifizieren. Die Gestaltungsstrategie legt den Akzent auf die Einflussnahme auf den demografischen Wandel, sie wirft den Blick auf das Ganze und ist letztlich optimistisch, was die mittel- oder langfristigen Effekte eines derartigen Politikansatzes angeht. Sie denkt von der Komplexität her. Sie weiß, dass sie 40 Jahre früher viel größere Chancen gehabt hätte. Verantwortungsethisch muss auch in schwieriger Zeit eine Zuversichtsperspektive aufrechterhalten werden. Ihre Vertreter neigen eher zu der Meinung, Politik sei das Schicksal, nicht die Demografie; Politik habe, bei immenser Anstrengung, an Gestaltungsmacht nicht verloren. Die gestaltende Strategie impliziert eine Generationenpolitik, die sich in diesen langen Zeiträumen abspielen muss. Die Anpassungsstrategie dagegen hat den großen Vorteil, dass sie unmittelbar erkennbare Fortschritte, Maßnahmen, Korrekturen und Zustimmung mobilisieren kann. Sie geht auf die aktuellen Herausforderungen ein, analysiert treffend den Verlauf des demografischen Wandels und widmet sich der Machbarkeit. Ihre Vertreter wünschen sich auch eine veränderte Fertilität, sehen aber keine Chance, nachhaltig darauf einzuwirken und kümmern sich entsprechend um den Ist-Zustand. Strategisches Vorgehen bedeutet bei ihnen das Koordinieren von Maßnahmen, vgl. Mayer, Demografiepolitik – gestalten oder verwalten? APuZ 10–11/2011, S. 18.

76 Munimus, Ältere – Taktgeber in der alternden Gesellschaft? APuZ 4–5/2013, S. 57 - Immer mehr Ältere im Ruhestand stehen einer kleiner werdenden Gruppe von jüngeren Erwerbstätigen gegenüber. Diese gesellschaftliche Entwicklung und die Erkenntnis der möglichen Folgen veranlasste den Bundespräsidenten a. D. Roman Herzog von einer „Rentnerdemokratie“ zu sprechen. Die agilen „jungen Alten“ revolutionieren das Bild vom Alter. Herzog provozierte eine Debatte über die „Rentner-Demokratie“ angesichts der außerplanmäßigen Rentenerhöhung hatte sich eine neue Debatte über die Macht der Rentner in ihrer Rolle als Wähler abgezeichnet. Ausgelöst wurde sie durch die markigen Worte von Roman Herzog: „Ich fürchte, wir sehen gerade die Vorboten einer Rentnerdemokratie, ließ sich Herzog zitieren. Die Älteren werden immer mehr, und alle Parteien nehmen überproportional Rücksicht auf sie. Das könnte am Ende in die Richtung gehen, dass die Älteren die Jüngeren ausplündern, FAZ vom 11. April 2008. Der Präsident des VdK Hirrlinger hat die Warnung des Bundespräsidenten scharf zurückgewiesen. Er habe überhaupt kein Verständnis, dass das frühere Staatsoberhaupt auf diese Weise „Emotionen hochpuscht“. Bannas, FAZ vom 9. April 2008, stellte fest: Womöglich nimmt die Erhöhung der Rente künftige Selbstverständlichkeiten vorweg. Die Älteren werden immer mächtiger, und die Parteien passen sich dieser Erkenntnis an. Wahlen werden künftig nicht mit Hilfe der Jüngeren, sondern mit den Stimmen der Älteren gewonnen. Ministerin von der Leyen beschwichtigte – Es gibt keinen Krieg der Generationen – Frau Ministerin im Gespräch mit Uta Rasche, FAZ vom 2. April 2008. Sie plädierte für eine höhere Erwerbsbeteiligung von Älteren und sieht ihre Kaufkraft als wichtigen Wirtschaftsfaktor. Sie arbeite zusammen mit Wirtschaftsverbänden an Konzepten, um die Kreativität, die Erfahrung und das Wissen älterer Mitarbeiter besser zu nutzen. Die Erwerbsquote der Menschen, die älter als 55 Jahre sind, sei in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Knapp 16 Jahre sind seither vergangen – Bollmann, FAZ vom 5. Oktober 2014 - Schuldenbremse: Grüne wollen mehr sparen als Schäuble! Die Schuldenbremse reicht nicht aus, sagt eine gründe Expertengruppe. Der Staat soll künftig Haushaltsüberschüsse erwirtschaften. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels reicht das Einhalten der Schuldenbremse für eine ehrliche und tragfähige Finanzpolitik nicht aus, heißt es in einem Papier einer Expertengruppe aus Ökonomen und Politikberatern. Haushaltsüberschüsse in der Größenordnung von mindestens einem Prozent des BIP jährlich seien anzustreben. Das sei nötig, um den Peak der demografisch bedingten Kostenentwicklung ab ca. 2030 zu bewältigen. Die Interessen, Lebenslagen und Bedürfnisse sind so heterogen, dass auf dieser Grundlage kaum ein gemeinsames Bewusstsein im Sinne einer Interessenvertretung entlang des Alters heranwachsen könnte, meint Munimus, a.a.O. S. 61. Bisher bestand auch kein zwingender äußerer Anlass für eine eigenständige – parteipolitische - Interessenvertretung: Das Organisations- und Institutionengefüge fußt hierzulande auf der Idee der Generationensolidarität, die fundamental die politische Kultur und die Leitbilder prägt. In einer alternden Gesellschaft wird die verdiente Anerkennung auch als Würdigung von subjektiver und kollektiver Lebensleistung verstanden werden müssen - Eine kluge Zukunftspolitik in einer alternden Gesellschaft wird gemeinsame Interessen von Alt und Jung in den Vordergrund stellen und die sozialen Bindungen zwischen den Generationen pflegen, um eine nachhaltig gestaltete Zukunft solidarisch zu gestalten, vgl. Munimus, Ältere – Taktgeber in der alternden Gesellschaft? APuZ 4–5/2013, S. 62

77 Deutschland altert! - Schattenseiten dieser unbestreitbaren Erkenntnis sind die hierzulande steigenden Zahlen von Pfle­gebedürftigen sowie von Demenz betroffenen Menschen. Trotz der Aussichten auf ein im Durchschnitt längeres und aktiveres Leben dürfen Ältere, die in prekären Verhältnissen leben, nicht aus dem Blick geraten. Das Risiko der Altersarmut bleibt vor allem für Beschäftigte im Niedriglohnsektor (bei unterbrochenen Erwerbsbiografien, längeren Teilzeitbeschäftigungen und prekären Arbeitsverhältnissen) hoch, Schwab, Arbeitsrecht und Arbeitsgesellschaft, 2014. Eine generationengerechte, verantwortungsbewusste Gesellschaft muss es schaffen: Möglichkeiten, in jedem Alter selbstbestimmt eigene Potenziale zu entfalten, sowie Solidarität und Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen älterer Menschen zu gestalten, vgl. Öztürk, Alternde Gesellschaft, APuZ 4-5/2013, Editorial. Soziale Probleme sind allerdings nicht nur von den Lebensbedingungen der Menschen und den Potenzialen und Grenzen familiärer und gemeinschaftlicher Hilfesysteme abhängig, sondern sind auch das, was sich in einem politischen Definitionsprozess als solches konstituiert. Für Deutschland ist i auffällig und nicht umkehrbar, dass insbesondere die Renten- und Pflegeproblematik in ihren finanzpolitischen Implikationen lange Zeit die sozialpolitische Diskussion rund um das Altern der Gesellschaft beherrscht hat. Fragen der sozialen Integration und der Aufrechterhaltung selbstständiger Lebensführung wurden erst viel später in die alterssozialpolitische Agenda aufgenommen. Der „demografische Wandel“ und das „Altern der Gesellschaft“ sind zentrale Zukunftsherausforderungen, vgl. Naegele, Handlungsfelder einer zukunftsgerichteten Alterssozialpolitik, APuZ 4-5/2013, S. 18f. Zu den zentralen Herausforderungen in der Arbeitswelt zählt die Gleichzeitigkeit von Schrumpfen und Altern des Erwerbspersonenpotenzials, das schon jetzt in vielen Branchen und Betrieben als Fachkräftemangel thematisiert wird. Die FAZ titelte am, 10. Oktober 2014 – „Fachkräftemangel – Techniker verdienen mehr“ – trotz flauer Konjunktur verdienen Fachkräfte in technischen Berufen gutes Geld. Die Industrie sucht dennoch händeringend nach Personal. Ältere Arbeitnehmer sollen die Situation entschärfen. Das aber gefährdet die Rente. Inken Schönauer schrieb am 29. September in der FAZ auch zum Fachkräftemangel – „Je oller, je doller- je wertvoller? – Arbeitnehmer jenseits der fünfzig werden immer mehr und damit immer wichtiger. Doch alternde Belegschaften stellen neue Anforderungen. Sind die Unternehmen schon darauf vorbereitet? Erfahrung schlägt oft Universität! Jens Fahrion schätzt Erfahrung. Er führt ein Unternehmen für Produktionsanlagenplanung. Das Durchschnittsalter dort dürfte nicht unbedingt den Mittelwert in deutschen Unternehmen repräsentieren: Es liegt bei 52 Jahren. Buchstäblich aus der Not heraus hatte sein Vater vor 15 Jahren Ingenieure eingestellt, die älter als 50 Jahre waren. Denn es waren keine anderen zu bekommen. Der Markt war praktisch leergefegt. Er hat es nie bereut. Sein Sohn verfolgt diese Philosophie weiter- „Der Ingenieur 50 plus ist kein Nachteil für uns, sondern ein Vorteil. Sie schöpfen bei ihrem Wissen nicht nur aus der Ausbildung und der Universität, sie haben bereits eine lebenslange Berufserfahrung. Es bindet ein Wandel statt in der deutschen Arbeitswelt. Das Ende der staatlich geförderten Frühverrentungspolitik hat dazu geführt, dass ältere Arbeitnehmer heute deutlich stärker am Berufsleben teilnehme n als das noch vor zehn oder zwanzig Jahren der Fall war. Auch wenn die Rente mit 63 nach einhelliger Expertenmeinung ein Signal in die falsche Richtung gewesen ist. Die Erwerbstätigenquote der Älteren ist binnen 15 Jahren um mehr als 20 % auf deutlich über 60 % emporgeschossen – ein Spitzenwert in Europa. Ein deutscher Autobauer stellte fest, dass die Produktivität der Älteren genauso hoch wie bei den Jüngeren war und die Qualität sogar noch höher. Er setzte auf „Durchmischung“, neudeutsch Diversity. Die Zusammenarbeit von älteren und jüngeren Beschäftigten – „Wir denken, das sind die besten und erfolgreichsten Teams. Statistiken belegen, dass bei Arbeitnehmern um die 50 viel Bewegung ist. Die Zahl der Ehen, die nach 15 oder mehr Jahren geschieden werden, steigt. Männer genauso wie Frauen sehen dann immer öfter die Möglichkeit für einen Wendepunkt in ihrem Leben. Lebensphasenorientierung ist ein monströses Wort, das letztlich nur den neuen Trend zusammenfasst. Wenn Arbeitsmodelle früher vorgegeben mit Schule, Ausbildung, Job und Familie, so gibt es heute immer weniger „Blaupausen“. Menschen nehmen für ihre familiären Fürsorgepflichten Auszeiten (für ihre Kinder, aber auch für ihre Eltern, für die Erfüllung lang erträumter Reisen oder für die Ausübung eines Ehrenamtes). Der demografische Wandel wird in vielen Unternehmen und der Politik diskutiert. Es gibt Programme, vgl. Schwab, Arbeitsrecht und Arbeitsgesellschaft, 2014. Früher wandelten Chefs gegen Feierabend über die Flure, waren redseliger als tagsüber im Meeting, heute gehört Netzwerken zum gepflegten Wandel. Der Kulturwandel braucht Zeit. Wenn familiäre Anliegen, die den Arbeitsplatz offen angesprochen werden und die Führungskraft leistungsorientiert in den Dialog geht, dann ist das ein wichtiger Grundstein für einen deutlichen Kulturwandel. Kommunikation muss nicht immer nur formell stattfinden in Onsite-Gesprächen, Jour-fixe-Terminen, One on Ones – einfach im zwischenmenschlichen Gespräch lässt sich „Bewegendes“ und „Bleibendes“ regeln. Eine sozial innovative Politik der lebenslaufbezogenen Förderung der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit einschließlich des expliziten Einbezugs der sozial-privaten Umfeldgestaltung läuft den verpassten Möglichkeiten der Vergangenheit hinterher und versucht alters- und alternsgerechte Anpassungschancen von Arbeitsbedingungen und –belastungen zu verwirklichen. Dazu gehört die Gestaltung von anforderungsorientierten Weiterbildungsmaßnahmen und „Neustrukturierung von gemischten Alters-Arbeitsgruppen“; gerade der Mischungseffekt aus jungen, frisch von der Ausbildung bzw. vom Studium gekommenen Mitarbeiter mit den erfahrungsbezogenen langjährigen Bediensteten kann sich in der nahen Zukunft bewähren. Wichtigste Voraussetzungen dafür sind unter anderem eine „demografiesensible Unternehmenskultur“ und betriebliches „age- management“, vgl. Naegle, APuZ 4–5/2013, S. 20.

78 Börsch-Supan, Ökonomische Auswirkungen des demografischen Wandels, APuZ 10–11/2011, S. 19 - Der demografische Wandel ist einer der „Megatrends“ des 21. Jahrhunderts, der die politische, soziale und ökonomische Situation unseres Landes entscheidend verändern wird. Es ist keineswegs erwiesen, dass die Produktivität älterer Menschen sinkt. Eher scheinen sich Erfahrung und körperliche Leistungsfähigkeit zu ergänzen: Während erstere steigt, sinkt letztere, und die Summe bleibt konstant über alle Altersklassen. In Zukunft ist es aber wichtig, dass eine älter werdende Belegschaft durch vermehrte Aus- und Weiterbildungsanstrengungen neue Techniken erlernen und flexibel bleiben kann, Börsch-Supan, a.a.O., S. 23. Die ökonomischen Herausforderungen an eine alternde Gesellschaft sind groß und zahlreich. Hinzu kommen die vielfältigen gesellschaftlichen und medizinischen Herausforderungen einer alternden Gesellschaft. Sie reichen von der Ausgestaltung eines demografiefesten Gesundheitssystems über Pflege und Zuwendung einer großen, immer älter werdenden Babyboom-Generation zu den Auswirkungen auf die große Politik, Börsch-Supan, a.a.O. S. 26. Grund zu einem fundamentalen Pessimismus gibt es dennoch keinen. Die ökonomischen Auswirkungen des demografischen Wandels sind kein unabänderliches Schicksal, sondern sie können abgewendet werden, wenn eine Anpassung an die sich verändernde Welt gelingt. Zentrale Stellhebel sind eine erhöhte Erwerbsquote, vor allem unter den Älteren, und deren Aus- und Weiterbildung.

79 Wir reden über eine sich verändernde Bevölkerungsstruktur, in der der ältere Mensch und der alternde Mensch zunehmend im Mittelpunkt stehen. Dies ist eigentlich kein Grund zur Klage, sondern zur Freude. Und dies ist eine Herausforderung für die Gesellschaft, Generationengerechtigkeit bedeutet nicht, dass jeder Generation die gleichen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden (müssen). Generationengerechte Politik, wie wir sie verstehen, meint zunächst Teilhabe und Beteiligungsmöglichkeiten, also auch die Verwirklichung jedes Mitglieds der Gesellschaft zu ermöglichen, also Chancengerechtigkeit. Die Herausforderungen, den demographischen Wandel zu meistern und die geforderte und notwendige Generationengerechtigkeit dabei im Blick zu haben, bieten aber auch Chancen und Möglichkeiten. Man fasst Mut zu neuen, gemeinsamen zu beschreitenden Wegen – Mut in ein aktive, solidarische Generationenpartnerschaft zu gehen. Auszug aus Rede des Thüringer Landesbeauftragten für das Zusammenleben der Generationen, Michael Panse, zum Jahresempfang 2011 im Bildungszentrum Schloss Wendgräben. www.kas.de/wf/doc/kas_22006-1522-1-30.pdf?110224170418

80 Individualisierung: Dieser Begriff kennzeichnet einen der wichtigsten Prozesse des Wandels des Lebens in der Bundesrepublik. Die Ursachen hierfür sind vielfältig und betreffen vor allem den gesellschaftlichen Wertewandel, der in den späten 1960er Jahren einsetzte. „Individualisierung“ meint einen mit der Industrialisierung und Modernisierung der westlichen Gesellschaften einhergehenden Übergangsprozess des Individuums von der Fremd- zur Selbstbestimmung. In der gegenwärtigen postmodernen Gesellschaft prägt eine qualitativ neue Radikalität diesen Prozess. Gesellschaftliche tradierte und bewährte Grundmuster, wie die klassische Kernfamilie, zerfallen. Der zunehmende Zwang zur reflexiven Lebensführung bewirkt die Pluralisierung und fördert den gesellschaftlichen Wandel weiterhin, vgl. Hannemann, Zum Wandel des Wohnens, APuZ 20-21/2014, S. 36, 41. Für das Wohnen relevant ist dabei vor allem die Singularisierung als freiwillige oder unfreiwillige Form des Alleinwohnens (gerade auch von Älteren nach dem Vorversterben des Lebenspartners) und der Schrumpfung der Haushaltsgrößen. Gerade die mit dem Alleinwohnen verbundenen Verhaltensweisen und Bedürfnisse verändern die Infrastruktur in den Innenstädten. Ein immer größerer Anteil von Menschen, vor allem hochbetagte, wohnt im Alter allein. Dies betrifft insbesondere Frauen, die in Privatwohnungen leben, resultierend aus der nach wie vor längeren Lebenserwartung von Frauen und dem immer stärker und besser zu realisierenden Wunsch, länger in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Vor allem aber bleiben „die Alten“ auch länger „jung“, aktiv und vital. Traditionelle Altenheime entsprechen nicht dem vorherrschenden Wunsch nach Erhaltung der gewohnten, selbstständigen Lebensführung

81 Mit dem Sozialen als Attribut schmücken sich in Deutschland viele Institutionen und Gruppierungen. Der Sozialstaat beschränke nicht die Freiheit des Einzelnen. Es sei vielmehr Aufgabe des Sozialstaates den Interessenkonflikt zwischen Freiheitlichkeit und Sozialstaatlichkeit auf angemessene Art und Weise zu lösen. Der Sozialstaat ist kein "unverdientes Geschenk des Gesetzgebers an seine Bürger". Hohmann-Dennhardt, Das Soziale, der Staat und die Gerichtsbarkeit, AnwBl 2008, 270. Das Gefühl, der Menschen, die Ungerechtigkeiten nehmen zu, fordert den Sozialstaat und bedachten Handeln auf. Dabei darf er nicht vergessen, dass er nicht nur der sorgfältige Verwalter dessen ist, was die Wirtschaft bereit ist zu geben. Er ist angetreten sozialen Ausgleich zu schaffen und weiterhin ordnungsrechtliche Regeln zu setzen, damit die Menschen nicht nur auf einen Kostenfaktor reduziert werden. Deshalb darf sein Handeln nicht allein von Spargesichtspunkten bestimmt werden. Die notwendige gesellschaftliche Solidarität darf sich nicht ins Gegenteil verkehren, vgl. Hohmann-Dennhardt, Gerechtigkeitsprobleme im Sozialstaat, Budrich Journals 2006. www.budrich-journals.de/index.php/gwp/article/view/12571

82 Es ist richtig, dass die Verfassung versucht, das Prinzip der Menschenwürde und ihren Schutz auf eine besondere Grundlage zu stellen, auf dem viele andere Inhalte unserer Verfassung nicht stehen. In Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes ist die Menschenwürde unter die so genannte Ewigkeitsgarantie gestellt, und das unterscheidet sie von anderen Grundrechten. Also müsste man daraus folgern, wenn man diesem System des Grundgesetzes folgt, dass die Menschenwürde doch so etwas ist wie ein Solitär, dass sie in einer besonderen Weise Bestandskraft hat, dass die Verfassung sich mit ihr in einer ganz besonderen Weise verschränkt, weil die Verfassung sich ja selber gewissermaßen in ihrem Bestand an den Schutz der Menschenwürde bindet und sagt: Dieses Schutzkonzept darf niemals, unter keinen Umständen, die auch nur denkbar sind, sich ändern. Ich bin der Meinung, dass die Menschenwürde ein Konzept ist, das - auch wenn das auf den ersten Blick ein bisschen überraschend sein mag, wegen der Ferne der beiden Quellen - sich sowohl auf die politische Philosophie der Aufklärung berufen kann als auch auf die christliche Tradition. Die christliche Vorstellung, dass der Mensch jeweils von Gott gemacht ist, und zwar als Person, nicht als Teil der Menschengattung, ist eine außerordentlich starke, auch emotional wirksame Begründung der menschlichen Person und ihrer Würde. Zum Konzept der Menschenwürde gehört, dass jeder „vom Weibe Geborene” - also jeder Mensch, wobei natürlich dort die Grenzen wiederum problematisch sind - dass jeder Mensch eine Menschenwürde hat, jeder Mensch. Und ein anderer kann sie ihm nicht nehmen, und ich denke, auch er selber kann sie sich nicht nehmen. Da er eine Person ist, behält er sie. Er kann fahrlässig mit ihr umgehen. Jedes Gesetz, ob es das nun beabsichtig und ob es das in Betracht zieht oder nicht, jedes Gesetz ändert sich mit dem sozialen Wandel, also mit dem Wandel unserer Vorstellungen von der immer innovativeren und dynamischeren Welt. Die Flexibilität der Menschen wird gefördert durch neue digitale Technologien und technische Veränderungen etwa Industrie 4.0. Sie ist aber auch neuen Gefahren in der globalen Welt ausgesetzt. Das digitale Netz verleitet zum Ausspionieren oder heimlichen Erfassen von individuellen Daten, vgl. Markus Morgenroth, Sie kennen dich! Sie haben dich! Sie steuern dich! Datensammler sind überall: Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist ein unersättliches Wesen. Damit die Wirtschaft funktioniert, müssen wir unersättlich bleiben und ständig weiter konsumieren. Gleichzeitig sind wir Gewohnheitstiere. Liebgewonnenen Ritualen halten wir die Treue. Unsere Verhaltensweisen sind aber nicht in Stein gemeißelt. Sie sind änderbar. Die Verhaltensforschung hat allerdings gezielt, dass wir nur in sehr wenigen, einschneidenden Momenten unseres Lebens bereit sind, eingefleischte Muster zu verändern. Die Falle schnappt zu wenn wir nicht damit rechnen: bei Anzeigen von Hochzeiten. Ziel ist es aus einem potenziellen Kunden jemanden zu machen, der mit Selbstverständlichkeit ein Geschäft betritt und dort so viele Bedürfnisse wie irgend möglich befriedigt, Morgenroth, S. 19. Zur "modernen digitalen Welt" vgl. Dave Eggers, Der Circle" - man stürzt sich in die schöne neue freundliche Welt mit den lichtdurchfluteten Büros und erkennt die Bedeutung der "altbekannten" Privatsphäre, Demokratie und Öffentlichkeit und der Wunsch wird laut: das Netz möge uns manchmal vergessen, vgl. di Fabio, Netzwirtschaft, FAZ, vom 17. September 2014. Der Schwarm werde es richten, sagen unverdrossen die Optimisten. Die Menschheit sei ja nun vereint durch das eine Medium. Doch den Schwarm gibt es nicht Es gibt nur Schwärme. Die schwimmen selbstbewusst durch die Weiten der digitalen Sphären. Nur begegnen sie sich seltener, verlernen langsam die gemeinsame Sprache. Das Netz erweist sich als ein Verstärker urmenschlicher Eigenschaften, Triebe, Instinkte. Ja, das Netz hat die Menschheit näher zusammengebracht, theoretisch jedenfalls Doch im Konkreten ist es auch die Geschichte einer großen Entfremdung. Ein ebenso bedeutender Filter sind die Empfehlungen und Ansichten der Nächsten, der Familie, der Freunde. Sie beruhen allerdings nicht immer auf großem Fachwissen. Deshalb haben Medien, bei aller Anfälligkeit für Fehlleistungen, in demokratischen Gesellschaften eine konstituierende Bedeutung: als Vermittler zwischen Fachleuten und Laien, zwischen Politik und Gesellschaft, vgl. Glen Greenwald, Die globale Überwachung, 2014. Soziale Netzwerke als Treffpunkt für Gleichgesinnte - Doch seit einigen Jahren wählen immer mehr Leute Informationswege jenseits der klassischen Medien. Sie konfigurieren sich Informationsströme - in der Mehrheit nicht nach Sachthemen, sondern nach Personen. Der persönliche Newsfeed auf Facebook ist für immer mehr Nutzer der zentrale Informationsstrom, bei anderen ist es der selbst konfigurierte Twitter-Feed. Es sind Newsletter und E-Mai-Infoketten, es sind selbst zusammengestellte Ströme bei News-Aggregatoren. Zwar ist das entscheidende Informationsstück zumeist noch immer ein verlinkter Artikel aus einem klassischen Medium. Doch die Reihung willkürlich zusammengesuchter Texte zu subjektiven Informationsströmen führt zur Einseitigkeit. Genauso wie im richtigen Leben gruppieren sich die Leute im Netz um ihres gleichen: Heimat ist nicht der Platz der feurigen Debatte. Heimat ist die Geborgenheit unter Gleichdenkenden. Dabei war es ein Teil des Traums, dass die sozialen Medien, diese Meisterwerke der Kommunikationstechnologie, den Schweigsamen eine Stimme gebe, den Unterdrückten eine Möglichkeit zum Protest verschaffen. Minderheiten eine lautere Stimme als bisher verleihen. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Das Schweigen der Abweichenden ist online eher noch größer als im realen Leben. Auf Facebook treffen sich Gleichgesinnte, um sich gegenseitig zu bestärken. Das sich selbst organisierende Netz ist ein gigantischer Verstärker ohnehin lautstarker Meinungsträger, Vgl. Glen Greenwald, Die globale Überwachung, 2014. Hassemer, Die Menschenwürde ist ein Solitär - Aber auch ihr Verständnis unterliegt dem sozialen Wandel, ZRP 2005, 101.

83 Die emotionale und mediale Politik der postmodernen Gesellschaft - Emotionen spielen aber nicht nur beim „Verkaufen“ von Politik eine Rolle, sondern auch im politischen Prozess selbst, vgl. Piepenbrink, Emotionen und Politik, APuZ 32-33/2013, Editorial. Politische Entscheidungen wirken sich auch emotional, aus und bestimmen das „Lebensgefühl“ zahlreicher Menschen mit; gerade dann, wenn es um Frage der Gerechtigkeit und der solidarischen Sicherungssysteme und des sozialstaatlichen Ausgleichs („Ausfallbürgschaft in Notlagen) geht. Ein Gefühl ist in einer demokratisch verfassten Gesellschaft geradezu von systemrelevanter Wichtigkeit: Vertrauen. Ohne das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger darauf, dass ihre Grundrechte geschützt werden, dass Demokratie und Rechtsstaat funktionieren, fehlt dem Staat seine wichtigste legitimatorische Grundlage. Als subjektive Einstellung zur Umwelt bringt Vertrauen das Gefühl der Sicherheit. Vertrauen ist eine positive lebensbejahende Einstellung. Im menschlichen Zusammenleben setzt Vertrauen eine Beziehung zu einem Gegenüber voraus. Vertrauen ist Glaube an Kontinuität. Vertrauen lebt aus dem Vergangenen, ist aber in die Zukunft gerichtet. Vertrauen und Kontinuität sind Begriffe, die den Wert und die Identität der mitmenschlichen Beziehungen prägen. Vertrauen ist ein dynamischer Prozess, der sich in verschiedenen Phasen der Entwicklung der sozialen Beziehungen vollzieht. Vertrauen in das Recht wird objektiviert im Sinne von Berechenbarkeit und Stetigkeit, gesicherter Position, von Kontinuität i. S. von Bewahrung des Bestehenden und Fortentwicklung des Erreichten. Im freiheitlichen Verfassungsstaat geht es um die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns als notwendige Voraussetzung menschlicher Planung. Rechtsstaatliche Ordnung heißt Gewährleistung von Grundrechten und Schutz vor Willkür. Recht muss offen auf gewandelte gesellschaftliche Verhältnisse reagieren und neue Regelungskonzepte entwerfen. Verlässlichkeit und Wandlungsfähigkeit sind im Begriff der Gerechtigkeit angelegt. Gerechtigkeit ist ohne ständiges Bemühen um die Verwirklichung einer Ordnung, die sich am gemeinsamen Wohl aller orientiert, nicht denkbar. Gerechtigkeit enthält das Element notwendige Veränderung und Anpassung an den gewandelten tatsächlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen. Anpassung heißt behutsame evolutive Fortentwicklung, nicht hektische Reformen, Birk, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, DStJG 27 (2004), S. 12. Der fordernde Staat ermöglicht Vertrauen nur dadurch, dass er sich Selbstbeschränkungen auferlegt und sein Handeln berechenbar gestaltet. Rechtsstaatliches Handeln respektiert im Vertrauen getroffene Entscheidungen des Bürgers und entwertet diese nicht rückwirkend durch Veränderungen der Rechtslage. Der Staat sollte folglich auf die Beständigkeit seiner Entscheidungen achten. Kontinuitätsgebot und Vertrauensschutz sind Schranken gegen Gesetzesaktionismus. Vertrauensschutz der Bürger und die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers stehen im Spannungsfeld zwischen Individual- und Gemeinwohlinteresse. Vertrauen kann der Bürger nur dann schutzwürdig auf den gesetzlichen Regelungsinhalt als Ausfluss der Gesetzesbindung begründen, wenn die Gesetze klar, bestimmt genug, verständlich und widerspruchsfrei sind, sodass die behördliche Entscheidung voraussehbar und berechenbar ist. Rechtssicherheit bedeutet Vertrauensschutz für die Vergangenheit und zumindest Voraussehbarkeit für die Zukunft.

84 BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09. Die Verkündung des Urteils des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Bemessung der Regelleistung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist die endgültige Bankrotterklärung des So­zialhilfesystems fünf Jahre nach der Neukonzeption in SGB II und XII. Bei der Lösung der sozialpolitischen Probleme muss der hilfsbedürftige Mensch im Mittelpunkt stehen. Er ist nicht als statistischer Durch­schnittswert zu betrachten. Er muss im Hinblick auf seine persönlichen, gesundheitli­chen und familiären Bedürfnisse enger betreut werden. Hilfebedürftigen Kindern ist Chancengleichheit zu gewähren, damit Armut nicht an die jüngere Generation wei­tergegeben wird, Preis, Editorial Heft 9/2010: Auf „Hartz IV“ sollte „Papier“ folgen!

85 Die Grundrechte als Freiheitsrechte haben Anspruchscharakter gegenüber der hoheitlich handelnden öffentlichen Gewalt, in der Bundesrepublik Deutschland in vollem Umfang auch gegenüber dem Gesetzgeber. Wie ist das inhaltliche Verhältnis von subjektivrechtlichen und objektivrechtlichen Grundrechtsgehalt zu sehen? Stehen das Grundrecht als subjektives Freiheitsrecht und das Grundrecht als objektive Grundsatznorm, die ja jeweils Gehalte einer Grundrechtsbestimmung sind, eigenständig nebeneinander, sind sie inhaltlich miteinander verknüpft und wenn ja, in welcher Weise? Die verfassungsrechtliche Rechtsprechung gibt keine einheitliche Antwort. Die Bestimmung des objektivrechtlichen Gehalts knüpft an die im Grundrecht gewährleistete Freiheit an und verobjektiviert diese. Damit besteht zunächst ein sachinhaltlicher Bezug, aber die subjektivrechtliche Freiheit wird zugleich verändert. Sie wird ein Rechtsgut, das geschützt, oder ein objektives Freiheitsprinzip, das verwirklicht werden soll. Sie wird damit zum Objekt oder normativen Ziel, das näher bestimmt und eingegrenzt mit anderen Rechtsgütern in Beziehung gesetzt und gegen sie abgewogen werden muss. Die Nähe zur institutionellen Grundrechtsauffassung, die die grundrechtliche Freiheit als objektives Institut ansieht, ist deutlich. Freiheit wird von einer subjektiven Freiheit für einzelne zu einer objektiven Freiheit verallgemeinert, die als allgemeines Richtmaß erscheint. Als solche dirigiert sie mögliche Vorkehrungen organisatorischer, verfahrensmäßiger oder stützender Art, Böckenförde, Wissenschaft - Politik - Verfassungsgericht, Aufsätze, 2011,S. 210f.

86 In ständiger Rechtsprechung bezeichnet das BVerfG die Abwehr von Staatsmacht als zwar nicht ausschließliche, aber doch primäre Funktion der Grundrechte, BVerfG, Urteil vom 15. 1. 1958 - 1 BvR 400/57, NJW 1958, 257 - 1. Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; in den grundrechtlichen Bestimmungen des GG verkörpert sich aber auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gut. 2. Im bürgerlichen Recht entfaltet sich der Rechtsgehalt der Grundrechte mittelbar durch die privatrechtlichen Vorschriften. Er ergreift vor allem Bestimmungen zwingenden Charakters und ist für den Richter besonders realisierbar durch die Generalklauseln.Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Das ergibt sich aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Grundrechtsidee wie aus den geschichtlichen Vorgängen, die zur Aufnahme von Grundrechten in die Verfassungen der einzelnen Staaten geführt haben. Diesen Sinn haben auch die Grundrechte des GG, das mit der Voranstellung des Grundrechtsabschnitts den Vorrang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates betonen wollte. Dem entspricht es, dass der Gesetzgeber den besonderen Rechtsbehelf zur Wahrung dieser Rechte, die Verfassungsbeschwerde, nur gegen Akte der öffentlichen Gewalt gewährt hat. Das BVerfG befürwortet eine Ausstrahlungs- und demnach mittelbare Drittwirkung der Grundrechte. Danach gelten die im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes enthaltenen verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen für alle Bereiche des Rechts und somit auch für das Privatrecht; sie „entfalten sich durch das Medium derjenigen Vorschriften, die das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen, Sodan: Kontinuität und Wandel im Verfassungsrecht - Zum 60-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, NVwZ 2009, 546. Schäuble, Aktuelle Sicherheitspolitik im Lichte des Verfassungsrechts, ZRP 2007, 210 - nur ein wehrhafter Rechtsstaat genießt das Vertrauen der Bevölkerung, und dieses Vertrauen ist die beste Voraussetzung für Gelassenheit und gegen Hysterie. Freilich ist die Interpretation der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes auch für Hans-Jürgen Papier nicht Philosophie oder Religion, sondern die Auslegung positiven Verfassungsrechts. Nach seiner Auffassung gilt die „Unantastbarkeit” der Menschenwürde absolut. Selbst die Wahrnehmung anderer Grundrechte rechtfertige keine Beschränkung der Menschenwürde, auch nicht über das in solchen Fällen sonst gerne herangezogene Konstrukt der verfassungsimmanenten Schranken oder der Herstellung „praktischer Konkordanz"; damit sei die Menschenwürde „nicht abwägbar und vor allen Dingen auch nicht wegwägbar”, Hofmann, Zur Absolutheit des Menschenwürdeschutzes im Wirken des Präsidenten des BVerfG Hans-Jürgen Papier, NVwZ 2010, 21

87 Die Existenzsicherung des Einzelnen bleibt auch im vereinten Europa Aufgabe der Mitgliedstaaten. Der deutsche Sozialstaat gehört zum unveräußerlichen Kernbestand, Schlüter, Das soziale Netz verteidigen, FAZ vom 24, Februar 2010. Da das Hartz-IV-System seinem Selbstverständnis nach Menschen in kurzer Zeit in geeignete Ausbildung und Arbeit bringen soll, brauchen sich die Verfassungsrichter nicht vorwerfen zu lassen, sie würden diejenigen nicht Arbeiten, besserstellen als diejenigen, die arbeiten. Dennoch liegt vor der Politik die gewaltige Aufgabe, die Jobcenter und den Arbeitsmarkt so zu organisieren, dass vor der Politik die gewaltige Aufgabe, die Jobcenter und den Arbeitsmarkt so zu organisieren, dass künftig niemand mehr länger als vier Wochen ohne sozialversicherungspflichtigen Job bleib. Es gibt Millionen von Menschen, die aus den verschiedensten Gründen der Hochleistungsgesellschaft nicht standhalten oder auch nach Qualifizierung auch nach Qualifizierung auf dem hochspezialisierten Arbeitsmarkt keine Chance haben. Für diese ist genug Arbeit auch im gemeinwohlorientierten Bereich vorhanden, um diese sinnvoll und nicht nur als befristete "Maßnahmen" zu fördern wäre eine Schlüsselaufgabe. Wer immer nur über Sanktionen diskutiert, die längst vorhanden sind, muss erst einmal eine Mindestzahl geeigneter Jobs anbieten können, deren Ablehnung diese Sanktionen auslöst. Wenn dann der Status "nicht arbeiten" nur noch für wenige Wochen in Betracht kommt und auch für Alleinerziehende die Betreuungsfrage gelöst wird, kommt es nur noch auf ein gewisses Gefälle zwischen dem allgemeinen und dem geförderten Arbeitsmarkt an, das durch einen moderaten Mindestlohn sichergestellt werden könnte. Ergänzung von mir: im Jahr 2014, durch Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, MiLoG zum 1.1.2015, vom Gesetzgeber veranlasst wurde, vgl. Schwab, Normalarbeitsverhältnis oder Prekariat, 2014; ders. Arbeitsrecht und Arbeitsgesellschaft, 2014. Wenn außerdem die Erwerbsarbeit weniger belastet wird als Kapitalerträge und sich die öffentliche Hand und ihre Unternehmen wieder stärker zur Beschäftigung auch von leistungsgeminderten Menschen bekennen, kämen wir einer Lösung ein Stück näher. Das BVerfG fordert eine Vervielfachung der Sozialausgaben, sondern intelligente Lösungen, die zur gesellschaftlichen Teilhabe aller beitragen. Solange der Staat nicht in der Lage ist, das zu organisieren, wird er damit leben müssen, dass die Existenzsicherung inklusive sozialer Teilhabe auf anderem Wege garantiert werden muss. Neben dieser gewaltigen Aufgabe ist es notwendig, die zersplitterten sozialen Leistungsbereiche und die damit verbundene Sozialwirtschaft wieder stärker zusammenzuführen. Hierzu gehört, die Jobcenter daran zu erinnern, dass geeignete Fördermaßnahmen für Jugendliche zunächst einmal in der Jugendhilfe organisiert sind und nicht im Sanktionsmechanismus oder in Ein-Euro-Jobs. Eine weitere gewaltige Aufgabe ist eine offene Grundsatzdebatte darüber, inwieweit Regeln des deutschen Sozialrechts oder Regeln des europäischen Industrie- und Vergaberechts die Erbringung sozialer Leistungen etwa auch in Kindergräten, Rettungsdiensten, Krankenhäusern und Pflegeheimen bestimmen sollten. Bisher sickern diese Regeln sozialpolitisch weitgehend unreflektiert auf rechtlichem Wege in die Leistungssysteme ein, vgl. Schlüter, Das soziale Netz verteidigen, FAZ vom 24, Februar 2010

88 Höchstrichterliche Urteile sind kein Gesetzesrecht und erzeugen keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Das BVerfG hat festgestellt, dass höchstrichterliche Entscheidungen nicht die Rechtslage ändern, lediglich aufgrund eines prinzipiell irrtumsanfälligen Erkenntnisprozesses für den konkreten Fall klar stellen, BVerfGE 38, 386, 396 = NJW 1975, 968; BVerfGE 84, 212, 227 = NJW 1991, 2549; BVerfG, Beschluss vom 28.09.1992 - 1 BvR 496/87, NZA 1993, 213 = DB1992, 2511 = AP GG Art. 20 Nr. 15. Richterliche Rechtsfortbildung ist nach Auffassung des BVerfG „im modernen Staat geradezu unentbehrlich”, da sich die Lebensverhältnisse dynamisch wandeln und der Gesetzgeber mit den Anforderungen an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel und das Regelungsbedürfnis nur sehr schwer Schritt halten kann, vgl. BVerfG, Beschluss vom 19-10-1983 - 2 BvR 485/80, 2 BvR 486/80, NJW 1984, 475. Unter dem Grundgesetz sind richterlicher Rechtsfortbildung indessen durch den Grundsatz der Rechts- und Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG Grenzen gezogen. Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes enthält infolge seiner Weite und Unbestimmtheit regelmäßig keine unmittelbaren Handlungsanweisungen, die durch die Gerichte ohne gesetzliche Grundlage in einfaches Recht umgesetzt werden könnten. Insoweit ist es richterlicher Inhaltsbestimmung weniger zugänglich als die Grundrechte, vgl. Beuthien,Sozialplan und Unternehmensverschuldung, 1980, S. 48; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 RN 25 (S. 311 f.); es zu verwirklichen ist in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers, BVerfGE 1, 97, 105) = NJW 1952, 297. So ist es im Wege richterlicher Rechtsfortbildung aus dem Sozialstaatsgedanken kaum zu erschließen, warum den Sozialplanansprüchen, obwohl sie nur auf eine soziale Zusatzleistung des Arbeitgebers abzielen, ein besserer Konkursrang zukommen soll als den rückständigen Bezügen der Arbeitnehmer aus einem Arbeitsverhältnis mit dem Gemeinschuldner gem. § 61 Abs. 1 Nr. 1a KO. Anders als der BGH im Soraya-Fall konnte sich das BAG im übrigen nicht darauf berufen, dass seine Rechtsprechung von einer allgemeinen Rechtsüberzeugung gestützt werde, vgl. BVerfGE 34, 269, 290 = NJW 1973, 1221 - Der Richter muss sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen. Es muss einsichtig gemacht werden können, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft, BVerfGE 9, 338, 349] = NJW 59, 1579. Diese Aufgabe und Befugnis zu „schöpferischer Rechtsfindung” ist dem Richter - jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes - im Grundsatz nie bestritten worden, vgl. etwa R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 100 [1971], und dazu Redeker, NJW 72, 409 ff. Art. 20 Abs. 2 GG verleiht dem Grundsatz der Gewaltenteilung Ausdruck. Auch wenn dieses Prinzip im Grundgesetz nicht im Sinne einer strikten Trennung der Funktionen und einer Monopolisierung jeder einzelnen bei einem bestimmten Organ ausgestaltet worden ist, vgl. BVerfGE9, 268, 279 f. = NJW 1959, 1171; BVerfGE96, 375, 394 = NJW1998, 519; BVerfGE109, 190, 252 = NJW2004, 750, schließt es doch aus, dass die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen hat, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen, BVerfGE96, 375, 394 = NJW 1998, 519; BVerfGE109, 190, 252 = NJW2004, 750. Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter zwar nicht, das Recht fortzuentwickeln, BVerfGE122, 248, 267= NJW2009, 1469. Anlass zu richterlicher Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird, BVerfGE126, 286, 306 = NJW2010, 3422. Der Aufgabe und Befugnis zur „schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung“ sind allerdings mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung Grenzen gesetzt, BVerfGE34, 269, 288 = NJW1973, 1221; BVerfGE49, 304, 318 = NJW1979, 305; BVerfGE57, 220, 248 = NJW1981, 1829; BVerfGE74, 129, 152 = NJW1987, 1689. Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt, vgl. BVerfGE82, 6, 12 = NJW1990, 1593; BVerfGK8, 10, 14 = NJW2006, 3340. Ein Richterspruch setzt sich über die aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gesetzesbindung hinweg, wenn die vom Gericht zur Begründung seiner Entscheidung angestellten Erwägungen eindeutig erkennen lassen, dass es sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben hat, also objektiv nicht bereit war, sich Recht und Gesetz zu unterwerfen, vgl. BVerfGE87, 273, 280 = NJW1993, 996.

89 Zuzustimmen ist dem BAG, dass der Rechtsverkehr im Grundsatz auf den Fortbestand einer höchstrichterlichen Rechtsprechung vertrauen kann. Dabei handelt es sich nicht um bloße Billigkeitserwägungen, sondern um ein verfassungsrechtlich zwingendes Gebot des Rechtsstaatsprinzips, Höpfner, Nochmals: Vertrauensschutz bei Änderung der Rechtsprechung zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln, NZA 2009, 421. Zur verfassungsmäßigen Ordnung, vgl. BVerfGE 25, 371, 407 f. = NJW 1969, 1203; BVerfGE 50, 290, 366 = NJW 1979, 699; BVerfGE 65, 196. 210 = NJW 1984, 476. Zu dieser Ordnung gehören nicht nur die vom Normgeber gesetzten verfassungsmäßigen Vorschriften, sondern auch deren Auslegung durch den Richter und ebenso die im Wege zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung getroffenen Entscheidungen. Indessen sind der anerkannten Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung, BVerfGE 34, 269, 287 f. = NJW 1973, 1221; BVerfGE 49, 304, 318 = NJW 1979, 305; BVerfGE 65, 196, 210 ff. = NJW 1984, 476; BVerfGE 69, 188, 203 = NJW 1985, 2939; BVerfGE 71, 354, 362 f. = NJW 1986, 2242, Grenzen gezogen, und zwar nicht nur durch den Grundsatz der Gesetzesbindung in Art. 20 Abs. 3 GG. Legt der Richter offene Rechtsbegriffe in einem Gesetz aus oder bildet er Recht fort, stehen die sich daraus ergebenden Einschränkungen des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG nur mit der Verfassung im Einklang, wenn sie den Grundentscheidungen des Grundgesetzes, vornehmlich dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit entsprechen. vgl. BVerfGE 6, 32, 41 = NJW 1957, 297. Das Rechtsstaatsprinzip, das der richterlichen Rechtsfindung Grenzen setzt, enthält keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote oder Verbote von Verfassungsrang, sondern ist ein Verfassungsgrundsatz, NJW 1957, 1395; BVerfGE 65, 283, 290 = NJW 1984, 430.In dem hier interessierenden Zusammenhang sind für den Richter - wie für den Gesetzgeber - die im Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsätze des Vertrauensschutzes von Bedeutung. Darüber hinaus verkörpern der Grundsatz der Rechtssicherheit und die Idee der materiellen Gerechtigkeit wesentliche Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips, vgl. BVerfGE 7, 89, 92 = NJW 1957, 1395; BVerfGE 49, 148, 164 = NJW 1979, 534; BVerfGE 63, 215, 223 = NJW 1985, 321; BVerfGE 65, 196, 215 = NJW 1984, 476. Das Rechtsstaatsprinzip ist nicht dadurch verletzt, dass das BAG den Arbeitnehmern, denen Leistungen vom Arbeitgeber über eine Unterstützungskasse in Aussicht gestellt wurden, im Ergebnis einen Rechtsanspruch auf Versorgung zugebilligt und dem versprechenden Arbeitgeber nur ein an sachliche Gründe gebundenes Widerrufsrechts zugestanden hat, BAG, AP § 242 BGB - Ruhegehalt- - Nr. 96, - Nr. 127, - Nr. 129; AP § 242 BGB - Ruhegehalt- Unterstützungskassen - Nr. 3, - Nr. 6. Der Entgeltgedanke und der Vertrauensschutz gestatten es, die Ausschlussklausel bei Unterstützungskassen nur als Widerrufsrechts zuzulassen, BVerfGE 65, 196, 210 ff. = NJW 1984, 476. Die hier anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen haben diesen Rechtszustand im Ergebnis nicht verändert. Dem Betriebsrentengesetz, das ausdrücklich als Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung bezeichnet worden ist, lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber die Rechtsprechung des BAG zu den Grundlagen der betrieblichen Altersversorgung in seinen Willen aufgenommen hat. Auch wenn das Gesetz mit Rücksicht auf die historische Ausformung der Unterstützungskasse diese als Versorgungseinrichtung beschreibt, die auf ihre Leistungen keinen Rechtsanspruch gewährt, verfolgt es materiell-rechtlich das Ziel, den erdienten Teilbetrag unverfallbarer anwartschaftsgleicher Versorgungsrechte oder entstandene Versorgungsanrechte bei Unterstützungskassen in der gleichen Weise zu schützen wie bei anderen Durchführungsformen der betrieblichen Altersversorgung, BVerfG, Beschluss vom 14.01.1987 - 1 BvR 1052/79, NZA 1987, 347 = BVerfGE74, 129 = DB 1987, 638. Höpfner, Zwar dürfe eine höchstrichterliche Rechtsprechung grundsätzlich geändert werden. Sofern durch sie jedoch ein Vertrauenstatbestand begründet worden sei, müsse diesem erforderlichenfalls durch Bestimmungen zur zeitlichen Anwendbarkeit Rechnung getragen werden. Die Bindung des Richters an Richterrecht ist faktisch stärker abgesichert als die an das Gesetz, Höpfner, Vertrauensschutz bei Änderung der Rechtsprechung zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln, NZA 2008, 92 - Offen bleibt jedoch, wodurch der Vertrauenstatbestand begründet wird. Hierzu sind zwei Voraussetzungen kumulativ zu erfüllen: Erstens muss der Rechtsverkehr tatsächlich auf den Fortbestand einer höchstrichterlichen Rechtsprechung vertrauen. Dies ist regelmäßig der Fall. Meist kennt der Bürger nur das Verhaltensgebot, ohne um dessen Verankerung in der Rechtsordnung zu wissen. Für den Betroffenen in seinen Dispositionen ist es nicht entscheidend, ob die Rechtsänderung durch die Legislative oder durch die Gerichte herbeigeführt wird. Zweitens muss das Vertrauen in eine Rechtsprechung schutzwürdig sein. Das ist nur für eine höchstrichterliche Entscheidungspraxis der Fall, da nur ersterer eine vergleichbare Geltungskraft und Stabilität wie kodifiziertem Recht zukommt, Höpfner, Vertrauensschutz und Richterrecht - Zur Zulässigkeit rückwirkender Rechtsprechungsänderungen im Zivilrecht, RdA 2006, 156. Die Rede vom „Vertrauen in eine Rechtslage“ ist sehr unpräzise. Denn Vertrauen auf eine Rechtslage ist in zwei Weisen denkbar: Es kann sich auf ein bestimmtes Auslegungsergebnis oder auf die auszulegende Norm (bzw. das Normmaterial) beziehen. Überlegens- und prüfungswert ist das Vertrauen in die Verlässlichkeit einer bestimmten Auslegungsprognose oder der Beständigkeit der Auslegungsgrundlage. Vertrauensschutz greift bei aber nur berechtigtem Vertrauen. Vertrauen darf man allerdings auf das, worauf man sich mit hinreichend verlässlicher Sicherheit einrichten kann. Verlassen kann man sich jedenfalls auf das Gegebene, nicht unbedingt auf -hoffnungsvoll- Erwartetes. Die Befugnis der Rechtsprechung zur abstrakt-generellen Auslegung von Rechtsnormen ist kein Selbstzweck. Im demokratischen Rechtsstaat ist es Aufgabe der Gerichte sei, zu entscheiden, was Recht ist. Gerichte klären die Rechtslage für den Zeitpunkt der Entscheidung. Auch ohne gewohnheitsrechtliche Rechtsgeltung kann eine ständige Rechtsprechung Vertrauensschutz begründen, der ihre rückwirkende Korrektur ausschließt.

90 Echte Rückwirkung durch „Klarstellung“ des geltenden Rechts 1. Den Inhalt geltenden Rechts kann der Gesetzgeber mit Wirkung für die Vergangenheit nur in den verfassungsrechtlichen Grenzen für eine rückwirkende Rechtsetzung feststellen oder klarstellend präzisieren. 2. Eine nachträgliche, klärende Feststellung des geltenden Rechts durch den Gesetzgeber ist grundsätzlich als konstitutiv rückwirkende Regelung anzusehen, wenn dadurch eine in der Fachgerichtsbarkeit offene Auslegungsfrage entschieden wird oder eine davon abweichende Auslegung ausgeschlossen werden soll. BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, NVwZ 2014, 577 = BeckRS 2014, 47561 = DB 2014, 634 = EuGRZ 2014, 241 = JZ 2014, 510 Das BVerfG unterscheidet bei rückwirkenden Gesetzen in ständiger Rechtsprechung zwischen Gesetzen mit echter Rückwirkung, die grundsätzlich nicht mit der Verfassung vereinbar sind, vgl. BVerfGE 45, 142 = NJW 1977, 2024; BVerfGE 101, 239, 262 = NJW 2000, 413; BVerfGE 132, 302, 318 = NJW 2013, 145 und solchen mit unechter Rückwirkung, die grundsätzlich zulässig, vgl. BVerfGE 132, 302, 318 = NJW 2013, 145. Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn sie nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift, vgl. BVerfGE 11, 139, 145 = NJW 1960, 1563; BVerfGE 30, 367, 386 = RzW 1971, 309; BVerfGE 101, 239, 263 = NJW 2000, 413; BVerfGE 123, 186, 257 = NJW 2009, 2033; BVerfGE 132, 302, 318 = NJW 2013, 145. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll - „Rückbewirkung von Rechtsfolgen“; vgl. BVerfGE 127, 1, 16 = NJW 2010, 3629. Im Steuerrecht liegt eine echte Rückwirkung nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert, vgl. BVerfGE 127, 1, 18 = NJW 2010, 3629; BVerfGE 127, 31, 48 = NJW 2010, 3638; BVerfGE 127, 61, 77 = NJW 2010, 3634; BVerfGE 132, 302, 319 = NJW 2013, 145. Für den Bereich des Einkommensteuerrechts bedeutet dies, dass die Änderung von Normen mit Wirkung für den laufenden Veranlagungszeitraum jedenfalls in formaler Hinsicht der Kategorie der unechten Rückwirkung zuzuordnen ist; denn nach § 38 AO iVm § 36 Abs. 1 EStG entsteht die Einkommensteuer erst mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums, d. h. des Kalenderjahres, § 25 Abs. 1 EStG; vgl. BVerfGE 72, 200, 252 = NJW 1987, 1749; BVerfGE 97, 67, 80; BVerfGE 97, 85 = NJW 1998, 1547 = NJW 1998, 1549; BVerfGE 132, 302, 319 = NJW 2013, 145; vgl. auch bereits BVerfGE 13, 261, 263f, 272  = NJW 1962, 291 = NJW 1962, 730; BVerfGE 13, 274, 277; BVerfGE 19, 187, 195 = NJW 1966, 293; BVerfGE 30, 272, 285. Zur verbindlichen Auslegung einer Norm ist letztlich in aller Regel die rechtsprechende Gewalt berufen, vgl. BVerfGE 65, 196, 215 = NJW 1984, 476; BVerfGE 111, 54, 107 = NJW 2005, 126 = NVwZ 2005, 437 Ls. BVerfGE 126, 369, 392 = NJW 2010, 3705. Dies gilt auch bei der Frage, ob eine Norm konstitutiven oder deklaratorischen Charakter hat. Allerdings ist der Gesetzgeber ebenfalls befugt, den Inhalt einer von ihm gesetzten Norm zu ändern oder klarstellend zu präzisieren und dabei gegebenenfalls eine Rechtsprechung zu korrigieren, mit der er nicht einverstanden ist. Dabei hat er sich jedoch im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu halten, zu der auch die aus den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grenzen für rückwirkende Rechtsetzung gehören. Der Gesetzgeber kann diese Bindung und die Prüfungskompetenz der Gerichte nicht durch die Behauptung unterlaufen, seine Norm habe klarstellenden Charakter, vgl. BVerfGE 126, 369, 392 = NJW 2010, 3705. Es besteht keine Befugnis des Gesetzgebers zur authentischen Interpretation gesetzlicher Vorschriften, vgl. BVerfGE 126, 369, 392 = NJW 2010, 3705Ls.; BVerfGE 131, 20, 37 = NVwZ 2012, 876. Der Wunsch des Gesetzgebers, eine Rechtslage rückwirkend klarzustellen, verdient grundsätzlich nur in den durch das Rückwirkungsverbot vorgegebenen Grenzen verfassungsrechtliche Anerkennung. Andernfalls könnte der Gesetzgeber auch jenseits dieser verfassungsrechtlichen Bindung einer Rechtslage unter Berufung auf ihre Klärungsbedürftigkeit ohne Weiteres die von ihm für richtig gehaltene Deutung geben, ohne dass von den dafür letztlich zuständigen Gerichten geklärt wäre, ob dies der tatsächlichen Rechtslage entsprochen hat. Damit würde der rechtsstaatlich gebotene Schutz des Vertrauens in die Stabilität des Rechts empfindlich geschwächt. Angesichts der allgemeinen Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Rechts könnte es dem Gesetzgeber regelmäßig gelingen, einen Klärungsbedarf zu begründen. Eine von Vertrauensschutzerfordernissen weitgehend freigestellte Befugnis zur rückwirkenden Klarstellung des geltenden Rechts eröffnete dem Gesetzgeber den weitreichenden Zugriff auf zeitlich abgeschlossene Rechtslagen, ließe im Nachhinein politischen Opportunitätserwägungen Raum, die das einfache Recht zum Zeitpunkt der später als korrekturbedürftig empfundenen Auslegung nicht prägten, und beeinträchtigte so das Vertrauen in die Stabilität des Rechts erheblich. Ein legislatives Zugriffsrecht auf die Vergangenheit folgt auch nicht ohne Weiteres aus dem Demokratieprinzip, sondern steht zu diesem in einem Spannungsverhältnis. Zwar begrenzt das Rückwirkungsverbot die legislativen Handlungsspielräume des Parlaments für die Vergangenheit. Die demokratische Verantwortung des Parlaments ist jedoch auf die Gegenwart und auf die Zukunft bezogen. Früher getroffene legislative Entscheidungen verfügen über eine eigenständige demokratische Legitimation. Der historische Legitimationskontext kann – jedenfalls soweit die Gesetzeswirkungen in der Vergangenheit liegen – nicht ohne Weiteres durch den rückwirkenden Zugriff des heutigen Gesetzgebers ausgeschaltet werden. Besonders augenfällig würde dies bei Gesetzen, welche Entscheidungen aus einer früheren Legislaturperiode, die unter anderen politischen Mehrheitsverhältnissen getroffen wurden, rückwirkend revidierten. Für die Vergangenheit beziehen diese Entscheidungen ihre demokratische Legitimation allein aus dem damaligen, nicht aus dem heutigen Entscheidungszusammenhang. Der demokratische Verfassungsstaat vermittelt eine Legitimation des Gesetzgebers in der Zeit. Auch vom Demokratieprinzip ausgehend muss der Zugriff des Gesetzgebers auf die Vergangenheit die Ausnahme bleiben. Eine rückwirkende Klärung der Rechtslage durch den Gesetzgeber ist in jedem Fall als konstitutiv rückwirkende Regelung anzusehen, wenn der Gesetzgeber damit nachträglich einer höchstrichterlich geklärten Auslegung des Gesetzes den Boden zu entziehen sucht. Der Gesetzgeber hat es für die Vergangenheit grundsätzlich hinzunehmen, dass die Gerichte das damals geltende Gesetzesrecht in den verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung verbindlich auslegen. Entspricht diese Auslegung nicht oder nicht mehr dem politischen Willen des Gesetzgebers, kann er das Gesetz für die Zukunft ändern. Eine nachträgliche Klärung der Rechtslage durch den Gesetzgeber ist aber grundsätzlich auch dann als konstitutiv rückwirkende Regelung anzusehen, wenn die rückwirkende Regelung eine in der Fachgerichtsbarkeit kontroverse Auslegungsfrage entscheidet, die noch nicht höchstrichterlich geklärt ist. Die klärende Regelung ist bereits dann konstitutiv, wenn sie eine – sei es auch unterinstanzliche – fachgerichtliche Auslegung durch nachträglichen Zugriff auf einen abgeschlossenen Sachverhalt ausschließen soll. Indem der Gesetzgeber mit einem in der maßgeblichen Aussage nunmehr regelmäßig eindeutigen Gesetz rückwirkend die insofern offenbar nicht eindeutige, in ihrer Anwendung jedenfalls uneinheitliche Rechtslage klären will, verleiht er dem rückwirkenden Gesetz konstitutive Wirkung. Das BVerfG entscheidet in diesen Fällen allein über die Verfassungsmäßigkeit der Rückwirkung, nicht über die verbindliche Auslegung des einfachen Rechts, das der Gesetzgeber rückwirkend ändern wollte. Es ist nicht Aufgabe des BVerfG, die in diesen Fällen noch nicht höchstrichterlich entschiedene, aber umstrittene Auslegung des einfachen Rechts selbst vorzunehmen. Für die Feststellung einer konstitutiven rückwirkenden Gesetzesänderung genügt es, wenn das vorlegende Gericht vertretbar einen Standpunkt zur Auslegung des alten Rechts einnimmt, den der Gesetzgeber mit der rückwirkenden Neuregelung ausschließen will. Eine gefestigte oder gar höchstrichterlich bestätigte Rechtsprechungslinie verlangt dieser Rechtsstandpunkt nicht. Entscheidend ist, dass der Gesetzgeber ihn korrigieren und ausschließen will. Die Verfassungsmäßigkeit eines rückwirkenden Gesetzes ist nur dann fraglich, wenn es sich um ein den Bürger belastendes Gesetz handelt vgl. BVerfGE 24, 220, 229; BVerfGE 32, 111, 123 = RzW 1972, 151; BVerfGE 50, 177, 193 = NJW 1979, 1649 Ls. BVerfGE 101, 239, 262 = NJW 2000, 413; BVerfGE 131, 20, 36 = NVwZ 2012, 876. Das grundsätzliche Verbot echt rückwirkender belastender Gesetze beruht auf den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, vgl. BVerfGE 45, 142, 167 = NJW 1977, 2024; BVerfGE 132, 302, 317 = NJW 2013, 145. Es schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte, vgl. BVerfGE 101, 239, 262 = NJW 2000, 413; BVerfGE 132, 302, 317 = NJW 2013, 145. Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert, bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des Grundgesetzes, vgl. BVerfGE 45, 142, 167; BVerfGE 45, 142; BVerfGE 63, 343, 356 f. = NJW 1983, 2757; BVerfGE 72, 200, 242 = NJW 1987, 1749; BVerfGE 97, 67, 78 = NJW 1998, NJW Jahr 1998 Seite 1547; BVerfGE 132, 302, 317 = NJW 2013, 145. Die Grundrechte wie auch das Rechtsstaatsprinzip garantieren im Zusammenwirken die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und damit als eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde die Betroffenen in ihrer Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an ihr Verhalten oder an sie betreffende Umstände ohne Weiteres im Nachhinein belastendere Rechtsfolgen knüpfen, als sie zum Zeitpunkt ihres rechtserheblichen Verhaltens galten, vgl. BVerfGE 30, 272, 285; BVerfGE 63, 343, 357 = NJW 1983, 2757; BVerfGE 72, 200, 257 = NJW 1987, 1749; BVerfGE 97, 67, 78 = NJW 1998, 1547; BVerfGE 105, 17, 37 = NJW 2002, 3009; BVerfGE 114, 258, 300 = NVwZ 2005, 1294= NJW 2005, 3558; BVerfGE 127, 1, 16 = NJW 2010, 3629; BVerfGE 132, 302, 317 = NJW 2013, 145. Ausgehend hiervon sind Gesetze mit echter Rückwirkung grundsätzlich nicht mit der Verfassung vereinbar, vgl. BVerfGE 45, 142, 167 = NJW 1977, 2024; BVerfGE 101, 239, 262 = NJW 2000, 413; BVerfGE 132, 302, 318 = NJW 2013, 145. Von diesem grundsätzlichen Verbot echt rückwirkender Gesetze bestehen jedoch Ausnahmen, vgl. BVerfGE 13, 261, 272 = NJW 1962, 291; BVerfGE 18, 429, 439 = NJW 1965, 1267; BVerfGE 30, 367, 387 = RzW 1971, 309; BVerfGE 50, 177, 193 = NJW 1979, 1649.; BVerfGE 88, 384, 404 = DtZ 1993, 275; BVerfGE 95, 64, 86 f. = NJW 1997, 722 = NVwZ 1997 479 Ls.; BVerfGE 101, 239, 263 = NJW 2000, 413; BVerfGE 122, 374, 394 = NVwZ 2009, 1025; BVerfGE 126, 369, 393 = NJW 2010, 3705.; BVerfGE 131, 20, 39 = NVwZ 2012, 876. Das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze, vgl. BVerfGE 88, 384, 404 = DtZ 1993, 275; BVerfGE 122, 374, 394 = NVwZ 2009, 1025; BVerfGE 126, 369, 393 = NJW 2010, 3705. Es gilt nicht, soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte, vgl. BVerfGE 95, 64, 86 = NJW 1997, 722 = NVwZ 1997, 479 Ls.; BVerfGE 122, 374, 394 = NVwZ 2009, 1025 oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig war, vgl. BVerfGE 13, 261, 271 = NJW 1962 291; BVerfGE 50, 177, 193 = NJW 1979, 1649. Bei den in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannten, nicht abschließend definierten Fallgruppen handelt es sich um Typisierungen ausnahmsweise fehlenden Vertrauens in eine bestehende Gesetzeslage, vgl. BVerfGE 72, 200, 258 = NJW 1987, NJW Jahr 1987 Seite 1749; BVerfGE 97, 67, 80; BVerfGE 97, 85 = NJW 1998, 1547. Für die Frage, ob mit einer rückwirkenden Änderung der Rechtslage zu rechnen war, ist von Bedeutung, ob die bisherige Regelung bei objektiver Betrachtung geeignet war, ein Vertrauen der betroffenen Personengruppe auf ihren Fortbestand zu begründen, vgl. BVerfGE 32, 111, 123. Eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit echter Rückwirkungen ist gegeben, wenn die Betroffenen schon im Zeitpunkt, auf den die Rückwirkung bezogen wird, nicht auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung vertrauen durften, sondern mit deren Änderung rechnen mussten, vgl. BVerfGE 13, 261, 272 = NJW 1962, 291; BVerfGE 30, 367, 387 = RzW 1971, 309; BVerfGE 122, 374, 394 = NVwZ 2009, 1025. Vertrauensschutz kommt insbesondere dann nicht in Betracht, wenn die Rechtslage so unklar und verworren war, dass eine Klärung erwartet werden musste, vgl. BVerfGE 13, 261, 272 = NJW 1962, 291; BVerfGE 18, 429, 439; oder wenn das bisherige Recht in einem Maße systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden, vgl. BVerfGE 13, 215, 224 = NJW 1962, 729; BVerfGE 30, 367, 388. Der Vertrauensschutz muss ferner zurücktreten, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung erfordern, vgl. BVerfGE 13, 261, 272 = NJW 1962, 291; BVerfGE 18, 429, 439 = NJW 1965, 1267, wenn der Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein verlassen durfte, vgl. BVerfGE 13, 261, 272 = NJW 1962, 291; BVerfGE 18, 429, 439, oder wenn durch die sachlich begründete rückwirkende Gesetzesänderung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird (so genannter Bagatellvorbehalt, vgl. BVerfGE 30, 367, 389 = RzW 1971, 309. Allein die Auslegungsbedürftigkeit einer Norm rechtfertigt nicht deren rückwirkende Änderung; erst wenn die Auslegungsoffenheit ein Maß erreicht, das zur Verworrenheit der Rechtslage führt, darf der Gesetzgeber eine klärende Neuregelung auf die Vergangenheit erstrecken. Den in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannten Fallgruppen zu den Ausnahmen vom Verbot echt rückwirkender Gesetze ist sämtlich gemeinsam, dass besondere Umstände ein grundsätzlich berechtigtes Vertrauen in die bestehende Rechtslage erst gar nicht entstehen lassen oder entstandenes Vertrauen wieder zerstören. Die schlichte Auslegungsoffenheit und Auslegungsbedürftigkeit einer Norm und die damit bestehende Unsicherheit über deren Inhalt ist. keine solche Besonderheit, die dieses grundsätzlich berechtigte Vertrauen zerstören könnte. Andernfalls könnte sich insbesondere in den Anfangsjahren einer gesetzlichen Regelung grundsätzlich nie ein schutzwürdiges Vertrauen gegen rückwirkende Änderungen entwickeln, solange sich keine gefestigte Rechtsprechung hierzu herausgebildet hat. Sähe man jede erkennbare Auslegungsproblematik als Entstehungshindernis für verfassungsrechtlich schutzwürdiges Vertrauen an, stünde es dem Gesetzgeber weitgehend frei, das geltende Recht immer schon dann rückwirkend zu ändern, wenn es ihm opportun erscheint, etwa weil die Rechtsprechung das geltende Recht in einer Weise auslegt, die nicht seinen Vorstellungen und Erwartungen entspricht. In diesem Fall kann der Gesetzgeber zwar stets die Initiative ergreifen und das geltende Recht für die Zukunft in seinem Sinne ändern, sofern er sich dabei an die Vorgaben des Grundgesetzes hält. Einen „Freibrief“ für rückwirkende Gesetzesänderungen verschafft ihm eine schlicht auslegungsbedürftige und insofern unklare Rechtslage hingegen nicht. Eine so weitreichende Befugnis des Gesetzgebers zur Normsetzung mit echter Rückwirkung würde das durch Art. 20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen in die geltende Rechtslage weitgehend entwerten. Außerdem würde eine über besondere Ausnahmefälle hinausgreifende Befugnis des Gesetzgebers zur rückwirkenden Präzisierung von Normen, die sich als auslegungsbedürftig erweisen, die vom Grundgesetz der rechtsprechenden Gewalt vorbehaltene Befugnis zur verbindlichen Auslegung von Gesetzen unterlaufen, vgl. BVerfGE 126, 369, 392 = NJW 2010, 3705. Da sich Auslegungsfragen gerade bei neuen Normen häufig stellen, bestünde die Gefahr, dass auf diese Weise schließlich das Regel-Ausnahme-Verhältnis bei der echten Rückwirkung in dem Sinne in sein Gegenteil verkehrt würde, dass auch sie nicht mehr grundsätzlich unzulässig bliebe, sondern – ebenso wie die unechte Rückwirkung – grundsätzlich zulässig wäre. Ein solches Ergebnis wäre mit den verfassungsrechtlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit nicht vereinbar.

91 Recht soll gut und gerecht sein. Im demokratischen Rechtsstaat liegt die Definitionskompetenz hierfür zuvörderst beim Gesetzgeber, dessen Vorgaben der Richter in denkendem Gehorsam umzusetzen hat. Doch wie hat er zu entscheiden, wenn ihm der Gesetzgeber keine Vorgaben macht, wo er welche machen müsste? Wie hat er mit in sich unstimmigen Vorgaben und einer Rechtsordnung voller Widersprüche umzugehen?

92 Der moderne Gesetzgeber arbeitet unter Zeitdruck und mit einem enormen Gesetzesausstoß. Das stetige Anschwellen des Bundesgesetzblatts belegt die Produktivität. Dass dabei Fehler passieren, liegt auf der Hand. Die Klage über die schlechte Qualität der Gesetzgebung ist Legion. Dabei geht es nicht nur um Gesetzgebungsaktionismus oder die abnehmende Fähigkeit zu Abstraktion, sondern auch um handwerkliche Fehler, Ungenauigkeiten in den Formulierungen, zu eng oder zu weit gefasste Tatbestandsmerkmale, übersehene Folgeanpassungen in anderen Gesetzen, ins Leere gehende Verweisungen. Verständlicherweise sinnt der Gesetzgeber dann auf Nachbesserung, weshalb gerade größere Gesetzesvorhaben häufig sogar mehrere Korrekturgesetze nach sich ziehen. Die entscheidende Frage ist, ob dies zum Nachteil der Bürger auch rückwirkend geschehen darf. Darf der Gesetzgeber fehlerhafte Gesetze mit echter Rückwirkung für bereits abgeschlossene Sachverhalte im Nachhinein reparieren? Vgl. Hey, Verbot rückwirkender Klarstellung als Weg zu besserer Gesetzgebung? NJW 2014, 1564. Aus der ersten Weichenstellung für eine konstitutive Rechtsänderung folgt die Notwendigkeit zur Rechtfertigung rückwirkender Gesetzgebung anhand allgemeiner Maßstäbe. Das Klarstellungsinteresse setzt den Rechtfertigungsmaßstab nicht herab. Ausgehend von einem grundsätzlichen Verbot echter Rückwirkung akzeptiert das BVerfG Eingriffe in abgeschlossene Sachverhalte nur, wenn die Änderung vorhersehbar war, so dass nicht auf den Fortbestand der günstigeren Rechtslage vertraut werden konnte. Zu bedenken ist die unklare und verworrene Rechtslage bei der fehlenden Vertrauens festzustellen ist. Es handelt sich um einen Sonderfall des fehlenden Vertrauens, bei dem es nicht darum geht, ob die Gesetzesunterworfenen mit einer rückwirkenden Rechtsänderung rechnen mussten, sondern es fehlt von vornherein an einer geeigneten Grundlage, anhand derer sich Gesetzesvertrauen bilden könnte. Zum Einsatz gekommen ist dieser Ausnahmetatbestand nur in den Anfangsjahren der Bundesrepublik im Zusammenhang mit rückwirkenden Maßnahmen zur Bewältigung der Kriegs- und Nachkriegswirren. Die Problematik liegt vor allem darin begründet, dass eine derart unklare und verworrene Rechtslage mit den Anforderungen eines Rechtsstaats in Normallage unvereinbar ist. Richtigerweise muss der Gesetzgeber, wenn es ihm nicht gelingt, hinreichend bestimmte Eingriffsgrundlagen zu schaffen, für die Vergangenheit ganz auf den Eingriff verzichten. Die unklare und verworrene Rechtslage ist so zu behandeln, als habe es kein Gesetz gegeben. Genauso wie die erstmalige Schaffung von Eingriffsgrundlagen auf die Zukunft beschränkt ist, kann das zur Handlungsanleitung und damit als Vertrauensgrundlage ungeeignete Gesetz nur mit Wirkung für die Zukunft nachgebessert werden. Trotz dieser subjektiv-rechtlichen Begründung des Verbots rückwirkender belastender Gesetze kann Gesetzesvertrauen aber nicht individuell, sondern nur abstrakt und damit objektiv bestimmt werden. Weder kommt es darauf an, ob der Betroffene das Gesetz tatsächlich kannte, noch ob dieses für seine Handlungen ursächlich war. Auch die Frage der geeigneten Vertrauensgrundlage wird normativ und nicht empirisch ermittelt. Es geht um die Frage, ob der Bürger vertrauen durfte, nicht ob er vertraut hat. Aus diesem Grund wird der durch Gerichtsentscheidungen begründeten untergesetzlichen Rechtslage vielfach die Eignung als Vertrauensgrundlage abgesprochen. Zwar kann das Gesetz immer nur in einer zulässigen Interpretation Vertrauensgrundlage sein, die Interpretationsbedürftigkeit steht der Begründung von Vertrauen jedoch nicht entgegen. Der Vertrauensschutzbereich umfasst zunächst jede unter Anwendung anerkannter Auslegungsregeln gewonnene Auslegung, wobei der Betroffene darauf vertrauen darf, dass sich die für ihn günstigste Auslegung durchsetzt. Nur so erklärt sich, warum es zur Bildung von Gesetzesvertrauen schon vor Begründung einer ständigen, die Norm in einer bestimmten Weise interpretierenden, (höchstrichterlichen) Rechtsprechung kommen kann. Insbesondere das Bestimmtheitsgebot erwies sich als stumpfes Schwert, weil das BVerfG es ausreichen lässt, dass die Fachgerichtsbarkeit auch missglückten überkomplizierten Vorschriften irgendwann einen Sinn einhaucht.

93 Die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung gründet auf Vertrauen, insbesondere auf dem Vertrauen des Bürgers in die Rechtsordnung. „Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Den Kontinuitätserwartungen an das Recht (Recht muss verlässlich sein und Vertrauenserwartungen befrieden) steht die Notwendigkeit gegenüber, das Recht fortzuentwickeln und zu erneuern, schließlich ist nichts so sicher wie der gesellschaftliche und wirtschaftlich-soziale Wandel. Recht muss dynamisch anpassungsfähig sein um seine Befriedungs- und Streitschlichtungsfunktion erfüllen zu können. Der Bürger verlässt sich nicht nur auf den Bestand des Rechts, sondern erwartet ebenso, dass das Recht verbessert und an sich ändernde Verhältnisse angepasst wird. Zwischen diesen Erwartungen der rechtsstaatlichen Kontinuität und der demokratischen Erneuerung steht der Gesetzgeber in seinem gesetzgeberischen Gestaltungsauftrag. Der verfassungsrechtliche Grundsatz des Vertrauensschutzes sucht hier einen angemessenen Ausgleich, vgl. Kreuter-Kirchhof: Grundrechtliche Maßstäbe für eine Reform des EEG, NVwZ 2014, 770. Verfassungsrechtlich ist das Prinzip des Vertrauensschutzes in dem Grundsatz der Rechtssicherheit als Teil des Rechtsstaatsprinzips und im Speziellen in den Grundrechten verankert. Für den Bürger bedeutet Rechtssicherheit vor allem Vertrauensschutz. Will der Gesetzgeber in der Vergangenheit liegende Sachverhalte regeln oder an in der Vergangenheit entstandene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen anknüpfen, hat er den Grundsatz des Vertrauensschutzes zu beachten. Das BVerfG entwickelte insbesondere in seiner jüngeren Rechtsprechung einen differenzierten verfassungsrechtlichen Maßstab für die Zulässigkeit rückwirkender Gesetze. Der Gesetzgeber hat zwischen dem Ausmaß des durch die Gesetzesänderung verursachten Vertrauensschadens und der Beeinträchtigung der geschützten Grundrechtspositionen des Einzelnen einerseits und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl andererseits abzuwägen. Geschützt wird nur betätigtes Vertrauen, wenn der Betroffene vertraut hat und vertraut haben durfte, er also nicht getäuscht oder unrichtige Angaben gemacht und jedenfalls dispositive Entscheidungen getroffen hat. Bei Gesetzgebungsmaßnahmen ist nach neuerer Rechtsprechung mit fließenden Übergängen – zu unterscheiden zwischen der echten Rückwirkung (der Rückbewirkung), die eine Rechtslage für abgeschlossene Sachverhalte ändert, und der unechten Rückwirkung (der Rückanknüpfung), die in Zukunft Rechtsfolgen für einen Tatbestand ändert, der bereits in der Vergangenheit ins Werk gesetzt worden ist. Ein Gesetz, das in einen bereits abgeschlossenen Sachverhalt nachträglich ändernd eingreift, ist hiernach grundsätzlich unzulässig. Nur in besonderen Ausnahmefällen ist eine solche echte Rückwirkung (Rückbewirkung von Rechtsfolgen) gerechtfertigt. Der Bürger soll sich darauf verlassen können, dass der Gesetzgeber an abgeschlossene Tatbestände keine ungünstigeren Folgen knüpft als nach dem im Zeitpunkt der Vollendung dieser Tatbestände geltenden Recht. Knüpft der Gesetzgeber hingegen an Tatbestände und Rechtsbeziehungen an, die zwar in der Vergangenheit begonnen, aber noch nicht abgeschlossen wurden, handelt es sich um einen Fall der unechten oder retrospektiven Rückwirkung. Die Rechtsfolgen treten erst nach Verkündung der Norm ein, knüpfen aber an einen Tatbestand an, der bereits vor der Verkündung des Gesetzes „ins Werk gesetzt“ worden ist, vgl. Kreuter-Kirchhof: Grundrechtliche Maßstäbe für eine Reform des EEG, NVwZ 2014, 772. Im Prinzip hat das BVerfG nur seine Rechtsprechung bestätigt, dass an echte Rückwirkungen erhebliche Anforderungen zu stellen sind. Insoweit ist es plausibel, dass nicht jede unklare Rechtssituation den Steuergesetzgeber ermächtigt, rückwirkend die Norm zu Lasten des Steuerpflichtigen zu ändern. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen, weil es sich bei den vom Steuergesetzgeber beabsichtigten „klarstellenden“ Regelungen fast immer um Rechtsprobleme handelt, die der Steuergesetzgeber überhaupt nicht bzw. nicht klar und eindeutig auf der Normebene formuliert hatte. Das Rechtsstaatsprinzip, also die Rechtssicherheit und der Vertrauensschutz erfordern es, dass derartige Unklarheiten an den Rückwirkungskategorien zu messen sind, Crezelius, Aktuelle Steuerrechtsfragen in Krise und Insolvenz, NZI 2014, 447. Die Rede vom „Vertrauen in eine Rechtslage“ ist zu unpräzise. Denn Vertrauen auf eine Rechtslage ist in zwei Weisen denkbar: Es kann sich auf ein bestimmtes Auslegungsergebnis oder auf die auszulegende Norm (bzw. das Normmaterial) beziehen. Je nachdem dient das Rückwirkungsverbot entweder der Verlässlichkeit einer bestimmten Auslegungsprognose oder der Beständigkeit der Auslegungsgrundlage. Vertrauensschutz greift bei berechtigtem Vertrauen. Vertrauen darf man auf das, worauf man sich mit genügender Sicherheit verlassen kann. Verlassen kann man sich jedenfalls auf das Gegebene, nicht unbedingt auf Erwartetes. Gegeben ist bei normativ begründeten Erwartungen insbesondere das im Bundesgesetzblatt verkündete Gesetzesmaterial. Art und Weise seiner Auslegung und Handhabung lassen sich nur antizipieren. Verlassen kann man sich deshalb eher auf die Beständigkeit des Materials als auf eine bestimmte Interpretation des Materials. Das spricht dafür, das vom Rückwirkungsverbot geschützte Vertrauen auf die Integrität der Auslegungsgrundlage und nicht auf die Verlässlichkeit eines bestimmten Auslegungsergebnisses zu beziehen. Es ist auch unerlässlich, bereits die Integrität der Auslegungsgrundlage rechtlich zu schützen. Denn Rechtsunterworfene müssen auch bei Ungewissheit handeln können. Wie bei jeder Prognose dürfen sie auch bei normativer Ungewissheit darauf vertrauen, dass die Grundlage ihrer Auslegungsprognose und damit ein wichtiger Teil ihrer Entscheidungsgrundlage nicht rückwirkend verändert wird. Jede andere Deutung würde die Rechtsunterworfenen bis zur rechtlichen Klärung durch ein Höchstgericht zur Untätigkeit verurteilen. Anders als die Unsicherheiten der gerichtlichen Auslegung, die man mittels Einholung von Rechtsrat relativ verlässlich einhegen kann, ist ein klarstellendes Eingreifen des Gesetzgebers nicht kalkulierbar. Die Möglichkeit einer jederzeitigen rückwirkenden Klärung durch den Gesetzgeber wäre ein Unsicherheitsfaktor, der rationale Entscheidung fast ausschlösse. Nach dem Gesagten lässt sich das Rückwirkungsverbot dahingehend paraphrasieren, dass Handlungen der Rechtsunterworfenen grundsätzlich an demselben normativen Maßstab zu messen sind, nach dem sie getroffen wurden, so Buchheim/Lassahn, Alles neu oder alles wie gehabt? NVwZ 2014, 562, 563!! Das BVerfG legt zunächst noch einmal seine allgemeine Vertrauensschutzdogmatik dar. So bezeichnet das Gericht als Grundlage der verfassungsrechtlichen Begrenzung rückwirkender Gesetze das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte, welche im Zusammenwirken die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und damit als eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen garantieren. Wie nach den grundlegenden Entscheidungen aus 2010 nicht anders zu erwarten, hat sich das Gericht auch diesmal nicht für ein einheitliches dispositionsbezogenes Vertrauensschutzkonzept entschieden und trotz anhaltender Kritik an seiner zweifach typisierenden Rückwirkungsprüfung mit der Unterscheidung in echte und unechte Rückwirkung festgehalten. In Bezug auf die Rechtfertigungsanforderungen einer unechten Rückwirkung hat er außerdem seine Rechtsprechung aus 2012 bestätigt, nach der eine unechte Rückwirkung „grundsätzlich zulässig” ist. Dies entsprach lange Zeit ständiger Rechtsprechung des BVerfG, bis der 2. Senat im Jahre 2010 die unechte Rückwirkung als „nicht grundsätzlich unzulässig” bezeichnet hatte. Die Bedeutung dieses Vorgangs offenbart sich bei Besinnung auf die rechtsmethodischen Grundlagen der Rückwirkungsdogmatik, hinter der in letzter Konsequenz eine typisierte verfassungsrechtliche Abwägungsentscheidung steht: Die Restriktion für rückwirkende Gesetze ist nur auf dem Gebiet des Strafrechts eine selbständige Verfassungsvorgabe; im außerstrafrechtlichen Bereich hingegen ergibt sie sich „nur” aus einer Abwägung der Verfassungspositionen „Vertrauensschutz des Bürgers” und „Befugnis des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zur Normsetzung”, vgl. hierzu Wiese/Berner, Rückwirkende Gesetzesklarstellungen und ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit - Zugleich Anmerkung zum BVerfG vom 17. 12. 2013, 1 BvL 5/08, DStR 2014, 1260.

94 Gerechtigkeitspostulate wie Rechtssicherheit und Willkürverbot sollen Richtschnur für das staatliche Handeln sein, BVerfGE 84, 121 - Art. 79 Abs. 3 GG verbietet Verfassungsänderungen, durch welche die in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. Dazu gehört nicht nur der in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz der Menschenwürde. Auch das in Art. 1 Abs. 2 GG enthaltene Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage der menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit erlangt insoweit Bedeutung; in Verbindung mit der in Art. 1 Abs. 3 GG enthaltenen Verweisung auf die nachfolgenden Grundrechte sind deren Verbürgungen insoweit einer Einschränkung grundsätzlich entzogen, als sie zur Aufrechterhaltung einer dem Art. 1 Abs. 1 und 2 GG entsprechenden Ordnung unverzichtbar sind. Ebenso wie der originäre Verfassungsgeber, vgl. BVerfGE 3, 225 [232]; 23, 98 [106], darf auch der verfassungsändernde Gesetzgeber danach grundlegende Gerechtigkeitspostulate nicht außer Acht lassen, Schwab, Mannheimer Schriften Band 19.

95 Sozialpolitik ist ohne Wirtschaftspolitik nicht denkbar. Sozialpolitik versucht, die Gewinne der Wirtschaftspolitik sozialgerecht an Bedürftig in sozialen Notlagen zu verteilen. Der Fürsorgedanke bildet das grundlegende Fundament des sozialpolitischen Hauses. Die vielfältigen, sozialpolitischen rationalen Regelung sind in einfachgesetzlichen Räumen untergebracht, etwa den SGB V, SGB II, SGB XI und SGB IX, PflegeVG, MuSchG, KSVG Künstlersozialgesetzbuch, PflegZG, FampflZG, EFZG Entgeltfortzahlungsgesetz. Die unterschiedlichen Räume werden vom Gesetzgeber geplant und werden den Bedürfnissen der sich wandelnden Gesellschaft angepasst und umgebaut. Sanierungsmaßnahmen, Um- und Ausbauten versuchen das sozialpolitische Haus zu erhalten: Ausbau der aktiven Arbeitsmarktpolitik Qualifizierungsoffensive, Hartz-IV Gesetze>. Eine Welt Schutzwelt des Wohlfahrtskapitalismus ist die sozialpolitische Ermöglichung des Zwangs zur Existenzsicherung durch Schutz vor Marktkräften und einkommensausfällen. Sie zeichnen sich in ihrer Geschichte durch eine hohe Stabilität aus, vgl. Schmid, Sozialstaatmodelle in der EU - Vielfalt und Wandel in Färber/Schupp (Hg.) Der Sozialstaat im 21. Jahrhundert, 2005, S. 50. Die Veränderung der sozialen Wirklichkeit - diese ist mit einer Halbwertszeit versehen und verändern auch den politischen Diskurs und die Akteurskonstellation im Sozialstaat, der allerdings dadurch nicht ökonomisch an Souveränität verliert. Nach dem Inkrafttreten der beiden Stufen (ambulante und stationäre Pflege) des SGB XI – Soziale Pflegeversicherung – in den Jahren 1994 und 1995 ist das Gesetz im Wesentlichen durch vier Änderungsgesetze und vier weitere Gesetze geändert worden. Mit einigen dieser Änderungen sind Probleme rechtlicher und sachlicher Art bereinigt worden, die schon zur Zeit des Inkrafttretens des SGB XI bekannt waren, die aber damals aus Gründen der politischen Durchsetzbarkeit der Pflegeversicherung nicht in Angriff genommen werden konnten, vgl. Habermann, Das Pflege-Versicherungsgesetz, NZS 1994, 313; Igl, Das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, NJW 2008, 2214. Nach dem Pflegeversicherungsgesetz (§§ 14 bis 18 SGB XI) sind Personen pflegebedürftig, wenn sie „wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen”. Demnach besteht ein Anspruch auf Leistungen, wenn ein dauerhafter Hilfebedarf bei Aktivitäten des täglichen Lebens vorliegt, der auf Krankheit oder Behinderung zurückgeführt werden kann. vgl. Pick, Funktionseinschränkungen im Alter und bei Pflegebedürftigkeit, FPR 2004, 654.

96 Gerechtigkeit ist keine objektive, messbare Größe - Was gerecht ist und was nicht, liegt im Auge des Betrachters bzw. an den Maßstäben, die im konkret zu betrachtenden Fall anlegt werden. Ist also die erbrachte Leistung die entscheidende Kategorie oder der wirkliche oder enttäuschte Bedarf? Vgl. Piepenbrink, APuZ 47/ 2009, Editorial - Unabhängig vom subjektiven Gerechtigkeitsempfinden sind zunehmend wachsende Ungleichheiten in der Gesellschaft objektiv nachweisbar. Liebig/ May, Dimensionen sozialer Gerechtigkeit, APuZ 2009, S. 3 - hohe Einkommensungleichheiten sind nur dann ungerecht, wenn man soziale Gerechtigkeit als Ergebnisgleichheit versteht, also jeder das Gleiche bekommen sollte. Einkommensungleichheiten können aber auch sozial gerecht sein, wenn die Einkommensverteilung in der Gesellschaft die individuelle Leistungsfähigkeit (Leistungsbereitschaft und Erfolg der Tätigkeit) widerspiegelt. Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit zielen auf die Frage, wie Rechte, Positionen, materielle und immaterielle Güter in der Gesellschaft verteilt werden sollen. Der Staat trifft über die demokratisch legitimierte Gesetzgebung die Entscheidungen und übt so Herrschaft aus; er gestaltet die gesellschaftlichen Verhältnisse durch eine Vielzahl von Rahmen- und tiefengegliederten Regelungen. Wenn mit der sozialen Gerechtigkeit normative Erwartungen an die gesellschaftliche Verteilung von Gütern und Lasten formuliert werden, so ist dies historisch gesehen ein vergleichsweise junges Phänomen, so ausdrücklich Liebig/May, S. 3. In der postmodernen Gesellschaft werden individuelle Lebenschancen, Güter und Lasten zu einem großen Teil in und über gesellschaftliche Institutionen verteilt. Maßgeblich sind dabei primär die sozialen Sicherungssysteme als Sicherheitsmechanismus („Notnagelventil“ und „Ausfallbürgschaft“ für unvorbereitet eintretende Wechselfälle des Lebens sei es Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit. Das Gleichheitsprinzip fordert, jedem Bürger und jeder Bürgerin gleiche Rechte oder den gleichen Anteil an Gütern und Lasten zuzuweisen. Im magischen Viereck sind vier Aspekte der Gerechtigkeit zu beleuchten: Zunächst sind dies die Tauschgerechtigkeit (kommutative Gerechtigkeit), bei der der Ausgleich erbrachter Leistungen betrachtet wird, sowie die Verteilungsgerechtigkeit (distributive Gerechtigkeit), bei der es um die Verteilung der Anteile an etwas Gemeinsamem geht. Neben diesen beiden "klassischen" Formen der Gerechtigkeit weisen die empirischen Befunde auf zwei weitere hin: die Verfahrensgerechtigkeit (prozedurale Gerechtigkeit), bei der es um die Einhaltung von Fairnessregeln im Rahmen von Entscheidungsprozessen geht (etwa das Recht auf rechtliches Gehör, auf den gesetzlichen Richter, die Eröffnung des Rechtswegen und einen effektiven Rechtsschutz gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt – Art. 19 Abs. 4 GG; im Verwaltungsverfahren besonders das Recht auf frühzeitige Bürgerbeteiligung § 29 Abs. 3 VwVfG: das Recht auf Akteneinsicht § 29 VwVfG und die Pflicht der Behörde ihre belastende Entscheidung angemessen zu begründen § 39 VwVfG) und die interpersonale bzw. Interaktionsgerechtigkeit, bei der die Frage im Mittelpunkt steht, ob die beteiligten Personen sich gegenseitig fair (keine überlangen Verfahren, effektiver Rechtsschutz, verfahrensrelevante Belehrungen und Hinweise) behandeln.

97 Sachs, in Sachs, GG, Art. 20 GG, RN 50.

98 Mit dem Aufbau öffentlich organisierter Solidarität wird zugleich private Solidarität ausgehöhlt. Das zivilrechtliche casum sentit dominus verwandelt sich zum sacum sentit societas. Die sozialen Versicherungssysteme sind selbst Ausdruck staatlicher "Fürsorge". Mit ihnen wurden vormals bestehende rechtliche Verpflichtungen der Arbeitgeber abgelöst oder die sozialethisch begründete "werktägige Fürsorge" des Arbeitgebers für den Arbeiter in eine Beitragslast umgewandelt, Schnapp, Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Fürsorge, DVBl 2004, 1053.

99 Dignas, Absolventen Zeitung, 4. Juni 1995, S. 2.

100 Die soziale Gerechtigkeit - Grundwert oder Standortrisiko? Für neoliberale Theoretiker stellt die soziale Gerechtigkeit, wenn man sie im Rahme n eines Wohlfahrtsstaates institutionalisiert und als Wert verabsolutiert, ein Standortrisiko dar: "Alles in allem gefährdet der Sozialstaat mit der verstärkten Produktion des Gutes "Gerechtigkeit" zunehmend seine eigne ökonomische Basis, weil er letztlich die Quellen des Wohlstands zum Versiegen bringt", Berthold, Sozialstaat und marktwirtschaftliche Ordnung - Ökonomische Theorie des Sozialstaates, in Hartwig (Hg.), Alternativen der sozialen Sicherung - Umbau des Sozialstaates, 1997, S. 28. In der steht/stand der Gerechtigkeitsgedanke zwar im Vordergrund, er bezieht/bezog sich aber nicht mehr auf Verteilungsgerechtigkeit. Gerechtigkeit ist nicht Gleichheit, sondern die Schaffung fairer Chancen für die reale Freiheit aller. Die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie ging von dem Postulat aus: "Alle sozialen Werte - Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung - sind gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht. Dass die soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft zunimmt, ist für Rawls dann, allerdings auch nur dann gerechtfertigt, wenn deren Mitglieder davon ausnahmslos im Hinblick auf ihre persönliche Lage profitieren. Die soziale Gerechtigkeit als Fairness zu definieren, bedeutet sie inhaltlich und zwecksystematisch auf ein formales Verfahrensprinzip zu begrenzen, sinnentleert von materiellen Gehalten und gesellschaftspolitischen Betrachtungen. Materielle Gerechtigkeitsziele müssen inhaltlich und prioritär definiert werden - vorrangig ist die Verhinderung von Armut, im Haus der Gerechtigkeit einen wichtigen Raum beziehend ist eine weitestgehend zu realisierende Bildungsgerechtigkeit, Bildung ist Zukunftshoffnung und ein "Sicherheitsnetz vor dem Absturz in den Armutskeller". Ein ins Blickfeld zu nehmender "Raum" ist die Arbeitsmarktinklusion - wer Arbeit hat ist vor dem sozialen Abstieg gesichert; er hat nicht nur ein gesichertes Einkommen, er/sie haben auch gesellschaftliche Anerkennung u d bauen zudem ihr soziales, beitragsfinanziertes Vorsorgenetz mit auf (Sozialversicherungen für die Notfälle des Lebens). Gerecht ist, was die Funktionsweise des gesamten Sozialversicherungssicherungssystems gewährleistet und darüber hinaus auch wirtschaftliche Chancen eröffnet. Die Grundrechte als Freiheitsrechte und Schutzpflichten und der Grundsatz der solidarischen Gemeinschaft lassen auch einen weiteren "Raum im Gerechtigkeitshaus" beziehen: die Teilhabegerechtigkeit. Wo verfassungsgeschützte Freiheit erst durch Teilhabe verwirklicht werden kann, müssen alle Menschen gleiche Chancen auf mehr Teilhabe abgesichert werden. Teilhabe ist kein Widerspruch zur Eigenverantwortung. Teilhabe soll insbesondere als Notventil dann greifen, wenn die Eigenverantwortung kein menschenwürdiges Dasein absichern kann. Leistungsbereitschaft und Konkurrenzfähigkeit sind dem Grundwert der "Freiheit" inhärent. Wer frei ist, hat auch Verantwortung für sich und die Gemeinschaft der Freien. In einer wohlfahrtsstaatlichen Demokratie ist Freiheit immer die Möglichkeit der Schwächsten, über ihr Leben selbst und eigenverantwortlich - zu bestimmen, statt u. B. unabhängig von der beruflichen Qualifikation - jeden Arbeitsplatz annehmen zu müssen, so Butterwege, Butterwege, Diskussionen über den Wohlfahrtsstaat der Zukunft, aus Krise und Zukunft des Sozialstaates, 2. Aufl. 2005, S. 10.

101 Ein sehr komplexes Thema - ist eine normative Ausrichtung der Staatstätigkeit zu verstehen oder soll der Begriff eher empirisch-analytisch erfasst werden? Schließt normativ geprägtes oder politisch zu vertretendes und gewolltes Handeln auch ein Nichthandel ein. Der Wohlfahrtstaat ist ein Staat, dessen Handel die sozio-ökonomischen Versorgungsstrukturen nachhaltig auf eine umfassende Teilhabe der Gesamtbevölkerung verändert. Esping-Andersen stellt in seinen Forschungsarbeiten die Außerkraftsetzung der Ware Arbeitskraft als zentrales Kriterium für das Wohlfahrtregime heraus ("Konzeptionell setzt er den Wohlfahrtsstaat, der individuelle Autonomie erst ermöglicht, dem Markt entgegen- Wohlfahrtsstaatliche Politik handelt "against markets", Esping-Andersen 1985). M. E. gleicht Wohlfahrstaatliches Handeln die Schwächen reiner Marktpolitik aus, schützt und fängt die Opfer einer kapitalistischen Marktpolitik in der staatlichen Intensivstation, der fürsorgenden Wohlfahrt des Staates auf und erhält bzw. sichert dadurch den sozialen Frieden, Seeleib-Kaiser, Perspektiven des Sozialstaates im 21. Jahrhundert, in Fäber/Schupp (Hg.) Der Sozialstaat im 21. Jahrhundert, 2005, S. 9.

102 Das GG enthält keine ausdrückliche Feststellung des Rechts eines jeden Kindes auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit und auf Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Staat und Gesellschaft – also wir alle – haben eine hohe Verantwortung für unsere Kinder und insbesondere für Kinder, die in ihren Familien nicht ausreichend unterstützt werden oder schlimmer noch, Gewalt erleiden. Zum Schutz und zur Stärkung der Kinder in unserer Gesellschaft müssen wir die Kinderrechte im Grundgesetz verankern, vgl. Lambrecht, Zentrales Anliegen sozialdemokratischer Rechtspolitik ist Gerechtigkeit, ZRP 2010, 68f. Das Grundgesetz enthält keine sozialen Grundrechte als unmittelbar von der Verfassung für den Einzelnen begründete und individuell einklagbare Ansprüche auf konkrete staatliche Leistungen. Ihre Anerkennung würde dazu führen, dass der Staat von Eingriffsmöglichkeiten und Zwangsmitteln Gebrauch macht, um diese Ansprüche auch erfüllen zu können. Das Prinzip der freiheitlichen Eigenverantwortung wird erheblich eingeschränkt, denn die soziale Rechtsordnung kann nur dann Leistungen einräumen, was sie durch die Einschränkung individueller Freiheiten als eigenen Gestaltungsspielraum „erwirtschaftet“.

103 Das Elterngeld ist als Lohnersatzleistung, also zur Kompensation des durch die Geburt und Betreuung eines Kindes entstehenden Verdienstausfalls für den Zeitraum von 12 bzw. 14 Monaten vom Gesetzgeber geschaffen worden, Weilert, Verfassungsrechtliche Überlegungen zur Berechnung des Elterngeldes, DVBl 2010, 164. Es wird ohne vorherige spezifische individuelle (Eigen)Leistungen seitens der Erwerbstätigen aus den Haushaltsmitteln des Bundes, also durch allgemeine Steuermittel, finanziert. In der Höhe des Elterngeldes besteht im Vergleich von Geringverdienern oder Erwerbslosen zu Besserverdienenden ein beträchtlicher Unterschied. Der Differenzbetrag kann sich für die Betreuung eines Kindes auf bis zu 1 500 Euro monatlich belaufen. Das Sozialstaatsprinzip verbietet eine evident unsoziale Politik, Gröschner, in: Dreier, GG II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Sozialstaat), RN 36. Das Elterngeld zielt darauf ab, dass insgesamt mehr Kinder geboren werden. Eine Steigerung der Geburtenrate ist im Hinblick auf die drohende Überalterung unserer Gesellschaft unerlässlich, wenn das auf dem verantwortlichen Generationenvertrag aufbauende Sozialversicherungssystem auch in Zukunft funktionieren soll. Kurzzeitig Besserverdienende bevorzugende Leistungen sind nicht per se sozialstaatswidrig, da sie – so auch das Elterngeld – längerfristig betrachtet soziale Zwecksetzungen verfolgen. Selbst dann, wenn keine Steigerung der Geburtenrate erzielt werden kann, ist das Elterngeld nicht notwendigerweise ›evident unsozial‹.

104 Die Voraussetzungen für sozialstaatliches Handeln haben sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich geändert. „Der nachsorgende, reparierende oder absichernde, überwiegend beitragsorientierte Sozialstaat ist unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts überfordert.“ Das ist der Ausgangspunkt eines Papiers, das der SPD-Vizevorsitzende und sachsen-anhaltische Finanzminister Jens Bullerjahn gemeinsam mit dem brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck erarbeitet hat. In der Debatte um die programmatische Modernisierung der SPD kommen beide zu dem Schluss: „Zeitgemäß ist ein vorausschauender Sozialstaat, weil er den Menschen bessere Lebenschancen eröffne.“ Gekennzeichnet waren die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts durch eklatante Fehlentwicklungen auf den Gebieten der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Finanz-, Steuer- und erst recht der Bildungspolitik. Ein Teufelskreis aus Armut, mangelnder Bildung, schlechten Erwerbschancen, Sozialtransferkarrieren und schlechten Zukunftschancen in der nächsten Generation wurde auf den Weg gebracht. Hartz-IV-Karrieren sind möglichst zu vermeiden. Sie werden sicherlich auch nicht von der Mehrheit der Betroffenen angestrebt. Insoweit schließt sich auch der Kreis zum Grundsatzurteil der Verfassungsrichter. Sie forderten für Kinder, deren Eltern Hartz-IV-Empfänger sind, die Chance zur Teilhabe an der Gesellschaft. Das bedeutet auch, die Chance zu bekommen, etwas aus sich zu machen, sich beruflich und gesellschaftlich entfalten und integrieren zu können. Dies erfordert eine „vorausschauende Gestaltung“ und einen „vorsorgender Sozialstaat“. Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit durch eine vorausschauende Bildungspolitik ´sind Zukunftschancen. Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft, in Ausgegrenzte, dem Prekariat, der verunsicherten aber gleichgültigen Mitte und der elitären Schichten in der Gesellschaft führt allerdings zu noch mehr sozialer Auslese im Bildungssystem. Wer in der politischen Aufgabenerfüllung und Gestaltung als Verantwortlicher nichts aktiv unternimmt, damit der Fahrstuhl für eine immer größere Zahl nach unten angehalten wird, nimmt billigend in Kauf, dass die Gleichheit der Bildungschancen abnimmt.

105 Der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle hat erneut einen Umbau des Sozialstaates gefordert. Im Deutschlandfunk sagte Westerwelle, der Sozialstaat müsse treffsicherer werden, um denen zu helfen, die sich selbst nicht helfen könnten. Außerdem bekräftigte er seine umstrittenen Aussagen in der Hartz-IV-Debatte. Westerwelle bezeichnete es als zynisch, dass sich Erwerbstätige dafür entschuldigen müssten, dass sie von ihrer Arbeit etwas behalten wollten. Mehr und mehr, so Westerwelle, würden diejenigen, die arbeiten, zu den "Deppen der Nation". Die Grundsatzkritik an der Sozialpolitik, etwa die Bemerkung, in Deutschland scheine es "nur noch Bezieher von Steuergeld zu geben“ ist aber eine zu pauschale Diskriminierung der Langzeitarbeitslosen. Sozialen Missbrauch gibt es nicht nur bei Sozialhilfeempfängern sondern auch am anderen Ende der Lebenspyramide, bei den Vermögenden und gut Verdienenden, die sich der Steuerhinterziehung strafbar machen." Das Bundesverfassungsgericht hat klar gemacht: Das Existenzminimum muss in unserem Sozialstaat gesichert sein, denn es geht um die Würde des Menschen." Gesamtgesellschaftlich müssen wir verhindern, dass sich Arbeitslosigkeit und Armut in gesellschaftlichen Randgruppen verfestigen, denn davon profitiert auch die Mittelschicht, die sonst die zusätzlichen finanziellen Lasten tragen müsste.“

106 Das Sozialstaatsprinzip ist in Art. 20 Abs. 1 GG (demokratischer und sozialer Bundesstaat) und in Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG (sozialer Rechtsstaat) verankert. Es handelt sich dabei um ein Staatsziel gerichtet auf die Herstellung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit im Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung. Im Unterschied zu den Staatsstrukturprinzipien Demokratie, Rechts- und Bundesstaatlichkeit gewährt eineStaatszielbestimmung keine unmittelbar gerichtlich geltend zu machenden Rechte im Sinne von Leistungsansprüchen (subjektive Rechte). Staatszielbestimmungen sind entwicklungsoffen. Das Sozialstaatsprinzip enthält zwar keine Bestandsgarantie für einzelne, individuelle Leistungsansprüche, es wirkt aber als Eingriffslegitimation zur Verwirklichung sozialpolitischer Ziele, so z. B. bei der Verwirklichung der betrieblichen Mitbestimmung (Rechtfertigung des Eingriffs in Grundrechte der Unternehmenseigentümer) oder bei der Staffelung von Abgaben nach der Höhe des Einkommens (Sozialstaatsprinzip als sachlicher Differenzierungsgrund im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG).

107 Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Auch in einem Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde kann eine einstweilige Anordnung erlassen werden, vgl. BVerfGE 66, 39 56. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Etwas anderes gilt nur, wenn sich die Verfassungsbeschwerde von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht dagegen die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre, vgl. BVerfGE 87, 334 338; 89, 109 110. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn die Abwägung ein Überwiegen der für den Erlass sprechenden Gründe ergibt, vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Oktober 2008 - 2 BvR 236/08 -, NVwZ 2009, S. 103 104. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich später die Verfassungsbeschwerde aber als begründet, so entstünde dem Beschwerdeführer durch die Fortsetzung der Freiheitsentziehung ein schwerer und nicht wieder gutzumachender Verlust an persönlicher Freiheit, vgl. BVerfGE 22, 178 180; 84, 341 344. Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) hat unter den grundrechtlich verbürgten Rechten besonderes Gewicht (vgl. BVerfGE 65, 317 322; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Juli 2000 - 2 BvR 1261/00 -, juris, RN 13).Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang der Verfassungsbeschwerde muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegen die Nachteile abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu versagen wäre, vgl. BVerfGE 88, 25 35; 89, 109 110 f..

108 Die Vergreisung der Gesellschaft durch eine beharrlich sinkende Geburtenrate und gleichzeitig steigende Lebenserwartung der Deutschen aufgrund des medizinischen Fortschritts wird das ökonomische Leistungspotenzial des Landes belastet und die sozialen Sicherungssysteme (Renten-, Pflege- und Krankenversicherung) überfordert. Wegen der sich verschärfenden Weltmarktkonkurrenz muss der kränkelnde Standort D »entschlackt« und der Sozialstaat »verschlankt« und inhaltlich neu definiert werden, wenn man global konkurrenzfähig sein und das erreichte Wohlstandsniveau halten will. Der Wohlfahrtsstaat wird von der ökonomisch-technologischen Entwicklung zunehmend überholt und erweist sich als Hemmschuh der Wirtschaft und größtes Investitionshindernis. Andererseits ist er ein Garant für die Beständigkeit und den sozialen Frieden.

109 Zumindest das Existenzminimum der Bürger, die sich nicht selbst helfen können, muss vom Staat gesichert werden - das Wort Gerechtigkeit ist im Grundgesetz nur an zwei Stellen zu finden. Zu Beginn heißt es, die Menschenrechte seien Grundlage unter anderem für Gerechtigkeit in der Welt. Außerdem muss der Bundespräsident in seinem Eid schwören, "Gerechtigkeit gegenüber jedermann" zu üben. Der Staat und seine Institutionen werden im Grundgesetz nicht ausdrücklich zur Herstellung von Gerechtigkeit rechtsverbindlich verpflichtet, schließlich ist Gerechtigkeit kein juristisch definierter fester Begriff. Das GG verlangt vom Staat zwar, eine "gerechte Sozialordnung" zu schaffen lässt aber offen, wie diese aussehen soll. Der Gesetzgeber hat einen Gestaltungsspielraum, der sich dabei an der finanziellen Lage des Staatshaushalts orientieren kann. Das Grundgesetz ist eindeutig keine sozialistische Verfassung, sondern eine sehr demokratische, die den Staat allerdings nicht zwingt, Gerechtigkeit im Sinne sozialer Gleichheit aller herzustellen. Der Gesetzgeber hat einen großen Freiraum bei der Gestaltung des Wirtschafts- und Soziallebens in der Bundesrepublik.

110 Die Freiheit der heutigen Generation schränkt die Freiheiten nachfolgender Generationen ein und muss sich an deren verbleibender Freiheit und an der Freiheit der Menschen an anderen Orten unserer Welt messen lassen. Anzustreben ist eine ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit allerdings nicht gegen den Markt, sondern innerhalb und unter Berücksichtigung der dynamischen Werteordnung. Das Ziel ist die Schaffung neuer Sicherheit und fairer Teilhabechancen über eine Kultur der Neugier, vgl. Röttgen/Lindner, a.a.O. Transparenz, Verantwortlichkeit und realwirtschaftlicher Nutzen stehen im Vordergrund künftigen Handelns. Durch falsche Schwerpunktsetzung oder Entscheidungen werden Freiheit und Verantwortung, Risiko und Haftung isoliert betrachtet.

111 Das Sozialstaatsprinzip des GG ist ein weitgehend gestaltungsoffenes Verfassungsprinzip, das einen rechtlichen und gestaltungspolitischen Bezug zur gesellschaftlichen Realität hat. Dem Gesetzgeber obliegt die konkrete Ausgestaltung der Sozialstaatspolitik. Das Sozialstaatsprinzip stellt dem Staat eine Aufgabe, sagt aber nichts darüber aus, mit welchen Mitteln diese Aufgabe im Einzelnen zu verwirklichen ist“, BVerfG, RIW 2009, 549; Scholz, Sozialstaat zwischen Wachstums- und Rezessionsgesellschaft, 1981, S. 24 f. Der grundsätzlich sozialstaatliche Auftrag der Europäischen Union ist in vielfältiger Form verdeutlicht in den europarechtlichen Vorschriften verankert, auch wenn das Sozialstaatsprinzip im Sinne der Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG noch nicht konstitutiv für die Soziale Union konkrete Rechte und Pflichten begründet. Art. 2 Abs. 3 EUV-Lissabon bekennt sich ausdrücklich (u. a.) zur „sozialen Marktwirtschaft“, zur „Vollbeschäftigung und zum sozialen Fortschritt“, zur „sozialen Gerechtigkeit und zum sozialen Schutz“ sowie zum „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“.

112 Vgl. BVerfGE 40, 121 133; 45, 187 228; 82, 60 85; 113, 88 108 f.; Urteil vom 30. Juni 2009 - 2 BvE 2/08 u. a. -, juris, RN 259.

113 Sozialstaat bezeichnet die Gesamtheit staatlicher Einrichtungen, Steuerungsmaßnahmen und Normen innerhalb eines demokratischen Systems, mittels derer Lebensrisiken und soziale Folgewirkungen einer kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Ökonomie aktiv innerhalb dieser selbst politisch bearbeitet werden. Der Marktprozess sorgt neben der Versorgung mit Gütern auch für eine Vielzahl sozialer Risiken und Problemlagen, die nicht vom Markt selbst reguliert werden können. Die politisch-staatliche Bewältigung solcher sozialen Wirkungen der Marktökonomie erfolgt in sozialstaatlich verfassten politischen Systemen ohne Antasten der Marktwirtschaft. Sozialstaat bezeichnet zugleich die Ausrichtung staatlichen Handelns auf die Herstellung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit, auf die Sicherung eines sozialen Existenzminimums für alle sowie die Milderung der ökonomischen Ungleichverteilung und der sozialen (Klassen-, Schichten-, Gruppen-) Gegensätze. Als generelle Sozialbindung staatlichen Handelns fordert Sozialstaatlichkeit die politisch-demokratische Überformung der Marktprozesse nach Maßstäben sozialer Gerechtigkeit in Anlehnung an den englischen Sozialtheoretiker T.H. Marshall werden heute liberale, demokratische und soziale Rechte als prinzipiell miteinander vereinbare und aufeinander aufbauende Stufen moderner staatlicher Entwicklung dargestellt. Die relative Unbestimmtheit des Sozialstaatsbegriffs und der ihn kennzeichnenden sozialen Rechte hat sich aber in der gesamten Theorieentwicklung bis hin zur Gerechtigkeitstheorie John Rawls, die heute zur Konstruktion von sozialstaatlichen Grundprinzipien bemüht wird, nicht grundlegend geändert. Entsprechend wird Sozialstaat häufig durch die Aufzählung einer Reihe von Politikfeldern und Einzelzielen näher bestimmt (additive Sozialstaatsbestimmung), obwohl Sozialstaat im Unterschied zu Sozialpolitik (Schmidt 1998) auf die Prägung der Gesamtstaatlichkeit durch die Norm sozialer Gerechtigkeit zielt. Kernbereiche sozialstaatlicher Regulierung sind die Systeme sozialer Sicherung und das Arbeitsrecht, seltener werden dazu auch die Wohnungspolitik und die Bildungspolitik gezählt. Als Zielsetzungen des Sozialstaates gelten die Herstellung menschenwürdiger Lebensverhältnisse, die Bekämpfung von Armut, die Hilfe in Notlagen, die Schaffung von Chancengleichheit, die Sicherung gegen das Risiko des Einkommensausfalls bei Alter, Invalidität, Krankheit und Arbeitslosigkeit, die soziale Finanzierung der Lasten bei Krankheit und Pflege sowie der Kosten der Kindererziehung.

114 Der Sozialstaat heutiger Prägung krankt daran, dass sich die Arbeitslosigkeit ungebremst auf hohem Niveau bewegt (schließlich gibt es in einer vernetzten Weltwirtschaft nicht genügend Jobs für alle), doch vor den Folgen dieser Entwicklung drücken sich die politisch Verantwortlichen. Sie übersehen auch leicht, dass persönliche Lebenssicherheit nicht mehr normal ist. Die rapide steigende Zahl befristeter Jobs als Ventil eines überregulierten Arbeitsmarktes schafft nicht nur atypische, sondern prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse. Die Rolle des Staates in der freiheitlich demokratischen Gesellschaft soll nicht die eines die Eigeninitiative einschläfernden Wohlfahrtsstaates sein. Der Sozialstaat steht aber im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und Gerechtigkeit einerseits und dem Wunsch nach freiheitlicher Eigenverantwortung andererseits. Dabei ist er immer der Gefahr der missbräuchlichen Ausnutzung ausgesetzt. Andererseits muss er die richtigen Anreize für die Entwicklung der Gesellschaft bereitstellen, vgl. Schneider, SZ vom 8. März 2010, S. 2 – Politiker gefährden diesen Sozialstaat, wenn sie Wählerstimmen zu gewinnen versuchen, indem sie arbeitende und steuerzahlende Menschen gegen hilfsbedürftige Menschen ausspielen. Von Wahlinteressen geleitete Stimmungsmache ist keine sachliche Problemlösung, sondern allenfalls dekadenter Populismus.

115 Vgl. BVerfGE 35, 202 236; 45, 376 387; 100, 271 284.

116 Die Sozialstaatsklausel ist keine unverbindliche programmatisch-politische Aussage, sondern ein tragender und verbindlicher Rechtssatz, vgl. BVerfGE 1, 97, 105 = NJW 1952, 297. Sie enthält eine Staatszielbestimmung, die alle Staatsorgane zur konsequenten Verfolgung dieses Ziels verpflichtet. Das Sozialstaatsprinzip, das „die staatliche Gemeinschaft in der Regel Lasten mit trägt, die aus einem von der Gesamtheit zu tragenden Schicksal entstanden sind und mehr oder weniger zufällig nur einzelne Bürger oder bestimmte Gruppen von ihnen getroffen haben“, BVerfGE 102, 254, 298 = NJW 2001, 669. Der Sozialstaat hat eine Wiedergutmachungs- und Entschädigungsfunktion. Der Sozialstaat ist verpflichtet, ein Mindestmaß an sozialer Grundsicherung zu gewährleisten, indem er eine Absicherung gegen die „Wechselfälle des Lebens“ schafft. Unterlässt der Gesetzgeber dies gesetzesbezogene Umsetzung des Sozialstaatsprinzips und kommt damit seinem Handlungsauftrag nicht oder nicht ausreichend nach, bedeutet dies dennoch nicht zwingen einen konkreten individualisierbaren Grundrechtseingriff, der mit einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann, Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 445 Hat der Gesetzgeber gehandelt und subjektive Rechte geschaffen, werden dadurch einfachrechtliche Rechtspositionen begründet. Allerdings lässt kann unter Berufung auf den Gleichheitssatz geltend gemacht werden, dass die sich aus einer Staatszielbestimmung ergebende Förderverpflichtung des Staates die Einbeziehung bestimmter Rechtsträger in eine bestimmte begünstigende Regelung fordert, Huster/Rux, in Epping/Hillgruber, Beck'scher Online-Kommentar, Art. 20 GG, RN 198f. Art. 3 Abs. 1 GG begründet aber keinen unmittelbaren Leistungsansprüche, sondern akzessorische Teilhabeansprüche.

117 Vgl. BVerfGE 1, 97 104; 115, 118 152.

118 Vgl. BVerfGE 107, 275 284; 109, 279 310.

119 Das Sozialstaatsprinzip als Staatszielbestimmung - Die Sozialstaatsklausel ist keine unverbindliche programmatisch-politische Aussage, sondern ein Rechtssatz, vgl. BVerfGE 1, 97, 105 = NJW 1952, 297. Sie enthält eine Staatszielbestimmung, die alle Staatsorgane zur Verfolgung dieses Ziels verpflichtet. Subjektive Anspruchsrechte ergeben sich allein aus dem Sozialstaatsprinzip regelmäßig nicht, BVerfGE 27, 253, 283 = NJW 1970, 799; BVerfGE 82, 60, 80 = NJW 1990, 2869. Zu seiner Konkretisierung ist in erster Linie der Gesetzgeber aufgerufen, der insoweit einen weiten Gestaltungsspielraum besitzt, 2009, 2267, 2275 . Das Sozialstaatsprinzip begründet allerdings die Pflicht des Staates, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen, vgl. BVerfGE 59, 231, 263; BVerfGE 100, 271, 284 = NJW 1999, 3033. Der Staat hat diese Pflichtaufgabe auf der Grundlage eines weiten Gestaltungsfreiraums zu erfüllen, weshalb bislang nur in wenigen Fällen konkrete verfassungsrechtliche Handlungspflichten aus dem Prinzip abgeleitet wurden. Der Staat hat lediglich die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger zu schaffen, vgl. BVerfGE 82, 445 = NJW-RR 2004, 657. Das Sozialstaatsprinzip stellt dem Staat eine Aufgabe, sagt aber nichts darüber, mit welchen Mitteln diese Aufgabe im Einzelnen zu verwirklichen ist. Im Hinblick auf den ständigen, dynamischen Wandel der Gesellschaft und die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen sowie die fortwährend neuen Herausforderungen an den Staat sind die von dem Sozialstaat zur Verfolgung aufgegebenen Ziele und zu verwirklichenden Aufgaben nur sehr vage zu skizzieren. Die solidarische „Fürsorge für Hilfsbedürftige gehört zu den selbstverständlichen und grundlegenden Pflichten“ des Sozialstaates; sie hat das Ziel, die „Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein sicherzustellen“, BVerfG, Beschluss vom 18. 6. 1975 - 1 BvL 4/74, BVerfGE 40, 121 = NJW 1975, 1691 - Gewiss gehört die Fürsorge für Hilfsbedürftige zu den selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaates, vgl. BVerfGE 5, 85, 198 = NJW 1956,1393; BVerfGE 35, 202, 236 = NJW 1973, 1226. Dies schließt notwendig die soziale Hilfe für die Mitbürger ein, die wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen an ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung gehindert und außerstande sind, sich selbst zu unterhalten. Die staatliche Gemeinschaft muss ihnen jedenfalls die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein sichern und sich darüber hinaus bemühen, sie soweit möglich in die Gesellschaft einzugliedern, ihre angemessene Betreuung in der Familie oder durch Dritte zu fördern sowie die notwendigen Pflegeeinrichtungen zu schaffen. Diese allgemeine Schutzpflicht kann natürlicherweise nicht an einer bestimmten Altersgrenze enden; sie muss vielmehr dem jeweils vorhandenen Bedarf an sozialer Hilfe entsprechen. Jedoch bestehen vielfältige Möglichkeiten, den gebotenen Schutz zu verwirklichen. Es liegt grundsätzlich in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, den ihm geeignet erscheinenden Weg zu bestimmen, besonders zwischen den verschiedenen Formen finanzieller Hilfe für den Unterhalt und die Betreuung gebrechlicher Menschen zu wählen und entsprechend die Anspruchsberechtigung festzulegen. Ruland, Sozialpolitik und Sozialrecht, NZS 2012, 321 - Sozialrecht und Sozialpolitik sind benachbarte Disziplinen mit dem gleichen Ziel, das Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes umzusetzen. Sie greifen vielfach ineinander, bauen auf einander auf. Sozialpolitik und Sozialrecht sind eng verflochten, v. Maydell, in: v. Maydell/Kannengießer (Hrsg.), Handbuch Sozialpolitik, 1988, S. 113. Die Sozialpolitik, sei es die konkrete Rentensicherungspolitik oder die Förderung von Behinderten, die Gesundheitspolitik, die Maßnahmen zur Gewährleistung menschenwürdiger Pflege Belange der Pflegebedürftigen, Arbeitsmarktpolitik oder Sozialhilfe, begründet häufig neue Erwartungen, löst sozialpolitische Diskussionen aus, verursacht Kritik oder erntet Zustimmung. Das Sozialrecht ist” – in den Worten des BVerfG – „eines der wichtigsten Instrumente der Sozialpolitik, BVerfGE 68, 193, 209; Kaufmann, „Das Sozialrecht ist zum Rückgrat der sozialpolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik geworden”, in: Ruland/v. Maydell/Papier (Hrsg.), Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats, FS Zacher, 1998, S. 308. Aufgabe des Sozialrechts ist es, den notwendigen Ordnungsahmen zu bilden, um in einem Staat, einem Gemeinwesen sozialpolitische Forderungen und Ansprüche bedarfs- und chancengerecht zu verwirklichen. Diese Ordnung ist aber nicht nur ein Selbstzweck, eine Ordnung um der Ordnung halber, die Ordnung soll „richtig” sein, um den Menschen die besten Entfaltungsmöglichkeiten zu ermöglichen. Der rechtliche Ordnungsrahmen ist nicht starr, sondern anpassungsfähig - "atmend" um problemadäquat sich an die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen ständig anpassen zu können. Soziale, und ökonomische Aspekte lassen bei der Politik Handlungsdruck entstehen. Normative und institutionelle Bedingungen "begleiten" die Antwort die Antwort des Gesetzgebers auf die immer wiederkehrenden Herausforderungen, sozial gerechte Rechtsnormen zu gestalten. Jede soziale Situation ist eine politische Herausforderung und verlangt nach einer angemessenen politischen Antwort oder ist Ausdruck bisheriger Politik, Ruland: Sozialpolitik und Sozialrecht, NZS 2012, 322. Das Sozialrecht braucht die Sozialpolitik, es braucht die lebendige wissenschaftliche und die diskursive politische Diskussion. Sie arbeitet Anstöße, soziale Situationen heraus, die sozialpolitischen Handlungsdruck erzeugen, vgl. Ruland, Sozialpolitik und Sozialrecht, NZS 2012, 322.

120 Vgl. BVerfGE 87, 209 228.

121 Vgl. BVerfGE 120, 125 155 f.

122 Vgl. BVerfGE 80, 367 374; 109, 279 319; auch BVerwGE 87, 212 214.

123 Der bundesdeutsche Sozialstaat, Leibfried/ Wagschal 2000, zeichnet sich heute im internationalen Vergleich durch die Zentralstellung seines erwerbsarbeitsbezogenen Sozialversicherungssystems und die kollektiv-vertraglichen Regelungen des in den 1920er Jahren entwickelten Arbeitsrechts als staatlich geschützter Sphäre verbandlicher Sozialgestaltung aus. Die international vergleichende Politikforschung bezeichnet Deutschland als "konservativen" Sozialstaat im Unterschied zum "liberalen" oder "sozialdemokratischen" Wohlfahrtsstaatstyp, Esping-Anderson 1991. Zutreffender ist eine Charakterisierung, die die spezifische Verbindung von katholisch-sozialem, obrigkeitlich-paternalistischem, sozialdemokratischem und liberalem Gedankengut im deutschen Sozialstaat hervorhebt.

124 Vgl. BVerfGE 108, 282 311.

125 Vgl. BVerfGE 33, 303 337; 40, 237 249.

126 Vgl. BVerfGE 59, 231 263 .

127 Vgl. BVerfGE 38, 121 126.

128 Vgl. BVerfGE 87, 153 172; 91, 93 112; 99, 246 261; 120, 125 155 und 166.

129 Vgl. BVerfGE 107, 275 284.

130 Vgl. BVerfGE 91, 93 111 f..

131 Vgl. BVerfGE 115, 118 153.

132 Der Sozialstaat ist Ausdruck einer Idee von Staatlichkeit. die er als Aufgabe des Staates ansieht, die sozialen Fragen der Zeit durch eine ethisch verantwortungsvolle Politik wirksam und zufrieden zu lösen. Der Sozialstaat gab Sicherheiten, wo alle Sicherheiten zerbrachen. Die Nation fand in ihm Einheit, Identität und Zusammenhalt. Der Sozialstaat hat den Menschen in Not gegeben, was ihnen gefehlt hat: materielle Ressourcen. Der "junge Sozialstaat" erfasste Ausnahmesituationen: Notfälle. Das „normale“ Leben war durch die Arbeit geprägt. Sie gab den Menschen Selbstachtung, sozialen Status und gesellschaftliche Anerkennung. Das Leben verlief nach dem Modell der Lebenstreppe: In der Jugend bereitet man sich auf den Beruf vor, als Erwachsener hatte man einen!! Beruf und im Alter ruhte man sich von den Mühen des Lebens aus. Anerkennung und Status durch Arbeit war ein durchgängiges Motiv, das den Sozialstaat möglich machte. Die Gesellschaft hat sich gewandelt. In der säkularisierten Selbstverwirklichungsgesellschaft sind für die Menschen Respekt und Anerkennung wichtiger geworden, so Dettling, in Pfeiffer (Hg.), Eine neosoziale Zukunft, 2010, Sicherheit und Anerkennung - Der Sozialstaat an den Grenzen der Umverteilung, S. 62

133 Der bundesdeutsche Wohlfahrtsstaat entwickelte sich bereits aus seinen historischen Ursprüngen zu einer komplexen Mischform, bei der die intensive Verschränkung der Sphären Staat, Markt und Familie ein besonderes Kennzeichen war. Die Sozialpolitik des deutschen Staates zeichnete sich durch eine Politik des mittelbaren Weges und durch einen subsidiären Charakter aus. Nicht nur halbstaatliche Akteure des sozialen Verbundwesens, sondern insbesondere auch die Familie übernimmt vielfältige soziale Pflichten und Aufgaben. Das deutsche Modell war durch eine Zuspitzung des Sozialversicherungsstaates geprägt, der eingebettet ist in eine umfassend regulierte politische Ökonomie, vgl. Jochem, Reformpolitik im Wohlfahrtsstaat: Deutschland im internationalen Vergleich, 2008, S. 18.

134 Das System der sozialen Sicherung basiert nur zu etwa einem Drittel auf Steuereinnahmen; zwei Drittel der Finanzmittel sind beitragsfinanziert. Umso wichtiger ist es, durch Stärkung des Prinzips der ökonomischen Leistungsfähigkeit auf für mehr Beitragsgerechtigkeit zu sorgen. Die solidarische Umverteilung innerhalb der Sozialversicherungszweige muss Priorität haben, statt dem Äquivalenzprinzip nicht entsprechenden Leistungen als "versicherungsfremd" zu bezeichnen und zu kürzen oder ganz zu streichen. Es liegt deshalb auch nahe, die im Grunde systemwidrigen Versicherungspflichtgrenzen in der Kranken- und Pflegeversicherung aufzuheben sowie die An- oder Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen (unter Beibehaltung der Leistungsobergrenzen) anzustreben.

135 Bildungskonto für jedes Neugeborene, Lindner, SZ vom 26.03.2010 – für die Zukunft brauchen wir einen Paradigmenwechsel. Fast ein Drittel der gesamtwirtschaftlichen Leistung wenden wir für staatliche Sozialleistungen auf. Für Bildung sind es nur sechs Prozent. Die politisch Verantwortlichen stehen in der Verantwortung die soziale Marktwirtschaft für die Gestaltung der Zukunft zu erneuern. Unerlässlich wegen der entstandenen zwischenstaatlichen Abhängigkeiten ist dafür eine stärkere politische Koordination und Kooperation auf europäischer und internationaler Ebene.

136 Der Sozialstaat ist Ausdruck von aufrichtiger Solidarität mit sozial Schwächeren, Wallerath, Zur Dogmatik eines Rechts auf Existenzsicherung, JZ 2008, 158; Neumann, Menschenwürde und Existenzminimum, NVwZ 1995, 426 - Das BVerfG begründet mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip die Pflicht des Staates zur Sicherung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins (Existenzminimum). Der Erste Senat hat diesen Ansatz um das Verbot der Besteuerung des vom Bürger erzielten Einkommens bis in Höhe des Existenzminimums erweitert. Die Verschränkung von Leistungspflicht und Eingriffsverbot verstärkt den politischen Druck auf die Bedarfssätze des Sozialhilferechts. Wenn die sozialstaatlichen Sicherungssysteme und die Institutionen des Sozialrechts ein Instrumentarium bereitstellen würden, das es verhindert, das Schlagzeilen durch die Medien "jagen": "Mensch verhungert oder in der Kälte erfroren" - Ereignisse, die in einem zivilisierten Staat im 21. Jahrhundert eigentlich nicht mehr Realität sein sollten, dann wäre die menschliche Gemeinschaft tatsächlich eine solidarische, gerechte Gesellschaftsordnung. Die Effektivität eines Systems der sozialen Sicherungen erweist sich nämlich beim untersten sozialen Auffangnetz, bei der Sicherung des Existenzminimums. Der sozialhilferechtliche Anspruch auf Hilfe zum notwendigen Lebensunterhalt, die Mindestbedarfe und Selbstbehalte des Unterhaltsrechts sind Teil des staatlichen Sicherungssystems: 1. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art.20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. 2. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 S. GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu. 3. Zur Ermittlung des Anspruchumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen. 4. Der Gesetzgeber kann den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag decken, muss aber für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen. BVerfG, Urteil vom 9. 2. 2010 - 1 BvL 1/09 u.a., NJW 2010, 505 = NZS 2010, 270 = JuS 2010, 844 mit Anm. Ruland Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 i.V. mit Art. 20 Abs. 1 GG, vgl. BVerfGE 40, 121, 133 = NJW 1975, 1691; BVerfGE 45, 187, 228 = NJW 1977, 1525; BVerfGE 82, 85 = NJW 1990, 2869; BVerfGE 113,108f. = BeckRS 2005, 27474; BVerfG, NJW 2009, 2267 RN 259. Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wiederum erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukommt, die mit der Bestimmung der Höhe des Existenzminimums verbunden sind, vgl. BVerfGE 35, 202, 236 = NJW 1973, 1226; BVerfGE 45, 376, 387 = NJW 1978,207; BVerfGE 100, 271, 284 = NJW 1999, 3033. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu. Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar und verpflichtet alle staatliche Gewalt, sie zu achten und zu schützen, BVerfGE 1, 97, 104 = NJW 1952, 297; BVerfGE 115, 118, 152 = NJW 2006, 751. Als Grundrecht ist die Norm nicht nur Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Der Staat muss die Menschenwürde auch positiv schützen, vgl. BVerfGE 107, 275, 284 = NJW 2003, 1303; BVerfGE 109, 279, 310] = NJW 2004, 999. Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt, vgl. BVerfGE 87, 209, 228 = NJW 1993, 1457, und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.

137 Vgl. BVerfGE 66, 214 223; 68, 143 153; 82, 60 88; 99, 246 260; 112, 268 280; 120, 125 155.

138 Ebenso bei grundrechtlichen Schutzpflichten vgl. BVerfGE 46, 160 164; 96, 56 64; 115, 118 160.

139 Um die Lebenshaltungskosten von Kindern während des Umgangs zu sichern, kann eine zeitweise Bedarfsgemeinschaft iSd § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II mit dem umgangsberechtigten Elternteil angenommen werden, Schmidt, Die Kosten des Umgangs – SGB II-Ansprüche im Interesse des Kindes, NJW 2014, 2467. Die Unterhaltspflicht der Kinder gegenüber ihren Eltern steht seit Etablierung eines sozialen Wohlfahrtsstaates im Spannungsverhältnis von Familiarisierung und Sozialisierung, Lemmerz, Elternunterhalt zwischen Familiarisierung und Sozialisierung, DNotZ 2014, 499; Seibl, Die Familie als soziales Sicherungssystem: Neues zur Verwirkung des Aszendentenunterhalts bei Kontaktverweigerung des Bedürftigen, NJW 2014, 1151. Das BVerfG hat in seinem bedeutsamen Urteil zur Unvereinbarkeit der Regelleistungen nach dem SGB II mit dem Grundgesetz, BVerfG Urt. v. 9. 2. 2010 –1 BvL 4/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 , ausgeführt, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Abs. 1 GG jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zusichert, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Hierzu gehört nach Auffassung des BVerfG auch der Gesundheitsschutz und verweist zugleich auf seinen Beschluss zur Berücksichtigung von privaten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen als Sonderaufwendungen mit Hinblick auf die Steuerfreiheit des Existenzminimums, BVerfG Beschl. v. 13. 2. 2008 – 2 BvL 1/06; Gerner, Der Kranken- und Pflegeversicherungsschutz für Beziehende von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld – ein Überblick über verfassungsrechtliche Grundlagen und einfachgesetzliche Ausgestaltung, NZS 2014, 49. Baer, Das Soziale und die Grundrechte, NZS 2014, 1 - Aus der Perspektive des Grundgesetzes ist das "Soziale" nicht allzu eng zu verstehen: Es gibt und gilt nicht nur ein abstraktes rechtliches und politisches Prinzip, sondern hier gelten auch die Grundrechte mit einer deutlich sozialen Rationalität. Bei den grundrechtlich geschützten Freiheitsvoraussetzungen immer auch um soziale Rechte. Von der Menschenwürde des Art. 1 GG über die Gleichbehandlung der Art. 3, Art. 6 Abs. 5 GG bis zur individuellen Koalitionsfreiheit Art. 9 Abs. 3 GG, dem Schutz der Familie des Art. 6 GG bis hin zum Schulrecht des Art. 7 GG. Das Grundgesetz eröffnet und umrahmt für den vorsorgenden Sozialstaat und für das Sozialrecht ein weites Handlungs- und Gestaltungsfeld. Die Sozialstaats- oder Wohlfahrtpolitik steht im 21. Jahrhundert allerdings vor großen und drängenden Herausforderungen – und das gilt dann zwangsläufig auch für das gewährende, gestaltende oder absichernde Recht. Die aktive und zukunftsgestaltende, moderne Sozialpolitik hat ein sehr hohes fiskalisches Gewicht, das wegen des demographischen Wandels und den zwangsläufigen Zeiterscheinungen und Begleit- bzw. Folgeeffekten, noch weiter steigen wird. Die Sozialpolitik hat eine sehr hohe gesellschaftliche Bedeutung; dies bringen die Armutsrisiken zum Ausdruck: Alternde Gesellschaft (Demografischer Wandel und Auswirkungen auf die Arbeitswelt und die Sozialversicherungssysteme), Migration (Aussiedler und Ausländerzuwanderungen als Herausforderung für das soziale Sicherungssystem oder als Stabilisator der demografisch veränderten Arbeitnehmerstruktur, vgl. Schwab, Aussiedler, Deutsche unter Deutschen, 1990; ders. Integration, ZfSH 1992, 130ff; .ders. Das Recht auf Asyl, ein unzeitgemäßes Grundrecht?,.), Elternschaft bzw. Kindheit treten neben Unfall und Krankheit als Faktoren nicht nur der Not, sondern der Exklusion, Baer, Das Soziale und die Grundrechte, NZS 2014, 2. Nationalstaaten verlieren zwar durch Europäisierung und Globalisierung an Einflusschancen, die Ausgestaltung des Sozialrechts bleibt aber dennoch eine nachhaltige politische Herausforderung.

140 Vgl. BVerfGK 5, 237 241.

141 § 1 Abs. 1 S. 1 SGB I nennt die programmatischen Ziele (missverständlich in der Überschrift als „Aufgaben“ bezeichnet), die der Gesetzgeber mit dem Recht des SGB verbindet, nämlich die Verwirklichung „sozialer Gerechtigkeit“ und „sozialer Sicherheit“. Damit stellt diese Norm die Umsetzung des Sozialstaatsprinzips des Art. 20 GG auf der Ebene des einfachen Gesetzes dar , Mrozynski, SGB I § 1 RN 1, und gibt vor, dass alle im Sozialgesetzbuch zusammengefassten Einzelnormen aus diesen Leitvorstellungen, die aus den bisher vorhandenen Regelungen herausgezogen worden sind (BT-Drs. 7/868), und aus dem Sozialstaatsprinzip selbst heraus verstanden und interpretiert werden müssen, Niedermeyer, in Rolfs/ Giesen/ Kreikebohm/ Udsching, Beck'scher Online-Kommentar Sozialrecht, § 1 SGB I, RN 2. Die Umsetzung des Sozialstaatsprinzips in das einfache Recht erfolgt nicht allein, aber hauptsächlich im Sozialrecht. Als noch sehr allgemeine Grundprinzipien des Sozialgesetzbuches benennt § 1 Abs. 1 Satz 1 die Ziele einer Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit und der sozialen Sicherheit. Diese beiden Ziele haben innerhalb des gesamten Sozialrechts den gleichen Rang, so Mrozynski, SGB I, § 1 SGB I, RN 11. Mit der Leitvorstellung sozialer Gerechtigkeit verweist das Gesetz zugleich auf dem einfachen Gesetz vor- bzw. übergelagerte Dimensionen. So wird zum einen die Brücke zum Prinzip des sozialen Rechtsstaats (Art. 20 Abs. 1 S. 1 und 28 Abs. 1 S. 1 GG) geschlagen und damit deutlich gemacht, dass die Entscheidung des Gesetzgebers für ein umfassendes Sozialleistungsrecht nicht als beliebige, sondern als verfassungsrechtlich erwünschte und gebotene Entscheidung erscheint, so Hänlein, in Kreikebohm, Kommentar zum Sozialrecht, § 10 SGB I, RN 2.

142 Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, vgl. BVerfGE 120, 125, 155f. = NJW 2008, 1868, als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen, vgl. BVerfGE 80, 367, 374 = NJW 1990, 563; BVerfGE 109, 279, 319 = NJW 2004, 999; auch BVerwGE 87, 212, 214 = NJW 1991, 2304. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG. Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch ein Parlamentsgesetz erfolgen, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält. Dies findet auch in weiteren verfassungsrechtlichen Grundsätzen seine Stütze. Schon aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergibt sich die Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen, vgl. BVerfGE 108, 282, 311 = NJW 2003, 3111. Dies gilt in besonderem Maße, wenn und soweit es um die Sicherung der Menschenwürde und der menschlichen Existenz geht, vgl. BVerfGE 33, 303 337 = NJW 1972, 1561; BVerfGE 40, 237, 249 = NJW 1976, 34. Zudem kann sich der von Verfassungs- wegen bestehende Gestaltungsspielraum des Parlaments nur im Rahmen eines Gesetzes entfalten und konkretisieren, vgl. BVerfGE 59, 231 263 = NJW 1982, 1447. Schließlich ist die Begründung von Geldleistungsansprüchen auch mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für die öffentlichen Haushalte verbunden. Derartige Entscheidungen sind aber dem Gesetzgeber vorbehalten. Dafür reicht das Haushaltsgesetz nicht aus, weil der Bürger aus ihm keine unmittelbaren Ansprüche herleiten kann, BVerfGE 38, 121, 126 = NJW 1975, 254. Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt, BVerfGE 87, 153, 172 = NJW 1992, 3153; BVerfGE 91, 93, 112 = NJW 1994, 2817; BVerfGE 99, 246, 261 = NJW 1999, 561; BVerfGE 120, 125, 155 und 166 = NJW 2008, 1868. Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig. Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben, BVerfGE 107, 275, 284 = NJW 2003, 1303. Der Umfang dieses Anspruchs kann im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden, vgl. BVerfGE 91, 93, 111f. = NJW 1994, 2817 . Er hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen, vgl. BVerfGE 115, 118, 153 = NJW 2006, 751. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen, die sich etwa in einer technisierten Informationsgesellschaft anders als früher darstellt. Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen. Ihm kommt zudem Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu. Dieser umfasst die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs und ist zudem von unterschiedlicher Weite: Er ist enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht. Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen, vgl. BVerfGE 66, 214, 223 = NJW 1984, 2453; BVerfGE 68, 143, 153 = NJW 1985, 1073; BVerfGE 82, 60, 88 = NJW 1990, 2869; BVerfGE 99, 246, 260 = NJW 1999, 561; BVerfGE 112, 268, 280 = NJW 2005, 2448; BVerfGE 120, 125, 155 = NJW 2008, 1868. Hierzu hat er zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen. Das Grundgesetz schreibt ihm dafür keine bestimmte Methode vor (ebenso bei grundrechtlichen Schutzpflichten vgl. BVerfGE 46, 160, 164 = NJW 1977, 2255; BVerfGE 96, 56, 64 = NJW 1997, 1769; BVerfGE 115, 118, 160 = NJW 2006, 751; er darf sie vielmehr im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auswählen. Abweichungen von der gewählten Methode bedürfen allerdings der sachlichen Rechtfertigung. Das dergestalt gefundene Ergebnis ist zudem fortwährend zu überprüfen und weiter zu entwickeln, weil der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er besteht, vgl. BVerfGK 5, 237 [241]= NVwZ 2005, 927. Der Gesetzgeber hat daher Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht. Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums entspricht eine zurückhaltende Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung durch das BVerfG. Da das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs erlaubt, beschränkt sich – bezogen auf das Ergebnis – die materielle Kontrolle darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind, vgl. BVerfGE 82, 60, 91f. = NJW 1990, 2869. Innerhalb der materiellen Bandbreite, welche diese Evidenzkontrolle belässt, kann das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums keine quantifizierbaren Vorgaben liefern. Es erfordert aber eine Kontrolle der Grundlagen und der Methode der Leistungsbemessung daraufhin, ob sie dem Ziel des Grundrechts gerecht werden. Der Grundrechtsschutz erstreckt sich auch deshalb auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums, weil eine Ergebniskontrolle am Maßstab dieses Grundrechts nur begrenzt möglich ist. Um eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Nachvollziehbarkeit des Umfangs der gesetzlichen Hilfeleistungen sowie deren gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, müssen die Festsetzungen der Leistungen auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigen sein. Das BVerfG prüft deshalb, ob der Gesetzgeber das Ziel, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, in einer Art. 1 Abs. 1 GG gerecht werdenden Weise erfasst und umschrieben hat, ob er im Rahmen seines Gestaltungsspielraums ein zur Bemessung des Existenzminimums im Grundsatz taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und schließlich, ob er sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt hat. Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 i.V. mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang.

143 Vgl. BVerfGE 82, 6091 f.

144 Das Sozialstaatsziel ist ein politischer Gestaltungsauftrag in der gewaltenteilig repräsentativen, parlamentarischen Demokratie. Das GG verzichtet dafür auf eine materielle Sozialverfassung mit konkretem sozialem Programm. Es steuert die gesellschaftlichen Prozesse und grundlegenden Bedürfnisse durch die Vorgabe von Zielen und Handlungsaufträge, die unter Beachtung der Grundrechte und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einzelfallbezogen konkretisiert werden müssen. Der Sozialstaat ist das Resultat politischer Gestaltung und dynamischer und problembezogener Rechtssetzung. Die Zielverfolgung unterliegt einem zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichem Wandel und einer problemorientierten Anpassung. Der Sozialstaat kann fortentwickelt, geändert, angepasst und zurückgebaut werden, Papier, 2005. Dabei darf allerdings die Sicherungsfunktion des Sozialstaates nicht vernachlässigt werden. Der Staat muss verstärkt Anstrengungen unternehmen, die Eigenverantwortung und den Aufbau neuer Solidaritätsformen der Bürger zu fördern. Das Sozialstaatsprinzip darf dabei aber nicht zur Verfügungsmasse der Politik verkommen. Der Sozialstaat darf letztlich nicht auf die reine Armenfürsorge reduziert werden. Der verfassungsrechtliche Auftrag an den Staat fordert mehr als das „Verbot einer eindeutig unsozialen Politik“. Der vorsorgende Staat ist verpflichtet dem mittellosen Bürger die Mindestvoraussetzungen einer menschenwürdigen Existenz zu sichern. Die inhaltliche Aushöhlung des Sozialstaats würde den inneren Frieden und gesamtgesellschaftlichen Wohlstand sowie die soziale Identität, die die Verhältnisse in Deutschland sechs Jahrzehnte prägte, in Frage stellen.

145 Wachstum ist zwingende Voraussetzung, um den demographischen Wandel und die globale Arbeitsteilung ohne Wohlstandsverluste zu bewältigen. Wachstum setzt individuelle und kollektive Freiheit voraus, weil nur die marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung Initiativen belohnen und das in der Gesellschaft dezentral vorhandene Wissen mobilisieren kann. Die Beschleunigung und die Globalisierung des Marktprozesses sowie der von ihnen ausgehenden Produktivitätsdruck erhöhen zugleich die individuellen Anforderungen an Qualifikation und Flexibilität, Röttgen/Lindner, Eine neue Ordnung mit bewährten Prinzipien, SZ, vom 26.03.2010. Folge politischer Untätigkeit wären ansonsten in Deutschland bislang unbekannte soziale Unsicherheit und Ungleichheit. Die Soziale Marktwirtschaft hat mit den neuen Herausforderungen – als Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell – an Strahlkraft gegenüber einer staatlichen Steuerung verloren. Eine Neubestimmung der Staatsaufgaben ist nötig. Der Ordnung der Freiheit wohnt der Ausgestaltung harrender progressiver Stilgedanke“ (Alfred Müller-Armack) inne. Tatsächlich wurden die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft nicht konsequent eingehalten und andererseits angesichts neuer Rahmenbedingungen zu lange nicht den aktuellen Bedürfnissen und Anforderungen angepasst.

146 Neškovic, Schutz des Rechtstaates – Stärkung des Sozialstaates, ZRP 2010, 70.

147 Die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls prägt auch heute noch Überlegungen zu Fragen "gerechten Handelns". Rawls vertrat die Auffassung, dass eine gerechte Grundstruktur der Gesellschaft eine bestimmte - fiktive - gedankliche Perspektive als Ursprung erfordert, die es ermöglichen soll, zu ermitteln, nach welchen Prinzipien die Gesellschaft geordnet wäre, wenn alle Beteiligten sie unter der Bedingung ihrer eigenen Unparteilichkeit festlegen würden. Jede Person, frei und rational, müsste die Frage nach den Grundstrukturen unter der fiktiven Voraussetzung beantworten, nichts über ihre realen sozialen oder persönlichen Voraussetzungen wissend "Schleier des Nichtwissens. Gerechtigkeit setzt als Grundbedingung voraus, dass jedermann das gleiche Recht auf das umfangreiche Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten von "Natur" aus hat, die Grundfreiheiten sind dem menschlichen, würdevollen Wesen immanent. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind nur dann akzeptabel und rechtfertigungsfähig, wenn sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gemeinschaft der freien, autonomen Bürger den größten Vorteil bringen, ohne Chancengleichheiten anderer zu beeinträchtigen. Die Grundfreiheit darf nicht wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Interessen beliebig geopfert werden. M. E. ist die Menschenwürde auch nicht durch Gemeinwohlbelange objektiviert einschränkbar, vgl. Gierhake, Rechtsphilosophie, in Krüper (Hg.), Grundlagen des Rechts, S. 37f.

148 Den einen erscheint der Sozialstaat als Auslaufmodell, das abgebaut und ausgemistet gehört, den anderen als Errungenschaft, die in Gefahr steht, bei den Umbaumaßnahmen, die sukzessive vorgenommen wurden preisgegeben zu werden. Statt Freiheit und Selbstverantwortung - Gerechtigkeit und soziale Sicherheit? Auf der Suche beide Antipoden miteinander zu vereinen wurden Fragen der Vorsorge, der Aktivierung, der Selbstverantwortung und des sozialen Ausgleichs aufgeworfen und versucht, human zum Ausgleich zu bringen, vgl. Arndt-Kreis (Hg), Stachel der Gerechtigkeit: Die Zukunft des Sozialstaates, 2005

149 Die Kommission Arbeits- und Sozialrecht des DJT hat mit der Wahl des Themas „Abschied vom Normalarbeitsverhältnis?” damit einen hochpolitischen und gesellschaftlich brisanten Akzent gesetzt. Spellbrink, Rettung des Normalarbeitsverhältnisses durch Abschied von der geringfügigen Beschäftigung? NZS 2010, 353, fragte rhetorisch zu Recht, auf welcher Ebene diskutieren wir – juristisch, ökonomisch oder wertbezogen – gesellschaftspolitisch den Abschied vom Normalarbeitsverhältnis und die atypischen oder gar prekären Arbeitsverhältnisse? Waltermann argumentierte in seinem Gutachten für den 68. Deutschen Juristentag u. a. dass das altbewährte System der Sozialversicherung durch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse geschwächt werde, Lasten auf zukünftige Generationen abgewälzt würden. Geringfügige Beschäftigung war aber immerhin eine Beschäftigung könnte man entgegenhalten, doch oft waren die Begleitumstände nicht den Anforderungen angemessen, die Art. 1 Abs. 1 GG als „menschenwürdig“ verpflichtend vorgibt. Durch den schlechten Organisationsgrad der in diesem Lohnsegment arbeitenden Menschen konnte auch eine „assoziative Hilfe“ durch eine kollektive Vereinbarung der Gewerkschaften mit Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden keine tarifliche Hilfe erzielen. Wer arbeitet sollte von seiner Hände arbeiten leben können, formulierte Engelen-Kefer. Zur menschenwürdigen Existenzsicherung musste der Gesetzgeber tätig werden, weil die bewährte Sozialpartnerschaft keine tragfähige Geschäftsgrundlage vorfand, vgl. Schwab, Arbeitsrecht und Arbeitsgesellschaft, 2014.

150 Unser freiheitlicher Verfassungsstaat bewährt sich dadurch, dass er es den Bürgern überlässt, wie sie ihr Leben gestalten – worin sie also etwa ihren Lebenssinn finden, welche ethischen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sie besitzen und ob und wie sie diese in ihrem Leben umsetzen sowie in welchen Formen (Partnerschaft oder Ehe) sie mit anderen Menschen zusammenleben. Der Staat ermöglicht die Konzeptionen des guten Lebens und verhält sich neutral. Er beschränkt seine Aktivitäten auf die Gestaltung einer gerechten Ordnung des Zusammenlebens. Nach der Unterscheidung der Fragen des Guten und des Gerechten darf der Staat nur insoweit tätig werden, als seine Maßnahmen auf Gründen beruhen, die unabhängig von einer partikularen ethischen Einstellung nachvollzogen werden können, so Huster, Endlich: Abschichtung statt Abwägung, DÖV 2014, S. 860. Wenn er sich dagegen eine der umstrittenen Überzeugungen zu eigen macht und sich zu dieser bekennt, dann behandelt er nicht alle Bürger mit der gebotenen gleichen sozialen Achtung und dem gleichen Respekt – die er der menschlichen Würde, die er zu wahren und zu schützen hat, schuldet ; er wäre dann nicht mehr „Heimstatt aller Bürger“. Würde – als gegenseitige soziale Anerkennung der Menschen von Menschen - kommt jedem Menschen und in gleicher Weise und in gleichem Maße zu, Isensee, in Merten/Papier, Handbuch der Grundrecht in Deutschland und in Europa, Bande IV, § 87 Menschenwürde, RN 53. Der Staat als Träger der öffentlichen Schule nimmt einen eigenständigen Erziehungsauftrag für sich in Anspruch, der in Art. 7 Abs. 1 GG eine – wenn auch nicht sehr deutliche – verfassungsrechtliche Verankerung findet. Die Erziehungsziele reichen von politischen Tugenden i. e. S. „Erziehung zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung“, über sozialmoralische Vorgaben „Erziehung zu sittlicher Verantwortlichkeit“, bis hin zu Leitlinien der Gestaltung des eigenen Lebens, „Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne“. Aber auch ethisch-religiöse Anschauungen „Ehrfurcht vor Gott“, werden vom staatlichen Erziehungsziel mit umfasst, wenngleich der Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung der (heranwachsenden) Bürger insoweit durch das prägende konfessionell bekennende oder nicht bekennende Elternhaus besonders deutlich überlagert wird.

151 Höchstrichterliche Urteile sind kein Gesetzesrecht und erzeugen keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Das BVerfG hat festgestellt, dass höchstrichterliche Entscheidungen nicht die Rechtslage ändern, lediglich aufgrund eines prinzipiell irrtumsanfälligen Erkenntnisprozesses für den konkreten Fall klar stellen, BVerfGE 38, 386, 396 = NJW 1975, 968; BVerfGE 84, 212, 227 = NJW 1991, 2549; BVerfG, Beschluss vom 28.09.1992 - 1 BvR 496/87, NZA 1993, 213 = DB1992, 2511 = AP GG Art. 20 Nr. 15. Richterliche Rechtsfortbildung ist nach Auffassung des BVerfG „im modernen Staat geradezu unentbehrlich”, da sich die Lebensverhältnisse dynamisch wandeln und der Gesetzgeber mit den Anforderungen an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel und das Regelungsbedürfnis nur sehr schwer Schritt halten kann, vgl. BVerfG, Beschluss vom 19-10-1983 - 2 BvR 485/80, 2 BvR 486/80, NJW 1984, 475. Unter dem Grundgesetz sind richterlicher Rechtsfortbildung indessen durch den Grundsatz der Rechts- und Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG Grenzen gezogen. Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes enthält infolge seiner Weite und Unbestimmtheit regelmäßig keine unmittelbaren Handlungsanweisungen, die durch die Gerichte ohne gesetzliche Grundlage in einfaches Recht umgesetzt werden könnten. Insoweit ist es richterlicher Inhaltsbestimmung weniger zugänglich als die Grundrechte, vgl. Beuthien, Sozialplan und Unternehmensverschuldung, 1980, S. 48; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 RN 25 (S. 311 f.); es zu verwirklichen ist in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers, BVerfGE 1, 97, 105 = NJW 1952, 297. So ist es im Wege richterlicher Rechtsfortbildung aus dem Sozialstaatsgedanken kaum zu erschließen, warum den Sozialplanansprüchen, obwohl sie nur auf eine soziale Zusatzleistung des Arbeitgebers abzielen, ein besserer Konkursrang zukommen soll als den rückständigen Bezügen der Arbeitnehmer aus einem Arbeitsverhältnis mit dem Gemeinschuldner gem. § 61 Abs. 1 Nr. 1a KO. Anders als der BGH im Soraya-Fall konnte sich das BAG im übrigen nicht darauf berufen, dass seine Rechtsprechung von einer allgemeinen Rechtsüberzeugung gestützt werde, vgl. BVerfGE 34, 269, 290 = NJW 1973, 1221 -Der Richter muss sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen. Es muss einsichtig gemacht werden können, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft, BVerfGE 9, 338, 349] = NJW 59, 1579. Diese Aufgabe und Befugnis zu „schöpferischer Rechtsfindung” ist dem Richter - jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes - im Grundsatz nie bestritten worden, vgl. etwa R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 100 [1971], und dazu Redeker, NJW 72, 409 ff. Art. 20 Abs. 2 GG verleiht dem Grundsatz der Gewaltenteilung Ausdruck. Auch wenn dieses Prinzip im Grundgesetz nicht im Sinne einer strikten Trennung der Funktionen und einer Monopolisierung jeder einzelnen bei einem bestimmten Organ ausgestaltet worden ist, vgl. BVerfGE9, 268, 279 f. = NJW1959, 1171; BVerfGE96, 375, 394 = NJW1998, 519; BVerfGE109, 190, 252 = NJW2004, 750, schließt es doch aus, dass die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen hat, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen, BVerfGE96, 375, 394 = NJW1998, 519; BVerfGE109, 190, 252 = NJW2004, 750. Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter zwar nicht, das Recht fortzuentwickeln, BVerfGE122, 248, 267]= NJW2009, 1469. Anlass zu richterlicher Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird, BVerfGE126, 286, 306 = NJW2010, 3422. Der Aufgabe und Befugnis zur „schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung“ sind allerdings mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung Grenzen gesetzt, BVerfGE34, 269, 288 = NJW1973, 1221; BVerfGE49, 304, 318 = NJW1979, 305; BVerfGE57, 220, 248 = NJW1981, 1829; BVerfGE74, 129, 152 = NJW1987, 1689. Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt, vgl. BVerfGE82, 6, 12 = NJW1990, 1593; BVerfGK8, 10, 14 = NJW2006, 3340. Ein Richterspruch setzt sich über die aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gesetzesbindung hinweg, wenn die vom Gericht zur Begründung seiner Entscheidung angestellten Erwägungen eindeutig erkennen lassen, dass es sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben hat, also objektiv nicht bereit war, sich Recht und Gesetz zu unterwerfen, vgl. BVerfGE87, 273, 280] = NJW1993, 996.

152 Richter ohne Grenzen! - Die Überschätzung der Richterfunktion nimmt bisweilen absonderliche Züge an. Der ehemalige Präsident des BGH G. Hirsch verstieg sich zu der Feststellung, dass es bei der gesetzesauslegenden Urteilsfindung, also nicht darum gehe, was der Gesetzgeber - wer immer das sein mag - beim Erlass eines Gesetzes gedacht hat, sondern was er vernünftigerweise gedacht haben sollt. Der Richter ist also nicht nur Zensor, sondern auch eine Art von Gouvernante, die es besser weiß als die Abgeordneten des Parlaments, die von ihr erzogen werden. So nähert sich der Richter dem Beruf des "gesetzgebenden Richters" wir Rupert Scholz kritisch feststellte, und so wird die Unabhängigkeit zu einer Ungebundenheit vom Recht, die nicht nur Recht auslegt, sondern erst schafft, was sie dann auslegt. Dadurch wird das Verhältnis von Auszulegendem und Auslegung auf den Kopf gestellt, wie dies bei einer Verwechslung von Ursache und Wirkung geschieht. Die angemaßte Autarkie ist bei Licht betrachtet nicht so genügsam, wie sie heuchelt, Norbert Blüm, Einspruch! Wíder die Willkür an den deutschen Gerichten, 2014, S. 36.

153 Ein Sozialstaat, der die Menschen stärkt Eine besonders wichtige Aufgabe besteht meiner Ansicht nach darin, einen Sozialstaat zu schaffen, der Menschen nicht einfach alimentiert und abschreibt, sondern der aktiv Zukunftschancen schafft: den vorsorgenden Sozialstaat. Es geht darum, für alle mehr Lebenschancen zu schaffen: mehr Chancen auf gute Bildung, auf gute Arbeit und sozialen Aufstieg, mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die solidarische Mehrheit der Bevölkerung erhofft eine planvolle, vorausschauende, aktivierende Sozialpolitik in einem effektiven Sozialstaat. Beim vorsorgenden Sozialstaat geht es nicht darum, dass wir weniger Geld für Sozialleistungen ausgeben. Der vorsorgende Sozialstaat ist kein Sparmodell und schon gar kein "Sozialstaat light". Aber es geht auch nicht darum, dass wir mehr Geld ausgeben. Beim vorsorgenden Sozialstaat geht darum, dass wir das Geld gut ausgeben, und damit meine ich klug, planvoll und vorausschauend. Wir brauchen mehr Gerechtigkeit pro Steuer-Euro. Ich bin mir sicher: Daran werden die Bürger den Staat messen, daran wird der Erfolg von Politik gemessen, daran bemisst sich auch das Vertrauen in die Demokratie. Die Mehrheit der Menschen will ein soziales Deutschland. Wir nennen sie: die solidarische Mehrheit. Sie ist bereit, in den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu investieren und dafür Steuern zu zahlen. Aber sie möchte Ergebnisse sehen, und zwar einen funktionsfähigen Sozialstaat. Die Staatsquote, so sagt man, ist ein Indikator dafür, wie stark der Staat in einer Volkswirtschaft mitmischt. Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wollen nicht, dass der Staat weniger mitmischt, sie wollen, dass er mehr mitmischt, dass er die Infrastruktur für ein gutes Zusammenleben bereitstellt und mehr soziale Gerechtigkeit schafft. Das Leitbild des vorsorgenden Sozialstaates verbindet drei herausragende Ziele: Sicherheit, Teilhabe und Emanzipation. Wir gehen davon aus, dass alle drei zusammen gehören. Armutsbekämpfung und die Absicherung der großen Lebensrisiken gelingen umso besser, je früher wir ansetzen und je stärker wir die aktive Beteiligung der Menschen in den Mittelpunkt stellen. Die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Menschen zu entwickeln heißt, die sozialen Voraussetzungen der Freiheit zu schaffen. Wir brauchen einen Sozialstaat, der Chancen eröffnet, der so viele Menschen wie möglich befähigt, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Wir brauchen einen Sozialstaat, der die Menschen dabei unterstützt, gar nicht erst in Abhängigkeit und Not zu geraten. Wir brauchen einen Sozialstaat, der die Vorprogrammierung von Lebensläufen durchbricht. Der die Verbindung von Herkunft und Werdegang löst. Der pro Kopf mehr Lebenschancen schafft. Der früh genug auf dem Plan ist, um wirklich etwas zu bewirken. Also einen Sozialstaat, der Zukunft gestaltet. Es reicht nicht, einen Teil der Gesellschaft mit Sozialleistungen abzufinden. Das hilft nicht gegen Ausgrenzung. Ein Sozialstaat, der sich auf die Schadensbegrenzung konzentriert, ist nur ein halber Sozialstaat. Ein pessimistischer Sozialstaat konzentriert alle Ressourcen darauf, Not zu mindern. Ein optimistischer Sozialstaat investiert in die Zukunft der Menschen. Ein Sozialstaat, der die Menschen stärkt und ihnen Neugier, Hoffnung und Lebensfreude erweckt. Frei nach Hubertus Heil, Festschrift der Ludwig-Erhard-Stiftung für Dr. Gerhard Schmidt, September 2008

154 Es spricht einiges dafür, dass Solidarität und Sozialität in unserer Gesellschaft rückläufig sind. Deutschland gehört zwar im internationalen Vergleich zu den eher egalitären Gesellschaften, aber von einer Nivellierung der materiellen Ungleichheit sind wir sehr weit entfernt, Belwe, APuZ B 29-30/2002, Editorial. In zahllosen Begriffspaaren wie z. B. "Sozialenergie" (Helmut Klages) oder "soziale Bindekraft" (Wolfgang Schäuble) vermengte sich Putnams Leitbegriff mit Erich Fromms berühmter Metapher vom "sozialen Kitt", um in blumiger Sprache zu umschreiben, was der Gesellschaft offenbar abhanden gekommen war. "Nicht nur das ökonomische Kapital, sondern ebenso das soziale Kapital‘ sollte und wird über die Zukunftsfähigkeit Deutschlands entscheiden, Braun, Soziales Kapital, sozialer Zusammenhalt und soziale Ungleichheit, APuZ, B 29-30/2002. Soziales Kapital wurde zur rhetorischen Trumpfkarte all derer, die vertrauensvoll Hoffnung auf eine Wiederbelebung von solidarischen Beziehungen, Netzwerken und sozialem Vertrauen in eine lebendige und motiviert-engagierte Bürgergesellschaft investierten. Einigkeit bestand über die Bedeutung sozialen Kapitals als wichtigem Beitrag zur (kollektiven) Wohlfahrt, da es einen wichtigen Beitrag zu der wohlfahrtssteigernden sozialen und moralischen Kompetenz" von Gesellschaften leistet.

155 Die Grundrechte können im Dienst der Freiheit als Abwehrrechte der Individuen die zu verwirklichende Freiheit an inhaltliche Bedingungen knüpfen, die als Ansprüche mit korrespondierenden Pflichten zu formulieren sind. Sie folgen dem Prinzip positiver Freiheit das den Freiheitsgebrauch mit sozialen Anspruchsrechten und Zielen (wie Gesundheit, Bildung) vorgibt. Formale Freiheit sichert allen einen Rechtsanspruch, während bei materialer Freiheit die inhärente Möglichkeitsbedingungen als Freiheitsausübungschancen realisiert sein müssen, vgl. Nass, Der humangerechte Sozialstaat - Symbiose aus ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit, 2006, S. 20. Materiale Freiheit ist ein konstitutives Element des legitimen Rechtsstaates. Die Bürger müssen in die tatsächliche Lage versetzt werden, von der verbrieften Freiheit Gebrauch machen zu können. Das Ziel materialer Gleichheit wird in der aufgezeigten Umschreibung des Sozialstaats (Aufgaben, Ziele, Einordnung in den Verfassungsstaat) mit der Solidarität zu betrachten sein. Eine natürliche Solidarität entsteht aus dem Zusammensein in einer menschlichen Gemeinschaft. Die gegenseitige Abhängigkeit, das Angewiesen sein aufgrund besserer Kenntnis oder Sachmitteln als Beschreibung eines Sinnzustandes lassen sich keine Ansprüche gegen den Staat als Solidar- und Rechtsgemeinschaft herleiten, im Ereignis auch Nass, S. 26 mit anderer Begründung: keine Eingriffe in Verfügungsrechte. Unklar bleibt der Gedankensprung von dem Freiheitsgedanken auf die Zielfolgerung - wenn der Einzelne zur vollwirksamen Entfaltung seiner natürlichen Freiheit auf Hilfestellung des Staates angewiesen ist, muss der Focus auf die Frage gerichtet werden, folgt aus einem Grundrecht ein Teilhaberecht oder folgt ein fassbarer, konkreter Anspruch aus dem Sozialstaatspostulat. Letzteres wird man verneinen müssen, da das Sozialstaatsprinzip ein final strukturiertes Staatsziel formuliert, das dem Gesetzgeber eine Handlungsziel vorgibt, aber keinen konditionalen Anspruchsstrukturen schafft ("wenn - dann"). Die Konkretisierung und Umsetzung der Staatszielbestimmung obliegt dem Gesetzgeber. Er setzt die finale Zielvorgabe in Gesetze um, aus denen sich dann Ansprüche im konkreten Einzelfall ("wenn d Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind") ergeben. Nass versucht aus dem Begriff der "gesollten Solidarität" normative Ansprüche abzuleiten. "Gesollte Solidarität" begründe ein Rechtsverhältnis "in solidum", mit dem jedes Mitglied einer Gruppe für eine Gruppe von Schuldnern oder die gesamte Gruppe für jedes ihrer Mitglieder haftet, Nass, Der humangerechte Sozialstaat - Symbiose aus ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit, 2006, S. 26. Solidarität definiere einen gesellschaftlichen Zusammenhalt materialer Freiheit aufgrund einer gegenseitigen juristischen Verpflichtung, so Nass, a.a.O. S.. 27. Solidarität sei ein Rechtsprinzip und solidarisch handelnde Menschen folgten einer juristischen Pflicht. Eine Hoffnung aus einem Wir Gefühl? Der interessanten Gedankenführung kann ich nicht folgen und zustimmen. Solidarität als ethisch-moralische Pflicht - dies ist mit dem materialen Freiheitsgehalt der Menschenwürde und dem Achtungsanspruch des einzelnen Individuums noch zu begründen, greift die moralische Pflicht doch nicht in die reale Freiheit ein und begründet keine Pflichten des durch die Menschenwürde geschützten Individuums. Die Rechtsordnung leitet aus einem besonderen Näheverhältnis, einer Gefahrengemeinschaft eine Pflicht her, die eintretende Gefahrenlage und die dadurch bedingte konkrete Gefährdung von Leib und Leben eines Mitglieds durch ein geeignetes, zwecktaugliches Handeln abzuwenden. Das Tätig werden muss freilich zumutbar sein, damit aus der "sogenannten Garantenstellung eine Handlungspflicht entsteht. Im Unterschied zu den von Nass bemühtem Begriff des "solidum" handelt es sich um eine durch eine besondere persönliche Nähe oder ein gemeinsames Erlebnis (Bergsteigerfälle) geprägte Schicksalsgemeinschaft. Während die These von Nass aus einer überschaubaren Gruppe eine rechtliche Einstandspflicht des Einzelnen ableitet. Irritierend ist der Gedankensprung zum "Schuldverhältnis", dass mehrere Schuldner gemeinsam eingegangen sind - Rechtsverhältnisse werden entweder durch Gesetz begründet oder durch Verträge gestaltet. M. E. begründet allein die tatsächliche Zugehörigkeit zu einer Zufallsgemeinschaft - "den Staatsbürgern" kein "obligatorisches Schuldverhältnis", da der Einzelne keinerlei Einwirkungsmöglichkeit auf die Entstehung oder Verhinderung des "Haftungsfalles" hat. Soll er vielleicht als "Ausfallbürge" für die Wechselfälle des Lebens anderer der Zufallsgemeinschaft angehörender Zeitgenossen einstehen müssen? Was bleibt ist die "Haftung" der Solidargemeinschaft aufgrund der durch den Gesellschaftsvertrag geprägten Verfassung und die Zielvorgaben des Verfassungsgebers; diese sind sehr offen gehalten. Das Sozialstaatspostulat ist ohne Zweifel nicht nur eine politisch-programmatische Äußerung, sondern eine final, d. h. zielgerichtete Vorgabe an den Staat, der durch die staatlichen Organe diese Zielvorgabe in rechtliche Formen konsequent umsetzen muss. Das Sozialstaatsprinzip enthält folglich Handlungsaufträge für den Gesetzgeber, die dieser unter moralisch-theologischen, sozial-ethischen, juristischen und soziologisch-ökonomischen, wertbewussten Aspekten mit Leben erfüllen muss. Die Rechtswirklichkeit stellt Fragen an das Recht, dessen Ursprung und Maß die Verfassung als Quelle des Rechts wirkt und sich am Maßstab der Gerechtigkeit ausrichtet. Der Ausgleich zwischen widerstreitenden Grundrechten oder Grundrechten und Staatsstrukturprinzipien wird durch den Gesetzgeber geschaffen und verantwortet; er spiegelt in seinem Handeln die gesellschaftliche Meinung wieder. So hat Recht eine Herkunft und eine nicht von vornherein abschätzbare Zukunft. Die Dichte und Intensität der Regelungen ergibt sich aus dem konkreten Normierungsbedarf.

156 Selbstbeteiligungen an den „Gesundheitskosten“ als Steuerungsinstrument - Erosion solidarischer Sicherungsprinzipien im Gesundheitswesen? Bauer, Die sozialen Kosten der Ökonomisierung von Gesundheit, APuZ 8-9/2006, S. 17. Der gestiegene Anteil privater Kosten wurde bisher mit der Begründung legitimiert, erhöhte Zuzahlungen seien ein Anreiz für gesundheitsrelevantes Verhalten. Selbstbeteiligungen wurden also als gesundheitspolitisches Steuerungsinstrument eingesetzt. Das individuelle Kostenbewusstsein wird ohne Zweifel gesteigert. Nicht selten zu Lasten ökonomischer Mehrbelastungen und negativen Folgen für die Versorgungsqualität - wie dem Aufbau von Nutzungsbarrieren. Eine der betriebswirtschaftlichen Annahmen, die der verwirklichten Gesundheitsreform und weiteren Überlegungen zur Entlastung der GKV zugrunde liegt ist die Vorstellung, dass das Handeln der Individuen lediglich ökonomischen Nutzenkalkülen folgt (die Vorstellung eines homo ökonomicus), vgl. hierzu Bauer, Die sozialen Kosten der Ökonomisierung von Gesundheit, APuZ 8-9/2006, S. 17, 23. Die Privatisierung von Gesundheit stellte einen Prozess dar, durch den die einzelnen Akteure für ihre Gesundheitssicherung mehr und mehr selbst verantwortlich gemacht und in die Pflicht genommen wurden. Die erwarteten Selbst-Leistungen auch tatsächlich erbringen zu können fällt in den unterprivilegierten, ressourcenarmen Milieus oft sehr schwer. Die ökonomische Eindimensionalität einer Diskussion über die Leistungsfähigkeit und die Zukunft des Gesundheitswesens wird dann sehr problematisch, wenn unkoordinierte marktwirtschaftliche Mechanismen eine Steuerungsfunktion übernehmen sollen. Die postmoderne Neoliberalisierung von Gesundheit droht dann Solidaritätsstrukturen zu zersetzen, die sehr wohl jahrzehntelang als Qualitätsmerkmal einer Gesellschaft und stabiler Grundpfeiler ihres Systems der sozialen Sicherung anzusehen waren. Das Motiv des "Moral Hazard" - Moral Hazard - wörtlich übersetzt als sittliche Gefährdung - soll das angebliche Phänomen bezeichnen, bei dem mit der Versicherung eines Risikos zum einen die individuelle Risikoneigung zunimmt und zum anderen ein pauschaler Beitragssatz dazu verführt, finanzielle Einsätze durch die Inanspruchnahme von Mehrleistungen wieder auszugleichen (auch dann also, wenn hierfür keine medizinische Notwendigkeit vorliegt) unterstellt den Menschen unlautere Beweggründe und zweifelt die Selbstachtung und Würde der Menschen an, indem sie zu anlassbezogenen Manipulierern und „Sozialbetrügern“ abgestempelt werden. Eine qualitativ hochwertige Versorgung muss man sich in einer solidarischen Zukunft und einer würdegeprägten Gemeinschaft noch leisten können.

157 Stellt das verlorene Gleichgewicht wieder her! Jeder einzelne Bürger, jedes Unternehmen, jede Gruppierung handelt scheinbar vernünftig, doch im Ergebnis entsteht ein großer Missklang: Unter dem Einfluss organisierter Interessen produziert das Parlament Jahr für Jahr so viele Gesetze, dass niemand sie mehr verantworten oder befolgen kann, (Paul Kirchhof, Das Maß der Gerechtigkeit, 2009). Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer, daran konnte auch die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise nichts ändern – im Gegenteil. Politik und Wirtschaft scheinen selbst in der Krise immer einseitiger den Interessen der Superreichen zu folgen, während es vielen Menschen zunehmend schlechter geht. Doch die wachsende Ungleichheit hat ihren Preis, so Stiglitz. Sie behindert Wirtschaft und Wachstum, führt zu weniger Chancengerechtigkeit und korrumpiert Justiz und Politik. Deswegen rief Nobelpreisträger Stiglitz dazu auf, die zunehmende Ungleichheit in unseren Gesellschaften nicht einfach hinzunehmen, sondern Wirtschaft und Politik so zu reformieren, dass der Wohlstand wieder gerechter verteilt ist (Joseph Stiglitz, Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht, 2012). Die Frage nach der Quelle der Freiheit wird durch den abgesteckten Handlungsspielraum des Individuums und die Abwesenheit von Zwang nicht beantwortet. Sie lenkt den Blick auf den natürlichen Drang des Individuums nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung als Ausdruck der inneren Freiheit. Greift der Staat regulierend ein, instrumentalisiert er die innere Freiheit, um die Individuen auf den richtigen Pfad zu einem "besseren Selbst" zu führen, entsteht eine Kluft zwischen dem realen Selbst und dem idealen Selbst, vgl. Wolf, Der aktivierende Sozialstaat zwischen Freiheit und Zwang, 2011, S. 26. Das Problem: externe Ansprüche werden an die freie Verwirklichung des Individuums gestellt, dessen es sich nicht bewusst ist bzw. zu dem es ihm an Bewusstsein mangelt, Wolf, a.a.O. S. 27. Diese mythische Erhöhung verdeutlicht das Problem, dass von außen Ansprüche an die freie Verwirklichung des Individuums gestellt werden und es selbst dessen nicht bewusst sein mag und dass das für richtig befundene Ziel durch Zwang verfolgt werden kann, Wolf, S. 27 unter Hinweis auf Rouseau "Du contrat social". Kant zeichnete nach, dass unter der Herrschaft der Vernunft und der schöpferischen Kraft der Individuen Probleme lösbar sein müssten. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 54 - das Recht ist nicht nur eine notwendige Bedingung von Freiheit ist, sondern zugleich den Staat als Macht- und Entscheidungseinheit und Inhaber des Monopols legitimer Gewaltausübung voraussetzt. Böckenförde meinte im liberalen Rechts- und Sozialstaat ein Ordnungsmodell verwirklicht zu sehen, welches den Gedanken einer Synthese aus positiver und negativer Freiheit entspringt. Die subjektive Freiheit solle nicht inhaltsleerer Beliebigkeit überlassen werden, sondern verbindliche Orientierungspunkte finden, in denen sie sich bilden und festhalten können. Wo die individuelle Freiheit einzelner zugunsten der staatlichen Ordnung endet, beginnt die soziale Freiheit aller. Die egozentrische und rücksichtlose Durchsetzung des individuellen Willens und eigener Interessen führt und gestaltet die unsoziale Freiheit des Einzelnen. Unsoziale Freiheit ist nur dann ein gesellschaftlich tragfähiges Konstrukt, wenn der Egoismus einzelner Individuen dem Wohle aller dient. Die Begrenzung kollektiver Bedürfnisse zugunsten individueller Bedürfnisse und Wünsche ist sozial, realisiert die Freiheit des Bedürftigen. Sozialstaat ist ein institutioneller Ausdruck der Übernahme legaler, formaler und ausdrücklicher Verantwortung einer Gesellschaft für das Wohlergehen ihrer Mitglieder in grundlegenden Belangen. sie bezeichnet ein Bekenntnis zur Solidarität. Der Sozialstaat als Dachorganisation institutionalisierter Solidarität konzentriert sich auf den Schutz der Bürger, Wolf, a.a.O. S. 41, vor den sog. Wechselfällen des Lebens wie Unfällen, Krankheit oder Tod des Ernährers. Der Sozialstaat reagiert aber nicht nur als "Notfallmediziner", er versucht darüber hinaus vorbeugend und vorsorgend für gewisse Lebensrisiken zu wappnen. Maßnahmen der Daseinsvorsorge, Renten und Gesundheitsvorsorge sowie im Erziehungs- und Bildungssystem, die zusammen einem freien Leben dienen sollen. Maßnahme n der "Gesundheitsförderung" und Erziehungs- und Bildungspolitik sind rentable Investitionen in die Humanbildung, durch die personale Kompetenzen aufgebaut und gesichert werden. Humankapitalbildung ist Vorsorge und Zukunftssicherung für die Gesamtgesellschaft. Eine Investition mit Zukunftsrendite. Die sozialpolitische Unterstützung bei der Bildung von Humanvermögen eröffnet dem Einzelnen die Möglichkeit, auch seinen eigenen Beitrag zur Sicherung des Existenz- und Chancenminimums zu leisten. Die integrative Kraft des Sozialstaats zur Solidaritätsstiftung - Inklusion durch Teilhabe! Hinter der Wortfassade "Sozialstaat" verbirgt sich ein hochkomplexes Wertegeflecht von Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit sowie Würde des Menschen als sozial-ethischer absoluter Wert, vgl. Wolf, a. a. O. S. 46. Der Sozialstaat der auf den demokratischen Verfassungsstaat ruht, ist nach Luhmann ein Subsystem des gesellschaftlichen Gesamtsystems bei dem es sich um das Bemühen um die Steigerung der Abweichung von bestehenden Zuständen handle - statt eines planmäßig realisierten Systems handle es sich um kontingente anteilsmäßig zu erbringende Evolution. Neben einer staatlichen Traditionslinie hat der Sozialstaat auch eine sozialpolitische Ableitungslinie aus der Mitte der Gesellschaft: aus ethischen oder religiösen Gründen, aus Barmherzigkeit (St. Martin teilte seinen Mantel um einen Teil dem frierenden Bettler zu geben) oder christlicher Nächstenliebe bzw. solidarischem kollektiven Bewusstsein entwickelte sich eine gesellschaftliche Armenfürsorge. Armut und das Phänomen des Bettelns stellen erst in der späteren bürgerlichen Gesellschaft Herausforderungen für die Gesellschaft dar.

158 Verfassungsunmittelbar sind diejenigen Mittel garantiert, die zur Wahrung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Dazu gehören das gesamte Existenzminimum und damit die materiellen Voraussetzungen, die für die physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind, Frenz, „Armutseinwanderung“ zwischen EU-Freizügigkeit und Menschenwürde, NJW 2013, 1211 - Das Mindestmaß an Sozialleistungen richtet sich nach der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG, BVerfG, NVwZ 2012, 1024 = BVerfGE 132, 134 = ZAR 2012, 339 = EuGRZ 2012, 473. Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu, BVerfG, Urt. v. 18. 7. 2012 − 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11, EZAR NF 87 Nr. 14. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wiederum erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Dem Gesetzgeber kommt ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zu, die mit der Bestimmung der Höhe dessen verbunden sind, was die physische und soziale Existenz eines Menschen sichert. Dieses Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und muss durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen im Hinblick auf die konkreten Bedarfe der Betroffenen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu, vgl. BVerfGE 125, 175, 222 = NJW 2010, 505. Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar und verpflichtet alle staatliche Gewalt, sie zu achten und zu schützen. Wenn Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter zu erlangen sind, ist der Staat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen, vgl. BVerfGE 125, 175, 222 = NJW 2010, 505. Als Menschenrecht steht dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein individueller Leistungsanspruch, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schützt, vgl. BVerfGE 87, 209, 228] = NJW 1993, 1457 = NVwZ 1993, 663 L, und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann. Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen, vgl. BVerfGE 125, 175, 223] = NJW 2010, 505. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen. Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen. Ihm kommt zudem Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu. Dieser Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen umfasst die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs und ist zudem von unterschiedlicher Weite: Er ist enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht, vgl. BVerfGE 125, 175, 224 f.] = NJW 2010, 505 = NVwZ 2010,580 L. Entscheidend ist, dass der Gesetzgeber seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichtet. Maßgeblich für die Bestimmung des Existenzminimums können dabei nur die Gegebenheiten in Deutschland sein, dem Land, in dem dieses Existenzminimum gewährleistet sein muss. Daher erlaubt es die Verfassung nicht, das in Deutschland zu einem menschenwürdigen Leben Notwendige unter Hinweis auf das Existenzniveau des Herkunftslandes von Hilfebedürftigen oder auf das Existenzniveau in anderen Ländern niedriger als nach den hiesigen Lebensverhältnissen geboten festzulegen, Frenz, „Armutseinwanderung“ zwischen EU-Freizügigkeit und Menschenwürde, NJW 2013, 1211

159 Der Staat schützt Konstitution und Anerkennung der Konstitution und Entfaltung der Würde schützt, indem er die Rechtssubjekte gleichermaßen und unabhängig von einer Anerkennung in der Gesellschaft als solcher anerkennt und ihnen damit ihren Freiheitsraum schützt, indem sie Würde konstituieren können. Der rechtliche Würdeschutz umfasst zuerst die Anerkennung als Person. Der soziale Würdebegriff erfasst die Entfaltung als Persönlichkeit. Dass die Menschen sich nur selbst entfalten können, und zwar in Kommunikation mit anderen, verweist auf das Diktum von Böckenförde, dass der Staat der Grundrechte von Bedingungen lebt, die er nicht selbst garantieren kann. Wo der Staat die Entfaltung der Persönlichkeit als Recht schützen kann, kann dies auch dem Würdeschutz geschuldet sein. Unbedingter Garant dafür kann er nicht sein. Die Menschenwürde und die in ihr innewohnende Norm der unbedingten Anerkennung aller Menschen als gleich im Achtungsanspruch und Recht, erweist sich damit als die rechtlich geltende Norm, Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat Freiheit, Gleichheit und Teilhabe behinderter Menschen, 2005, S. 395. Sie schließt alle Menschen und damit auch alle behinderten Menschen ein. Auch wenn ihr Ausgangspunkt die Vernunftfähigkeit von Individuen und Menschheit ist, kann sie nicht durch die konkrete Entfaltung der Vernunftfähigkeit beim Einzelnen begrenzt werden. Auch wenn die Menschenwürde im sozialen Umgang erst hergestellt werden muss, kann ihre rechtliche Anerkennung nicht in Frage gestellt werden. Behinderte Menschen haben den gleichen Anspruch auf Achtung und Schutz der Menschenwürde wie andere Menschen. Die Menschenwürde in rechtlichem Sinne kann der Staat unmittelbar achten, zu ihrem Schutz wird er im sozialen Raum tätig, Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat Freiheit, Gleichheit und Teilhabe behinderter Menschen, 2005, S. 396.Die soziale Dimension der Menschenwürde besagt, dass alle Menschen die Möglichkeit haben müssen, sich in der Gesellschaft zur Persönlichkeit zu entfalten. So ist mit dem Schutz der Menschenwürde zugleich ein weitergehender Anspruch an die Rechtsordnung aufgestellt, im sozialen Raum Gefährdungen der Würde, auch durch die Zuordnung gesellschaftlicher Verantwortlichkeit, aufzuheben oder zu verhindern. Der soziale Rechtsstaat ist der auf die rechtliche und soziale Dimension der Menschenwürde verpflichtete Staat, Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat Freiheit, Gleichheit und Teilhabe behinderter Menschen, 2005, S. 397.

160 Die öffentliche Schule besitzt einen eigenständigen Erziehungsauftrag, dessen nähere Ausgestaltung sich nicht oder nur sehr begrenzt aus verfassungsrechtlichen Vorgaben ergibt. Grundrechtlich geschützte und vom „Erziehungsstaat“ zu beachtende Freiheitsgrenzen können sich in einer pluralistischen Gesellschaft nicht aus den subjektiven Erziehungsvorstellungen der Eltern ergeben, da dies auf eine nicht oder kaum überprüfbare Einschränkung der kindlichen Freiheit führen würde. Die grundrechtlich geschützte, persönliche Freiheit wäre eine „Blase“, die leicht zerplatzen könnte. Sie müssen einen vom elterlichen Erziehungswillen unabhängigen, objektiven Charakter besitzen, so mit Recht, Huster, Endlich: Abschichtung statt Abwägung, DÖV 2014, S. 863. Befreiung von Unterrichtsveranstaltungen – Vorführung des Spielfilms „Krabat“ 1. Die Eltern können gestützt auf religiöse Erziehungsvorstellungen nur in Ausnahmefällen die Befreiung ihrer Kinder von einer Unterrichtsveranstaltung verlangen. 2. Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas ist es zumutbar, dass ihre Kinder in der Schule an der Vorführung eines Spielfilms teilnehmen, in dem das Praktizieren schwarzer Magie dargestellt wird. BVerwG, Urteil vom 11.9.2013 – 6 C 12/12, NJW 2014, 804 = NVwZ 2014, 237 = BeckRS 2013, 57976; Uhle, Integration durch Schule, NVwZ 2014, 541; Traub/Staufenbiel, Ethikunterricht zwischen elterlichem Erziehungsrecht und staatlichem Bildungsauftrag, NVwZ 2014, 1142; Huster, Endlich: Abschichtung statt Abwägung, DÖV 2014, 860. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG erkennt Pflege und Erziehung der Kinder als natürliches Recht der Eltern an. In Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 GG schützt die Norm auch das Recht der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder in religiöser Hinsicht. Es ist Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubensfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten, BVerfGE 93, 1, 17 = NJW 1995, 2477; BVerwGE 141, 223 = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 137 = NVwZ 2012, 162 = LKV 2012, 27 RN 32. Die durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit umfasst nicht nur die (innere) Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch die Freiheit, den Glauben in der Öffentlichkeit zu manifestieren und zu verbreiten. Umfasst ist auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren des Glaubens auszurichten und im Alltag seiner Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln, BVerfGE 32, 98, 106 = NJW 1972, 327. Korrespondierend hiermit schließt das religiöse Erziehungsrecht der Eltern ein, darauf hinzuwirken, dass auch ihre Kinder in ihrem alltäglichen Verhalten die Vorgaben des Glaubens beachten, den die Eltern für richtig halten und ihren Kindern zu vermitteln trachten. Das religiöse Erziehungsrecht der Kl. aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 iVm. Art. 4 Abs. 1 GG ist durch die Ablehnung des Befreiungsantrags nicht verletzt worden. Die Ablehnung war auf Grund des staatlichen Bestimmungsrechts im Schulwesen Art. 7 Abs. 1 GG gerechtfertigt. Das religiöse Erziehungsrecht der Eltern ist zwar vorbehaltlos gewährt, wird jedoch auf Ebene der Verfassung durch das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen beschränkt, das in Art. 7 Abs. 1 GG verankert ist, vgl. zuletzt BVerfG, NJW 2009, 3151 RN 14. Art. 7 Abs. 1 GG überantwortet dem Staat die Aufsicht über das gesamte Schulwesen. Die Vorschrift begründet nicht nur Aufsichtsrechte des Staates im technischen Sinne des Wortes, sondern – vorbehaltlich der Einschränkungen im Bereich des Privatschulwesens Art. 7 Abs. 4 GG – darüber hinaus einen umfassend zu verstehenden staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag. Dieser verleiht dem Staat Befugnisse zur Planung, Organisation, Leitung und inhaltlich-didaktischen Ausgestaltung des Schulwesens, seiner Ausbildungsgänge sowie des dort erteilten Unterrichts, vgl. BVerfGE 96, 288, 303] = NJW 1998, 131; BVerwGE 107, 75, 78 = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 124 S. 39 = NVwZ 1999, 769 = NJW 1999, 2688 Ls. Ebenso wie etwa die Auswahl und Verwendung von Schulbüchern, vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.2.1989 –1 BvR 1181/88, BeckRS 1989, 06917; BVerwGE 79, 298, 300 = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 95 S. 4 = NVwZ 1988, 928 = NJW 1988, 3279 Ls. unterfällt auch die Entscheidung über die Teilnahme an einer Filmvorführung im Deutschunterricht dem staatlichen Bestimmungsrecht. §§ 2 Abs. 4, 3 Abs. 1, 29 Abs. 2. und 57 Abs. 1NRWSchulG ergeben hierfür eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage zu diesem Erfordernis BVerfGE 108, 282, 297 = NJW 3111. Das religiöse Erziehungsrecht der Eltern sowie das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen stehen sich gleichrangig gegenüber, vgl. nur BVerfGE 98, 218, 244 = NJW 1998, 2515. Sie bedürfen gemäß dem Grundsatz praktischer Konkordanz der wechselseitigen Begrenzung in einer Weise, die nicht eines von ihnen bevorzugt und maximal behauptet, sondern beiden Wirksamkeit verschafft und sie möglichst schonend ausgleicht, vgl. BVerfGE 93, 1, 21 = NJW 1995, 2477; BVerwG, Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 132 RN 7 = NVwZ 2009, 56. Dies bedingt schon auf abstrakt-genereller Ebene wechselseitige Relativierungen beider Verfassungspositionen, die im hier interessierenden Zusammenhang zu der allgemeinen Maßgabe führen, dass elterliche Anschauungen über die Beachtlichkeit bestimmter religiöser Verhaltensgebote für ihre Kinder von Seiten der Schule zwar nicht als prinzipiell unbeachtlich behandelt werden dürfen, die Eltern wegen solcher Anschauungen eine Unterrichtsbefreiung ihres Kindes aber nur in Ausnahmefällen beanspruchen können. Das elterliche Erziehungsrecht wird auf einer ersten Ebene durch die Eigenständigkeit der staatlichen Wirkungsbefugnisse im Schulbereich relativiert, vgl. BVerfGE 41, 29, 44 = NJW 1976, 947; BVerwGE 94, 82, 84 = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 109 S. 46 = NVwZ 1994, 578 = NJW 1994, 1889 Ls. Diese erklärt sich – und bezieht ihre innere Legitimation – aus der Bedeutung der Schule für die Entfaltung der Lebenschancen der nachwachsenden Generation und für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Schule soll allen jungen Bürgern ihren Fähigkeiten entsprechende Bildungsmöglichkeiten gewährleisten und einen Grundstein für ihre selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben legen. Zugleich soll sie, unter den von ihr vorgefundenen Bedingungen einer pluralistisch und individualistisch geprägten Gesellschaft, dazu beitragen, die Einzelnen zu dem Ganzen gegenüber verantwortungsbewussten Bürgern heranzubilden, und hierüber eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion erfüllen (hierzu mit unterschiedlichen Akzentsetzungen BVerfGE 34, 165, 182] = NJW 1973, 133; BVerfGE 47, 46, 71 = NJW 1978, 1978, 807; BVerfGK 1, 141, 143 = NVwZ 2003, 1113 = NJW 2003, 3406 Ls.; BVerwGE 42, 128, 130 = Buchholz 11 Art. 3 GG Nr. 141 S. 65 = BeckRS 1973, 30434226; BVerwG, Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 74 S. 2 = NVwZ 1982, 104; BVerwGE 94, 82 = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 109 S. 46 = NVwZ 1994, 578 = NJW 1994, 1889 Ls. Diesen weitreichenden Aufgaben könnte der Staat nicht gerecht werden, ohne eine allgemeine Schulpflicht einzuführen, deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit daher außer Frage steht, BVerfG, Beschl. v. 21.4.1989 –1BVR23589 1 BvR 235/89, BeckRS 1989, 06942 und NJW 2009, 3151; BVerwGE 94, 82, 84 = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 109 S. 46 = NVwZ 1994, 578 = NJW 1994, 1889 Ls. Mit ihr haben die Eltern hinzunehmen, dass der Staat als Bildungs- und Erziehungsträger im Umfang des schulischen Wirkungsfeldes an ihre Stelle tritt, womit ihre Möglichkeit, unmittelbar in eigener Person pädagogisch auf ihre Kinder einzuwirken, auf den außerschulischen Bereich beschränkt wird. Für die Ausfüllung seiner Rolle ist der Staat darauf angewiesen, das Bildungs- und Erziehungsprogramm für die Schule grundsätzlich unabhängig von den Wünschen der beteiligten Schüler und ihrer Eltern anhand eigener inhaltlicher Vorstellungen bestimmen zu können, vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.2.1989 –1 BvR 1181/88, BeckRS 1989, 06917; BVerwGE 94, 82, 84 = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 109 S. 46 = NVwZ 1994, 578 = NJW 1994, 1889 Ls. Die verfassungsrechtlich anerkannte Bildungs- und Integrationsfunktion der Schule würde nur unvollkommen Wirksamkeit erlangen, müsste der Staat die Schul- und Unterrichtsgestaltung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der Vorstellungen der Beteiligten ausrichten, vgl. BVerwGE 79, 298, 302 = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 95 S. 6 = NJW 1988, 3279 Ls.; Stern, StaatsR, Bd. IV/1, 2006, S. 608. Die Schule wäre dann durch kollidierende Erziehungsansprüche Einzelner und grundrechtliche Vetopositionen vielfach blockiert, Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, 276; ähnlich Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten, 2001, 246 f. Um die hierin angelegten Einschränkungen individueller religiöser Bestimmungsansprüche nicht zu überspannen, ist in der Rechtsprechung des BVerfG die in verschiedenen Verfassungsbestimmungen wurzelnde Vorgabe hervorgehoben worden, dass der Staat bei Ausgestaltung des Unterrichts Neutralität und Toleranz vor allem in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht zu wahren, insbesondere jede Beeinflussung oder gar Agitation im Dienste einer bestimmten religiös-weltanschaulichen Richtung zu unterlassen hat, vgl. BVerfGE 41, 29, 51 f. = NJW 1976, 947; BVerfG, Beschl. v. 9.2.1989 – BVERFG 1 BvR 1181/88, BeckRS 1989, 06917 und BVerfGK 8, 151, 153 f. = BeckRS 2009, 38783. Das Neutralitäts- und Toleranzgebot stimmt den Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG sowie die religiösen Grundrechte aufeinander ab und gleicht sie untereinander aus, BVerwGE 79, 298, 300 = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 95 S. 5 = NVwZ 1988, 928 = NJW 3279 Ls. Es schränkt den Kreis möglicher, der demokratisch legitimierten Entscheidung zugänglicher Unterrichtsgestaltungen im Interesse effektiven Grundrechtsschutzes ein. Die Entscheidung über Inhalt und Modalitäten des Unterrichts ist dem Staat überantwortet, der im Gegenzug aber Gewähr dafür tragen muss, religiöse Positionen wenigstens nicht absichtsvoll zu konterkarieren. Nach der nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffenen Würdigung durch das OVG hat im vorliegenden Fall die Schule mit der Entscheidung über die Filmvorführung nicht gegen das Neutralitäts- und Toleranzgebot verstoßen. In dem Anspruch auf Wahrung weltanschaulich-religiöser Neutralität des Unterrichts ist das religiöse Erziehungsrecht der Eltern im schulischen Kontext allerdings noch nicht erschöpft. Andernfalls würde es im Wesentlichen nur gewährleisten, dass die Kinder durch die Schule keiner unzulässigen religiösen Indoktrinierung ausgesetzt werden. Das religiöse Erziehungsrecht umfasst aber nicht nur das Recht, eine unmittelbar gegenläufige Indoktrination von staatlicher Seite abzuwehren, sondern es umfasst darüber hinaus – wie bereits ausgeführt – auch das Recht, die Kinder zur Beachtung religiöser Verhaltensregeln anzuhalten, das heißt in einem umfassenden Sinn auf eine alltägliche Lebensführung der Kinder im Einklang mit den elterlicherseits für verbindlich erachteten Glaubensgeboten hinzuwirken. Dieses Recht würde leerlaufen und damit das Gebot einer ausgleichend-schonenden Zuordnung beider Verfassungspositionen auf ihrer vollen Breite verfehlt, dürfte die Schule sich im Rahmen der Unterrichtsgestaltung über die elterlicherseits erachtete Maßgeblichkeit bestimmter religiöser Verhaltensregeln stets ohne jede Einschränkung hinwegsetzen. Selbst eine dem Erfordernis weltanschaulich-religiöser Neutralität des Unterrichts genügende schulische Veranstaltung kann daher unter Umständen – durchaus auch im hier primär betroffenen Wirkungsfeld der Wissens- und Fertigkeitsvermittlung – gegenüber den Eltern einzelner Schüler deren religiöses Erziehungsrecht unzumutbar beschneiden. Die Verfassung geht nicht davon aus, dass der Staat im Sinne eines Modells weitgehender kompetenzieller Abschichtung im schulischen Bereich jeglicher Verpflichtung durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 iVm Art. 4 Abs. 1 GG ledig wäre, solange er nur das Neutralitäts- und Toleranzgebot beachtet, das heißt auf unmittelbare Indoktrination verzichtet, vgl. in diesem Zusammenhang BVerfGE 34, 165, 183 = NJW 1973, 133; Jestaedt in BK, Art. 6 II und III, Lfg. Dez. 1995. 1. Eltern können auf Grund von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nicht die Einrichtung bestimmter Schulfächer verlangen. 2. Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG räumt den Religionsgemeinschaften als außerstaatlichen Bildungs- und Erziehungsträgern die Möglichkeit schulbezogener Mitwirkung im Interesse der Religionsfreiheit ein. Für die Forderung nach Einführung eines nichtkonfessionellen Ethikunterrichts als Ersatzfach für den Religionsunterricht bietet die Vorschrift keine Grundlage. BVerwG, Urt. v. 16.4.2014 – 6 C 11/13 (VGH Mannheim), NVwZ 2014, 1163 = BeckRS 2014, 52288 Im Handlungsfeld des öffentlichen Schulwesens stößt das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG auf den in Art. 7 Abs. 1 GG verankerten staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag. Art. 7 Abs. 1 GG vermittelt dem Staat Befugnisse zur Planung, Organisation, Leitung und inhaltlich-didaktischen Ausgestaltung des öffentlichen Schulwesens, seiner Ausbildungsgänge sowie des dort erteilten Unterrichts, vgl. etwa BVerfGE 96, 288, 303 = NJW 1998, 131 = NVwZ 1998, 169 Ls.; BVerwGE 107, 75 = NVwZ 1999, 769 = NJW 1999, 2688 Ls.; BVerwGE 107, 75, 78 = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 124, S. 39 = NVwZ 1999, 769 = NJW 1999, 2688 Ls., und BVerwG, NVwZ 2014, 81 RN 11. Der Staat verfügt danach über eine umfassende Schulgestaltungsmacht in organisatorischer wie inhaltlicher Hinsicht, vgl. Jestaedt in Bonner Kommentar, Stand Dez. 1995, Art. 6 II und III RN 336. Diese ist den Ländern als Trägern der Schulhoheit, also hier dem Bekl. überantwortet, vgl. BVerfGE 6, 309, 354 = NJW 1957, 705. Zwar ist das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gleichgeordnet, vgl. BVerfGE 47, 46, 72 = NJW 1978, 807. Hieraus wird ersichtlich, dass das Grundgesetz die Schule nicht zur alleinigen Staatsangelegenheit erklärt hat, vgl. BVerfGE 34, 165. Das elterliche Erziehungsrecht des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG macht also vor der Schule nicht generell halt, vgl. Jestaedt, Art. 6 II und III RN 331. Noch erschöpft es sich insoweit in denjenigen Ansprüchen, die in Art. 7 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 4 GG ausdrücklich geregelt sind, BVerfGE 47, 46, 74 = NJW 1978, 807. Jedoch verbleibt dem Staat bei Festlegung des schulischen Bildungs- und Erziehungsprogramms – dem Kernbereich seiner Schulgestaltungsmacht – Gestaltungsfreiheit. Namentlich können Eltern nicht die Einrichtung bestimmter Schulfächer verlangen, vgl. Robbers, in v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz I, 6. Aufl. 2010, Art. 6 II RN 227; Uhle, in Epping/Hillgruber, Beck-OK GG, Stand 2013, Art. 7 RN 28; Badura in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Lfg. Mai 2013, Art. 6 RN 117, 131; Höfling, in HdB d. StaatsR VII, 3. Aufl. 2009, 517; vgl. auch Geis, in Friauf/Höfling, BlnKomm, Stand Aug. 2013, Art. 7 RN 37; Jestaedt, Art. 6 II und III RN 350. Insoweit bedarf es der Konzentration der Bestimmungsbefugnis auf den Staat schon deshalb, weil die diesbezüglichen Wünsche der Eltern regelmäßig voneinander abweichen werden; der Staat kann nicht allen, oft unterschiedlichen Elterninteressen Rechnung tragen, Robbers, Art. 6 II RN 222. Ihrer bedarf es aber auch, weil der Kanon der Schulfächer nicht ausschließlich Belange der Eltern und Schüler berührt. Ihre Auswahl kann, je nachdem wie sie vorgenommen wird, Ordnungsvorstellungen sowie Qualifikationsmuster der nachwachsenden Generation beeinflussen. Sie ist insofern von gesamtgesellschaftlichem Interesse. Daher besteht ein legitimes Mitsprachebedürfnis auch solcher Bürger, die nicht unmittelbar in eigener Person bzw. über ihre schulpflichtigen Kinder von der schulischen Unterrichtsgestaltung betroffen sind. Der herausragenden Bedeutung der Schule für die Gesellschaft, BVerwGE 145, 333 = NVwZ-RR 2013, 363 = LKV 2013, 316 RN 19, wird nur ein solches Verständnis des Zusammenspiels von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 7 Abs. 1 GG gerecht, das von einer grundsätzlich ungeschmälerten, ausschließlich demokratisch gebundenen Gestaltungsfreiheit des Staates im Hinblick auf die Zusammensetzung des Fächerkanons ausgeht, d. h .die diesbezüglichen Entscheidungsmöglichkeiten des Staates nicht durch elterliche Bestimmungsrechte eingeengt sieht. Mit der Entscheidung des Bekl. in der Grundschule kein Fach Ethik einzurichten, wäre ein etwaiger verfassungsrechtlicher Mindeststandard nicht unterschritten, auch wenn man hierin ein Minimum an schulisch betriebener Wertevermittlung einrechnet. Bereits der Unterricht in anderen Fächern wie etwa Deutsch oder Gemeinschaftskunde bringt eine solche Wertevermittlung stoffbedingt automatisch mit sich, BVerwGE 107, 75, 79 f = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 124, S. 40 = NVwZ 1999, 769 = NJW 1999, 2688 Ls. Auch unabhängig vom jeweiligen Unterrichtsstoff ist davon auszugehen, dass die Schüler im Schulalltag, unter den Zwängen des schulischen Gemeinschaftslebens, auf vielfältige Weise mit ethisch fundierten Verhaltens- und Einstellungsgeboten konfrontiert werden und sie auf diese Weise verinnerlichen. Nach den Feststellungen des VGH im angefochtenen Urteil ist im Land Baden-Württemberg die ethisch-moralische Bildung sowohl der konfessionsgebundenen als auch der konfessionslosen Schüler in diesem Sinne gewährleistet. Ein Anspruch auf Einrichtung des Fachs Ethik in den Grundschulklassen ergibt sich nicht aus Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG; auf die Frage, ob diese Vorschrift Individualrechte von Eltern begründet, kommt es nicht an. Ethikunterricht ist nach der Vorstellung des B-W -Gesetzgebers – so wie es auch dem Verlangen der Kl. entspricht – auf eine bekenntnisfreie Werteunterweisung und -vermittlung gerichtet. Demgegenüber handelt es sich beim Religionsunterricht, wie ihn Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG normiert, um eine Veranstaltung zur Glaubensunterweisung. In ihm sind die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft als bestehende Wahrheit zu vermitteln. Der Religionsunterricht ist in konfessioneller Positivität und Gebundenheit zu erteilen. Er zielt nicht auf eine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, ist nicht bloße Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- oder Bibelgeschichte, BVerfGE 74, 244, 252 = NJW 1987, 1873 = NVwZ 1987, 676 Ls.; auch BVerwGE 42, 346, 350 = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 34, S. 14 = 1815; BVerwGE 110, 326, 333 = Buchholz 11 Art. 7 III GG Nr. 6, S. 5 = NVwZ 2000, 922 = NJW 2000, 3224 Ls., und BVerwGE 123, 49, 53 = Buchholz 11 Art. 7 III GG Nr. 7, S. 16 f. = NJW 2005, 2101 = NVwZ 2005, 1187 Ls. Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG ist vor diesem Hintergrund als eine Norm zu verstehen, die den Bereich der Schule dem Einwirken von Seiten der Religionsgemeinschaften öffnet, d. h. diesen als außerstaatlichen Bildungs- und Erziehungsträgern die Möglichkeit schulbezogener Mitwirkung im Interesse der Religionsfreiheit einräumt. Dementsprechend ist die Vorschrift in der Rechtsprechung des Senats als Konkretisierung des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften, BVerwGE 110, 326, 340 = Buchholz 11 Art. 7 III GG Nr. 6, S. 11 = NVwZ 2000, 922 = NJW 2000, 3224 Ls., als Mittel zur Entfaltung und Unterstützung der diesen grundrechtlich gewährten Religionsfreiheit bezeichnet worden, BVerwGE 123, 49, 53 = Buchholz 11 Art. 7 III GG Nr. 7, S. 17 = NJW 2005, 2101 = NVwZ 2005, 1187; vgl. auch Badura, Art. 7 RN 67). Zwar weist Art. 7 Abs. 3 GG den Religionsunterricht der staatlichen Unternehmerschaft zu, d. h. er entlässt ihn nicht aus der staatlichen Schulhoheit, sondern regelt ihn als Bestandteil der Unterrichtsarbeit im Rahmen der staatlichen Schulorganisation, so dass er zu den gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Kirche gezählt werden kann, vgl. BVerfGE 74, 244, 251 = NJW 1987, 1873 = NVwZ 1987, 676 Ls.; BVerwGE 42, 346, 347 f. = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 34, S. 12 = NJW 1973, 1815. Die staatlichen Befugnisse dienen jedoch neben der Sicherung schuldidaktischer Qualitätsstandards in erster Linie dazu, die verfassungsimmanenten Grenzen der Religionsfreiheit sowie die dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht gesetzten Schranken des für alle geltenden Gesetzes - Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 3 WRV - zu wahren und hierbei insbesondere sicherzustellen, dass sich keine Widersprüche zu staatlich definierten Bildungs- und Erziehungszielen auftun, Badura, Art. 7 RN 67; s. auch BVerwGE 107, 75, 92 = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 124, S. 50 = NVwZ 1999, 769 = NJW 1999, 2688. Sie ändern nichts daran, dass mit der Garantie des Religionsunterrichts den Anliegen der Religionsgemeinschaften Raum verschafft werden sollte und diese Garantie insofern in einen verfassungssystematischen Zusammenhang mit weiteren Regelungen des grundgesetzlichen Religions- und Staatskirchenrechts einzuordnen ist, vgl. BVerwGE 123, 49, 53] = Buchholz 11 Art. 7 III GG Nr. 7, S. 17 = NJW 2005, 2101 = NVwZ 2005, 1187 Ls.; Badura, Art. 7 RN 63. Für die Forderung nach Einführung eines nichtkonfessionellen Ethikunterrichts als Ersatzfach für den Religionsunterricht bietet Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG somit keine Grundlage. Vgl. hierzu - Traub/Staufenbiel, Ethikunterricht zwischen elterlichem Erziehungsrecht und staatlichem Bildungsauftrag, NVwZ 2014, 1142. Art. 7 Abs. 1 GG räumt dem Staat Befugnisse zur Planung, Organisation, Leitung und inhaltlichen Ausgestaltung des öffentlichen Schulwesens ein. Die Erziehung der Kinder als das natürliche Recht der Eltern und der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag stehen nicht in einem Exklusivitätsverhältnis. Weder endet die elterliche Erziehungsbefugnis vor den Toren der öffentlichen Schule, noch lässt sich – auch nicht mit Hinweis auf den Begriff „zuvörderst“ – deren genereller Vorrang gegenüber dem staatlichen Erziehungsauftrag begründen, Vielmehr ist die gemeinsame Erziehungsaufgabe von Eltern und Schule, welche die Bildung der einen Persönlichkeit des Kindes zum Ziel hat, in einem sinnvoll aufeinander bezogenen Zusammenwirken zu erfüllen. Am erfolgreichsten in den Schulbesuch begleitenden Bildungsbündnissen aus einer Zweck- und Interessengemeinschaft von Schule, Eltern und örtlicher sozialer Gemeinschaft, Schwab, 2014 – Bildung begründet Hoffnungen, vgl. Schwab, Freiheit und Sicherheit, 2014; BVerfGE 34, 183= NJW 1973, 133. Das Urteil des BVerwG - BVerwG, Urt. v. 16.4.2014 – 6 C 11/13, NVwZ 2014, 1163 - überzeugt sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung. Es hebt die Bedeutung des staatlichen Gestaltungsspielraums im Schulwesen hervor und fügt sich damit nahtlos in eine Reihe jüngerer Entscheidungen ein, indem es das staatliche Mandat zur Grundrechtskoordinierung, so Traub/Staufenbiel, Ethikunterricht zwischen elterlichem Erziehungsrecht und staatlichem Bildungsauftrag, NVwZ 2014, 1145; Uhle, Integration durch Schule, NVwZ 2014, 545 - als überzeugend erweist sich auch die beiläufige bundesverwaltungsgerichtliche Absage an ein Modell „weitgehender kompetenzieller Abschichtung im schulischen Bereich“, in dessen Folge der Staat dort von jeglicher Verpflichtung durch Art. 4 Abs. 1 GG freigestellt wäre. Diese Aussage ist in der Sache zutreffend, weil die Inanspruchnahme grundrechtlicher Positionen durch die Schüler auch in der Schule nicht ausgeschlossen ist. Auch in besonderen Gewaltverhältnissen gelten Grundrechte. Bedeutung gewinnt die Absage an eine grundrechtliche Abschichtung auf Grund des Umstands, dass jedenfalls hinsichtlich des religiösen Erziehungsrechts der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. Art. 4 Abs. 1 GG im Schrifttum eine „Abschichtungstheorie“ vertreten wird, soweit dort die Aktualisierung des elterlichen Erziehungsrechts auf Grund eines unzutreffend angenommenen Vorrangs von Art. 7 Abs. 1 GG in der Schule ausgeschlossen wird Auch wenn Art. 7 Abs. 1 GG dies nicht ausdrücklich bestimmt, folgt aus dem dort verbürgten staatlichen Bestimmungsrecht über das Schulwesen ein eigener Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates, BVerfGE 34, 165, 182 f = NJW 1973, 133; BVerfGE 47, 46, 71 = NJW 1978, 807; BVerfGE 52, 223, 235 f = NJW 1980, 575; BVerfGE 93, 1, 21 = NJW 1995, 2477; Jarass/Pieroth, GG Art. 7 RN 1. Hiervon geht ersichtlich auch Art. 7 Abs. 4 GG mit seinem Hinweis auf die Lehrziele in der öffentlichen Schule aus. Der Staat ist daher nicht darauf beschränkt, nur Wissensstoff zu vermitteln, sondern kann – jedenfalls in bestimmten Grenzen – eigene Erziehungsprinzipien und -ziele verfolgen und insbesondere darauf abzielen, das einzelne Kind zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft heranzubilden, vgl. BVerfGE 34, 165, 181 ff = NJW 1973, 133; BVerfGE 47, 46, 72 = NJW 1978, 807; Uhle, in Epping/Hillgruber, Beck'scher Online-Kommentar GG, Art. 7 RN 21.

161 Eine würdevolle Herausforderung ist es für die Gruppe der Langzeitarbeitslosen mit Behinderung neue Brücken in den Arbeitsmarkt zu bauen. Eine stabile Zukunftsbrücke die Inklusion dieser Menschen im Alltag erreicht und sichert. Die Inklusion ist zwar schon – Gott sei Dank – im Bewusstsein der Gesellschaft verankert, aber sie muss auch in den Betrieben, in den Schulen und überall dort, wo gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Behinderung noch nicht selbstverständlich ist, erreicht werden. Frei nach BMASin Andrea Nahles, Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles, zum Haushaltsgesetz 2014 vor dem Deutschen Bundestag am 10. April 2014 in Berlin

162 so Geyer, Inklusionsdebatte - Eine unglaubliche Gleichmacherei, FAZ vom 21. Juli 2014

163 Es ist ein heheres Ideal: Kinder mit und solche ohne Behinderung sollen gemeinsam unterrichtet werden. Doch Lehrer und andere Fachleute sagen: Das hilft keinem der Schüler wirklich. Als es am zweiten Schultag zur ersten Stunde klingelte, blieb Yasar auf dem Schulhof stehen. L. sein Lehrer, ging hinaus, um ihn zu holen. Yasar lief weg, doch als L. ihm hinterher lief er der Siebenjährige ihn mit kleinen Steinen. Das wiederholte sich an den nächsten Schultagen. Irgendwann ging L morgens nicht mehr auf den Schulhof um Yasar zu holen. Fortan kam Yasar alleine in die Klasse, mitten im Unterricht, blieb vier oder fünf Minuten, dann lief er wieder raus. Wenn L ihn aufforderte dazubleiben, sagte er: "Halt die Fresse". Manchmal blieb Yasar auch im Unterricht und spuckte mit Schnipseln von Arbeitsblättern, die er zuvor in den Mund gesteckt hatte, um sich. Yasar ist ein Kind mit Förderbedarf in den Bereichen Lernen und emotional-soziale Entwicklung. Wissenschaftliche Belege gibt es für Pro und Contra einer Förderschule oder gemeinsamer Unterricht an einer "Normalschule". Für Förderschulen wird geltend gemacht, dass behinderte Kinder und nichtbehinderte Kinder unterschiedliche Lernniveaus hätten. Die Leistungsstarken kommen zu kurz ist ein Argument. Belegt wird es mit Angaben von Lehrern, die eine Klasse mit behinderten Kindern und nicht behinderten Schülern unterrichteten. Hummel bilanziert: Es ist wohl ein unlösbares Dilemma: Es gibt Kinder mit schweren Beeinträchtigungen, die an Regelschulen immer die Letzten sind und dort nur frustrierende Erfahrungen machen. Wenn man immer mehr Lehrer von förderschulen abzieht oder diese gar schließt, stehen diese Kinder am Ende völlig im Regen.

164 Die Inklusion verändert die Perspektive: Nicht der behinderte Mensch muss spezifische Kompetenzen erwirken, sondern die Gesellschaft ist gefordert, allen Menschen von Anfang an die Teilhabe an allen gesellschaftlichen Aktivitäten auf allen Ebenen und in vollem Umfang zu ermöglichen. Dabei soll die Autonomie und Unabhängigkeit der behinderten Menschen gewahrt bleiben. Menschen mit Behinderungen stehen nicht mehr unter einem "Veränderungs- und Anpassungsdruck". Wichtig und unerlässlich ist es die Gesellschaft, die menschliche Gemeinschaft, so zu aktivieren und zu organisieren, dass Menschen mit Beeinträchtigungen aktiv am Leben teilhaben können. Wird dieses Ziel erreicht, verändert dies auch die Einstellung behinderter Menschen zu sich selbst. Sie sind keine "defizitäre" Individuen, die sich ändern und anpassen sollen sie tragen in ihrer Unterschiedlichkeit zur Vielfalt der Gesellschaft bei. Wir gestalten heute durch politische und gesellschaftliche Entscheidungen mit Weitblick und Verantwortungsbewusstsein die soziale Gesellschaft von morgen. Gutes, verantwortungsvolles Handeln muss die Altersarmut der Menschen in einigen Jahren projektiert, antizipiert bedanken. Diese zu erwartenden sozialpolitischen Verwerfungen sind das Ergebnis der prekären Beschäftigungs- und Arbeitsverhältnisse insbesondere nach der Jahrtausendwende. Verantwortliche, inhaltlich steuernde Politik schafft trotz der unterbrochenen bzw. gerade wegen der unsicheren Erwerbsbiografien vieler Menschen, die in absehbarer Zeit in Rente gehen, heute die Grundlagen für ein gutes, zufriedenes leben im Alter von morgen. Wer in der noch richtigen Zeit bedenkt, kann die Zukunft noch gestalten. Unverantwortliche und Unachtsame schüren die Konflikt von morgen und den Sozialneid von heute, vgl. Ministerpräsidentin, Malu Dreyer, Soziale Arbeit, demografischer Wandel und Inklusionsdebatte, in Bäcker/Heinze (Hg.), Soziale Gerontologie in gesellschaftlicher Verantwortung, 2013, S. 93, 100. Inklusion umsetzen bedeutet zielorientiert gesellschaftliche Barrieren abzubauen, damit eine Beeinträchtigung nicht zu einer Behinderung wird. Sozialpolitik mit Weitblick gestalten, heißt den Rechtsanspruch auf gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gemeinschaft verantwortungsvoll zügig zu verwirklichen und nach dem Motto zu handeln: Von der Fürsorge zur Selbstbestimmung, Schwab, 2014.

165 So Geyer, Inklusionsdebatte - Eine unglaubliche Gleichmacherei, FAZ vom 21. Juli 2014

166 Die rechtliche Gleichheit ist nicht mit einer tatsächlichen Gleichheit gleichzusetzen. Dies würde die Freiheit der Bürgerinnen aufheben, sich aus der Gleichheit durch Öffnung zur Vielfalt entwickeln zu können und dürfen. Die normative Gleichheitsordnung hat die reale Diversität, die Ungleichheit zu achten. Am Respekt der faktischen Ungleichheit findet jede Gleichheitsordnung ihre Schranke. Die Realität diktiert dem Gesetzgeber ihre Gesetze, die der faktischen Ungleichheit, der realen Vielfalt, vgl. Leisner-Egensperger, Vielfalt ein Begriff des Öffentlichen Rechts, 2004, S. 179. Art. 3 Abs. 1 GG schließt bestehende, tatsächliche und rechtliche Vielfaltsangebote nicht aus. Rechtliche Differenzierungsgebote wie sie in Art. 6 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG entnommen werden können, eröffnen Gestaltungsräume, in denen vielfältige Rechtsfolgen abgeleitet werden müssen. Die konkrete Differenzierung obliegt dem Gesetzgeber. Vielfalt ist Konkretisierung der grundrechtlichen Freiheitsräume. Vielfalt kann nur aus dem autonomen, der Menschenwürde gerecht werdenden Verhalten freier Menschen entstehen. Die allgemeine Handlungsfreiheit bringt au der Verschiedenheit natürlicher Anlagen, Interessen, persönlicher Energie und sozialen Vorgegebenheiten notwendig unterschiedliche Resultate und damit Vielfalt hervor. Ungleiches ungleich zu behandeln und nicht material gleich zeigt Gleichheit in der natürlichen und rechtlich abzuleitenden Vielfalt. Faktische Ungleichheit wird zum Einfallstor realer Vielfalt in die Egalität.

167 Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Freiheitssicherung gegenüber gesellschaftlicher Macht, in Aufsätze, 2011, S. 73.

168 So nachdrücklich Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Aufsätze, 2011, S. 55.

169 BVerfGE 20, 312, 318ff; Böckenförde, S. 160.

170 Freiheit beginnt, wenn der Mensch sich selbst zu Eigen ist, er Herrschaft über seinen Geist und Körper ausübt, dieses Recht unveräußerlich und unübertragbar ist. Der Staat geht immer mehr zum einvernehmlichen, konsensgeprägten Handeln, von der Achtung der Freiheit zur Gestaltung der Freiheitsvoraussetzungen über, ergänzt die gesetzliche Grundrechtsprägung durch Global- bzw. Individualsteuerung. Der freiheitsverpflichtete Staat verliert mit diesen Entwicklungen seine Distanz gegenüber dem freiheitsberechtigten Bürger. (Paul Kirchhof)

171 Huber, Freiheit braucht Mut, in Festschrift für Hans Jürgen Papier, 2013, S. 313

172 Die Grundrechte als Freiheitsrechte haben Anspruchscharakter gegenüber der hoheitlich handelnden öffentlichen Gewalt, in der Bundesrepublik Deutschland in vollem Umfang auch gegenüber dem Gesetzgeber. Wie ist das inhaltliche Verhältnis von subjektivrechtlichen und objektivrechtlichen Grundrechtsgehalt zu sehen? Stehen das Grundrecht als subjektives Freiheitsrecht und das Grundrecht als objektive Grundsatznorm, die ja jeweils Gehalte einer Grundrechtsbestimmung sind, eigenständig nebeneinander, sind sie inhaltlich miteinander verknüpft und wenn ja, in welcher Weise? Die verfassungsrechtliche Rechtsprechung gibt keine einheitliche Antwort. Die Bestimmung des objektivrechtlichen Gehalts knüpft an die im Grundrecht gewährleistete Freiheit an und verobjektiviert diese. Damit besteht zunächst ein sachinhaltlicher Bezug, aber die subjektivrechtliche Freiheit wird zugleich verändert. Sie wird ein Rechtsgut, das geschützt, oder ein objektives Freiheitsprinzip, das verwirklicht werden soll. Sie wird damit zum Objekt oder normativen Ziel, das näher bestimmt und eingegrenzt mit anderen Rechtsgütern in Beziehung gesetzt und gegen sie abgewogen werden muss. Die Nähe zur institutionellen Grundrechtsauffassung, die die grundrechtliche Freiheit als objektives Institut ansieht, ist deutlich. Freiheit wird von einer subjektiven Freiheit für einzelne zu einer objektiven Freiheit verallgemeinert, die als allgemeines Richtmaß erscheint. Als solche dirigiert sie mögliche Vorkehrungen organisatorischer, verfahrensmäßiger oder stützender Art, Böckenförde, Wissenschaft - Politik - Verfassungsgericht, Aufsätze, 2011,S. 210f.

173 Geyer, Inklusionsdebatte - Eine unglaubliche Gleichmacherei, FAZ vom 21. Juli 2014

174 Art. 1 Abs. 1 GG formuliert mit der Unantastbarkeitsklausel einen absoluten Geltungsanspruch, der die Menschenwürde dem gängigen Abwägungsmodell der grundrechtlichen Argumentationsprozesse entzieht. Die Garantie der Menschenwürde unterliegt keiner Beschränkungsmöglichkeit, die sachliche Reichweite markiert zugleich die Verletzungsgrenzen, Höfling, in Sachs, GG, 2009, Art. 1 GG, RN 8, 11

175 Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert, vgl. BVerfGE 39, 1 [42]; 72, 105 [115]; 109, 279 [311. Jeder Mensch besitzt als Person diese Würde, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistungen und seinen sozialen Status, vgl. BVerfGE 87, 209 [228]; 96, 375 [399]. Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt, vgl. BVerfGE 87, 209 [228]. Das gilt unabhängig auch von der voraussichtlichen Dauer des individuellen menschlichen Lebens, vgl. BVerfGE 30, 173 [194] zum Anspruch des Menschen auf Achtung seiner Würde selbst nach dem Tod. Dem Staat ist es im Hinblick auf dieses Verhältnis von Lebensrecht und Menschenwürde einerseits untersagt, durch eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen. Andererseits ist er auch gehalten, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht gebietet es dem Staat und seinen Organen, sich schützend und fördernd vor das Leben jedes Einzelnen zu stellen; d. h. vor allem, es auch vor rechtswidrigen An- und Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren, vgl. BVerfGE 39, 1 [42]; 46, 160 [164]; 56, 54 [73]. Ihren Grund hat auch diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet, vgl. BVerfGE 46,160 [164]; 49, 89 [142]; 88, 203 [251]. Ausgehend von der Vorstellung des Grundgesetzgebers, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden, vgl. BVerfGE 45, 187 [227 f.]), schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen, vgl. BVerfGE 27, 1 [6]; 45, 187 [228]; 96, 375 [399]). Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt, vgl. BVerfGE 30, 1 [26]; 87, 209 [228]; 96, 375 [399], indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt, vgl. BVerfGE 30, 1 [26]; 109, 279 [312 f.]. Wann eine solche Behandlung vorliegt, ist im Einzelfall mit Blick auf die spezifische Situation zu konkretisieren, in der es zum Konfliktfall kommen kann, vgl. BVerfGE 30, 1 [25]; 109, 279 [311]; BVerfG, Urt. v. 15.2.2006 – 1 BvR 357/05, DÖV 2006, 386 = BVerfGE 115, 118 = DVBl 2006, 433 = JZ 2006, 408 = EuGRZ 2006, 83 = JuS 2006, 448 mit Anm. Sachs - Art. 1 Abs. 1 GG schützt den einzelnen Menschen nicht nur vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und ähnlichen Handlungen durch Dritte oder durch den Staat selbst …{ sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden]. Niesert, Grenzen der Anfechtung von Arbeitslohn, NZI 2014, 255 - Art. 1 Abs.1 GG gehört zu den tragenden Konstitutionsprinzipien, die auch alle anderen Bestimmungen des Grundgesetzes, namentlich die Auslegung der Grundrechte, beherrschen. In der Rechtsprechung des BVerfG wird unter Menschenwürde, soweit hier interessierend, verstanden, dass jedem Menschen um seiner selbst willen ein von der staatlichen Gewalt unbedingt zu achtender Wert zukomme. Jeder Mensch sei selbstständige Person, nicht verfügbare Sache. Aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG folgt, dass der Staat sich nicht nur selbst einer Beeinträchtigung der Menschenwürde zu enthalten hat, sondern dass er den Bürger – in Erfüllung einer ihn treffenden Schutzpflicht – auch vor Verletzungen der Menschenwürde durch andere Bürger schützen muss. Die Verpflichtung zur Menschenwürde gilt absolut. Depenheuer, Bürgerversicherung und Grundgesetz, NZS 2014, 204 - Im Bereich der sozialen Sicherheit ist der politische und verfassungsgerichtliche Grundtenor ein diametral anderer: der Freiheitsanspruch des Bürgers gegen den Staat wird diffus, verliert seine emanzipatorische Verve, wird immer kleinlauter und löst sich endlich geradezu in nichts auf, d. h. in die Bürgerversicherung. Auch im Bereich sozialer Sicherheit votiert grundrechtliche Freiheit für Selbstbestimmung und Freiheit des Staatsbürgers, vgl. Depenheuer, Nicht alle Menschen werden Brüder. Unterscheidung als praktische Bedingung von Solidarität, in: Josef Isensee (Hrsg.), Solidarität in Knappheit, 1998, S. 41 (57 ff.). Der Staat ist für den Menschen da, nicht umgekehrt, Depenheuer, Bürgerversicherung“ und Grundgesetz, NZS 2014, 207; Art. 1 Abs. 1 des Herrenchiemsee-Entwurf (JöR N. F. 1, 1951, S. 48). Das Grundgesetz gibt in den Grundrechten, im Sozialstaatsprinzip und in der Abgrenzung des Sozialversicherungsbeitrags von der Steuer weitere Leitlinien vor. Ihre Vorgaben sichern Freiheit, Gleichheit, ein Mindestmaß an Risikovorsorge und lassen zugleich privater Vorsorge Lebensraum, Kirchhof, Verfassungsrechtliche Probleme einer umfassenden Kranken- und Renten-„Bürgerversicherung”, NZS 2004, 1. In der Kollision von Würde und sonstigen (Verfassungs-)Rechtsgütern bleibt es hingegen beim Vorrang der Würde. Mit Blick auf die bedingte Gewährung des Existenzminimums hilft daher der Verweis auf die hier nur leistungsrechtliche Dimension der Menschenwürde nicht weiter: Mit der Würde der Leistungsbezieher abgewogen werden soll nämlich nicht die Würde Dritter. Vielmehr beruht die Bedingung (Annahme eines Ein-Euro-Jobs) vor allem auf der Erwägung, die Arbeitsmoral der Bevölkerung – und damit letztlich die Finanzkraft des Staates – müssten geschützt werden. Das Bundesverfassungsgericht in seinem jüngsten Urteil klargestellt, dass es sich bei dem sog. Existenzminimumgrundrecht um ein eigenständiges Grundrecht handelt, das sich erst aus der Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ergibt. Dieses steht neben dem absolut wirkenden Anspruch des Art. 1 Abs. 1 GG und ist zwar dem Grunde nach unverfügbar, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber. Als Basis der Schutzpflichtenfunktion gilt Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG – „Schutz der Menschenwürde“ – und die Funktion der Grundrechte als Wertentscheidungen für den gesamten Bereich der Rechtsordnung, Klein: Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, 1633 - Aus der Staat-Bürger-Beziehung (Herrschaftsverhältnis) werden die Grundrechte schließlich dadurch gelöst, dass sie als “Wertentscheidungen” von Verfassungsrang und als “objektive Normen" bzw. als Normen mit “objektiv-rechtlichem Gehalt" verstanden werden und damit auch auf den Inhalt der im Bürger-Bürger-Verhältnis (Gleichordnungsverhältnis) geltenden Rechtsnormen Einfluss gewinnen können. Die Herleitung der Schutzpflichtfunktion der Grundrechte verknüpft das Sicherheitsbedürfnis des Bürgers mit einer aus den Grundrechten abzuleitenden staatlichen Einstands- und Handlungspflicht. Die staatliche Schutzpflicht folgt aus der Notwendigkeit, die Friedensordnung in der menschlichen Gemeinschaft zu gewährleisten; gewährt der Staat nicht den gebotenen Schutz, gibt er keine verlässliche Sicherheit, dann droht die Gefahr, dass das in seinem Rechtsgüterbestand gefährdete Individuum sich sein “Recht” selbst besorgt. Der Gesellschaftsvertrag und der Zweck der staatlichen Gemeinschaft als Geschäftsgrundlage wird in Frage gestellt. Der positiv-rechtlichen Ausgestaltung kommt also eine wichtige und grundlegende Konkretisierungsfunktion zu. Diese Ausgestaltungsfunktion wird von den Normen geleistet, , Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, 1636 - den Grundrechten, sie regeln das Verhältnis des einzelnen zum Staat, sei es als Abwehrrechte oder als Schutz- und Teilhaberechte zur Sicherung individueller Freiheitsräume. Unzweifelhaft bedeutet diese Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte für den Staat einen Rollenwechsel: Er wird vom potenziellen Grundrechtsgegner zum Grundrechtsschützer, ja vom „Grundrechtsfeind“ zum Grundrechtsfreund“. Dieser Rollenwechsel steht nicht im Widerspruch zu seiner Position im Verfassungsgefüge insgesamt, so ausdrücklich, Stern, Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, DÖV 2010, S. 244. Die Schutzpflichtenfunktion hat ihre Wurzel in den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten, die auf der Wertorientierung der Grundrechte beruhen, Stern, S. 249. Dem Gesetzgeber steht bei der Umsetzung der Schutzpflichten als demokratisch legitimiertem Staatsorgan anerkanntermaßen ein erheblicher Gestaltungs- und Bewertungsspielraum zu. Obwohl eine Güterabwägung im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme mittlerweile im öffentlichen Recht ein weit verbreitetes Instrument darstellt – fast alles kann irgendwie abgewogen werden –, ist danach die Menschenwürde solchen Überlegungen entzogen. Das BVerfG hat in einer Entscheidung in recht allgemeiner eher beiläufiger Form einmal darauf hingewiesen, dass das „Urteil darüber, was der Würde des Menschen entspricht, […] keinen Anspruch auf dauerhafte, zeitlose Gültigkeit erheben“ und „was die Achtung der Menschenwürde im einzelnen erfordert, […] von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht völlig losgelöst werden“ kann, BVerfG ( Erster Senat ), Beschluss vom 12. 11. 1997 - 1 BvR 479/92 u. 1 BvR 307/94, NJW 1998, 510 = MedR 1998, 176 = BeckRS 1997 30002689 - Mit der Menschenwürde als oberstem Wert des Grundgesetzes und tragendem Konstitutionsprinzip ist der soziale Wert und Achtungsanspruch des Menschen verbunden, der es verbietet, ihn zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt, BVerfGE 6, 32, 36, 41 = NJW 1957, 297; BVerfGE 30, 1, 26] = NJW 1971, 275. Jedem Menschen ist sie eigen ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Verletzbar ist der Wert und Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt, vgl. BVerfGE 87, 209 , 228 = NJW 1993, 1457.Was die Achtung der Menschenwürde im einzelnen erfordert, kann von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht völlig gelöst werden, BVerfGE 45, 187, 229 = NJW 1977, 1525. Eine Verletzung des Achtungsanspruchs kann nicht nur in der Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung oder Ächtung von Personen, vgl. BVerfGE 1, 97, 104]= NJW 1952, 297, sondern auch in der Kommerzialisierung menschlichen Daseins liegen, Deutsch, Berufshaftung und Menschenwürde: Akt III, NJW 1998, 510 - In Zeiten der Sorge vor hypertropher Verfassungsgerichtsbarkeit ist der Beschluss des Ersten Senats des BVerfG eine erfreuliche Zurückführung der Beurteilung des Schadensumfangs bei der Arzthaftung auf die ordentlichen Gerichte. Eigentlich ist die Frage der Haftung des Arztes für fehlgeschlagene Sterilisation und fehlerhafte genetische Beratung eine Sachfrage, die den Fachleuten des Haftungsrechts und des Arztrechts überlassen bleiben sollte. Es ist schade, dass die Antwort auf diese Sachfrage in den Medien nunmehr politisch beantwortet wird. Die Rechtsprechung der Zivilgerichte zur Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation und fehlerhafter genetischer Beratung vor Zeugung eines Kindes verstößt nicht gegen Art. 1 Abs. 1 GG, BVerfG ( Erster Senat ), Beschluss vom 12. 11. 1997 - 1 BvR 479/92 u. 1 BvR 307/94, BeckRS 1997 30002689; vgl. Classen, Die Menschenwürde ist – und bleibt – unantastbar, DÖV 2009, S. 689

176 Wir halten den Menschen den Rücken frei, wenn sie arbeitslos werden, und wir halten ihnen den Rücken frei, wenn sie durch eine anhaltende Krankheit aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen. Das gilt natürlich auch im Alter, wenn sie in Rente gehen. Daneben schaffen wir aber auch Chancen für Junge, zeigen Anerkennung für geleistete Arbeit und üben Solidarität. Ein Punkt steht dabei natürlich im Zentrum, nämlich die Arbeit. Arbeiten heißt für die Menschen, etwas leisten zu können und dafür dann auch verdiente Anerkennung zu bekommen. Dies für möglichst viele zu erreichen, ist unser Ehrgeiz. Es ist das zentrale Anliegen der Bundesregierung, denen, die Arbeit suchen, die Chance zu geben, Arbeit zu bekommen, für die, die hart arbeiten, einen fairen Lohn zu gewährleisten, denen, die besonders lange gearbeitet haben, keine Abschläge -zuzumuten, und denen, die Kinder großziehen, diese Leistung auch bei der Rente anzuerkennen. Das alles gehen wir an. BMASin Andrea Nahles

177 Behinderung ist jede nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht, BVerfGE 96, 288, 301 = NJW 1998, 131, 131. In Umkehrung einer bekannten Parole wird man also nicht behindert – etwa durch die gesellschaftliche Einstellung –, sondern ist es, deutlich BVerfGE 96, 288, 302 = NJW 1998, 131, 132 - Behinderung nicht nur ein bloßes Anderssein, das sich für den Betroffenen häufig erst im Zusammenwirken mit entsprechenden Einstellungen und Vorurteilen im gesellschaftlichen Umfeld nachteilig auswirkt, bei einer Veränderung dieser Einstellung die Nachteilswirkung aber auch wieder verlieren kann. Behinderung ist vielmehr eine Eigenschaft, die die Lebensführung für den Betroffenen im Verhältnis zum Nichtbehinderten unabhängig von einem solchen Auffassungswandel grundsätzlich schwieriger macht. Diese besondere Situation soll nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers weder zu gesellschaftlichen noch zu rechtlichen Ausgrenzungen führen. Solche Ausgrenzungen sollen im Gegenteil verhindert oder überwunden werden können, vgl. BT-Dr12/8165, S.28. Das erklärt, dass Satz 2 des Art.3 Abs. 3 GG Differenzierungen nicht wie Satz1 schlechthin untersagt. Nur an die Behinderung anknüpfende Benachteiligungen sind nach der Neuregelung verboten. Bevorzugungen mit dem Ziel einer Angleichung der Verhältnisse von Nichtbehinderten und Behinderten sind dagegen erlaubt, allerdings nicht ohne weiteres auch verfassungsrechtlich geboten, BVerfGE 96, 288 = DVBl 1997, 1432 = BeckRS 1997 30001382 = EuGRZ 1997, 586. Der soziale Rechtsstaat steht in der Verantwortung, alle Bürgerinnen und Bürger zum tatsächlichen Gebrauch ihrer Grundrechte und Freiheiten zu befähigen. Verdeutlicht und präzisiert wird der Auftrag des sozialen Rechtsstaats für behinderte Menschen durch spezifisches Verfassungsrecht. Art. 3 Abs. 2 GG beschränkt sich nicht auf die Herstellung formaler Rechtsgleichheit behinderter und nichtbehinderter Menschen, sondern enthält eine sozialstaatliche Komponente. Förderung ist unter dem Vorbehalt des Möglichen und der Abwägung mit anderen Zielen geboten. Das Benachteiligungsverbot Verfahrensgebot, vgl. Welti, Rechtliche Voraussetzungen von Barrierefreiheit, NVwZ 2012, 725. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (BRK) Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) v. 13. 12. 2006 (BGBl II 2008, BGBL Jahr 2008 II Seite 1419 konkretisiert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die Pakte der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR) von 1966. Die BRK ist am 26. 3. 2009 als einfaches Bundesgesetz in Kraft getreten. Wocken, Über Widersacher der Inklusion und ihre Gegenreden – Essay, APuZ 23/2010, S. 25 - Die Botschaft der UN-Behindertenrechtskonvention hat die Weltgemeinschaft aufgerüttelt. Die Behindertenrechtskonvention wird allerorten einhellig „begrüßt“! Laut bekennende Gegner der Inklusion gibt es kaum, Widersacher der Inklusion aber schon. Als Widersacher der Inklusion wird man all diejenigen einordnen dürfen, die zwar für Inklusion ein höfliches Lippenbekenntnis erübrigen können, aber an der weiteren Existenz von Sonderschulen unverbrüchlich festhalten. In der inklusiven Pädagogik ist die Anpassung der Schule an die Schüler Programm. Der Schüler ist gleichsam die Konstante, die Schule die Variable. Verfechter und Widersacher inklusiver Bildung unterscheiden sich fundamental in der Wertschätzung von Heterogenität und Homogenität. Inklusive Bildung versteht sich als Pädagogik der Vielfalt; sie ist überzeugt von dem Nutzen und der Fruchtbarkeit von heterogenen Lerngruppen. Für den Gegenspieler ist dagegen Homogenität die grundlegende Voraussetzung und zugleich optimale Bedingung für erfolgreiches Lehren und Lernen. Die gespaltene Antwort ist mit zweierlei schwerwiegenden Folgeproblemen belastet. Wenn man als grobe Schätzung unterstellt, dass sich etwa die Hälfte aller Eltern von behinderten Kindern eine inklusive Schule wünscht, hätte das logischerweise eine Halbierung der Schülerzahlen an Sonderschulen zur Folge. Das hätte auch schulpolitische und ökonomische, haushaltspolitische Folgekonsequenzen. Es gehe eigentlich einer verantwortlichen Gemeinschaft um das Kindeswohl! Jedenfalls sollte es dies. Auch die UN-Behindertenrechtskonvention kennt diese Begründung. Der einschlägige Paragraph (Art. 7, 2) lautet: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Das Kindeswohl-Argument ist wichtig und richtig, aber es löst leider kein Problem. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick.

178 In Deutschland hat sich über viele Jahre ein Unterstützungsnetzwerk und System von Hilfen aufgebaut - angefangen von der Frühförderung über Tagespflegestätten für schwerstmehrfachbehinderte Menschen, über differenzierte Förderschulen bis hin zu beschützenden Werkstätten und integrativen Betrieben - von der klassischen Eingliederungshilfe also bis zur individualisierten Unterstützung. Es ist ein beachtliches System, das sich dort in vielen Jahrzehnten unter tätiger Initiative und Mithilfe gerade von Betroffenen und Ehrenamtlichen entwickelt hat. Die Inklusion ist nach meiner Wahrnehmung das polarisierendste Thema der innenpolitischen Debatte. Dahinter verbirgt sich die Frage, ob Deutschland nach der Übernahme der UN-Konvention über Rechte von Menschen mit Behinderungen die volle Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen hat. Radikale Stimmen in dieser Debatte finden sich auf beiden Seiten, und mittendrin in der meist ideologisch geführten Diskussion stehen mehr als Objekte, denn als Subjekte die Eltern und ihre Kinder. De individuelle Situation und Entscheidung der einzelnen Familien bleibt in einem solchen Umfeld keine rein persönliche Angelegenheit. Familien mit behinderten Kindern werden so vor allem zu Projektionsflächen für gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Bildungspolitik vor allem dafür sorgen soll, dass Menschen die Möglichkeiten bekommen, sich ganz persönlich bestmöglich entwickeln und leben zu können. Die Politik darf Inklusion nicht gegen das bestehende System betreiben. Die Politik muss den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellen. Die Politik darf Inklusion nicht mit der Brechstange durchsetzen. Die Politik muss deutlich machen, dass Inklusion bedeutet, Menschen mit Behinderung nicht schlechter- aber auch nicht besserzustellen. Die Politik muss darauf hinweisen, dass die Menschenwürde nicht "abschichtbar" ist und nicht abwägt zwischen zu schützenden und weniger zu schützenden Menschen, vgl. näher die beeindruckende Schilderung von Frau Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer, Inklusion: Nicht mit der Brechstange, Die Zeit Nr. 31/2014 vom 25. Juli 2014

179 Versündigt man sich an seinem Kind, wenn es die Förderschule besucht? Setzt man es damit halbgaren Bildungsexperimenten aus? So fragte die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Krámp-Karrenbauer, Nicht mit der Brechstange, Die Zeit Nr. 31/14. Diese Fragen sind viel zu schlicht. Fakt ist: Die meisten Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf kommen aus sozial schwachen Verhältnissen. Sie besuchen die Förderschule weil das Regelschulsystem sie nicht will und weil ihre Eltern oftmals gar nicht wissen, dass eine Überweisung auf eine dieser Schulformen ihr Kind selten weiterbringt. Lernzuwächse? - Fehlanzeige. Stattdessen sind die kognitiven Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler nach dem Abschluss geringer als beim Eintritt. Die Bildungsgerechtigkeiten werden reproduziert, nicht abgebaut. Abschlüsse an Förderschulen anzuerkennen ist deshalb eine Maßnahme, die keinen Beitrag zur Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern leistet. Nichts spricht dafür, dass diese Schulformen fortbestehen. Es ist an der Zeit, Vielfalt als Tatsache anzuerkennen und mit dieser Vielfalt positiv zu arbeiten. Frau Kramp-Karrenbauer hat recht, wenn sie davon spricht, dass es Grenzen bei der Verwirklichung der Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung gibt. Ja, die gibt es. Diese Grenzen sind aber nicht unter den Schülerinnen und Schülern zu finden, sondern aufseiten des deutschen Systems - denn in anderen Ländern kann Inklusion sehr wohl gelingen. Die Grenzen in unserem bestehenden System sind vor allem Grenzen in den Köpfen von Politikern und Verbandsfunktionären, Mutlu, Inklusion: Keine Trennung! Die Zeit Nr. 34/2014 vom 15. August 2014

180 Inklusion" für Behinderte ist eins der Worte, mit denen heute um Werte gestritten wird. Und weil die Wortvehikel, auf denen die Streiter dabei sitzen, so groß sind, kommt leider vieles unter die Räder. Es gibt in Deutschland derzeit keine zweite Debatte, die affektiv derart aufgeladen ist wie der Streit um die Inklusion. Das jeder gleich Bescheid zu wissen scheint, wenn das Stichwort Inklusion fällt, und doch niemand einen konsensfähigen Begriff davon hat, was unter Inklusion eigentlich genau zu verstehen ist, dieses Unschärfeprofil gehört gewissermaßen zum Programm der Debatte, die insoweit - unbeschadet ihrer streckenweise erstaunlich rigiden Argumentationsmuster - Wert darauf legt, eine offene Debatte zu sein. Offen schon deshalb, weil es in ihr immer auch ums Ganze geht, das es in genau zwei Ausfertigungen gibt: als vollkommen humanes oder als vollkommen inhumanes Gesellschaftssystem. Kleiner, so scheint es, ist die Inklusionsdebatte in Deutschland nicht zu haben. Vorderhand geht es um Kinder, um den gemeinsamen Unterricht von Behinderten und Nichtbehinderten (wobei natürlich auch die Gegner einer inklusionistischen Heilsidee betonen, nicht etwa gegen ein vernünftiges, vom Kindeswohl gedecktes Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung zu sein, wie es im Übrigen schon das Grundgesetz vorsehe). Aber längst schon sind die diesbezüglichen Fragen der Schulorganisation zum Vehikel für Menschheitsfragen geworden: Man spricht, wenn man von Inklusion spricht, von Menschenrechten, von Gerechtigkeit, von Anerkennung, Achtung und Ächtung, von Solidarität und Selektion, von dem, was ein gutes Leben ausmacht. Und sehr oft spricht man von all dem wild durcheinander, die Debatte um Inklusion wir - performativ kohärent - selbst inklusiv geführt: Jeder darf mitreden und so, wie ihm zumute ist. Ein frischer Mut weht durch die Debatte, das Bewusstsein, eine neue Zivilisationsstufe zu erklimmen, vgl. Geyer, Inklusionsdebatte - Alle einschließen, wollen wir das? FAZ vom 10. Juni 2014. Die pädagogischen Vorkämpfer sprechen von der eschatologisch erwarteten Inklusion als einem "Grenzstein zum Übergang in eine neue Welt" (Walther Dreher), nennen deren Prämissen "naturgegeben" und formulieren Glaubenssätze wie diesen: "Inklusion ist die ultimative Integration, sozusagen der Olymp der Entwicklung, danach kommt nichts mehr". Tatsächlich ist "Haltung" zu einem "Schlüsselbegriff" der Inklusionsdebatte geworden - Kindeswohl hin oder her, wie es ein Autor in seinem jüngst erschienen Buch "Inklusion eine Kritik" nachweist (ein Augenöffner für die Abgründe der Inklusion!). Inklusion ist kein Projekt, Inklusion ist Gesetz, sagt Schniersmeier der Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Rheinland-Pfalz "Gemeinsam leben - gemeinsam lernen". Es wäre vielleicht grob fahrlässig, ein behindertes Kind in den inklusiven Probelauf zu schicken, wenn noch nicht einmal die Stundenzahl der dafür benötigten Förderlehrer festgelegt, geschweige ihre Finanzierung gesichert ist. Das Inklusion ein Gesetz und kein Projekt sei, ist aber auch deshalb nur die "halbe Wahrheit, weil es heftig umstritten und keineswegs eindeutig ablesbar ist was aus der maßgeblichen UN-Behindertenkonvention für die Länder schulorganisatorisch folgt. Das ist ein wichtiger Punkt. Je offensiver Inklusionisten unter der Fahne der "Haltung" pädagogische und rechtliche Einwände in den Wind schlagen, desto wichtiger etwa der Hinweis, dass in der von Deutschland ratifizierten UN-Konvention, an deren Umsetzung derzeit die Kultusminister arbeiten, explizit an keiner Stelle davon die Rede ist, dass "Sonderschulen, die auch Förderschulen" heißen. abzuschaffen seien (zugunsten inklusiver Beschulung in einer "Schule für alle", in die dann alle Behinderten aufzunehmen wären, wie es von den Verfechtern der Einheitsschule propagandistisch als Imperativ der Vereinten Nationen ausgegeben wird). Im Gegenteil betont die UN-Konvention, dass besondere Maßnahmen, die zur tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung erforderlich sind, nicht als Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens angesehen werden dürfen. Das kann man durchaus als eine Lizenz für die abgespeckte Kontinuität des Sonderschulwesens auffassen, sicherlich aber nicht für ein Verbot desselben "als Sackgasse", wie die Initiativen für den Erhalt der Förderschule zu Recht geltend machen. Entsprechend allergisch fallen die Reaktionen aus, wenn eine schlampig begründete "Schule für alle" auch noch als Vorreiter einer totalen gesellschaftlichen Inklusion angepriesen wird, einer sozialen Utopie, bei der - wie immer man sich das vorzustellen hat ("Motto: Schauen wir mal!") - alle überall gleichberechtigt mit von der Partie sein werden. Diese totalinklusive Zielvorstellung - anachronistisch in einer ausdifferenzierten Gesellschaft, die auf die adäquate Besetzung von Funktionsstellen achtet, wird unter Kitsch Verdacht gestellt: "Angesichts der Tatsache, dass Inklusion in der modernen Gesellschaft als Partialinklusion, das heißt als Inklusion in einige beziehungsweise verschiedene Teilsysteme der Gesellschaft abläuft - und dass eine Person als Ganze in keinem Teilsystem gefragt ist, sondern immer nur im Blick auf einige Rollen -, muss die verklärende Rede von Inklusion und die Hoffnung auf "Totalinklusion als das bezeichnet werden, was sie ist: Inklusions-Kitsch". so Geyer, Inklusionsdebatte - Alle einschließen, wollen wir das? FAZ vom 10. Juni 2014.

181 Vgl. lebhaft und weitsichtig, Aichele, Behinderung und Menschenrechte: Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, APuZ 23/2010, S. 13. Dem Grundsatz der Unteilbarkeit verpflichtet, integriert sie wie kein Übereinkommen vor ihr bürgerliche und politische Rechte sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Die Konvention listet die Rechte der Menschen mit Behinderungen im Einzelnen auf. Die Verpflichtung zur Unteilbarkeit trägt der ethisch geprägten Erkenntnis Rechnung, dass die Menschenwürde unteilbar und nicht einschränkbar, absolut und nicht abwägungsfähig ist. Das Recht auf Bildung – als Ausprägung des Achtungsanspruch als autonomes, vernunftgesteuertes und auf Selbstachtung und Selbstbestimmung geborenes menschliches Wesen - als Menschenrecht ist bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im UN-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte anerkannt worden. Art. 24 UN-BRK - das Recht auf Bildung begründet eine individuelle Rechtsposition. Sie gewährleistet jedem Menschen altersunabhängig die Freiheit auf lebenslanges Lernen. Lebenslanges Lernen ist ein Erfolgsfaktor für eine berufliche Eingliederung, Weiterentwicklung und gesellschaftliche Achtung und soziale Akzeptanz. Geleitet vom Grundsatz der Inklusion, entwickelt die Konvention das Recht auf Bildung zu einem Recht auf inklusive Bildung fort. Bildung soll die Achtung vor der menschlichen Vielfalt stärken. Die Konvention etabliert in diesem Zuge auch die staatliche Verpflichtung, schrittweise ein „inklusives Bildungssystem“ (inclusive education system) aufzubauen und zu unterhalten, weil sie davon ausgeht, dass das Recht auf Bildung nur in einem inklusiven System gewährleistet werden kann, Aichele, Behinderung und Menschenrechte: Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, APuZ 23/2010, S. 16. Als innovatives, nachdrücklich und hoffentlich effektiv wirkendes Element des Diskriminierungsschutzes führt die UN-BRK das Konzept der angemessenen Vorkehrungen ein (Art. 2 Unterabs. 4 UN-BRK). Darunter sind die individuell erforderlichen Anpassungen von Gegebenheiten zu verstehen, die gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen ihr Recht gleichberechtigt mit anderen wahrnehmen können. Beispielsweise gehören dazu Veränderungen der Schulsituation in der Regelschule, damit ein Kind mit Behinderung dort sinnvoll und individuell – etwa durch zieldifferenten Unterricht – unterrichtet werden kann. Mit der Ratifikation hat sich Deutschland gegenüber der internationalen Gemeinschaft, aber auch gegenüber den in Deutschland lebenden Menschen verpflichtet, die Konvention einzuhalten und umzusetzen (siehe Art. 4 Abs. 1 und 2 UN-BRK), vgl. Aichele, a.a.O. S. 17.

182 Aichele, Gleichstellung Behinderten: Inklusion ist mehr als Integration, Die Zeit, vom 5. August 2014

183 Wolf, Selektion und Gerechtigkeit in der Schule, DÖV 2012, S. 27 – Tagungsbericht: Anke Pörksen grenzte zunächst die Begrifflichkeiten der Exklusion, Separation, Integration und Inklusion voneinander, dabei war es ihr besonders wichtig, die gemeinsame Verantwortung verschiedener Personen und Institutionen für das Gelingen einer inklusiven Beschulung herauszuarbeiten. Die Entwicklung zu einem inklusiven Bildungssystem setze neben der Einbeziehung aller Schüler und ihrer Eltern vor allem eine qualifizierte Fortbildung der Lehrer vor Ort sowie eine enge Zusammenarbeit des Lehrpersonals auch mit anderen Professionen (Erziehern, Sozialpädagogen, Therapeuten etc.) voraus. Nur so könne ein auf die Bedürfnisse stark heterogener Lerngruppen zugeschnittener individualisierter und kompetenzorientierter Unterricht in einem rhythmisierten Ganztagsprogramm gewährleistet werden. Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010-2020:Erneuertes Engagement für ein barrierefreies Europa{SEK(2010) 1323};{SEK(2010) 1324} Allgemeines Ziel dieser Strategie ist es, Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ihre vollen Rechte wahrzunehmen und uneingeschränkt an der Gesellschaft und der europäischen Wirtschaft teilzuhaben, vor allem im Rahmen des Binnenmarkts. Um dieses Ziel zu erreichen und eine wirksame Durchführung des VN-Übereinkommens in der ganzen EU zu gewährleisten, bedarf es einer kohärenten Vorgehensweise. In der Strategie werden die Maßnahmen auf EU-Ebene benannt, mit denen die nationalen Maßnahmen ergänzt werden sollen, und es werden die Mechanismen8 aufgezeigt, die zur Durchführung des VN-Übereinkommens auf EU-Ebene, auch innerhalb der EU-Institutionen, notwendig sind. Außerdem verdeutlicht die Strategie, welche Unterstützung in den Bereichen Bereitstellung von finanziellen Mitteln, Forschung, Bewusstseinsbildung, Statistik und Datensammlung erforderlich ist. Die Strategie legt den Schwerpunkt auf die Beseitigung von Barrieren. Die Kommission hat hierzu acht wesentliche Aktionsbereiche festgelegt: Zugänglichkeit, Teilhabe, Gleichstellung, Beschäftigung, allgemeine und berufliche Bildung, sozialer Schutz, Gesundheit und Maßnahmen im Außenbereich. Für jeden Aktionsbereich werden die wichtigsten Maßnahmen skizziert, wobei das übergeordnete Ziel auf EU-Ebene jeweils in einem Kästchen ins Blickfeld gerückt wird. Diese Bereiche wurden ausgewählt, weil sie einen Beitrag zu den allgemeinen Zielen der Strategie und des VN-Übereinkommens, den damit zusammenhängenden Strategiedokumenten der EU-Institutionen und des Europarats sowie den Ergebnissen des EU-Aktionsplans für Menschen mit Behinderungen 2003-2010 und einer Anhörung der Mitgliedstaaten, Interessengruppen und der breiten Öffentlichkeit leisten können. Die nationalen Maßnahmen, auf die verwiesen wird, sollen die Maßnahmen auf EU-Ebene ergänzen; sie decken die Verpflichtungen, die den Mitgliedstaaten aus dem VN-Übereinkommen erwachsen, nicht erschöpfend ab. Die Kommission wird sich des Weiteren im Rahmen der Europa-2020-Strategie, ihrer Vorreiterinitiativen und der Neubelebung des Binnenmarkts mit der Situation der Menschen mit Behinderungen befassen. Sozialer Schutz: Eine niedrigere Beteiligung an der allgemeinen Bildung und am Arbeitsmarkt führt zu Einkommensungleichheiten und Armut für Menschen mit Behinderungen sowie zu sozialer Ausgrenzung und Isolation. Menschen mit Behinderungen müssen soziale Sicherungssysteme und Programme zur Armutsbekämpfung, behinderungsbezogene Unterstützung, Programme des sozialen Wohnungsbaus und sonstige Unterstützungsdienste sowie Ruhestandsregelungen und Leistungsprogramme in Anspruch nehmen können. Die Kommission wird diesen Fragen im Rahmen der Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Armut Beachtung schenken. Dazu gehört die Bewertung der Angemessenheit und Tragfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und der Unterstützung durch den ESF. Die EU wird nationale Maßnahmen zur Gewährleistung der Qualität und Tragfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme für Menschen mit Behinderungen, vor allem durch politischen Austausch und gegenseitiges Lernen unterstützen, wobei die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten in vollem Umfang gewahrt bleiben.

184 Nach Inkrafttreten der UN-BRK stellt sich die Frage, ob der Behinderungsbegriff des SGB IX noch zeitgemäß ist. Zwar enthält die UN-BRK keine explizite Definition von Behinderung - in Art. 1 UN-BRK, der mit „Zweck” überschrieben ist, heißt es aber: „Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.” Gemäß der Präambel, lit. e, liegt der Vereinbarung der UN-BRK die Erkenntnis zu Grunde, „dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern […].” Die Wechselwirkung von Funktionsbeeinträchtigung und Umweltbarrieren als Ursache einer möglichen Teilhabebeeinträchtigung ist bereits in der „International Classification of Functioning, Disability and Health” (ICF) der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahre 2001 als „bio-psycho-soziales” Modell im Sinne einer Synthese aus „medizinischem” und „sozialem” Modell verankert und liegt auch dem Behinderungsbegriff des SGB IX zu Grund, vgl. erläuternd, Banafsche, Die Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber nach §§ 71ff. SGB IX zwischen Anspruch und Wirklichkeit, NZS 2012, 206. Im systematischen Wortlautvergleich geht die menschenrechtliche Definition über den nationalen Behinderungsbegriff hinaus, da § 2 Abs. 1 SGB IX den Nachweis einer Teilhabebeeinträchtigung verlangt („beeinträchtigt ist”), während Art. 1 Unter-Abs. 2 UN-BRK die Möglichkeit der Teilhabebeeinträchtigung („hindern können”) als das Tatbestandsmerkmal der Behinderung erfüllend ansieht, vgl. hierzu Banafsche, Die Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber nach §§ 71ff. SGB IX zwischen Anspruch und Wirklichkeit, NZS 2012, 206.

185 Vgl. auch "Hohe Hürden" Ein Gespräch mit Rektor Pit Katzer, Die Zeit vom 10. Februar 2014 -

186 Welche Funktion kommt der Sonderpädagogik hierbei zu? - Reduktion von Komplexität Wir wollen daher unter der Perspektive Vision und Wirklichkeit drei Modelle des Umgangs mit Heterogenität erörtern. Dies hängt, wie gesehen, eng mit der Frage der Behandlung der Antinomie von Bildung und Selektion zusammen. Das heißt, wir wollen diese drei Modelle im Hinblick auf ihre Vor- und Nachteile prüfen. Vorab ist aber darauf hinzuweisen, dass alle Denkmodelle der Organisation von Schule mit irgendwelchen Formen der Reduktion von Komplexität arbeiten, und dass sie sich damit zwangsläufig Folgeprobleme - und Gegenbewegungen - einfangen. Die erste Komplexitätsreduktion klingt trivial, sie besteht in der Einrichtung von Schule als einem besonderen, vom Erwachsenenalltag abgekoppelten Lebensraum: Und wir sehen als konsequente Gegenbewegung eine Entschulungspädagogik Illich'scher Prägung. Weniger radikal und zumeist hochangesehen sind Konzepte der Öffnung von Schule. Ein Beispiel in diese Richtung wären die in vielen Bundesländern, und so auch in Hessen eingerichteten berufsvorbereitenden Praxisklassen, in denen die Verbindung von Schule und Arbeitswelt gesucht wird. Die zweite, uns auch fast als Naturgesetz eingewöhnte Komplexitätsreduktion besteht in der Einrichtung von Fächern, und fast zwangsläufig finden wir die Gegenbewegung des fächerübergreifenden oder projektförmig erteilten Unterrichts. Ähnliches gilt für die Jahrgangsklasse: Auch diese ist so selbstverständlich, dass sie gleichsam als naturwüchsig erscheint. Und auch hier sehen wir die entsprechende Gegenbewegung: Konzepte altersgemischten Lernens erfreuen sich neuer Beliebtheit. Fast alle Bundesländer beginnen, mit einer flexiblen Eingangsstufe zu experimentieren. Dabei sind die Begründungen für diese Maßnahmen der Komplexitätsreduktion letztlich immer dieselben, in allen Organisationen, auch außerhalb von Schule, geht es um Effizienzsteigerung durch Routinenbildung, hier in der Gestaltung der Lehr-/Lernabläufe, und um die Sicherung der Expertise der professionell Tätigen durch Spezialisierung. Und die Folgeprobleme, die man sich mit dieser Spezialisierung einfängt, sind ebenfalls - nicht nur im Bildungssystem - gut bekannt: Die Fragmentierung sowohl der Personen, d.h. der Schülerinnen und Schüler, als auch der Sachzusammenhänge. so Katzenbach/Schroeder, „Ohne Angst verschieden sein zu können“ – Über Inklusion und ihre Machbarkeit – http://www.inklusion-online.net/index.php/iniklusion-online/article/view/176/176. Folgt man dem vorherrschenden Modell der Platzierung nach Alter, Begabung und Behinderung, so wird die Heterogenität der Schülerschaft so reduziert, dass Fachkompetenzen zielgerichtet zum Einsatz kommen können. Man handelt sich damit jedoch ein, die Ursachen für Probleme dem betroffenen Individuum zuzuschreiben. Die Inklusive Schule stellt sich der Herausforderung, Komplexität möglichst nicht zu reduzieren, um niemanden auszugrenzen und zu stigmatisieren sowie Unterschiede und Ungleichheit als Anlässe erfahrungsbezogenen sozialen Lernens zu nutzen. Sie steht vor dem Problem, wie Fachkompetenzen einbezogen werden können, aber auch, wie im Ansatz der individuellen Förderung verhindert werden kann, dass schließlich nur noch jedes Kind seinen maßgeschneiderten Wochenplan still für sich abarbeitet. Komplexität lässt sich schließlich auch durch Profilbildung reduzieren: dann sind wir bei den Montessori- und Waldorfschulen, den altsprachlichen oder naturwissenschaftlichen Profilen des Gymnasiums, den Europaschulen im Primarbereich, den Schülerfirmen in der Sekundarstufe. Durch Profilbildung lässt sich die Passgenauigkeit des Lernangebots erhöhen, allerdings sind Profilierung und Besonderung nur durch einen schmalen Grat voneinander getrennt. Zudem steht zu befürchten, dass eher diejenigen profitieren, die frühzeitig ihre Interessen entdecken können. so Katzenbach/Schroeder, „Ohne Angst verschieden sein zu können“ – Über Inklusion und ihre Machbarkeit – http://www.inklusion-online.net/index.php/iniklusion-online/article/view/176/176. Gehen wir somit einerseits davon aus, dass es im pädagogischen Umgang mit Heterogenität keine erwünschten Wirkungen ohne unerwünschte Nebenwirkungen geben kann, so ist es andererseits dennoch nicht so, dass diese drei Modelle gleich "intelligent" im Umgang mit der Antinomie von Bildung und Selektion sind. Schauen wir uns das erste Modell genauer an, und somit die deutsche Wirklichkeit. Hier braucht es letztlich keine großen Ausführungen. Die Einsicht, dass Deutschland nach wie vor auf ein hochgradig selektives und segregierendes Schulsystem setzt, ist in der öffentlichen Debatte nach PISA zum Gemeingut geworden. Es wird die passende Schule für das jeweilige Kind gesucht, und nicht die Schule für das Kind passend gemacht. Daraus ergeben sich folgenreiche Platzierungsentscheidungen. Deren Grundlage ist die Unterstellung scheinbar objektiver - zumindest objektivierbarer - und relativ stabiler Persönlichkeitsmerkmale. Neben dem Alter sind dies im Wesentlichen Begabung und Behinderung. Wie konsequent Deutschland dieses Prinzip verfolgt, wird allerdings erst im internationalen Vergleich richtig deutlich. Die auf Selektion ausgerichtete Schulstruktur führt zu einer deutlichen Benachteiligung von Kindern aus Armutslagen, von Kindern mit Migrationshintergrund und mit Behinderungen, so zumindest das Fazit des Menschenrechtsbeauftragten. Ohne übrigens den Anspruch auf eine besonders gute Förderung der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler einlösen zu können. Das schlechte Abschneiden bei PISA ist ja vor allem darauf zurückzuführen, dass in Deutschland das obere Leistungsdrittel nicht besser als in den anderen Ländern abgeschnitten hat, dafür aber die leistungsschwachen Schüler ganz besonders schlecht dastanden, so Katzenbach/Schroeder, „Ohne Angst verschieden sein zu können“ – Über Inklusion und ihre Machbarkeit – http://www.inklusion-online.net/index.php/iniklusion-online/article/view/176/176. Vision I ( Katzenbach ): Die Inklusive Schule - "Eine Schule für alle Kinder" - Das Modell der Inklusiven Schule heutzutage noch als Vision vorzustellen bedarf einer Vorbemerkung. Es ist über das Konzept der einen Schule für alle Kinder schon so viel gesagt, geschrieben und geforscht worden, dass ihm kaum mehr visionäre Eigenschaften zugeschrieben werden können. Dass ich es im Folgenden trotzdem als Vision vertrete, hat weniger mit dem fachlichen Diskussionsstand zu tun als mit der bildungspolitischen Großwetterlage. Wir haben gerade gezeigt, wie sehr das Denken in einfachen selektiven Kategorien die deutsche Bildungslandschaft bestimmt. Dies hat historische Wurzeln, die sich sehr lange zurück verfolgen lassen (vgl. z.B. Geiling/Sander 2007). Vor allem die Vorstellung, ein vertikal gegliedertes Schulsystem sei die einzig denkbare Umgangsform mit der Leistungs- und Entwicklungsheterogenität der Schülerschaft, scheint in Deutschland in Beton gegossen zu sein. Eine Begebenheit, die sich in der Nachkriegszeit in Hessen abgespielt hat, mag verdeutlichen, mit welcher Hartnäckigkeit dieses Modell gegen alle Anfechtungen verteidigt wurde. Ich vernachlässige an dieser Stelle den Gelehrtenstreit, ob es sich bei dem neu eingeführten Begriff der Inklusion um eine Weiterentwicklung der Idee des integrativen Unterrichts handelt oder lediglich um die konsequente Umsetzung des Integrationsgedankens (vgl. Hinz 2002, Reiser 2007). Wir können aber als die beiden Kernideen der Inklusiven Schule festhalten, dass (1) der Anspruch besteht, alle Heterogenitätsdimensionen, d.h. neben Behinderung und Benachteiligung eben auch Geschlecht, kultureller und sozio-ökonomischer Hintergrund zu berücksichtigen, und dass (2) darüber binäre Unterscheidungen wie eben behindert/nicht-behindert, weiblich/männlich, deutsch/nicht-deutsch etc. an Bedeutung verlieren und zugunsten konsequenter Individualisierung aufgehoben werden können. Dabei wird nicht bestritten, dass es Schülerinnen und Schüler gibt, die einen besonderen Unterstützungsbedarf aufweisen. Die Organisation dieser spezifischen Hilfen sollte aber dem Prinzip "Die Experten zu den Kindern und nicht die Kinder zu den Experten" folgen. Neu zu justieren ist in diesem Modell nach meiner Einschätzung aber die Frage, was genau unter besonderem Unterstützungsbedarf zu verstehen ist, und welchen Beitrag die Sonderpädagogik hier zu leisten vermag. Sonderpädagogik definiert sich danach nicht über eine irgendwie als besonders auszuweisende Klientel, sondern über spezifische Wissens- und Könnensbestände zu krisenhaften Lern- und Entwicklungsprozessen. Auf der Basis eigener empirischer Untersuchungen haben wir versucht, ein umfassendes Modell zur Entstehung von Lern- und Entwicklungsproblemen zu entwerfen, und haben daraus ein einfaches Ordnungsschema auf drei Ebenen entwickelt. (vgl. Iben/Katzenbach/Rössel 2006), so Katzenbach/Schroeder, „Ohne Angst verschieden sein zu können“ – Über Inklusion und ihre Machbarkeit – http://www.inklusion-online.net/index.php/iniklusion-online/article/view/176/176. Ebene I bezieht sich auf den Bereich der Lerngegenstände und das methodisch-didaktische Postulat der notwendigen Passung zwischen Lernangebot und Lernvoraussetzung. So selbstverständlich diese Forderung anmutet, die Schule kann, wie wir nur zu gut wissen, in der Praxis diesem Anspruch häufig nicht gerecht werden. Zwar findet eine ständige Überprüfung von Lernerfolgen durch Klassenarbeiten und Tests statt, diese Form der Überprüfung arbeitet aber eher der Selektionsdynamik der Schule zu als der Identifizierung von Lernproblemen. Mit anderen Worten: wer bei den Lernerfolgskontrollen wiederholt scheitert, erhält nicht besondere Hilfen, sondern wird an den nächst niedrigeren Bildungsgang verwiesen. Ebene II zielt auf die subjektive Bedeutung, die die Schülerinnen und Schüler den Lerngegenständen zumessen. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass es der Schule nur unzureichend gelingt, sozioökonomisch, kulturell oder ethnisch begründete Differenzen anzuerkennen und auf diese einzugehen. Schule als mittelschichtorientierte Institution setzt bürgerliche Habitusformationen bei ihren Schülerinnen und Schülern in der Regel als selbstverständlich voraus. So zeigt die Forschung zur Lesesozialisation deutlich, dass Kinder aus bürgerlichen Milieus bereits vor Schuleintritt über reichhaltige schriftsprachliche Erfahrungen etwa durch Vorlesen oder durch den selbstverständlichen Umgang mit Bilderbüchern verfügen. Damit ist ein Grundbaustein für den Eintritt in die Schriftkultur gelegt. Genau dies trifft für Schülerinnen und Schüler aus bildungs- und schriftfernen Milieus häufig nicht zu. Der Schriftspracherwerb droht für diese Kinder zu einer Aufgabe zu werden, deren subjektiven Sinn sie nicht einsehen (können) und der sie sich nur unter Zwang unterwerfen oder eben verweigern. Ihre Lernmotivation speist sich bestenfalls aus sekundären Quellen; entweder dem Bemühen, weiterem Schulversagen und den damit einhergehenden Beschämungen zu entgehen oder später dem Wissen, dass ihre Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ohne hinreichende Schriftsprachkenntnisse gering sind. Ebene III schließlich thematisiert die Lernwiderstände bzw. Lernblockaden, denen man in der Förderung - nicht nur benachteiligter - Kinder und Jugendlicher regelmäßig begegnet. Alle Kinder und Jugendliche haben langjährige Erfahrungen mit dem schulischen Lernen, viele davon diese sind durch Misserfolg, Beschämung, Scheitern und Ausgrenzung geprägt. So gesehen haben die Schülerinnen und Schüler subjektiv gute Gründe, sich den Herausforderungen des Lernens zu verweigern - zu groß ist die Gefahr des erneuten Scheiterns (vgl. Katzenbach 2004, 2006). Das heißt, dass das Nicht-Lernen für die Jugendlichen eine subjektive Funktion haben kann, die es zu erkennen und zu bearbeiten gilt - will man sich nicht auf einen aussichtslosen Förderkampf einlassen. Damit sagt das Modell nichts grundsätzlich Neues, versucht aber eine gewisse Ordnung in das Gestrüpp pädagogischer Interventionsmöglichkeiten zu bringen. So unterscheiden sich die drei Ebenen deutlich hinsichtlich ihrer "Visibilität", d.h. je weiter man nach "unten" kommt, desto weniger fußt die Diagnose auf beobachtbarem Verhalten, sondern ist auf die interpretative Erschließung von Beziehungsdynamiken angewiesen. Im Sinne einer Art "Sparsamkeitsregel" - aber auch um einer vorschnellen Pathologisierung der SchülerInnen vorzubeugen - empfiehlt es sich, diese Ebenen nacheinander "abzuarbeiten". Das heißt, als erstes ist immer darauf zu achten, dass Lernangebote auf die gegenstandsbezogenen Lernvoraussetzungen der Schüler abgestimmt sind, so Katzenbach/Schroeder, „Ohne Angst verschieden sein zu können“ – Über Inklusion und ihre Machbarkeit – http://www.inklusion-online.net/index.php/iniklusion-online/article/view/176/176.

187 In der seit 2009 auch in Deutschland geltenden UN-Behindertenrechtskonvention wird ein großes Defizit festgestellt bezüglich der Anerkennung der Fertigkeiten, Verdienste und Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen und ihrer Möglichkeit, einen Beitrag zum Arbeitsmarkt zu leisten. Menschen mit Behinderungen sollen ein Recht haben, „den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, inklusiven und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird“, so Pfahl/Powell, Draußen vor der Tür: Die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderung, APuZ 23/2010 S. 32. Was die Bildungs- und Lebensverlaufsforschung im Allgemeinen belegt, gilt für Menschen mit Behinderungen in besonderem Maße: Entscheidend für den Zugang zum Arbeitsmarkt und damit für die Lebenschancen insgesamt sind Bildung und Ausbildung. Bildung ist die Hoffnung und „Türöffner einer offenen, sozial ausgleichenden Zukunft“. Eine berufliche Ausbildung ist die Mindestvoraussetzung für existenzsichernde, stetige Beschäftigung. Der Ausschluss vom Arbeitsmarkt infolge einer strukturellen Benachteiligung bei der Ausbildungsplatzvergabe stellt eine Menschenrechtsverletzung dar, die Menschen mit Behinderungen einem erhöhten Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiko aussetzt, schwer revidierbare Abhängigkeitsverhältnisse fördert und ihre Selbstbestimmung beschränkt. Pfahl/Powell, Draußen vor der Tür: Die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderung, APuZ 23/2010, S. 38. Sozialpolitische und bildungspolitische Maßnahmen, die eine menschengerechte Zukunft behinderter Menschen gestalten können, sind eine Herausforderung für die postmoderne Gesellschaft. Inklusion statt Ausgrenzung eine würdevolle Aufgabe und Pflicht zum wirkungsvollen Miteinanders.

188 Wir müssen Frauen und Männern die Möglichkeiten geben, die sie zur Entfaltung ihrer Lebensverläufe brauchen: angemessene, qualitativ hochwertige Einrichtungen für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder, Flexibilität in der Arbeitsgestaltung über den Lebenslauf hinweg, ein hohes Maß an betrieblichem und gesellschaftlichem Verständnis für ihre familiären Belange, Transparenz bei Beförderungen und Entlohnungen. Der Bürger soll im aktivierenden Sozialstaat befähigt werden, (wieder) aktiv am Markgeschehen teilzuhaben. Der Staat wird nicht mehr als Reparaturbetrieb, sondern als ein befähigter und ermöglichender Staat verstanden, der Vorsorge trifft, damit seine Bürger ein selbstbestimmtes Leben führen können, vgl. Allmendinger, Der Sozialstaat des 21. Jahrhunderts braucht zwei Beine, APuZ 45/2009, 3. Bildung genießt dabei eine herausragende Stellung. Bildungsarmut und der fehlende Zugang zu Wissen sind die zentralen sozialen Risiken in einer wissensbasierten Wirtschaftsgesellschaft, vgl. Allmendinger, Geschlecht als wichtige Kategorie der Sozialstrukturanalyse, APuZ 37-38/2011, S. 3.

189 Die gefühlte Wirklichkeit stellt eine eigenständige Dimension der Realität dar, Glatzer, Gefühlte (Un)Gerechtigkeit, S. 15 - Die Gesellschaft kann ihre Integrationskraft nur dann wirksam aufrechterhalten, wenn ein großer Anteil der Menschen glaubt, dass es im Leben gerecht zugeht. Gerechtigkeit ist allgemein gesehen ein moralisch hochstehendes, anspruchsvolles Wertekonzept, ein hochwertiger Beurteilungsmaßstab, dem es allerdings meist an inhaltlich fassbarer Prägnanz fehlt. Gerechtigkeit stellt oft die letzte Begründung - als rhetorische Floskel oder "Notnagel" dar, auf die man sich berufen kann, ohne unbedingt weitere Argumente liefern zu müssen. Eine Vielfalt von Gerechtigkeitszielen bildet die normative Grundlage des deutschen Sozialstaats. Beim Versuch die Gerechtigkeitsdebatte zu strukturieren, wird ein "magisches Viereck" der Gerechtigkeit aufgezeigt, das die Bezugspunkte Chancen-, Bedarfs-, Leistungs- und Generationengerechtigkeit enthält, Becker/ Hauser, Soziale Gerechtigkeit - ein magisches Viereck, Berlin, 2009. Die Beziehungslinien im Viereck gestalten sich als wechselseitige Abhängigkeit; teils verhalten sie sich gegensätzlich, wie etwa Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit, teils unterstützen sie sich, wie zum Beispiel Bedarfs- und Generationengerechtigkeit. Auf die persönlich empfundene Gerechtigkeit besonders zugeschnitten ist die "persönliche Verteilungsgerechtigkeit"; nur eine mehrheitlich als sozial gerecht empfundene Gesellschaft hat auf Dauer das notwendige Potenzial zur Konfliktregelung und gewaltlosen Streitschlichtung durch Herbeiführung eines konsensualen Ausgleich ("Vermitteln und Verhandeln statt Streit und Konflikt"). Erfahrene Ungerechtigkeiten haben - wegen des Enttäuschungspotentials - das Potenzial eines sozialen Sprengsatzes. Protest und sozialer Wandel, Frust und Verweigerung, Protest oder Widerstand, Rückzug und Resignation sind mögliche Reaktionsmuster auf erlebte Ungerechtigkeiten. Gerechtigkeit ist stark durch Rationalität gekennzeichnet.

190 Die da oben“ – damit werden gemeinhin unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft adressiert, etwa Eliten, Reiche, Prominente oder Adlige. Vermögen, Macht oder Bekanntheit können hier miteinander korrelieren, müssen es aber nicht. Die Lebensverhältnisse der oberen Schichten sind vergleichend ins Verhältnis zu setzen zur Lage der Mittel- und Unterschichten. Erst dann erklärt sich die seit der Jahrtausendwende massiv gewachsene Kluft zwischen Arm und Reich und das immer stärker werdende Misstrauen den Eliten gegenüber, vgl. Seibring, Oben, APuZ 15/2014, Editorial. Menschen, die aus der unteren Hälfte der Gesellschaft stammen, wissen aufgrund ihrer Erfahrungen beim Weg nach oben noch um die vielfältigen Grenzen des Leistungsprinzips, die in der Realität greifen und die eigenen Lebenschancen beeinflussen. Sie erinnern sich noch – wer könnte das denn auch vergessen? - an die Benachteiligungen, denen sie aufgrund ihrer Herkunft im Bildungssystem ausgesetzt waren, an die zahlreichen Schwierigkeiten, denen sie als soziale Aufsteiger in den oberen Rängen der Gesellschaft gegenüberstanden, und an die große Bedeutung einer intakten staatlichen Infrastruktur für ihren Aufstieg. Oft mussten sie den Aufstieg unter Inkaufnahme von harter Arbeit und fast Preisgabe ihrer Freiheit erkämpfen. Das bestimmt fortan ihr Urteil, wenn es um staatlichen Einfluss und steuerliche Belastungen geht, Hartmann, Deutsche Eliten: Die wahre Parallelgesellschaft, APuZ 15/2014, S. 6. Wer sich mühsam nach oben arbeiten musste, der erinnert sich mehrheitlich noch daran. Wenn „die da unten“ nicht mehr wählen gehen, so liegt der wesentliche Grund darin, dass sie sich von „denen da oben“ nicht mehr vertreten und zunehmend auch aus der Gesellschaft ausgegrenzt fühlen. Sie ziehen sich daher immer häufiger einfach resigniert zurück. Für die Gemeinschaft bedeutet dies: es entstehen zwei Parallelgesellschaften.

191 Die Idee der Bedarfsgerechtigkeit setzt eine Gesellschaft, eine lebendige Gemeinschaft mit praktiziertem Zusammengehörigkeitsgefühl voraus. Eine Gemeinschaft die sich als Solidargemeinschaft versteht und in gemeinsamen Identitäten wurzelt. In dem Maße, wie auf Herkunft, Tradition, Bräuchen und zeitgeschichtlichen Überlieferungen oder etwa Religion beruhende Gemeinsamkeiten nicht mehr bestehen, verlieren entsprechende normative Forderungen ihre Basis. Das Leistungsprinzip setzt andererseits voraus, dass sich die individuellen Anstrengungen exakt bestimmen lassen und "Leistung sich ernsthaft wieder lohnt". In "globalisierten" postmodernen "Dienstleistungs-" oder "Wissensgesellschaften" und Arbeitsergebnisse zunehmend abstrakter und stärker von den Zufälligkeiten der Märkte abhängig und beeinflusst sind. Damit erscheint der Wechsel zu einem Verständnis von sozialer Gerechtigkeit als Chancen- und Teilhabegerechtigkeit nur folgerichtig zu sein, Liebig/May, a.a.O. S. 8. Fragen der Bedarfsgerechtigkeit im klassischen Sinne haben sich damit allerdings nicht erledigt, Schutz vor Marktversagen und die wirksame, funktionale Absicherung vor nicht selbstverschuldeten Notlagen ("Not fordert Gebot") und Gewährung eines bestimmten Mindestlebensstandards sind nachhaltige Forderungen, die Handlungsbedarf signalisieren, wenn es gilt, den Einzelnen bei der Realisierung seiner individuellen Lebenspläne zu unterstützen.

192 Für die Vierziger galten die Vorgaben wie Vaterlandsliebe, Gehorsam, der Pflicht, der Ehre oder dem Primat der Außenpolitik nicht mehr. Die ihren waren die kostbaren, die ja eine Generation für ihre Zukunft in Anspruch nehmen durfte. Sie bestanden aus dem Versprechen der "Emanzipation" von allem, was lästig und rückständig schien, und der "Gleichheit" Staat vermeintlich natürlicher Unterschiede zwischen den Menschen. Dazu kamen die "Selbstbestimmung", die "Befreiung von unbegründeten Vorschriften" sowie die "Nachhaltigkeit als Verpflichtung", mit den natürlichen Ressourcen des Planeten verantwortungsvoll umzugehen, um nur die wichtigsten zu nennen. Diese Projekte waren Privileg und Pflicht in einem. Sie werden der Maßstab sein, wenn der Nachlass der Vierziger auf dem Prüfstand steht. Die persönlichen "Bedürfnisse", einst im Privaten untergebracht, wurden ebenfalls zum Gegenstand der Politik. Die Begründung für diesen raumgreifenden Anspruch war die damals verbreitete Überzeugung sei politisch. Der Politik hat dieses Ansinnen nicht weiter geschadet, hingegen sehr den persönlichen Beziehungen der Vierziger, in die nun stürmisch die Politik eindrang. Ganz so wie Hannah Arendt klug vorausgesagt hatte, als sie vor "großem Unheil" warnte, das bei der Vermischung der beiden unvereinbaren Sphären entstehen würde. Für die Eltern geriet damals die Welt ins Taumeln. Sie müssen plötzlich das Gefühl gehabt haben, auf einer Eisscholle in bewegter See zu treiben. Aus dem einst sicheren Bestand bewährter Überliegerungen war bodenloser Treibsand geworden. Denn jetzt wurden die Details ihres Lebens, und ein Leben besteht durchgängig aus einer Ansammlung von Details, zusammengefegt und entsorgt. Schade, dass sie sich kaum mehr zu Wort gemeldet haben. Vergangenheit und ein Großteil ihrer Traditionen waren zwar nicht mehr intelligent zu begründen, aber es wäre interessant gewesen, der Poesie des Taumels und dem Gefühl der Bodenlosigkeit nachzuspüren, denn erst jetzt setzte sich der Ertrag der Moderne als Lebensgrundlage endgültig durch. Aber sie haben sich nicht mehr getraut. Gibt es ein Leitmotiv, das die Vierziger in ihrem Inneren zusammenhält und das in der Lage ist, diese seltsam widersprüchliche Generation auszudeuten? Tiefe Gemeinsamkeiten haben ihre Tücken. Sie können in der Regel mühelos durch eine beliebige Anzahl weiterer ersetzt werden und haben sich damit auch schon erledigt. Trotzdem! Was die Vierziger vor allem von ihren harten, illusionslosen Vorfahren unterscheidet, ist ein naiver, aber ehrlicher Glaube an das Gute im Menschen. Wie sie auf diese Idee gekommen sind, bleibt rätselhaft, denn die jüngste Geschichte hatte eher das Gegenteil gelehrt. Vermutlich war es eine Reaktion auf den nüchternen, unsentimentalen Realismus der Eltern. Der Glaube an das Gute im Menschen ist der Nährboden für Utopien und Scheinwelten. Von hier aus ist es gedanklich nicht mehr weit zur Überzeugung, dass die Gesellschaft dringend generalüberholt werden muss, um dem unterdrückten Guten eine Chance zu geben. Die Träume, die jede Utopie träumt, sind deshalb selten authentisch gewesen. Die Vierziger hatten keine Ketten zu verlieren, um eine Welt zu gewinnen, denn sie waren bereits frei, und die Welt lag ihnen zu Füßen, Kuntze, S. 48.

193 2010 war das „Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“- Wer hierzulande als arm gilt, hat zumindest Anspruch auf eine staatliche Grundsicherung („Hartz IV“) und muss nicht zwangsläufig Hunger leiden. Die Armutsquote allein sagt daher weniger über die Verbreitung von Armut als solcher aus – schon, weil Armut individuell ganz unterschiedlich erlebt wird – als vielmehr über den Grad der sozialen Ungleichheit einer Gesellschaft. Verheerend ist es, wenn die sich ohnehin zuspitzende soziale Polarisierung durch eine pauschale Stigmatisierung der Armen oder der Empfänger von Arbeitslosengeld II verstärkt wird, so Piepenbrink, Armut in Deutschland, APuZ 51-52/2010, Editorial. Hradil, Der deutsche Armutsdiskurs, Armut in Deutschland, APuZ 51-52/2010, S. 3 – Manchem Finanz- und Sozialpolitiker leuchtet es nicht ein, Empfänger von Sozialleistungen als arm anzusehen. Denn deren Armut wird ja bekämpft und zwar durch staatliche Sozialleistungen, finanziert mit vielen Steuergeldern. Die öffentlich diskutierten Armutszahlen beruhen jedoch meist nicht auf der „Sozialhilfegrenze“. Vielmehr gelten alle Menschen als arm, deren „bedarfsgewichtetes Pro-Kopf- Haushaltseinkommen“ weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt. Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung hat sich mit der theoretischen Interpretation von Armut als „Mangel an Verwirklichungschancen“ im Anschluss an Amartya Sen einem ambitionierten Konzept verschrieben, vgl. hierzu , Groh-Samberg, Armut verfestigt sich – ein missachteter Trend, Armut in Deutschland, APuZ 51-52/2010, S. 11.

194 Der beste Schutz gegen Armut, ist nach einer weit verbreiteten Annahme ein Arbeitsplatz. Längst schützt allerdings nicht mehr jede Beschäftigung vor Armut. Sowohl bei Teilzeit- als auch bei Vollzeitstellen ist der Anteil an armen Beschäftigten gestiegen: auf fünf Prozent bei den Teilzeit- bzw. zehn Prozent bei den Vollzeitbeschäftigten, Vgl. Statistisches Bundesamt (Anm. 5); BMAS, Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2008, S. 94. Nicht alle Bezieher eines Niedriglohns gehören zur Gruppe der working poor, aber sie sind latent einem Armutsrisiko ausgesetzt, vgl. Nospickel, Armutsbekämpfung durch Corporate Social Responsibility? APuZ 51–52/2010, 35. Corporate Social Responsibility steht die soziale Idee, dass Unternehmen durch und zusätzlich zu ihrem wirtschaftlichen Handeln nachhaltig-fürsorglich und gezielt Verantwortung für gesellschaftliche Prozesse übernehmen (sollten). Einbezogen in das zu „schulternde“ Maßnahmebündel – der Kreativität und dem Engagement sind dabei keine Grenzen gesetzt, da es dem Wohl der Menschen teilweise der Beschäftigten aus dem eigenen Betrieb dient, ist das gesamte Umfeld des unternehmerischen Handelns. D. h. letztlich sind auch Fördermaßnahmen für Menschen in der Standortgemeinde des Unternehmenssitzes begrüßenswert. Alle sozialen, ökologischen und ökonomischen Beiträge eines Unternehmens zur freiwilligen Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung. Die Unternehmen sind nicht rechtlich verpflichtet, durch freiwillige Maßnahmen Armut zu reduzieren. Soziale Maßnahmen steigern allerdings das gesellschaftliche Ansehen des Unternehmens und können nebenbei werbewirksam publik gemacht werden. Solche Fördermaßnahmen, die auf MitarbeiterInnen und Angehörige bzw. am Unternehmensstandort gestartet werden, steigern die Identifizierungsmöglichkeiten der MitarbeiterInnen, die stolz auf Ihr Unternehmen sind. Letztlich fließt der finanzielle Aufwand für Fördermaßnahmen über eine zusätzliche Motivation und bessere Arbeitsergebnisse und ökonomische Erfolgszahlen wieder als Gewinn in das Unternehmen zurück. Die einfache Rechnung Geld für Ansehen = Erfolg durch Stolz. Die bessere Außenwahrnehmung des Unternehmens wird spürbar. Viele der konkreten Arbeitsthemen CSR-Maßnahmen fallen übrigens in den Bereich der betrieblichen Mitbestimmung.

195 Arme Menschen zu unterstützen ist ethische Pflicht des Sozialstaats. Aber seine primäre Verpflichtung ist es Teilhabe zu ermöglichen und so Armut zu vermeiden. Doch beim Versuch, Menschen in Arbeit zu bringen, steht er sich oft selbst im Weg, Cremer, Armut als Folge verpasster Teilhabe, FAZ vom 15. August 2013. Arme Menschen zu unterstützen ist ethische Pflicht des Sozialstaats. Aber seine primäre Verpflichtung ist es Teilhabe zu ermöglichen und so Armut zu vermeiden. Doch beim Versuch, Menschen in Arbeit zu bringen, steht er sich oft selbst im Weg, Cremer, Armut als Folge verpasster Teilhabe, FAZ vom 15. August 2013. Der im Grundsicherungssystem zwingende mathematische Zusammenhang wird in der Armutsdebatte häufig ignoriert. Eine Erhöhung der Grundsicherung ist für jede Regierung nicht nur unattraktiv aufgrund der finanziellen Belastung, sondern auch, weil ihre unvermeidliche statistische Folge als Anstieg der Armut und damit als sozialpolitisches Versagen der Regierung fehlinterpretiert würde. Der andere gebräuchliche Armutsindikator ist die „Armutsrisikoquote“. Sie ist ein relatives Armutsmaß, auch wenn es häufig als der absoluten Armut fehlinterpretiert wird: Viele Presseartikel werden illustriert mit Bildern von Menschen, die in Abfällen nach Verwertbarem suchen. Personen sind definitionsgemäß im Armutsrisiko, wenn ihr nach Haushaltsgröße gewichtetes Nettoeinkommen unter 60 % des Medianwertes liegt. Bei Alleinstehenden liegt die Armutsrisikoschwelle je nach Datensatz – zwischen 850 und 1060 Euro monatlich. Alle Datenquellen zeigen die gleichen Risikogruppen: Es sind Gruppen, die einen (ausreichenden) Zugang zum Arbeitsmarkt haben, langzeitarbeitslose Menschen, Alleinerziehende, gering Qualifizierte. Zudem gibt es eine schwer quantifizierbare Gruppe von extrem armen Menschen, die von den bestehenden Sicherungssystemen nicht erreicht werden, etwa wohnungslose Menschen oder Menschen, die sich illegal im Land aufhalten. Nicht alle Gruppen, die ein statistisches Armutsrisiko haben, haben eingeschränkte Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe. Das bei weitem höchste Armutsrisiko aller Altersgruppen von einem Fünftel bis einem Viertel haben die 28-24 jährigen. Dies ist zu wesentliche n Teilen ein vorübergehendes Phänomen. In den meisten Ausbildungsberufen liegt die Vergütung unter der Armutsrisikoschwelle. Gleiches gilt für die Einkommen der meisten Studenten. Sofern sie einen eignen Haushalt haben, werden sie der Armutsrisikobevölkerung zugerechnet. Ein Phänomen wachsenden Wohlstands – mehr junge Menschen studieren und können schon während der Ausbildung selbständig wohnen – wird durch die undifferenzierte Wahrnehmung der Armutsrisikoquoten zu einem Phänomen wachsender Armut. Es wäre lohnend, auch die Leistungsfähigkeit der beruflichen Ausbildung in ihren regionalen Unterschieden zu untersuchen, um Möglichkeiten zur Verbesserung der Teilhabechancen junger Menschen auszuloten. Der Erfolg der Förderung benachteiligter Jugendlicher hängt davon ab, ob es gelingt, sie auf die betriebliche Realität vorzubereiten, ihnen Verantwortung zu übertragen und Betriebe bei der Bewältigung von Konflikten zu unterstützen. Jugendliche und junge Erwachsene, denen ungenügende Voraussetzungen für Ausbildung und Beruf vermittelt werden, sind auf Hilfe angewiesen, um ihren Anspruch auf Teilhabe zu verwirklichen. Innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe dominieren die Hilfen, die dann greifen, wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist, wenn sich also Probleme schon verfestigt haben. Auf die Hilfen zur Erziehung wie die sozialpädagogische Familienhilfe oder notfalls auch eine Heimerziehung besteht – zu Recht – ein individueller Rechtsanspruch. Die zuständigen Kommunen können sie nicht verweigern. Dagegen besteht eine entsprechende rechtliche Verpflichtung nicht bezüglich vorbeugender Angebote wie Stadteilsozialarbeit, Jugendtreffs oder frühen Hilfen für Familien in prekären Lebenssituationen. Die Wirkungsforschung des IAB hat gezeigt, dass für arbeitsmarktnahe Personen die Teilnahme an einer Arbeitsgelegenheit eher negativ oder wirkungslos ist. Für Gruppen mit geringen Arbeitsmarktchancen steigt dagegen die Wahrscheinlichkeit, in der Folge an einer betrieblichen Ausbildung teilzunehmen. Die heute angestrebte Konzentration auf den harten Kern der Langzeitarbeitslosen ist durchaus sinnvoll. Aber auch dann bleiben inklusionshemmende Widersprüche im Instrument der Arbeitsgelegenheiten. Die in Arbeitsgelegenheiten verrichten Arbeiten müssen zusätzlich sein, im öffentlichen Interesse liegen und wettbewerbsneutral sein. Die Bedingungen der Zusätzlichkeit zwingen zu marktfernen Parallelwelten. Eine deutliche Absenkung der Transferanspruch bei deutlich geringeren Transferentzugsraten wäre nicht vereinbar mit dem vom BVerfG abgeleiteten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das gilt zumindest dann, wenn kein umfangreich dimensionierter Sektor öffentlich geförderter Beschäftigung aufgebaut wird, der all diejenigen aufnimmt, die trotz einer solchen massiven sozialstaatlichen Intervention keine Arbeit finden. Was folgt daraus? Es gibt erhebliche Defizite bei der Befähigung für die erfolgreiche Teilhabe an Marktprozessen und insbesondere am Arbeitsmarkt. Befähigung muss Teil einer Politik der Armutsprävention sein. Die Defizite in der schulischen Basisqualifizierung sind sowohl aus sozialer als auch als ökonomischer Perspektive völlig inakzeptabel. Nur wenn die lähmenden Schnittstellenprobleme zwischen und in den Hilfssystemen reduziert werden, kann es besser gelingen, junge Menschen trotz Versäumnissen in der familiären Sozialisation in ihrer persönlichen Reifung zu unterstützen. Hier steht sich der Sozialstaat oft selbst im Weg. Ebenso bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik: Arbeitsmarktferne Personen müssen praxisnäher gefördert werden. Der gesellschaftliche Anspruch auf Teilhabe für alle BürgerInnen ist nur zu erfüllen, wenn die sozialen Problemlagen, die den Ausschluss begründen, vermieden oder durch gelingende sozialstaatliche Intervention gemildert werden. Arme Menschen materiell zu unterstützen ist eine unverzichtbare ethische Verpflichtung des Sozialstaats. Seine primäre Verpflichtung ist es Teilhabe zu ermöglichen und so Armut zu vermeiden.

196 Aus soziologischer Perspektive stellt Reichtum eine herausgehobene Lebenslage dar, welche „die Gesamtheit vorteilhafter Lebensbedingungen eines Menschen" umfasst, Becker, APuZ 15/2014 36. Unstrittig ist, dass es für den Zusammenhalt einer Gesellschaft langfristig förderlicher ist, Einkommen und Vermögen fair zu verteilen. Massive Ungleichheiten und ein Auseinanderdriften des finanziellen Status Quo führen nicht nur zu politischen Debatten, sondern mittelfristig unter Umständen zu sozialen Spannungen, Elter, Steuern: Von oben für unten? APuZ 15/2014, S. 43.

197 Die Nachhaltigkeits(diskussion) - Nachhaltigkeit verstanden als radikale Autonomie des Individuums in den Grenzen der globalisierten Autonomie aller anderen Menschen, vgl. Schwab, Gedanken zur Nachhaltigkeit, ODWW 2014, Artikel 620, spricht Fragen der Globalisierung, des Klimawandels ebenso wie Fragen um die Zukunft des Sozialstaats und der Generationengerechtigkeit an und sucht problembewusst tragfähige Lösungen.

Prinzipien der Nachhaltigkeit:

- Intragenerationelle Gerechtigkeit: Innerhalb einer Generation haben weltweit alle Menschen dieselben Chancen verdient
- Intergenerationelle Gerechtigkeit: Zwischen den unterschiedlichen – derzeit lebenden – Generationen kommt es zu keiner Diskriminierung, das heißt, ein Neugeborenes hat nicht weniger Rechte als ein erwachsener oder ein älterer Mensch.
- Ganzheitlichkeit und Integration: Keine der Nachhaltigkeitsdimensionen (sozial, ökologisch, ökonomisch) wird vorrangig beachtet. Stattdessen wird eine integrative Problemlösung angestrebt, die alle Dimensionen wirkungsorientiert einbezieht.
- Partizipation, Verantwortung: Einbeziehung aller Betroffenen und Verantwortlichen.
- Charakter eines normativen Leitbildes: Im Kern ist Nachhaltigkeit ein ethisch-moralisches sowie handlungsleitendes Prinzip.

Nachhaltigkeit ist die ethische Einsicht, die täglichen Bedürfnisse nicht zulasten unserer Lebensgrundlagen, der kommenden Generation und sozioökonomischer Regeln durchsetzen zu dürfen. Dass wir viel stärker längerfristig und verantwortungsbewusster denken müssen. Nachhaltigkeit ist als konstruktiver, moralischer Handlungsappell auf wirkungsvolles Handeln gerichtet. Das Nachhaltigkeitskonzept enthält als Strukturprinzip organisatorische und institutionelle Regelungen (effiziente Regulierung, integrative Entscheidungsfindung) und inhaltliche Vorgaben (inter- und intragenerationelle Gerechtigkeit), vgl. Gehne, Nachhaltige Entwicklung als Rechtsprinzip, S. 265. Das Nachhaltigkeitskonzept enthält darüber hinaus organisatorische Maßgaben (Partizipation und Integration) und setzt normative Leitlinien und Steuerungsimpulse, ggf. für einen Teil der Rechtsordnung, etwa das Umweltrecht und die Umweltbeziehungen. Mit dem zielorientierten Gebot effizienten Steuerns, enthält es eine konkrete normative Kernaussage im Unterschied zu dem sehr offen formulierten Rechtsstaatsprinzip. Verantwortung! Hans Jonas - handle stets so, dass künftige Generationen genau die gleichen Handlungsspielräume haben wie Du, vgl. Pufé, Was ist Nachhaltigkeit? Dimensionen und Chancen, APuZ 31-32/2014, S. 15, 20.

198 Opielka, Gerechtigkeit durch Sozialpolitik? APuZ 8-9/2006 S. 32 - Wenn Sozialpolitik Gerechtigkeit fördern soll, wird es notwendigerweise komplex. Nur eine mehrdimensionale Perspektive auf Gerechtigkeit erscheint angemessen. Die fehlende definitorische Begriffsbestimmung des Begriffs „Gerechtigkeit“ darf sich nicht mit einem Gesichtspunkt zufrieden geben, der wie die Solidarität so lange ethisch vage bleibt, wie man nicht klärt, ob sie zur geschuldeten Rechtsmoral gehört oder aber in den Bereich der verdienstlichen Tugendmoral hinüberschreitet oder ob es auf die freie Großmut der Bürger ankommt. Der Sozialstaat ist zur Sicherung der Marktmöglichkeiten der Bürger da. Er soll die Bürger zum Markt zurückzuführen, sie marktfähig halten. Der Sozialstaat „beschenkt nicht die BürgerInnen“; er bindet seine subsidiären Transferzahlungen an die überprüfbare Bereitschaft zur Beschäftigungsaufnahme und zur Selbstverantwortlichkeit.

199 Auskunft über das aktuelle Verständnis sozialer Gerechtigkeit in einer Gesellschaft geben auch die öffentlichen Auseinandersetzungen. Leisering, in Leisering, Paradigmen sozialer Gerechtigkeit, in: Stefan Liebig/Holger Lengfeld/Steffen Mau (Hrsg.), Verteilungsprobleme und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 2004, S. 29-68, kommt auf der Grundlage einer Analyse der Debatten um den Umbau des deutschen Wohlfahrtsstaats zu dem Schluss, dass man vier "Paradigmen sozialer Gerechtigkeit" unterscheiden kann. Zunächst orientiert er sich am Bedarfs- bzw. am Leistungsprinzip. Der Staat hat die Aufgabe einer umfassenden sozial ausgewogenen Bedarfsabsicherung und Einkommensumverteilung, Eine Abwandlung der Leistungsgerechtigkeit – Leisering bezeichnet es als "produktivistische Gerechtigkeit"; er verbindet dies mit der Vorstellung, dass die für die Gesellschaft erbrachten Leistungen Kriterien der Zuweisung von Gütern oder Lasten sind. Die "Teilhabegerechtigkeit" zielt darauf ab, Benachteiligungen aufgrund zugeschriebener natürlicher oder ethnischer/biologischer Merkmale des Geschlechts, der Ethnizität, des Alters und der Generationenzugehörigkeit angemessen auszugleichen und eine wirkungsvolle, gesellschaftliche Teilhabe im Sinne der rechtlichen Gleichstellung, sozialen Achtung und Anerkennung und der willkommenen Beteiligung am sozialen, kulturellen und ökonomischen Leben zu garantieren, Liebig/ May, Dimensionen sozialer Gerechtigkeit, APuZ 2009, S. 7.

200 Der vorsorgende Sozialstaat" - Es gehe darum, dass der Sozialstaat nicht nur repariere, sondern sich vorher präventiv den Problemen und Realitäten stelle. Dazu gehört, dass wir die soziale Herkunft durchbrechen müssen als das Kriterium zum Zugang von Bildung und Lebenschancen. Das heißt sehr wohl einen sehr starken Sozialstaat zu haben, der die Menschen früh und individuell fördert." Das betreffe den Gesundheitsbereich genauso wie den Bildungsbereich. "Es gab im 19. Jahrhundert keinen Sozialstaat. Der ist im 20. Jahrhundert erkämpft worden von den Sozialdemokraten, den Gewerkschaften, von sozialen Bewegungen. Jetzt haben sich die Zeiten geändert und wir müssen ihn im 21. Jahrhundert weiter entwickeln." Deshalb gehe es jetzt um die Erneuerung des Sozialstaats und nicht um seine Abschaffung. Aber das Prinzip von Sozialstaatlichkeit müsse bleiben. "Um die Emanzipation zu fördern, das heißt die Voraussetzung für ein selbst bestimmtes Leben, die Teilhabe an Bildung, Arbeit und Gesundheit. Und auch um die Sicherheit als Schutz der Menschen vor existentieller Not sicherzustellen. Das sind die drei Kernaufgaben." "Soziale Dienstleistungen und Investitionen in Menschen. Das sind zwei wichtige Kriterien, die ein vorsorgender Sozialstaat haben muss." Das lasse sich aber nicht in Höhe des Transfers bemessen, sondern an der Frage, ob der Sozialstaat in der Lage ist, den Menschen "tatsächlich Lebenschancen zu öffnen". Hubertus Heil, Deutschlandradio Kultur – Interview 25.11.2006 URL dieser Seite: http://www.deutschlandradiokultur.de/heil-spd-der-sozialstaat-muss-sich-den-problemen-und.1008.de.html?dram:article_id=160777.

201 Allmendinger, Der Sozialstaat des 21. Jahrhunderts braucht zwei Beine – Essay, APuZ 2009, S.3 - das sozialstaatliche Leitbild eines aktivierenden Staates als „Dritter Weg“ jenseits des versorgenden Sozialstaats sozialdemokratischer Prägung und des neoliberalen Konzepts eines Minimalstaates. Während der traditionelle Sozialstaat versucht, die Soziallage seiner Bürger durch Sozialtransfers zu beeinflussen und diese so vor dem Markt zu schützen, versucht der Sozialinvestitionsstaat seine Bürger zu stärkeren Akteuren im Markt selber zu machen. Der Bürger soll befähigt werden, (wieder) aktiv am Marktgeschehen teilzuhaben. Die Eigenverantwortung wird gefordert. Der Staat wird nicht mehr als Reparaturbetrieb, sondern als ein befähigender und ermöglichender Staat verstanden, der verantwortungsvoll Vorsorge trifft, damit seine Bürger ein selbstbestimmtes Leben in autonomer Selbstachtung führen können. Der Entwurf eines Sozialinvestitionsstaates ist eng mit Ergebnissen der empirischen Bildungsforschung verbunden, durch die eindeutige Zusammenhänge zwischen Bildung und einer breiten Palette sozialstaatlich relevanter Bereiche belegt werden: Besser gebildete Menschen leben länger als weniger gebildete und zeigen eine höhere politische wie soziale Teilnahme; auch werden sie schneller und dauerhafter in den Arbeitsmarkt integriert, mit individuell größeren Wahlmöglichkeiten in der Berufs- und Erwerbskarriere sowie mit höheren Entfaltungs- und Entwicklungschancen am Arbeitsplatz. Effektiver sozialer Schutz lässt sich aber allein durch Bildung nicht gewährleisten. Auch Gebildete werden nach der Lebenserfahrung krank, können arbeitslos werden und werden „gebildet“ älter, so dass sie auf eine Alterssicherung angewiesen sind. Moderne und erfolgreiche Wohlfahrtsstaaten lösen den Sozialstaat klassischer Prägung nicht ab, sie folgen nicht dem neoliberalen Ruf, staatliche Leistungen abzubauen, und sie beugen sich nicht einem dritten Weg, der nur auf soziale Investitionen in das Humankapital der Bevölkerung zielt, Allmendinger, a.a.O. S. 5. Bildungsprogramme sind dann Erfolgsprogramme, die Aktivierungsmodule fruchten gerade dann, wenn man ein angemessenes Niveau von Bildung und Weiterbildung voraussetzen kann. Wer breit fördert und sichert kann auch fordern, Schwab, 2014 – Bildung ist ein Hoffnungsmodul.

202 Kulturelle Bildung ist eng mit dem sozialen Zusammenhalt verbunden (gelebtes Gruppen und Gemeinschaftsgefühl). Allerdings sind Kunst und Kultur auch wirkungsvolle Mittel der Unterscheidung und Trennung von Menschen, vgl. Fuchs, Sozialer Zusammenhalt und kulturelle Bildung, APuZ 47/ 2009, S. 33. Die Geschichte der Moderne ist zugleich eine Geschichte der Kulturkritik der Moderne. "Der wahre Zweck des Menschen (...) ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. In dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedeutung. Bildung" meint hierbei die individuelle Disposition, sein Leben selbstständig, sinnerfüllt und kompetent gestalten zu können, Münchmeier, (Hrsg.), Bildung und Lebenskompetenz, Opladen 2002. Die Bildung des Einzelnen und die soziale Ordnung des Gemeinwesens bedingen sich. Kulturarbeit eine soziale und eine individuelle Dimension: Kulturarbeit bedeutet auch soziales Lernen, Fuchs, a.a.O. S. 37. Die Künste trennen nicht nur, sie sind zugleich ein wirkungsvoller Katalysator, ein eher verborgenes, aber umso wirkungsvolleres Mittel bei der Erhaltung der sozialen und politischen Struktur der Gesellschaft und zur fördernden Erhaltung des lebendigen Gemeinschaftsgefühls. Kunst und Kultur sind Orte der lebendigen Begegnung. Sozialer Zusammenhalt ist möglich und kann durch Kulturarbeit gefördert werden, so nachdrücklich Fuchs, Sozialer Zusammenhalt und kulturelle Bildung, APuZ 47/ 2009, S. 38.

203 Die Legitimation sozialer Ungleichheit basiert auf der Leitidee, dass Güter nach meritokratischen Prinzipien verteilt werden. An Bildungsinstitutionen und Arbeitsmärkten kann die wirkliche Umsetzung dieser Leitidee – und der Erfolg - bemessen werden. Die soziale Ungleichheit in postmodernen Marktgesellschaften gründet vor allem auf der Leitidee, dass Güter nach meritokratischen Prinzipien - nach Qualifikations- und Leistungskriterien - verteilt werden. Leistung und Qualifikation sollen für den Zugang zu beruflichen Positionen und für deren Entlohnung entscheidend sein; Sorge ist dafür zu tragen, dass Bildungsinstitutionen nach individuellem Talent und Bereitschaft differenziert die zur Leistungserbringung notwendigen Qualifikationen vermitteln und zertifizieren. Das bedeutet, offenen Zugang, freien Leistungswettbewerb und transparente Selektionsmechanismen. Nur wenn sich alle potenziellen Kandidaten um eine Position bewerben können (gleiche Chancen haben; Chancengerechtigkeit) und sich die Auswahlkriterien nur nach Qualifikation und Leistung richten, gelangen die besten Bewerber (Eignung, Leistung, Fähigkeiten) in die richtigen Positionen. Nur wenn Löhne und Gehälter respektive Preise für Güter und Dienstleistungen in freiem (privatautonomen) Leistungswettbewerb ausgehandelt werden, kann man davon ausgehen, dass die ausgeübten Tätigkeiten leistungs- und qualifikationsgerecht entlohnt werden. Bildungsinstitutionen müssen für alle Interessierte offen und fachlich/pädagogisch dazu in der Lage sind, Talente zu erkennen und zu fördern (fordern und gezielt fördern!), Lang/ Groß, Gesellschaftliche Ausschlussmechanismen und Wege zur Inklusion, APuZ 16-17/2012, S. 19f. Wird das Prinzip der bildungs- und leistungsgerechten Orientierung befolgt, lässt sich die soziale Mobilität zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppierungen ablesen und beurteilen, ob Mobilitätsbarrieren innerhalb einer Generation bestehen. Junge Menschen mit unterschiedlichen familiären Startbedingungen sollen, ja müssen gemäß deren erkennbaren Talenten bestmöglich gefördert werden ("soziale Chancengerechtigkeit"), dementsprechend dann optimal qualifiziert und anschließend leistungsabhängig für unterschiedliche Ausbildungswege selegiert werden, vgl. Lang/Groß, a.a.O. S. 20. „Bildung begründet Hoffnung! - Im Bereich der Bildungspolitik ist es vergleichsweise einfach, Maßnahmen zu benennen, die Schließungsmechanismen entgegenwirken. Eine möglichst früh einsetzende vorschulische Bildung hilft, Kompetenzdefiziten von Kindern aus "bildungsfernen" Schichten entgegenzuwirken. Es ist für den gesellschaftlichen Aufstieg, von entscheidender Bedeutung, die Anreize so zu gestalten, dass "bildungsferne" Schichten so früh als möglich eine gegliederte Schulbildung und Begleitung in Schulbündnissen erhalten können. Bildung geht alle an. Die Gesellschaft erwartet, dass wir nicht länger über Zuständigkeiten streiten, sondern Lösungen auf den Weg bringen, die den Kindern helfen. Das ist überhaupt die wichtigste Frage, um die es uns gehen muss: Was nützt den Kindern? Prinzipien sind als Maßstab und Richtschnur eigenen Handelns unentbehrlich. Aber Prinzipien müssen sich immer auch an der Wirklichkeit messen lassen. Es muss geprüft werden, wo ihre Vor und Nachteile liegen und ob sie nicht einer behutsamen Weiterentwicklung bedürfen. Meine Überzeugung ist: Wir brauchen eine solche Weiterentwicklung im Bildungsföderalismus. Der hat dort seine Berechtigung, wo er zum Wettbewerb um neue Ideen und gute Lösungen einlädt. Unser Bildungssystem muss durchlässiger werden und einen wirksamen Beitrag leisten zur Entkoppelung von sozialer Herkunft und schulischem Bildungserfolg. Bildungsbündnisse sind eine Bewegung für mehr Bildungsgerechtigkeit. Bildungsbündnisse initiieren neue Formen der Zusammenarbeit von Schulen, Eltern und gemeindlichem Umfeld. Bildungsbündnisse bereichern die Schulen, sie sorgen für die für Bildungserfolg unerlässliche Einbindung und Beteiligung der Eltern. Bildung muss von den Kindern und auch von allen Eltern als etwas Sinnstiftendes, Erstrebenswertes und überaus Nützliches angesehen werden. Bildungsgerechtigkeit bedeutet die gleichmäßige Ausstattung von Kindern mit kulturellen Ressourcen, den Zugang zu realen Bildungschancen und den gezielten Abbau von Hemmnissen. Amartya Sen sagt: „Bei der sozialen Gerechtigkeit geht es darum, den Einzelnen dazu zu befähigen, seine individuellen Lebensziele zu verwirklichen. BBMininisterin a. D. Annette Schavan „Neue Wege zu mehr Bildungsgerechtigkeit“ 16. März 2010 in Köln

204 Die multifunktionalen Mehrzweckanwälte! - Im Zeitalter der hochgeschätzten beruflichen Mobilität und Flexibilität in das professionelle Kunterbunt, welches einen Hauptverdiener mit mehreren Nebenerwerbseinkünften kombiniert, "systemadäquat". Die Protagonisten dieser Flexibilität sind eine Art moderner Wanderarbeiter, die im Unterschied zu ihren handwerklichen Vorfahren nicht nacheinander bei verschiedenen Arbeitgeber ihr Geld verdienen, sondern gleichzeitig, größtenteils freiberuflich und in unterschiedlichen Branchen. Das geht auf Kosten der Erfahrungsdichte im Hauptberuf des Anwalts, der unfreiwillig zum "Gelegenheitsanwalt" wird und mangels kontinuierlicher Berufspraxis seine seltenen, aber deshalb nicht minder verantwortungsvollen Mandate im Zweifel nicht so professionell wahrnehmen kann wie sein viel beschäftigter Kollege. - Das Recht ist eben keine Wurstbude, die man nach Bedarf auf- und zumachen kann, Norbert Blüm, Widerspruch, Wider die Willkür an deutschen Gerichten 2014, S. 57.

205 Der Staat kann und muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich Begabungen unabhängig von Milieus entfalten können. Aber Bildungsgerechtigkeit ist etwas anderes als die sozialstaatliche Umverteilungsrhetorik nahelegt. Bildungsgerechtigkeit ist/war und bleibt ein bildungspolitisches Schwerpunktthema. Uneinigkeit besteht über die Wege zu mehr Bildungsgerechtigkeit, wo bei nicht selten sozialpolitisches und bildungspolitisches Handeln vermischt werden. Schulen sind offenbar nicht dazu in der Lage, soziale Unterschiede aufzuheben- sie scheinen sie eher noch zu verstärken. Die allgemeine Bildung ist eine Aufgabe, die nicht von der Schule allein geleistet werden kann, sondern auch in der Verantwortung jedes Einzelnen liegt. Mündige Individuen, die sich selbst kontrollieren und frei entscheiden können, sind das Ziel, nicht technische Fertigkeiten, die der Anpassung an Außenerwartungen dienen. Die Schule ist dafür unentbehrlich, weil sie Grundlagen legt, auf die systematisch aufgebaut, werden kann. Schule, darüber dürfte Einmütigkeit herrschen, muss ein Bildungsminimum garantieren. Das amerikanische Gesetz aus dem Jahr 2001 ("No child left behind") legt diese Erwartung eine Mindestbildung fest. So berechtigt es ist, angesichts der großen Risikogruppe die Bildungsgerechtigkeit zu thematisieren, so fragwürdig sind die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden. Von Begabungsunterschieden wird auf soziale Unterschiede geschlossen, von Ungleichheit auf Benachteiligung und Ungerechtigkeit. Der Staat kann nicht "begaben", er kann und muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich Begabungen unabhängig von Milieus entfalten können. Die Benachteiligten dazu zu ermutigen, ihre Chancen zu ergreifen, bleibt die wichtigste Aufgabe im Bildungssystem. Andernfalls droht ein neues Sozialproletariat ungeahnten Ausmaßes. Die Bereitschaft, sich anzustrengen, können jedoch keine Schule und keine sozialstaatliche Fürsorge dem Einzelnen abnehmen. In den sogenannten bildungsarmen Schichten fehlt es häufig an dieser Bereitschaft, vgl. Schmoll, Bildungspolitik - Gerecht ist nicht gleich, FAZ vom 2. Februar 2010

206 Der Begriff der Solidarität hat sich als politische „Teflon-Begriff“ funktional und inhaltlich gewandelt. Die solidargemeinschaftliche Organisationsvielfalt hat ihren historischen „Background“ in der kollektiven Selbsthilfe der Arbeiterbewegung („assoziative Selbsthilfe“). Die Solidarität des proletarischen Kollektivs, die einst Politikvorstellungen untermauerte, ist durch den dynamischen Wertewandel des ausgehenden 20. Jahrhunderts schwer zu finden. Die individualisierte und atomisierte Gesellschaft tut sich schwer an Werten von Gleichheit zu orientierten wie an den Werten von Freiheit. Freiheit nimmt man als Selbstverständlichkeit hin, weil man die Unfreiheit nicht erleben und Freiheitsräume erkämpfen musste, Berger, Das Individuum und die "proletarische Kollektivität": unversöhnliche Gegensätze? APuZ 20-41/2013, S. 17. Gerade die Postulate gleicher Freiheiten für alle und einer Solidarität unter Gleichberechtigten schlagen begrifflich eine stabile Brücke vom Verständnis der (sozialen) Gerechtigkeit zur Gleichheit – jenseits einer obrigkeitlich verordneten Gleichmacherei, die nivellierte Untertanen, aber keine in Freiheit solidarische Gleichberechtigte hervorbringt, vgl. Lehnert, Arbeiterbewegung und gesellschaftlicher Fortschritt, APuZ 40-41/2013, S. 23.

207 vgl. Walter/Micus, Wieder zurück? Die SPD als Volkspartei, ZSE 2011, 283, 409

208 Seit Jahren wird über Chancengleichheit im Bildungssystem diskutiert. Doch trotz intensiver Bemühungen sind die Chancen der unteren Schichten für einen Aufstieg durch Bildung kaum größer geworden. Bildungsforscher Blossfeld, die Kinder der Eliten gehen stark in die Richtung der privilegierten traditionellen Professionen wie Medizin und Jura. Das Bildungssystem sei in den vergangen Jahrzehnten zwar durchlässiger geworden, mehr Menschen gelangten in den oberen Bereich. Für die Beurteilung von Chancengleichheit sei relevant, wie es heute um sie stehe. Die Bildungsexpansion der vergangen Jahrzehnte sei nur von einem sehr trägen Trend der Abnahme der Ungleichheit begleitet gewesen. Die Chancen der unteren Schichten für einen Aufstieg durch Bildung sind kaum größer geworden. Bildungsforscher sind sich einig, dass der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule nach wie vor die wichtigste Weiche im Bildungsverlauf ist - und vielen Kindern aus der unteren Schicht den Weg nach oben verbaut, vgl. Becker, Die Oberschicht fördert die Oberschicht, FAZ vom 30. April 2013.

209 Der soziale Aufstieg gilt in Deutschland als immer schwieriger. In der politischen Armutsdebatte ist die Frage, wie leicht jemand aufsteigen kann, immens wichtig. Zahlreiche Umfragen zeigen, dass die Deutschen bereit sind, auch erhebliche Einkommens- und Vermögensunterschiede zu akzeptieren, solange diese durch persönliche Leistung gerechtfertigt ist. Dennoch: "Die Dynamik absoluter Aufwärtsmobilität scheint deutlich erlahmt zu sein." So Schäfer, Soziale Mobilität: Nur wenige Deutsche sind dauerhaft abgehängt, FAZ vom 26. August 2013

210 Bollmann/Kloepfer, Chancengerechtigkeit - Die neue Klassengesellschaft, FAZ vom 2. Juni 2013.

211 Ein gesellschaftlicher Aufstieg durch Bildung ist schwer zu schaffen in Deutschland. Die Politik hat dies erkannt und sucht nach Lösungen. Den Übergang von der Grundschule in das Gymnasium empfinden viele Schüler und ihre Eltern als Stress. Schon früh stellen sie sich Fragen wie: Ist der Stoff zu bewältigen, das Abitur zu schaffen Eltern, die selbst die Hochschulreife erlangt haben, beruhigen sich dann gerne mit folgendem statistischen Zusammenhang: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind Abitur macht, ist dann sehr hoch, wenn Vater und Mutter selbst Abitur haben. Eltern mit Hochschulreife wissen, wie man durchs Gymnasium kommt, und können ihre Kinder unterstützen. Kinder aus bildungsnahen Schichten sind oft auch besser in der Schule; allerdings nicht weil sie intelligenter sind, sondern weil sie vielfältige Bildungserfahrungen mit in die Schule bringen. Den "Bildungsvorsprung" bauen sie im Laufe ihres Bildungsweges immer weiter aus: Wer hat, dem wird gegeben. Sicherlich, das Bildungssystem ist durchlässiger geworden, es hat einen gewissen Bildungsaufstieg gegeben. Dennoch ist es für Angehörige der unteren sozialen Schichten kaum wahrscheinlicher als vor Jahrzehnten, einen Aufstieg durch Bildung zu schaffen. Der geringe Fortschritt muss die Deutschen beunruhigen. Sie haben ein gutes Gespür dafür, dass Bildung, Beruf und Karriere nicht von der sozialen Herkunft abhängen sollten, sondern vom Leistungsvermögen und den Wünschen des Einzelnen. Die Leute legen wesentlich mehr Wert auf Chancengerechtigkeit als auf Verteilungsgerechtigkeit: Die Ausgangsbedingungen sollen gleich sein, nicht das (finanzielle) Ergebnis am Ende des Bildungsprozesses. Das bedeutet: das sich eine Gesellschaft, die in der Chancengleichheit deutliche Fortschritte erreicht, zermürbende Debatten über einen Ausbau des Sozialstaates sparen kann. Bekenntnisse zur Bildung haben die Parteien als Bürger- oder sogar Grundrecht, das nicht von der Herkunft abhängen darf, auf ihre Fahnen geschrieben. Zur Erinnerung: das Recht auf Bildung ist gar ein unveräußerliches Menschenrecht. Frühe Förderung und qualitative Bildungsbündnisse als fördernde Begleiter erhöhen auch für Kinder aus bildungsfernen die Chancen, trotz ihrer Herkunft beruflich Karriere zu machen, vgl. Becker, Chancengleichheit - Bildung nach sozialen Schichten, FAZ vom 22. Mai 2013

212 Der deutsche Soziologe und Risikoforscher Ulrich Beck hat den "Fahrstuhl-Effekt" als jenen Prozess beschrieben, bei dem im Zuge des Entstehens von Wohlstandsgesellschaften sämtliche Schichten einen höheren Lebensstandard erlangen. "Es gibt - bei allen sich neu einpendelnden oder durchgehaltenen Ungleichheiten - ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum". Es gibt jedoch auch einen subjektiven Fahrstuhl-Effekt, durch den wir dieses "Mehr" als "Weniger" wahrnehmen. Stellen wir uns vor, wir fahren mit dem Fahrstuhl nach oben. Während wir aufsteigen, werden unten die Leute immer kleiner. Wir bekommen eine Übersicht. Da unten sind ja auch noch welche! Was da alles herum wuselt! Aber jetzt wird uns auch schwindelig. Wir haben das Gefühl, die Welt rotiert. Achtung, wir könnten fallen! Der Fahrstuhl ruckelt. Heißt das nicht, dass er jetzt gleich abstürzt. Da unser Gehirn immer relativistisch vergleicht, kommt es nie zu einem Gleichgewicht zwischen Erfahrung und Modellbildung. Wenn der Fahrkorb nach oben geht, "sackt" die Wirklichkeit automatisch ab. Marquard formulierte es so: "Während der Fahrstuhl der Ansprüche nach oben fährt, fährt die Welt aus der Sicht der Fahrstuhlpassagiere nach unten. Je mehr Negatives aus der Welt verschwindet, desto ärgerlicher wird gerade weil es sich vermindert - das Negative. Knapper werdende Übel werden negativ kostbar!" Horx, Risiken und Wahrscheinlichkeiten, 2013, Achtung wir könnten fallen, S. 54.

213 Wir leben in einer neuen Klassengesellschaft: Je stärker die Mittelschicht ihre Kinder fördert, umso mehr wird die "Unterschicht" abgehängt. Ist das nun ein moralisches oder ein politisches Problem? Die Sommerferien sind vielleicht die Zeit des Jahres, in der die Gegensätze zwischen den Lebenswelten deutscher Kinder und Jugendlicher die krasseste Form annehmen. Da sind die bildungsbürgerlichen Einzelkinder, die nun der vollen Hingabe ihrer Eltern ausgeliefert sind. Sie werden vom Ballett- zum Chinesischunterricht gekarrt, vielleicht ergänzt um einen Sommerkurs mit einer englischsprachigen Yogalehrerin. Von klein auf kennen sie, sich, eine politische Meinung zu bilden, lateinische Fremdwörter werden ihnen nicht erklärt, sondern auf Wurzel und Präfix zurückgeführt. Über Schul-, Musikschul- und Tanzschulerfolg wachen die Eltern mit Argusaugen - in Nordamerika wurde die wunderbare Vokabel "Helikopter-Eltern" dafür erfunden. Und auch, wenn manche von ihnen heimlich den Kopf schütteln über den Aufwand, der da betrieben wird: Dürfte man für derartige Überzeugungen die Zukunft des eigenen Kindes auf Spiel setzen, wenn alle das Spiel mitspielen? Wer die gentrifizierten Viertel der Städte verlässt, sieht die andere Seite des Lebens. Dort wo die Mieten günstiger und die kulturellen Hintergründe gemischter sind, finden sich Kinder, die eine unbehütete Kindheit haben: die stundenlang auf den Straßen und Hinterhöfen spielen, ihre jüngeren Geschwister hütend, den rostigen Spielplätzen und sich selbst überlassen. Dort gibt es keinen Wettbewerb um Plätze in Orff-Gruppen oder englischsprachigen Kitas, mehrsprachig ist man sowieso, es hapert an der mangelnden Unterstützung bei der Bildung deutscher Adjektivendungen. "Rattenrennen" ohne Überholspur - Für Eltern oder potentielle Eltern, die sich dessen bewusst sind, verschärft die Zweiteilung der Welt das Problem. Sie müssen sich nicht nur die Frage stellen, wie viel Aufwand sie für den eigenen Nachwuchs treiben wollen. Sie werden auch in ein moralisches Dilemma getrieben. Je mehr Förderung sie den eigenen Kindern zukommen lassen, je liebevoller sie deren Vorankommen unterstützen, desto eher werden Kinder aus weniger privilegierten Elternhäusern abgehängt. Aber kann man das wollen: zu geringeren Chancen für sowieso Benachteiligte, zum Abhängen ethnische und sozialer Minderheiten ja letztlich zur Spaltung der Gesellschaft beizutragen? Das unbeabsichtigte Nebenfolgen, die berühmten "unintended conequences", unter bestimmten - ziemlich selten in Reinform vorliegenden - Umständen eigeninteressiertes Handeln in einen Beitrag zum Gemeinwohl ummünzen können, war die große Entdeckung der Sozialtheorien der schottischen Aufklärung. Leider gibt es auch das umgekehrte Phänomen: "unintended consequences", die aus altruistisch motivierten Einzelhandlungen soziale Ungerechtigkeiten entstehen lassen. Die Sorge um den eigenen Nachwuchs ist hierfür ein trauriges Beispiel. Denn dass Elternliebe und der Einsatz für die Bildung der Kinder etwas an sich Begrüßenswertes sind, kann niemand bestreiten. Trotzdem bringen es die gesellschaftlichen Strukturen von Bildung und Erziehung mit sich, dass sie insgesamt problematische Folgen haben. Wer aus gehobenem Elternhaus kommt, ist im Vorteil: Bildung und Erziehung haben, wie viele andere Güter auch, sowohl einen Wert an sich als auch einen Aspekt, den Ökonomen "positional" nennen. Bei letzterem geht es darum, dass der Wert eines Gutes nicht absolut ist, sondern sich in Abhängigkeit davon bestimmt, wie hoch die Werte derjenigen Exemplare sind, die andere haben. Während für die persönliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen der intrinsische Wert zählt, geht es im Wettbewerb um schulische e und berufliche Positionen um den Platz relativ zu anderen. So Herzog, Die neue Klassengesellschaft - Gleiche Chancen? FAZ vom 4. August 2013. Ein techniszistisches, auf Dokumentierbarkeit und Vermarktbarkeit ausgerichtetes Bildungsverständnis verstärkt die Orientierung an relativen Positionen sicherlich. Doch selbst, wenn Eltern rein aus schöngeistigem Interesse oder aus Faszination für Naturwissenschaften und Geschichte ihren Kindern Bildungsinhalte weitergeben (und nicht, weil sie ihnen eine gute Startposition im globalen Wettbewerb verschaffen wollen), entsteht dieser positionale Effekt. Da positionale Güter per definitionem knapp sind - nur 10 % der Jugendlichen können die 10 % der besten Abiturnoten haben - kann dies zu sogenannten "Rattenrennen" führen, bei denen alle immer schneller rennen, und am Ende alle auf dem gleichen relativen Platz landen wie vorher. Diejenigen aber, die nicht mit rennen, erfahren eine Verschlechterung ihrer relativen Position, auch wenn sie sich absolut gesehen nicht verändert hat. Eine Bedrohung für die Chancengleichheit! - Außerdem greifen im Bildungsbereich soziale Netzwerkeffekte. Wer von den richtigen Leuten umgeben ist, bekommt die richtigen Tipps und hat die entscheidenden Kontakte. Kinder von Eltern in deren Freundeskreis sich Ärzte, Ingenieurinnen, und Professoren bewegen, haben Rollenvorbilder und Gesprächspartner, die ihnen dabei helfen können, sich beruflich zu orientieren. Jemand kennt jemand, der jemanden kennt, der einen Praktikumsplatz zu vergeben hat, oder der von Freunden in Frankreich weiß, die eine Partnerfamilie für einen Austausch suchen. Keine einzelne dieser Handlungen ist an sich ausschlaggebend, niemandem wird damit geschadet, im Gegenteil: Man freut sich, helfen zu können. Aber die Summe derartigen Verhaltens führt doch dazu, dass der Startvorteil mancher Kinder erheblich ist, währen andere abgehängt werden. Selbst wem die Sorge um den eigenen Nachwuchs in den bürgerlichen Schichten weniger neurotische und verkrampfte Formen annähme, als dies gegenwärtig oft behauptet wird, bliebe das Problem bestehen. Elternliebe, Freundschaftsdienste und die unmöglich zu verhindernden Vorteile die Kinder haben, die aus den "richtigen" Elternhäusern kommen, werden insgesamt zu einer Bedrohung für einen der zentralen Werte demokratischer Rechtsstaaten. die Chancengleichheit. Das völlige Gleichheit in der Endverteilung schwer realisierbar und vielleicht gar nicht wünschenswert ist, aber auch viele, die sich politisch im linken Spektrum verorten, anerkannt. Aber umso wichtiger wird die Frage danach, ob Kinder aus allen Elternhäusern eine gleiche Chance darauf haben, ihre Talente zu entwickeln und diejenigen Berufe zu ergreifen, die ihren Vorlieben und Fähigkeiten am besten entsprechen. Das Bemühen bildungsbürgerlicher Eltern um den eigenen Nachwuchs scheint genau diesen Wert zu bedrohen, nachdrücklich, Herzog, Die neue Klassengesellschaft - Gleiche Chancen? FAZ vom 4. August 2013 Der Wille für flächendeckende Maßnahmen fehlt! Es gibt auch andere Beispiele dafür, wie soziale Dynamiken aus wenig verwerflichen Präferenzen Einzelner explosive Gemengelagen entstehen lassen können. Schon in den 1970er Jahren beschäftigten sich Sozialwissenschaftler, darunter auch der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Thomas Schelling, mit Rassensegregation. Dazu verwandelten sie einfache Modelle zellulärer Automaten. Diese kann man sich wie karierte Spielbretter vorstellen, deren Figuren bestimmten Regeln folgen. Zum Beispiel kann die Regel lauten: " Bewege dich an einen anderen Ort, wenn weniger als x Prozent der Figuren in deiner Umgebung eine andere Eigenschaft haben als du selbst". Das Ergebnis dieser Modellierungen: Soziale Systeme können in vollständiger Segregation enden, auch wenn der Wert x Prozent nicht besonders hoch ist. Je nach Annahmen des Modells reicht ein Wert von 3 Prozent, um vollständig getrennte Cluster der Figuren verschiedener Farben zu erreichen. Es braucht also, so Schellings Schlussfolgerung, keine besonders rassistischen Einstellungen bei den Beteiligten - die Dynamik sozialer Interaktion führt dazu, dass schon eine Präferenz für Ausgewogenheit (50 % der Nachbarn sollen der eigenen Gruppe angehören) zu totaler Trennung führen kann, mit erwartbaren Folgen für die Bildungschancen der nächsten Generation. Wohlgemerkt: kann, muss nicht, denn in den Modellen, und erst recht in realen Fällen der Milieubildung, hängt viel von den konkreten Rahmenbedingungen ab, die auch durchaus politisch gesteuert werden können, Herzog, Die neue Klassengesellschaft - Gleiche Chancen?, FAZ vom 4. August 2013

214 Nur eine Gesellschaft, die sich gemeinsam etwas vornimmt, kann Großes erreichen. Heute, nach der Zäsur der Finanzkrise, zwischen den ideologischen Polen eines exzessiven Finanzkapitalismus und eines chinesischen Staatskapitalismus, können wir der Welt eine freie und solidarische Alternative des 21 Jahrhunderts anbieten. Diese Alternative ist eine erneuerte Soziale Marktwirtschaft, in der wirtschaftlicher Erfolg und gesellschaftliche Teilhabe kein Widerspruch sind, sondern einander bedingen. Aufstiegschancen durch Bildung sind sozial gerecht, weil es nicht sein darf, dass die soziale Herkunft den Lebensweg junger Menschen vorherbestimmt. Investitionen in Infrastruktur sind ökonomisch richtig, weil sie die Grundlagen für neues Wachstum sind, aber von privaten Märkten allein nicht gestemmt werden. Investitionen in Infrastruktur sind sozial gerecht, weil sie Lebensqualität und Berufschancen für alle verbessern. Für diese Neuverortung der Sozialen Marktwirtschaft dient mir persönlich als ethischer Kompass ein Bibelwort aus dem fünften Buch Mose: dass du aus dem Brunnen trinkst, die du nicht gebaut hast, und von Ölbäumen erntest, die du nicht gepflanzt hast. Wirtschaftlicher Erfolg erwächst nie aus der Leistung des Einzelnen allein, sondern immer auch aus einem dichten Netz gesellschaftlicher Voraussetzungen: den Brunnen einer soliden Infrastruktur etwa oder den "Ölbäumen" guter Bildung. Auf dieser Einsicht gründet das Bündnis zwischen Starken und Schwache und mit ihm das Fundament gemeinsamer Vorgaben, Peer Steinbrück - "Was haben wir morgen vor? Berliner Republik 3/2013

215 Das Ausmaß der Undurchlässigkeit und sozialen Segmentierung unserer Gesellschaft ist frappierend. Diese unbefriedigenden Verhältnisse sollten wir uns nicht als begrüßenswerte "Diversität" schönreden, sondern im Sinne von Inklusion dringend überwinden. Inklusion und die Zukunft des Sozialen und der Sozialstaatlichkeit - eine programmatische Orientierung! Der eigentliche Gerechtigkeitsskandal der bundesdeutschen, der unsrigen Gesellschaft bestehe in einem weitreichenden Ausschluss bestimmter gesellschaftlicher Gruppen von entscheidenden öffentlichen Gütern: Arbeit, Bildung, Gesundheit, öffentliche Räume, usw. Materielle Armut ist so von dem Element der Exklusionsbeschreibung zu einem von mehreren Elementen geworden. Als positive Gegenbegriffe zur Exklusionsdiagnose haben sich Begriffe wie "Teilhabe", "Zugang" oder "Durchlässigkeit" fest im politischen Spracharsenal etabliert. Die Stoßrichtung dieser Begriffe besteht darin, die sozialen Blockaden für bestimmte Gruppen zu beseitigen und damit die Abschottung privilegierter Systeme und Milieus zu durchbrechen. Die Bedeutung von Verteilungsgerechtigkeit wurde neu betont; sie steht nicht neben der Teilhabegerechtigkeit, sondern für mehr Teilhabe. Damit einhergehend wurde der Begriff des institutionellen Transfers geprägt und ihm der Begriff des Individualtransfers beiseite gestellt. Der Begriff der Inklusion gewann an Bedeutung hinzu: inklusive Stadt, Schule Arbeitsmarkt. Die Inklusionsrhetorik erweitert auch das Bewusstsein für den Begriff der Barrieren für Hindernisse, die Menschen, nicht nur mit gesundheitlichen Handicaps, im Wege stehen und sie aus der Gesellschaft ausschließen. Mit klarer Begrifflichkeit lässt sich Inklusion als politischer Kultur und Leitbegriff fruchtbar machen und etablieren. Qualität, Zugang, Partizipation, Teilhabe und Organisation: Mehr soziale Teilhabe wird es nur geben, wenn wir die Institutionen zu guten Institutionen machen, zu Orten qualitativ hochwertiger Güter. Mehr Teilhabe ist nur erreichbar, wenn wir Institutionen zu partizipativen Institutionen machen, also zu demokratisch- inklusiven Orten, an denen Mitsprache und Mitbestimmung möglich wird. Barrieren abbauen bedeutet Raum der "sozialen Vielfalt" schaffen und soziale Trennung überwinden. Siller, Berliner Republik 2/2014 "Politik der Inklusion.

216 Schoen, Persönlichkeit, politische Präferenzen und politische Partizipation, APuZ 49-50/2012, S. 47 –Die Vorstellung, dass die Persönlichkeit eines Menschen sein politisches Denken und Handeln beeinflusse, ist nicht neu. Persönlichkeitseigenschaften sind zum Teil genetisch angelegt, zum Teil in frühen Lebensjahren erworben und bleiben im Laufe des Lebens relativ konstant; mit den medialen Einflüssen und den sozialen Erfahrungen im Berufsleben und in der gesellschaftlichen Umgebung – gerade durch die Digitalisierung des Lebens – sind zunehmend Veränderungen zu beobachten. Damit sind die Neigungen und Bedürfnisse, die sich in Persönlichkeitseigenschaften niederschlagen, Einstellungen und Verhalten in spezifischen Situationen zeitlich vorgelagert und können auf diese wirken. Im Zusammenspiel mit Umwelteinflüssen führen tief verankerte Persönlichkeitseigenschaften zu charakteristischen Anpassungen eines Menschen, also zur Ausprägung bestimmter Gewohnheiten, Einstellungen und Verhaltensmuster, so Schoen, Persönlichkeit, politische Präferenzen und politische Partizipation, APuZ 49-50/2012, S. 48. Die auf Wandel bedachten politischen Entscheidungen können als Triebfeder des gesellschaftlichen Fortschritts angesehen werden. Die Bewertung dürfte positiv ausfallen, wenn man schlussfolgert, dass eine sich rasch wandelnde Gesellschaft – man denke an Migration, den demografischen Wandel und die Pluralisierung von Lebensformen (dazu zählen auch Patchwork-Beziehungsgemeinschaften) – eine hohe – dynamisierte - Anpassassungsfähigkeit politischer Entscheidungen erforderlich macht.

217 Leiprecht, Sozialisation in der Migrationsgesellschaft und die Frage nach der Kultur, APuZ 49-50/2012, S. 3 - Menschen werden nicht nur beeinflusst durch Kulturen, sie beeinflussen diese auch selbst, tragen durch ihre Handlungsweisen zu Veränderung und Erneuerung bei (doing culture), und sie können sich (potenziell) auch reflexiv und bewusst zu ihren Kulturen verhalten, vgl. Schwab, Aussiedler zwischen Integration und Isolation, ZfSH/SGB 1992, 130 – viele Aussiedler haben Schwierigkeiten, sich im deutschen Alltagsleben zurecht zu finden, sei es in Fragen der pluralistischen säkularen Werteordnung, sei es im politischen und gesellschaftlichen Bereich. Waren sie bisher das Objekt staatlicher Lenkung, müssen sie nun selbst Verantwortung tragen und entscheiden. Damit sind Verhaltensweisen gefragt, die im Verhaltensrepertoire und Erfahrungsbereich eines Menschen, der im System der Fremdbestimmung erzogen wurde, nicht enthalten sind. Vgl. auch Schwab, Aussiedler, Deutsche unter Deutschen, 1990, S. 230 f – Der Prozess der Beheimatung der Aussiedler wird nur dann gelingen, wenn man ihnen hilft, ihre Identität zu finden. Integration bedeutet nicht kulturelle Anpassung oder Ausgrenzung, sondern Bereicherung. Das Individuum und die Gesellschaft werden hier zunehmend in einer eher interaktiven Konstellation gesehen, wobei die Individuen nicht nur als passive und empfangende Wesen erscheinen, sondern auch als aktiv und gestaltend: als „auf sich und ihre Umwelt immer auch selber“ einwirkend. Der analytische Begriff „Möglichkeitsraum“ erweist sich als überaus nützlich: Es ist nicht alles möglich, aber eben auch nicht alles bestimmt. Die Menschen haben in ihren Möglichkeitsräumen nicht nur mit dominierenden und dominierten kulturellen Mustern zu tun, sondern gleichzeitig auch mit politischen Verhältnissen, Geschlechterverhältnissen, Klassen- und Schichtungsverhältnissen oder Generationsverhältnissen, so Leiprecht, Sozialisation in der Migrationsgesellschaft und die Frage nach der Kultur, APuZ 49-50, S. 7.

218 Was ist zu tun, damit sich Bürgerinnen und Bürger mit ihren Anliegen und Interessen in den Parlamenten besser vertreten fühlen? Lässt sich das Dilemma der „Gegenwartspräferenz“ des „Augenblickdenkens“, dem „Diktat des Moments“ und dem „Druck des Marktes“ mittels einer neuen Definition des Demos unter Einbeziehung zukünftiger Generationen und der Überwindung des klassischen Modells der Gewaltenteilung aufheben? Vgl. Kamutzki, Parlamentarismus, APuZ 38–39/2014, Editorial. Demokratie bedeutet, dass die BürgerInnen eines Staates bzw. politischen Systems die Möglichkeit haben (müssen), in Wahlen über das Regierungspersonal und die Grundrichtung der Regierungspolitik zu entscheiden. Die Demokratisierung wird dabei durch die gemeinschaftlichen Bande einer sprachlich, kulturell und ethnisch zusammengehörenden Gemeinschaft, einer Nation (dem früheren Nationalstaat) ohne Zweifel erleichtert, ist aber nicht zwingend an diese gebunden, Decker, Die Europäische Union auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie? Unter Parlamentarismus versteht man, dass ein gewähltes Parlament im Rahmen einer gewaltenteiligen Struktur über substanzielle (Mit)Regierungsbefugnisse verfügt. Diese Befugnisse umfassen in jedem Falle die Gesetzgebung, sie können – müssen aber nicht zwingend – auch das Recht umfassen, die Regierung zu bestellen zu kontrollieren und abzuberufen, APuZ 38–39/2014, S, 4.

219 Es wäre argumentativ unredlich und in der Sache falsch die derzeitigen Problem frühindustrialisierter Länder ganz oder auch nur in wesentlichen Teilen auf den Sozialstaat zurückführen zu wollen. Dennoch ist eine Auseinandersetzung mit dem Sozialstaat, wie er sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland entwickelt hat, geboten. Verschuldung der öffentlichen Hand: Gemessen an Abstrichen bei staatlichen Sozialleistungen erscheinen Schulden stets als das kleinere Übel - vorausgesetzt, man sieht sie überhaupt als Übel. Habt euch nicht so, wegen der Schulden, beschwichtigen engagierte Verfechter des Sozialstaats. Diese sind allemal harmloser als ein schwächelnder Sozialstaat. Der geschickte Umgang mit diesem Riss - der die Gesellschaft teilt - der mehr oder weniger sichtbar durch alle Gesellschaften geht, ist das Kernstück jeder Gesellschaftspolitik und vermutlich der Politik überhaupt- De Geschichte dieses Risses geht zurück bis zu den Anfängen sich ausdifferenzierender, arbeitsteiliger Gemeinwesen, in denen über- und unterdurchschnittliche Erfolge von Einzelnen und Gruppen nach und nach manifest wurden. Solche Gemeinwesen trotzdem zusammenzuhalten, war die hohe Kunst von Politik, und wo sie versagte, kam es oft zu blutigem Gemetzel. In parlamentarischen Demokratien haben die politischen Parteien im Verteilungskampf um Güter- und Lebenschancen Aufstellung entlang dieses Risses genommen: die einen auf Seiten derer, die eher geben, die anderen auf Seiten derer, die eher empfangen. Zwar beteuern zumindest diejenigen, die für sich beanspruchen, Volksparteien zu sein, stets das Wohl aller im Blick zu haben. Und in der Tat gibt es Beispiele, dass Vertreter wirtschaftlich Schwächerer dazu aufrufen, doch die Tassen im Schrank zu lassen und die Wohlhabenderen nicht zu verprellen, wie umgekehrt deren Vertreter ihre Klientel hin und wieder ermahnen, nicht die Armen zu vergessen. Solche Äußerungen sind wichtig, fördern sie doch den Zusammenhalt der Gesellschaft. Doch sie können und sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass entlang dieses Risses seit Generationen ein Stellungskrieg geführt wird, bei dem sich der Frontverlauf nur wenig verändert und bei dem es weder Sieger noch Besiegte, weder Gewinner noch Verlierer gibt. Es geht immer nur um temporäre Dominanz, Miegel, Hybris - Die überforderte Gesellschaft, S. 102, 104.

220 Was dieser Kontinent friedlich und mit gemeinsamen Anstrengungen erreicht hat, ist wirklich fantastisch – aus einem Kontinent des Krieges ist ein Kontinent des Friedens geworden“. Wir haben eine gemeinsame, nachhaltige Verantwortung für die bewusste und sichere Gestaltung eines friedlichen, sozialen und gerechten Miteinander und Füreinander in Deutschland und in seiner „Einbettung“ im europäischen Staatenverbund, Schwab. Während unter akutem Handlungsdruck in der Krise bereits weitreichende Fakten geschaffen worden sind, steht die gesellschaftliche Diskussion über die zukünftige Gestalt Europas noch immer am Anfang, so Piepenbrink, Europa? Mehr Europa! - Europa im Umbruch, APuZ 6-7/2013, Editorial. Gesamteuropäische Lernprozesse müsste Strukturvoraussetzungen für ein haltbares demokratisches Gemeinwesen thematisieren: Ausbau des Sozialstaats; Schutz der lebendigen Arbeit gegen die Übergriffe der toten Arbeit; überhaupt die Rolle des Sozialen im gesellschaftlichen Gestaltungszusammenhang. Nie wieder sollten die wirtschaftlich Mächtigen ohne demokratische Kontrollen ihre Macht gebrauchen und missbrauchen können! Die sozialstaatlichen Errungenschaften wurden daher nicht nur als Solidarbeiträge für die in Not geratenen Menschen betrachtet, sondern als tragende Pfeiler rechtsstaatlicher und demokratischer Aufbauprinzipien der Gesellschaft, so Negt, Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen Europa, APuZ 6 - 7/2013, S. 17. Unabdingbar, untrennbar - und sich gegenseitig sichernd- miteinander verbunden sind: die Sphäre des die Freiheit und die Staatsstrukturprinzipien sichernden Rechtsstaats, das aus der Arbeiterbewegung stammende Potenzial sozialstaatlicher Errungenschaften und die Demokratie. „Sieht man im Sozialen nur ein abwägungsfähiges, konkordanzoffenes> Staatsziel unter anderen, dann steht es gleichberechtigt zum Beispiel neben Sport oder Denkmalsschutz (…). Die Anerkennung des Anderen als Teilhaber die Grundrechte sichern die Freiheit des einzelnen und fungieren als Teilhaberechte, wenn erst die freie Teilhabe eine funktionale und sichere Freiheitsausübung sichert der gleichen Gesellschaft hängt von einer Sozialstaatlichkeit ab, die viel umfassender zu verstehen ist, als dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt Sozialleistungen bekommt. Das Soziale ist mehr als ein Einzelplan im Haushalt so wie sich der Rechtsstaat nicht im Justizressort erschöpft. Das Soziale ist ein Stück gelebte menschliche Gerechtigkeit und Sorge um die Schwächeren in der Gesellschaft.. Die soziale Integration kann ebenso wenig wie Rechtssicherheit und Gerechtigkeit an ein bestimmtes Teilsystem der Gesellschaft delegiert werden“, frei nach Felix Welti, Teilhabe im sozialen Rechtsstaat, in: Betrifft Justiz, 106 (2011), S. 81. Real-Abstraktionen sind ein entscheidendes Merkmal des modernen Kapitalismus; sie haben ihre gesellschaftliche Produktionsgrundlage im „Fetischcharakter der Ware“, der ab einem bestimmten Entwicklungsstand der „durchkapitalisierten Gesellschaft“ zum „Geldfetisch“ anwächst, Oskar Negt, Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen Europa, APuZ 6 - 7/2013, S. 29 In der fantastischen Macht des Geldes steckt ein Moment der Endlosigkeit, der ewigen Wiederkehr des Gleichen, des Mythos. Kann die Wirtschaftsgesellschaft erst dann gesunden, - wieder auf sicheren und dauerhaft festen, der Zukunft gerechten Füßen stehen - wenn diejenigen alle Menschen, die aktiv an der kollektiven Wertschöpfung beteiligt sind der Mensch ist ein wesentlicher, unerlässlicher Faktor der Wertschöpfungskette, über die Resultate dieser Wertschöpfung auch demokratische Verfügungsrechte besitzen? Aus Mitarbeitern „mitverantwortliche Entscheider“ machen, kann mit dem unternehmerischen Gedanken und der damit verbundenen Pflichtensituation - bei ausgeprägtem Pflichtbewusstsein - gesicherte Identitäten schaffen, Motivationsschübe anstoßen und auf eine unlösbare Identifizierung der MitarbeiterInnen mit ihrem Unternehmen sicherstellen. Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss, Oskar Negt, Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen Europa APuZ 6–7/2013, S. 22. M. E. lebt die Demokratie und wird getragen von der urteilsfähige Beteiligung der Menschen am Gemeinwesen, vgl. Schwab, Das Verwaltungsverfahren, Demokratisierung und frühe Bürgerbeteiligung, Aarhus-Konvention, 2014. Mehr Demokratie und mehr Willy Brandt wagen ist eine heilsame und perspektivische Erkenntnis. Als politisches Ordnungssystem ist die Demokratie normativ ohne überzeugende Alternative, aber immer wieder auch Gefährdungen ausgesetzt, vgl. Merkel, Krise? - Krise!, FAZ vom 6. Mai 2013. Unstrittig ist, dass sich die Legitimitätsachsen demokratischen Regierens verschieben. Die Globalisierung der Märkte schränkt demokratische Spielräume ein. Supranationale Regime wie die EU lassen sich weder nach dem Muster noch nach der Qualität von Nationalstaaten demokratisieren. Eine wichtige Erkenntnis bleibt! Demokratie muss bewusst gelebt werden. Politik muss stärker auf Langfristigkeit ausgelegt sein. Sie darf sich nicht dem Rhythmus der globalisierten Mediengesellschaft unterwerfen. Wir kennen das: Kaum läuft eine Meldung über den Nachrichtenticker, muss sie kommentiert werden. Es wird immer mehr in Zeithorizonten gedacht, die maximal bis zur nächsten Wahl reichen. Kaum ist aber eine Meinungsumfrage auf dem Markt, muss schonreagiert werden. Die sozialen Medien verstärken den Druck immer sofort zu reagieren. Politik muss dem Diktat des Moments entsagen, in Zeithorizonten denken und handeln, die eine bedachte Politik mit gebotener Weitsicht gestaltbar werden lassen, Mut aber auch Kühnheit bewahren, um sinnvolle, menschenwürdige, und zukunftsorientierte sowie nachhaltig geplante Projekte gerecht zu verwirklichen, um nicht in Hektik beim Versuch sie durchzuboxen zu scheitern. Unsere Handlungsfähigkeit und zugleich unsere Demokratie bewahren – das ist die Herausforderung der Politik nicht nur heute, sondern auf planbare Zeit (Politik lebt aus den Erfahrungen und Erkenntnissen der Vergangenheit und Gegenwart und soll die Zukunft verantwortungsbewusst und nachhaltig gerecht gestalten). In einer „marktkonformen Demokratie muss dem Ereignisdruck der Märkte das verantwortungsvolle Primat der Politik entgegengehalten werden, sonst droht die parlamentarische Demokratie unter die Räder zu kommen Die Parlamente brauchen Zeit, um Vorschläge zu prüfen, um in streitbarer Diskussion Argumente auszutauschen, konsensuale Lösungen zu suchen oder Entscheidungen mit der gebotenen Weitsicht zu treffen, Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, Die Rückkehr zur Langfristigkeit, FAZ vom 10. November 2012, S. 8. Sapere aude - wage zu denken! Alle wahrhaft demokratischen Verfassungen erkennen an, dass gewisse unveräußerliche Rechte existieren, die sich aus dem Grundsatz der Gleichheit - "all men are created equal" ergeben und die kein Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern vorenthalten darf, vgl. Heiner Geißler, Sapere aude, 2012, S. 28. Die Ökonomisierung der Gesellschaft beruht auf einem Wirtschaftssystem, das die menschlichen Werte auf den Kopf stellt. Statt nämlich dem Menschen zu dienen, wird dieser vom Kapital beherrscht und sein Wohl den wirtschaftlichen Interessen geopfert, Heiner Geißler, Sapere aude, 2012, S. 39. Solidarität ist keine altmodische Gefühlsduselei, platonische Angelegenheit oder Gesinnungsakrobatik, sondern die menschliche Pflicht, denen beizustehen, die in Not sind. Es gibt auch eine Vernunft des Herzens, wo die kalte Rationalität scheitert., Heiner Geißler, Sapere aude, 20122, S. 30. Die sozialen Sicherungssysteme dienen dem Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie sollen auch denjenigen zugutekommen, die unverschuldet in Not geraten sind. Diesen zu helfen, ist aber nicht nur Aufgabe eines Teils der Gesellschaft. Ein Sozialstaat definiert sich gerade dadurch, dass alle Staatsangehörigen über die Sicherungssysteme einander Solidarität und Hilfe gewähren, Oskar Lafontaine, Das Herz schlägt links,1999, S. 271. Europa ist auch ein Stück Friedensutopie, so Oskar Negt, APuZ 6–7/2013, S. 23. m. E. realisierbarer Wirklichkeit, nicht nur Utopie, unerlässlich ist bedachte und verantwortungsvolle Politik. Je gerechter eine Gesellschaft organisiert ist, desto reichhaltiger ist ihr Legitimationsvorrat, so Oskar Negt, a.a.O. S. 23.

221 Wir vierziger sind rüstig ins Alter gekommen. Wir verzehren im Durchschnitt eine auskömmliche Rente. Über die Jahre sind soziale Barrieren und Ungleichheiten, die ihre Ursachen in Traditionen und Vorurteilen hatten, abgebaut worden, die Gesellschaft ist blitzblank geputzt von überflüssigen Vorschriften. Vieles ist zwar der Dynamik des Marktes geschuldet, aber irgendjemand muss es in die Tat umgesetzt haben. Zudem sind neue Grundrechte, an die ehedem keiner dachte, wie die auf Abtreibung, Kindheit, Privatheit, Arbeitsplatz oder sexuelle und körperliche Identität, entdeckt und durchgesetzt worden. Sie ergänzen die klassischen Menschenrechte der Aufklärung auf Leben, Besitz und Freiheit. Das ist eine Bilanz, die sich sehen lassen kann, und sie scheint durchaus den Vorstellungen des schottischen Historikers Mackenzie zu entsprechen: Jede Generation übergibt der nachfolgenden die Schätze, die sie einst geerbt hatte, verändert und verbessert durch eigne Erfahrungen, Erfindungen und die Früchte der Siege, die sie errungen hat, Sven Kuntze, Die schamlose Generation - wie wir die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder riskieren, 2014, S. 19.

222 Soziales Kapital ist die wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren demokratischer Systeme. Soziales Kapital in diesem Sinne ist das aktive Engagement von Bürgern in Vereinen und Verbänden und das zum hoffnungsvollen, gemeinschaftlichen Miteinander in der Gemeinschaft. Es sind Sozialisationsgewinne solche Sozialisationsgewinne die bereits Alexis de Tocqueville dazu veranlassten, freiwillige Vereinigungen „Schulen der Demokratie“ zu nennen, Gaiser/Krüger/de Rijke, Demokratielernen durch Bildung und Partizipation, APuZ 2009, S. 39. Die Ausbildung und Festigung eines demokratischen Bewusstseins als politisches Basisordnungsmodell der Gesellschaft sichert das Überleben der Gemeinschaft. Soziales Vertrauen ist ein relevantes Merkmal für demokratisch orientiertes Bewusstsein. Vertrauen kann gemeinschafts- und demokratieunterstützend wirken. Im Kontext gesellschaftlicher und politischer Aktivität gilt Bildung als Quelle kommunikativer und organisatorischer Fähigkeiten, also sogenannter „civil skills“. Soziale Verunsicherung, als Indikator für die Einschätzung der eigenen Situation als gefährdet im Hinblick auf Zukunftschancen, führt bei allen drei Aspekten zu starken Differenzierungen. Dabei sind eher wechselseitige Beziehungen zu vermuten, insbesondere bei politischer Kompetenz: So mag soziale Verunsicherung zu geringeren politisch orientierten Bemühungen führen, wie aber auch umgekehrt geringe politische Kompetenz zusammen mit gesellschaftlich geringerer Positionierung zu einer stärkeren sozialen Verunsicherung führen kann. Die Wahrnehmung, im Vergleich zu anderen sozial ungerecht positioniert zu sein, hat dagegen relativ wenig Einfluss, mit deutlicher Ausnahme allerdings beim sozialen Vertrauen. Es bestätigt sich, dass Bildung nicht nur für das gesellschaftliche und berufliche Fortkommen sowie für zukunftsorientierte persönliche Strategien von Bedeutung ist, sondern auch für die Ausbildung und Stärkung demokratischer Tugenden. Es ist unerlässlich, zivilgesellschaftliche Netzwerke als Gelegenheitsstrukturen legitimen bürgerschaftlichen Engagements oder auch Protests positiv zu begreifen, Gaiser/Krüger/de Rijke, Demokratielernen durch Bildung und Partizipation, APuZ 2009, S. 46.

223 Der Begriff des Staats hat seine systembildende Kraft weithin eingebüßt, Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung? JZ 1999, S. 1065. Lepsius, Braucht das Verfassungsrecht eine Theorie des Staates? EuGRZ 2004, S. 372, fasst seine Untersuchungen zum Staatsbegriff mit der resignierenden Feststellung bilanzierend zusammen: „In einem Konzert aus Recht, Geschichte, Gesellschaft, Politik und Ökonomie bleibt der Staat gegenständlich und methodisch diffus.“ Das mag die Erkenntnis oder die Einsicht in die schillernde Ambivalenz des Sinnes eines Begriffs sein, mit dem ein inzwischen weitgespannter Kreis unterschiedlicher Formen politischer (supranationaler und intergouvermentalen gesteuerter) Herrschaft charakterisiert werden soll – und zwar, je nach Perspektive und Erkenntnisinteresse, unter Verwendung eher struktureller, institutionell-juridischer oder funktionaler Begriffsintensionen (-merkmale). Das Grundgesetz stellt sich dem Ausbau der europäischen Integration zwar semantisch nicht entgegen, es enthält ein offenes Bekenntnis zur friedenstiftenden Neugestaltung eines vereinten Europas in der Präambel und eine Struktursicherungsklausel in Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, die den Weg weisen soll, es dennoch nicht ausgeschlossen, den Versuch einer Wegmarkierung unter Rückgriff auf teleologische, ideelle oder funktionale Argumente vorzunehmen. Hilfreich ist dabei die Kompass vorgäbe des BVerfG mit dem Konzept der Verfassungsidentität. Wegmarkierungen liegen im Wesen, in der Idee oder in der Funktion unserer Verfassung – sie müssen muss das Spannungsverhältnis von Statik und Variabilität der Verfassung harmonisierend auflösen. Im Prozess der europäischen Integration werden sich Verschiebungen politischer Macht ergeben müssen, soll die EU als lebendiger, gesellschaftlicher anerkannter Akteur mehr sein als „die Bürokraten in Brüssel“. Der dynamische Prozess der Integration bewirkt Machtverschiebungen, Auf- und Abwertungen in der institutionellen nationalen Ordnung, der Öffnung und Schließung von Gestaltungsspielräumen und der Umwertung prozeduraler Strukturen. Grenzen des Weges hat das BVerfG da abgesteckt, wo die Verfassung zur leeren Form wird

224 Nullmeier, Soziale Gerechtigkeit - ein politischer "Kampfbegriff"? APuZ 47/2009, S. 9 - Dies ist kein Sonderfall: Politik vollzieht sich in erheblichem Maße über Sprache – sei es in Reden, Parteiprogrammen oder auch Gesetzestexten. Entsprechend ist Politik als Auseinandersetzung über das für alle Mitglieder einer Gemeinschaft verbindlich Geltende auch eine Auseinandersetzung über Sprache. Bezeichnet man einen Begriff jedoch als „Kampfbegriff“, ist damit mehr gemeint als nur diese generelle Umstrittenheit. Es ist der Vorwurf einer Instrumentalisierung von bestimmten Vokabeln für partikulare, gerade nicht auf das Gemeinwohl zielende Interessen. Während der Begriff der Verteilungsgerechtigkeit graduell gefasst ist und die gesamte Verteilungsskala von Arm bis Reich umfasst, konzentriert sich der Teilhabebegriff auf die Inklusion, die Teilhabe überhaupt als soziales Minimum, nicht jedoch auf das Ausmaß der Teilhabe. Die Gestaltung der sozialen Verhältnisse jenseits der Schlechtgestellten und von Armut Bedrohten wird durch Teilhabegerechtigkeit nicht erfasst. Nullmeier, APuZ 47/2009, S. 11. Die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit wird in der politischen Auseinandersetzung kritisiert und mit dem Argument zurückgewiesen sie gründe auf „Sozialneid“ oder schüre nur den „Neid“. Es geht auch nicht vordergründig um „Symbolpolitik“ zur Befriedung der Bevölkerung, sondern um eine Frage der Ethik, der Verwirklichung einer überragenden Idee, die im gesellschaftlichen Zusammenleben den Menschen eine weitergehende Orientierung ermöglicht und nicht auf kurzfristige und oberflächlich-populistische Erfolg ausgerichtet ist.

225 Der Gedanke der Nachhaltigkeit außerhalb der Ökologie erhält und entwickelt vor allem dort Relevanz, wo es nicht nur um „schönen Schein“, sondern um absehbare Knappheiten (begrenzte Ressourcen) geht – etwa bei der Verteilung von Beitragseinnahmen im solidarisch aufgebauten Rentensystem vor dem Hintergrund der Auswirkungen des demografischen Wandels - Die heutige Herausforderung: Das System so zu organisieren, dass auch künftige Generationen eine Chance auf eine Altersabsicherung (Rente) haben wie die Rentner von heute, ist Nachhaltigkeit im besten Sinne. Finanzpolitisch würde eine gerade heranwachsende Generation von einer nachhaltig wirtschaftenden älteren Generation zu erwarten hoffen, dass diese keine Schuldenberge hinterlässt nicht mehr Schulden aufhäuft, als sie selbst vorgefunden hat, ja sogar einen Teil der Versäumnisse der Vergangenheit konsolidiert. Es geht dabei um absolute Grenzen der Belastbarkeit und die Verteilung der Lasten und Chancen zwischen Gegenwart und Zukunft. Häufig sind diese Grenzen nur abstrakt, Bauchmüller, Schönen Gruß aus der Zukunft, APuZ 31–32/2014, S. 4. „Kabinett beschließt Etatentwurf – Ab 2015 keine neuen Schulden mehr“, FAZ vom 2. Juli 2014. Finanzminister Schäuble spricht von einem „Meilenstein“. Erstmals seit 45 Jahren will der Bund auf neue Schulden verzichten. „Wir halten Wort“ so Schäuble – Wir geben nur aus, was wir auch einnehmen. Überschüsse und Steuergelder zur Tilgung der aufgelaufenen 1300 Milliarden Euro alt-Schulden sowie finanzielle Spielräume für mögliche Steuersenkungen sind angesichts zusätzlicher Milliarden-Ausgaben nicht veranschlagt. Rainer Hank, FAZ vom 17. August 2014, kommentierte: Deutschland zahlt seine Schulden zurück. Noch nie war es so schön wie heute, deutscher Finanzminister zu sein. Den 14. August könnte Wolfgang Schäuble sogar zum ganz persönlichen „Fiskalfeiertag“ ausrufen lassen. Denn zwei positive Nachrichten kamen an diesem Tag im Jahr 2014 zusammen. Erstmals in der Geschichte der Staatsverschuldung fiel die Rendite für zehnjährige Anleihen unter ein Prozent. Anders gesprochen: Anleger buhlen darum, dem Staat ihr Geld zu geben. Ein Traum für jeden Schuldner. Ständig wachsende Staatsschulden sind kein Zwangsmechanismus. Vom kommenden Jahr wird der öffentliche Schuldenberg voraussichtlich allein schon deshalb nicht mehr wachsen können, weil der Bund nach den „Schuldenbremse“ genannten Grundsätzen der schwäbischen Hausfrau nur noch so viel Geld ausgeben wird, wie er an Steuern von seinen Bürgern einnimmt. Dass er sich das leisten kann, liegt an den üppigen Steuereinnahmen, die ihm die Gewinne der Unternehmen und die Einkommen der vielen ArbeitnehmerInnen in einem vollbeschäftigten Land in die Kassen spülen. Kurzum: Wir leben heute fiskalisch in der besten Welt aller Zeiten. Der Wohlfahrtsstaat brummt – aber er schickt die Rechnung dafür von nun an nicht mehr an künftige Generationen. Der Staat muss noch nicht einmal sparen, sondern kann wie gewohnt Jahr für Jahr mehr Geld verteilen, eine Beschäftigung, die Politiker bekanntlich ganz besonders lieben. Dass die Neuverschuldung nicht zunimmt, geht auf definitorische Tricks zurück, wonach nicht jede mit Kredit finanzierte Ausgabe auch gleich als Neuverschuldung zählt. Im Übrigen liegt der Schuldenstand des deutschen Staates immer noch bei 76 % des Sozialprodukts, während der Maastricht-Vertrag einst bei Strafe der Überschreitung 60 % als Obergrenze festlegte. Wer in früheren Zeiten Ausreden und Entschuldigungen als Grund für neue Schulden durchgehen ließ, sollte sich heute zügeln, mit Verweis auf Sonder- und Einmalbedingungen den fiskalischen Erfolg schlechtzureden. Ob die Schuldenuhr ab jetzt tatsächlich rückwärts läuft wird man in ein paar Jahren ex- post feststellen können. Jedenfalls „bewegen“ sich die Staatsfinanzen: Finanzminister Schäuble stellte im August 2013 fest, dass durch die Finanz- und Euro-Krise die deutsche Staatsverschuldung auf 80 % der Wirtschaftsleistung gewachsen sei. I den kommenden vier Jahren solle sie deutlich kleiner werden. Damals sagte man, dass die Bundesregierung den deutschen Staatschulden-Berg in den kommenden vier Jahren abbauen wolle. „Deutschland stehe an der Schwelle zum Abbau des jahrzehntelang immer weiter gewachsenen Schuldenbergs, Wolfgang Schäuble, FAZ vom 27. August 2013. Ralph Bollmann, FAZ vom 6. Oktober 2014 berichtete: Schuldendebatte: Grüne wollen mehr sparen als Schäuble. „Nachhaltig aus der Schuldenkrise“ – ein Ergebnis einer Expertenkommission aus Ökonomen und Politikberatern. Die zentrale Forderung „für eine finanzpolitische Zeitenwende“: Der Staat soll künftig nicht nur keine neuen Schulden mehr aufnehmen, sondern sogar Kredite zurückzahlen – im Umfang von einem Prozent des Sozialprodukts pro Jahr. Nach derzeitigem Stand entspricht das Mehreinnahmen oder Minderausgaben von rund 27 Milliarden Euro. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels reicht das Einhalten der Schuldenbremse für eine ehrliche und tragfähige Finanzpolitik nicht aus. Das eine Prozent des BIP sei nötig, m den Peak der demografisch bedingten Kostenentwicklung ab 2030 zu bewältigen.

226 Belwe, Reformen des Sozialstaates, APuZ 8-9/2006, Editorial - Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, wozu unter anderem die demographische Entwicklung, die prekäre Situation auf dem Arbeitsmarkt - sowie die ökonomische und politische Globalisierung und politische Neuordnung der Welt und insbesondere Europas durch die Öffnung des Eisernen Vorhangs - zählen, haben sich grundlegend und dynamisch verändert. Der Wandel beeinflusste das gesellschaftliche und politische Leben in Deutschland. Diskussionen zur Reform des Wohlfahrtsstaates sind so alt wie der Wohlfahrtsstaat selbst. Je nach politischer Konjunktur dominieren zumeist Vorschläge zum Aus- oder Abbau sozialstaatlicher Leistungen bzw. zum Nutzen oder den Kosten sozialpolitischer Maßnahmen. Mit dem Ziel, die strukturellen Folgen marktwirtschaftlicher Prozesse sozial abzufedern, entstand der fürsorgende Wohlfahrtsstaat. Zur Risikobegrenzung bzw. -sicherung wurde primär auf den Ausbau von Schutzrechten gesetzt, Dingeldey, Aktivierender Wohlfahrtsstaat und sozialpolitische Steuerung, APuZ 8 – 8/2006, S. 3. Freiheit wurde primär als "Freiheit von materieller Not" verstanden. Den Individuen wurden qua Status (Mitgliedschaft, Bedürftigkeit) Rechtsansprüche auf materielle Leistungen zur Sicherung sozialer Risiken gewährt. Die Sozialpolitik verstand sich als Notfallsicherungspolitik. Die aktive, integrative Teilhabe an den sozialen Sicherungssystemen wurde quasi in den Bürgerstatus aufgenommen und der Sozialbürger geschaffen. Das Staats- und Steuerungsverständnis im fürsorgenden Wohlfahrtsstaat war geprägt von der Vorstellung, dass der Staat uneingeschränkt die Steuerungsfähigkeit der Gesellschaft gewährleistet. Der konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaat in Deutschland rekurrierte allerdings traditionell auf die Beteiligung korporatistischer Akteure (Sozialpartner, Verbände), Dingeldey, Aktivierender Wohlfahrtsstaat und sozialpolitische Steuerung, APuZ 8 – 8/2006, S. 4. Die sozial- und steuerungspolitischen Ziele eines aktivierenden Sozialstaates im Sinne eines Gewährleistungsstaates setzte an der neuen Balance von individuellen Rechten und Pflichten, erhob die Forderung, der verwaltende, Recht setzende und Daseinsvorsorge betreibende Staat müsse seinen Bürgern wieder mehr zutrauen und zumuten an. Es ging um ein neues Steuerungsmodell, das sehr viel mehr Kreativität braucht, Innovationsbereitschaft und den langen Atem vorausschauender, aktivierender Politik. Unter dem Slogan "Fordern und Fördern" als Legitimation wurde die Arbeitsmarktpolitik auf „neue Beine gestellt“. Die Verbindung des aktivierenden Staates und des New Public Management wurde betont. Als Ergänzung zur hoheitlichen Aufgabenerfüllung und zu vertragsrechtlichen Vereinbarungen, die auf der Basis von Verhandlungen entstehen, werden partnerschaftliche Lösungsmodelle angestrebt, vgl. Schwab, Ansätze einer innovativen Kommunalverwaltung, DÖD 1995,S.145ff.Der fürsorgende und der aktivierende Wohlfahrtsstaat unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich des Verständnisses zentraler sozialpolitischer Ziele, sondern auch hinsichtlich der Staats- und Steuerungsvorstellungen. Die konsequente Verfolgung der neuen sozialstaatlichen Ziele der Aktivierung und Befähigung bzw. die damit implizit verbundene Förderung einer Universalisierung der Arbeitsmarktteilhabe erfordert, dass sich der aktivierende Staat als Gewährleistungsstaat konstituiert.

227 Poltisches und persönliches Vertrauen - die Unterschiede: Im politischen Kontext ist klarer, dass es um Macht, Einfluss, um Interessen geht. Das verleitet manche zu er These: Da geht es gar nicht mehr um Vertrauen. Man kann es aber auch umgekehrt sehen: Es wäre falsch, zu denken, dass Macht oder Ungleichheiten im persönlichen Verhältnis keine Rolle spielen. Wir behandeln Vertrauen immer als Kuschelphänomen. Das ist aber ein Irrtum. In der Philosophie hat, das wird gern vergessen, die feministische Forschung begonnen, sich mit Vertrauen zu beschäftigen. Philosophinnen haben angefangen, über ehe, Freundschaft, Familie nachzudenken, und haben sich gefragt, ob Vertrauen in intimen Verhältnissen schlecht sein kann. Die Dimension von Ungleichheit und Macht war von Anfang an enthalten. Ich versuche zu unterscheiden zwischen Vertrauen und Sich-auf-etwas-Verlassen. Alle wollen unser Vertrauen: die Politiker, die Banken, die Parteien. Dabei muss ich meiner Bank zum Beispiel gar nicht in einem umfassenden Sinne vertrauen. Ich muss mich darauf verlassen können, dass sie mit meinem Geld ordentlich umgeht. Zum Vertrauen gehört auch, dass wir eine Alternative haben. Vertrauen als überschätzte Ressource - brauchen wir gar nicht so viel Vertrauen in die Politik wie wir denken!? Wenn wir an dieser Ressource festhalten wollen, sollten wir mehr darüber nachdenken, was wir konkret davon erwarten. Dann kann auch Vertrauen wieder wachsen. Aber Vertrauen in der Politik bedeutet auch, jemandem Macht zu überlassen und nur sehr bedingt Einfluss darauf nehmen zu können, was er damit macht, das muss man wollen. Wenn wir Politikern vertrauen, vertrauen wir darauf, dass der Politiker tut, was vielen, wenn nicht allen zuträglich ist. Das ist natürlich eine idealisierte Perspektive. Denn eigentlich wissen wir, dass ein Politiker niemals alle Interessen befriedigen kann. Dennoch reden wir lieber vom Gemeinwohl als von Interessen. Deshalb ist der Bundespräsident populärer als ein Parteipolitiker. Wir sind nicht moralischer als früher. Moralische Ansprüche an die Politiker formulieren wir als eine Folge der Personalisierung von Politik. Das Problem ist dabei, dass wir häufig damit überfordert sind, die fachliche Kompetenz von jemandem zu beurteilen, und dann auf Aspekte ausweichen, die uns persönlich zugänglicher sind, wie moralisches Fehlverhalten. Das ist ein Ausweichmanöver. Misstrauen ist nicht das Gegenteil von Vertrauen. Misstrauen ist eine engagierte Haltung. Wer misstraut, will noch etwas, der hat noch Interessen, der will noch etwas durchsetzen. In diesem Sinne kann Vertrauen sogar eine gesunde Portion Misstrauen einschließen. Das Gegenteil von Vertrauen ist Gleichgültigkeit. Das Ende des Misstrauens und des Vertrauens ist gekommen, wenn wir einander nichts mehr zu sagen haben, Vertrauen wird überschätzt, Martin Hartmann, Die Zeit, Nr. 34 vom 14. August 2014, S. 2.

228 Das - gegenwärtige - Eurokrisenproblem ist kein Problem auf individueller, einzelwirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher wie auch auf politischer Ebene. Und es hat ganz zentral mit dem Thema des Bequemen und der Bequemen zu tun - derer, die zu bequem sind, ihr System zu hinterfragen und infrage zu stellen. Und derer, die um des eigenen Vorteils und der eigenen Karriere willen nur allzu gern bereit sind, sich zu Sklaven des Systems zu machen oder machen zu lassen. Doch derartige Verhaltensweisen sind selbstverständlich nicht neu. Das nachhaltige Funktionieren unserer Demokratie hat zweifelsfrei auch materielle Voraussetzungen. Eine kollabierende Wirtschaft und ein Verlust jeglichen Vertrauens in Bankensystem und Wirtschaftsordnung bliebe nicht ohne massive Folgen für Gesellschaft und Staat. Die Geschichte hat uns viele Male gezeigt, was unerwartete Armut und massenhaftes Leid nach sich ziehen können. Die Demokratien Europas haben ihre bisherige Stabilität vor allem auf relativem Wachstum und Wohlstand aufgebaut. Und obwohl der Euro noch leben, möge Fernsehbilder eine kleine Vorstellung davon vermitteln, wie explosiv unkontrollierte Emotionen und berechtigte Desillusion noch werden könnten, Lutz Claassen, Unbequem-konsequent erfolgreicher als andere, 2013, S. 104.

229 Eine Weile stand die Entstaatlichung der Gesellschaft, das tiefere Anliegen der Achtundsechziger, tatsächlich auf der Tagesordnung. Hans Magnus Enzensberger feierte das "Zurückwachsen der Politik´ in die Gesellschaft". Ulrich Beck förderte unter einem gewaltigen Berg von Hauptwörtern folgende Einsicht zutage: " Die politische Modernisierung entmachtet, entgrenzt die Politik und politisiert die Gesellschaft - oder genauer: stattet die so ermöglichten und allmählich entstandenen Zentren und Handlungsfelder der Subpolitik mit Chancen der außerparlamentarischen Mit- und Gegenkontrolle aus". Das war der hüftsteife Stil der Zeit. Es fällt auf, dass die Generation der Leichtfüßigen eine Schreibweise pflegte, die so elegant daherkam wie eine Ballerina in Gummistiefeln. Einer Generation, die so mit ihrer Sprache und damit dem Verständnis umgeht, sollte man eigentlich nicht trauen. Wer seine Botschaft bewusst hermetisch wegschließt, hat etwas zu verbergen. Bei den Vierzigern waren es damals vermutlich die Ahnung, das Wirkliche ist allein das Mögliche, das Aktuelle stets richtig und damit verbunden die noch geheime Hoffnung auf eine bürgerliche Karriere, Kuntze, S. 43.

230 Ökonomisch ist nur weniges rentabler als eine gute revolutionäre Idee. Innovationsintensität ist per se wirtschaftlich lohnenswert, und umso mehr noch, wenn sie zu einem "vision change" oder "mission change“, also einer Evolution oder Revolution unseres Geschäftsmodells führt. Und für das Geschäftsmodell unseres persönlichen Lebens kann dies auch gelten - die veränderte Mission als ertragsreicher Schritt. Jede starke, hierarchische, aufbau- und ablauforganisatorisch stark gegliederte und stark formalisierte Organisation zieht nach sich, dass sich das Individuum mehr und mehr der Organisation anpasst und mehr und mehr zum Teil der Organisation wird, auch im Denken und in den Verhaltensweisen. Wer unbequem erfolgreich sein will, muss sich ungeachtet der organisatorischen Härte und Disziplin, innerhalb derer er sich gegebenenfalls bewegen muss, in jedem Fall die Fähigkeit zur Individualität, zur Nachdenklichkeit und zum Bewahren und Ausdrücken einer eigenen Meinung erhalten, auch wenn dies auf den ersten Blick nicht systemkonform erscheint. Man muss so lange das Richtige sagen, bis die Richtigen zuhören. Und zwar vollkommen unabhängig von den Rahmenbedingungen, Utz Claassen, Unbequem - konsequent erfolgreicher als andere, 2013, S. 101.

231 Zu der nostalgischen Zukunftsblindheit kommt ein Phänomen, das die "Kognitions-Psychologie"-"availability bias" Verfügbarkeitsverzerrung nennt. Dieser Effekt sorgt dafür, dass wir regelmäßig Risiken mit Wahrscheinlichkeiten durcheinanderbringen - und gesellschaftliche Probleme verzerrt wahrnehmen. Mobbing. Burnout. Soziale Kälte. Rentenarmut. Demografische Katastrophe. In all diesen Begriffen spiele die impliziten Bilder eine gewichtige Rolle. Bei "demografische Katastrophe" sehen wir vor unserem inneren Auge hilflose Menschen, die in Altenheimen dahindämmern. Bei "sozialer Kälte" wähnen wir uns einsam und verlassen mit Bettelhut am Bahnhof - ein Bild, das wir vielleicht auf dem Nachhauseweg aufgeschnappt haben, Horx, Zukunftsblindheit, S. 56

232 Jeder Mensch ist, wie Parsons sagt, primär an der Wahrung einer Form von „Selbstachtung“ interessiert, die auf die Anerkennung durch ihrerseits anerkannte Interaktionspartner angewiesen ist. Insofern ist es „einer der schlimmsten Schläge“ für jeden Einzelnen, „die Achtung von Menschen zu verlieren, deren Achtung man erwartet“. In dieser Perspektive wird davon ausgegangen, dass nicht nur die individuellen Mitglieder, sondern auch die wesentlichen Institutionen von Gesellschaften auf Praktiken und Ordnungen intersubjektiver Anerkennung angewiesen sind. Damit können soziale Sphären immer auch als Anerkennungsverhältnisse betrachtet werden, in denen wir uns nicht bewegen und verhalten können, ohne implizit auf das jeweils institutionalisierte Anerkennungsprinzip zurückzugreifen. Im täglichen sozialen Austausch entfaltet sich bereits eine zwischenmenschliche Ebene der Anerkennung, auch wenn die volle Bedeutung des Konzepts dabei noch nicht zur Geltung kommt. Anerkennung bezeichnet in dieser gesellschaftlichen Praxis den Akt, in dem „zum Ausdruck kommt, dass die andere Person Geltung besitzen soll [und] die Quelle von legitimen Ansprüchen ist“. Die Mitglieder des Gemeinwesens erkennen sich als gleichwertige Rechtspersonen an. In der Rechtsgemeinschaft „wird der Mensch als vernünftiges Wesen, als frei, als Person anerkannt und behandelt; und der Einzelne seinerseits macht sich dieser Anerkennung dadurch würdig, dass er (…) gegen andere sich auf eine allgemein gültige Weise benimmt, sie als das anerkennt, wofür er selber gelten will – als frei, als Person“. Die moralische Legitimität des modernen Rechts hängt von der Zustimmungsfähigkeit derjenigen ab, die in seinem Geltungsbereich leben, was wiederum voraussetzt, dass die Mitglieder des Gemeinwesens als moralisch urteilsfähige Menschen angesehen werden, so ausdrücklich Honneth, Verwilderungen - Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert, APuZ 1-2/2011, S. 39. Das positive Selbstverhältnis, das dem Individuum aus der Anerkennung in der Rechtssphäre erwachsen soll, ist das der Selbstachtung, die daraus hervorgeht, das eigene Handeln als Ausdruck individueller Autonomie verstehen zu können. Von einer Situation, in der eine „Grundversorgung“ größter Teile der Bevölkerung mit institutionell vermittelter Anerkennung aus den Quellen persönlicher Fürsorge, rechtlicher Bestätigung und leistungsbezogener Achtung als gesichert angesehen werden könnte, hat sich die spätkapitalistische Gesellschaft denkbar weit entfernt: Ein wachsender Kreis von Personen hat kaum Zugang zum Rechtssystem der Postmoderne oder zur Wirtschaftssphäre. Eine gewachsene Gruppe von Gesellschaftsmitgliedern, bestehend vor allem aus prekarisiert Beschäftigten ist im Streben nach Selbstachtung durch die Gesellschaft zurückgeworfen worden und enttäuscht, vgl. Honneth, Verwilderungen - Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert, APuZ 1-2011, S. 44. Die gesellschaftliche Arbeit selbst hat in den wenig qualifizierten Bereichen infolge von Prozessen der Deregulierung und Entberuflichung ihren Charakter als vertraglich abgesicherte, verlässliche Einkommensquelle weitgehend verloren. Soziale Konflikte entstehen dort, wo Menschen glauben, in Ansprüchen benachteiligt oder beschnitten zu werden, die sie im Lichte von allgemein akzeptierten Prinzipien für gerechtfertigt halten. Auf der Grundlage ihrer eigenen normativen Prinzipien kann so in der Gesellschaft eine soziale Dynamik entfacht werden, die auf die Verwirklichung eines in ihr selbst angelegten Potenzials auf moralischen Fortschritt drängt, Honneth, Verwilderungen - Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert, S. 43.

233 Der Demokratiewandel in den westlichen Gesellschaften ist augenfällig - aber wohin geht die Reise? Mehr denn je ist von Inklusion, Teilhabe, selbstbestimmten Menschen, freier Entscheidung und Empowerment die Rede. Es wirkt gerade so, als hätten sich die Entscheidungsträger die Werte und Forderungen der Neuen Sozialen Bewegungen nach einer Politik derart zu Eigen gemacht, sie es sich diese selbst nie hätten träumen lassen. Das deutet kaum auf ein Ende der Demokratie hin, sehr wohl aber auf einen Wandel ihrer Form. Weit verbreitet ist der Zugang über die Kritik am Neoliberalismus. Dieser Erklärungsansatz geht von folgenden Thesen aus: Erstens sei die inzwischen hegemoniale Ideologie des Neoliberalismus das Bindeglied zwischen den Phänomenen, die unter dem Begriff Postdemokratie zusammengefasst werden. Er sei ein Elitenprojekt und diese Denkrichtung stehe auch hinter dem neo-demokratischen und neo-sozialen Diskurs, der als Strategie einer aktivierenden Politik darauf abzielt, etliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die zuvor beim Staat lagen, auf private Akteure, zivilgesellschaftliche Gruppen und vor allem auf Einzelpersonen zu übertragen. Der Begriff der Postpolitik stellt nicht das unerfüllbare Ideal der Volkssouveränität nach vorne, sondern den Begriff des Politischen als das Verhandel- und Entscheidbare. Dessen Gegenpol bildet das Vorgegebene, Unabänderliche und Alternativlose. Demokratie wird hier nicht zuerst als die Feststellung und Verwirklichung eines volonte generale verstanden, sondern als der dauerhafte Widerstreit zwischen pluralen, nicht ineinander auflösbaren Wertpositionen. Hatten vielfältige Demokratisierungsbewegungen das Politische - also das Verhandel- und Entscheidbare zunächst schrittweise erweitert, so ist für die Postpolitik die neuerliche Herrschaft von unverhandelbaren Imperativen kennzeichnend, die den Bereich des Politischen wieder beschneiden. Weiter zentrale Merkmale sind verringerte grundlegende ideologische Differenzen und konsensorientierte Verfahren der öffentlichen Verwaltung. Noch deutlicher wird die positive Konnotation im Diskurs der Entpolitisierung. Dieser setzt den Akzent weder auf die Norm der Volkssouveränität, noch auf das Politische, sondern zuvorderst auf den Policy-Prozess. Freilich wohnt oft auch diesem Begriff eine Kritik an den Machteliten und deren Strategien der politischen Demobilisierung inne. Doch zumindest in den modernen Verwaltungswissenschaften bezeichnet der Begriff Verfahren, mit denen die Transparenz, Effektivität und Legitimität des Policy-Prozesses erhöht werden soll. Die modernistische Norm des autonomen Subjekts ist die Zentralkategorie der Demokratie. Das demokratische Projekt gründet auf der Vorstellung und zielt darauf ab, diese Norm zu verwirklichen. Weil die Idee des autonomen Subjekts nicht nur die zentrale Referenznorm der Demokratie, sondern auch der Moderne überhaupt ist, wurde Modernisierung stets auch als die schrittweise Verwirklichung dieser Norm und als demokratische Entfaltung verstanden. Nun blieb aber dieses Ideal des autonomen und identitären Subjekts, dieses normative Herzstück sowohl der Moderne als auch der Demokratie, vom Prozess der fortschreitenden Modernisierung nicht selbst unberührt. Modernisierung bedeutete nicht nur, die für sich selbst unveränderliche Norm schrittweise durchzusetzen, sondern diese auch nach und nach weiterzuentwickeln. Besonders wichtig im gegenwärtigen Zusammenhang ist das veränderte Verhältnis zwischen den vorherrschenden Vorstellungen von Subjektivität und dem Markt in modernen Konsumgesellschaften. Die der Modernisierung inhärente Logik der Differenzierung und Beschleunigung hat die Norm der unitären, in sich schlüssigen und stabilen Identität fragmentiert und dynamisiert. Unter den Bedingungen der heutigen Gesellschaft ist ein identitäres Selbstverständnis im Sinne der bürgerlichen Tradition lebenspraktisch kontraproduktiv: Der Arbeitsmarkt, der berufliche Erfolg und das Management des privaten Lebens erfordern Flexibilität, Vielseitigkeit, Innovationsbereitschaft und Außenorientierung. Die von den sozialen Bewegungen noch emphatisch eingeforderte Idealvorstellung des identitären Subjekts ist mit all ihren Implikationen von Konsequenz, Selbstdisziplin, Prinzipientreue und Innerlichkeit zur Belastung geworden. Sie beschneidet die Handlungsoptionen und die Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und Selbsterfahrung. Daher hat gerade in zukunftsorientierten Teilen der Gesellschaft das traditionelle, identitäre Subjekt an normativem Gewicht verloren, während das komplexe, flüchtige, für Widersprüchlichkeiten offene Selbst zur neuen lebensweltlich begründeten Referenznorm geworden ist. Die flüchtige Moderne erhebt die Zerstreuung des Subjekts, die Blockade der Sammlung, die Verhinderung des Zu-sich-selbst-Kommens, gerade zum Programm. Man kann angesichts sich neu eröffnender Freiheiten und Möglichkeiten von einer Emanzipation aus zu eng gewordenen Zwängen sprechen. Für die Demokratie bedeutet dieser Wandel von Verständnissen der Subjektivität und Mustern der Selbstverwirklichung eine erhebliche Herausforderung. Denn die traditionelle Form von demokratischer Partizipation, Repräsentation oder Legitimation beruhten fest auf der Vorstellung des Bürgers als Subjekt klar definierbarer, in sich konsistenter und relativ stabiler Werte, Bedürfnissen und Interessen, die sinnvoll politisch artikuliert, organisiert und repräsentiert werden können, Blühdorn, Das Paradox der Postdemokratie, Berliner Republik 5/2014.

234 Kompetenzentwicklung in der Arbeitswelt als wichtige Voraussetzung für die nachhaltige Entfaltung persönlicher und organisationaler Kreativität setzt die Existenz oder die Implementierung geeigneter betrieblicher Rahmenbedingungen und die Möglichkeit zur freien, schöpferischen Gestaltung von Handlungsspielräumen voraus. Entwicklung und Innovation machen es notwendig, dass geeignetes Lernpotential bereitgestellt wird, Das gelingt im Rahmen einer kompetenzbasierten, anforderungsorientierten Lernkultur besonders. Die praktische Erfahrung, das Lernen integriert in den Arbeitsalltag kann als zentraler Hebelarm funktionale Wirkung entfalten. Eine innovationsfördernde Arbeitskultur muss kompetenzbasiert aufgebaut sein; kompetenzbasierte Lern- und Betriebskultur kann innovationsfördernd wirken. Innovationen sind drastische technische und sozial-ökonomische Neuerungen, neue Erkenntnisse. Innovationen setzen Entdeckungen, das Generieren neuer Erkenntnisse und Erfindungen voraus, die menschliche Bedürfnisse und soziale Zusammenhänge erklären, verändern und gestalten. Entdecken ist dabei auf Verstehen, Erfinden und Nutzen gerichtet. Erst durch die soziale Akzeptanz der Neuheit und ihrer "ökonomischen Rentabilisierung" Umwelt- und Wettbewerbsfähigkeit können Innovationen gesellschaftlich bedeutsame Fortschritte verbuchen. Schwab, Innovationen – Vorsorge und Verantwortung – Gedanken, ODWW 2014, Artikel 614 – „Freiheit ist das Lebensgesetz unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft. Nur in Freiheit kann der Mensch schöpferisch sein. Es ist eine Freiheit in und zur Verantwortung. Dafür bedarf es einer Ordnung“, Angela Merkel. Rede Bundeskanzlerin Merkel vor dem Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika Di, 03.11.2009. Innovationen sind Neuerungen von einer Bedeutsamkeit bzw. Dauerhaftigkeit, die in der Art der Lösung eines bekannten, aber auch in der Entdeckung eines neuen Problems und dessen Lösung bestehen und häufig das Ziel wirtschaftlicher Verwertung sowie gegebenenfalls der Sicherung von Wettbewerbsvorteilen am Markt verfolgen.2 Technikorientierte (technologische) Innovationen verändern das soziale Zusammenleben. Innovationen erschließen die Zukunft durch Realisierung bislang unbekannter technischer und sozialer Entwicklungspotentiale. Sie eröffnen neue Chancen beinhalten aber auch unbekannte Risiken. Die Entwicklung neuer, basisinnovativer Technologien verändert direkt und über soziale, ökologische und ökonomische Folgewirkungen die gegenwärtigen Verhältnisse. Veränderungen müssen Rücksicht nehmen auf individuelle Interessen und Belange des Gemeinwohls. In Sorge um die Gemeinwohlverträglichkeit von Innovationen begleitet die Rechtsordnung verantwortungsvoll (Innovationsverantwortung) die innovationsorientierten Veränderungen. Dem Gemeinwohl verpflichtet und auf Erwartungssicherheit gerichtet garantiert sie Rechtssicherheit in einem spontandynamisch und damit nur bedingt prognostizierbaren Prozess. Der Gesetzgeber normiert die Kriterien für den Bau und Betrieb, die Nutzung und Verbreitung innovativer Anlagen und Gegenstände. Er legt die Zulassungs- bzw. Genehmigungsvoraussetzungen fest, konkretisiert und realisiert damit öffentliche Interessen. Der Schutz der Umwelt verlangt, dass mittels geeigneter Maßnahmen der Lenkung und Kontrolle bestehende Umweltbelastungen und -verschmutzungen reduziert und zukünftige vermieden werden. Die Verpflichtung zur Erhaltung der Umwelt konstituiert als ökologischer Bestandsschutz ein Verschlechterungsverbot mit dem Ziel, die Umwelt grundsätzlich nicht zu verbrauchen oder zu zerstör Die drohende Klimaschutzkatastrophe fordert eine ökologische Konversion, ein verantwortungsbewusstes Nachdenken über Risiken, Bedrohungen und Unsicherheiten, schlicht eine zukunftsorientierte planetare Verantwortung. Im Begriff des Risikos drückt sich der Umgang mit der Ungewissheit aus, in der Wissen und Nichtwissen zusammentreffen. Diese wird durch ein Mehr an Wissen nicht überwunden. Es bleiben Unsicherheiten über die Kontrollierbarkeit und Kompensierbarkeit industriell erzeugter Unsicherheiten und Gefahren. Erst die Bereitschaft, aktuelles Wissen mit praktischer Erfahrung zu verknüpfen bewirkt innovatorische Kompetenz. Die Rahmenbedingungen hierfür sind flexibilisierte funktionale Organisationsstrukturen zwischen Wirtschaft und Bildung; Bildung ist ein Baustein für die Eröffnung von Beschäftigungschancen und Gestaltung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Bildung begründet Hoffnung und sichert den wirtschaftlichen Erfolg. Wir sprechen in dem Zusammenhang von engagierten gut ausgebildeten Mitarbeiterinnen als wert volle Ressource der unternehmerischen Wertschöpfungskette. Es sind individualistische, manchmal auch relativ querdenkende, disruptiv agierende Menschen, die notwendige wirtschaftliche Kenntnisse mit Phantasie und Kreativität sowie mit persönlichem Engagement verbinden. "Wissen ist der grundlegende Rohstoff" und Kreativität das geeignete, funktionale Werkzeug, diesen Rohstoff in ein zukunftsorientiertes Produkt zu verwandeln. Kreativität ist die Grundlage, der Baustein für zukunftsorientierte Strategien der Arbeitsgesellschaft und ein gelingendes, gemeinschaftliches Miteinander; natürlich auch für das erhoffte wirtschaftliche Wachstum. Kreativität ist die Option auf die Zukunft. - Es ist Wette und Spekulation in einer zunehmend deindustrialisierten Gesellschaft. Hoffnungen fließen in die politischen Zauberwörter der Gegenwart, etwa dasjenige von der "Kreativindustrie" Kreativindustrie ruft einen gewaltigen Horizont auf. Ein Land ohne natürlichen Ressourcen mit seinen sozialpolitischen Ambitionen und sozialstaatlichen Absicherungen, die Ansprüche begründen, ein menschenwürdiges und sozialgerechtes Leben ohne Existenzangst versprechen (Gerechtigkeit ist dabei mehr als Armenfürsorge), kann es nur mit den besten, originellsten Köpfen schaffen, im Globalen durch Ideen und Innovationen zu bestehen. Hinter dem Glauben an eine unberechenbare, überraschende und plötzlich eintretende Zukunft, Schmidt, Die Weltstadt der Kreativität, Die Zeit vom 4. September 2014, steht die wirtschaftstheoretische Arbeit von Harvard-Ökonom Clayton Christensen, der das Phänomen der disruptiven Erneuerung 1997 in seinem Buch "The Innovators Dilemma" beschrieben hat. Kreativ ist das was den Gang der Dinge unterbricht, mit neuen Produkten neue Märkte erschließt. Der Gedanke der Disruption ist die Zuspitzung der etwaigen Unberechenbarkeit wirtschaftlicher Prozesse, will sagen: Es gibt gar nichts außer Unberechenbarkeit. Die Angst und der Wille, vielleicht auch die vom erwarteten Erfolg getragene Hoffnung wird als "Veränderungsmechanismus" nutzbar gemacht. Disruptive Qualitätszirkelarbeit oder "Treffpunkte I" - Ideenmanagement als "geordnete Unordnung". Die disruptive Evolution gibt sich nicht mit altbewährtem guten zufrieden, sie fordert und fördert Innovationen als Treibstoff der modernen Wachstumswirtschaft. Wirtschaft ist ein soziales und kulturelles Phänomen, Knauß, Innovationen sind nicht zerstörerisch, Die Zeit vom 9. Juli 2014, das von Erneuerungen profitiert,

235 Bildungsinvestitionen in frühkindliche Förderangebote erhöhen die Selbstproduktivität von Fähigkeiten. Die in sehr jungem Alter erlangten Fähigkeiten sind häufig die profitablen, renditefähigen Voraussetzungen dafür, dass ein Mensch seine Fähigkeiten mit zunehmendem Alter ausbauen kann. Wenn aber diese Chance leichtfertig verpasst wird, sind die Entwicklungsmöglichkeiten vieler Menschen sehr viel beschränkter. Die hoffnungsvolle Rendite für die Gesellschaft niedrige, frei nach Fratzscher, Die Deutschland -Illusion, 2014, S. 94.

236 Komplexität ist das Produkt von Konnektivität. Ein Slum ist ein extrem dichtes Netzwerk, in dem sich Menschen, die vorher in Peripherien lebten, etwas als selbstversorgende Kleinbauern in der Provinz, auf einer neuen Ebene zu ökonomischen und kommunikativen Systemen verbinden. Ein Wald ist ein Netzwerk, in dem die unterschiedlichsten Querverbindungen zwischen Organismen existieren, Diese Verbindungen sind so komplex, dass ein Schub von Radioaktivität eher zu einem Aufblühen als zu einem Absterben führt. Das ganze System verändert sich dabei zwar, aber eher im Sinne einer Verschiebung. Der Wald macht einfach in einer anderen Richtung weiter. So funktioniert Evolution generell. Sie nutzt Störungen um einfach in einer anderen Richtung weiterzumachen. Eine Gesellschaft ist ein Netzwerk, in dem sich bestimmte Interaktionen dämpfen oder priorisieren lassen. das Mittel dazu ist Macht. Man kann zum Beispiel Selbstorganisation und Differenzierung im Markt unterbinden. Und allen gleiche Löhne zahlen. Man kann Brot, Reis und sogar Alkohol zentral verteilen. Kommunikation kontrollieren und viele Polizisten auf die Straße schicken. Dann hat man Kuba. Aber eine Gesellschaft ist immer rein vitales, dynamisches System. Sie wird immer Ausgleichsformen der Selbstorganisation, Varianten der Emergenz entwickeln. wenn wir Systeme - Netzwerke - in die Zukunft verstehen wollen, müssen wir zunächst ihre einzelnen Elemente und deren Eigenschaften analysieren. Ihre Aktoren wie die Zellen in einem Organismus, die Menschen in einer Gesellschaft, die Arten oder Individuen in einem Biotop. Dann müssen wir die Konnektome begreifen, die Vernetzungsmuster, Interaktionen, Rückkoppelungen. Je mehr aktive oder latente Rückkoppelungen in einem System existieren, desto höher der Grad der Emergenz, der spontanen Selbstorganisation. Matthias Horx, Zukunft wagen, 2013, S. 234.

237 In der Tat deuten viele Indikatoren darauf hin, dass die Ungleichheit in Deutschland in zentralen sozialen und wirtschaftlichen Aspekten über die letzten beiden Jahrzehnte gestiegen ist. Nicht nur die Löhne und deren Kaufkraft stagnierten in den letzten 15 Jahren, auch Löhne und Einkommen haben sich stark auseinanderentwickelt. Die verfüg baren Einkommen der Haushalt sind in den letzten 15 Jahren nicht nur gesunken, sondern heute auch deutlich ungleicher verteilt, als noch in den 1990er Jahren. Die Einkommensschere hat sich also deutlich geöffnet, so Marcel Fratzscher, Die Deutschland-Illusion, 2014, S. 31f. Das fehlende oder niedrige Vermögen einer großen Anzahl von Deutschen bedeutet, dass das Risiko der Altersarmut in den kommenden Jahrzehnten deutlich zunehmen wird. Mit den Reformen der Alterssicherung zu Beginn der 2000er Jahren wurden zwar Weichen für eine stärkere Verlagerung der Alterssicherung hin zur privaten Vorsorge betrieben, Geringverdiener haben aber selten eine "Riester-Rente" abgeschlossen. Viele Studien über Glück und Lebenszufriedenheit zeigen, dass Menschen nicht auf hohe Einkommen angewiesen sind um zufrieden zu sein. Ein zentraler Punkt sind nicht die ökonomischen Faktoren. Die Zufriedenheit bedingen beispielsweise intakte Familien, sicher der unsichere Lebensbedingungen, politische oder soziale Konflikte sowie die Umwelt. Eine wichtige Rolle spielt auch, ob ein Mensch am sozialen Leben seiner Gesellschaft teilnehmen kann. Erzielt jemand ein Einkommen, das er nicht aktiv am öffentlichen Leben teilhaben kann, reduziert diese soziale, funktional gemeinschaftsbezogene Ausgrenzung seine Lebensqualität, Marcel Fratzscher, Die Deutschland-Illusion, 2014, S. 37. Ein hohes Maß an Einkommensungleichheit spiegelt häufig eine ungleiche Chancenverteilung wieder. Chancengleichheit bedeutet, dass Arbeitnehmer unabhängig von ihrer sozialen Herkunft die Chance auf einen wirtschaftlichen Aufstieg haben, sich durch gute Qualifikation, harte und zielstrebige Arbeit und intrinsische Fähigkeiten verbessern und höhere Einkommen erzielen kann. Eine (vertikale) Mobilität ist von fundamentaler Bedeutung für eine funktionierende Marktwirtschaft. Sie verdeutlicht, dass Arbeit und Leistung sich lohnen und den Menschen Chancen eröffnen, sich besser zu stellen, vgl. Marcel Fratzscher, Die Deutschland-Illusion, 2014, S. 38.

238 Gesetzgeberische Eingriffe zur Erschließung ökonomisch vertretbarer Beschäftigungsmöglichkeiten beschränken sich auf Einzelregelungen, die rechtssystematisch nur sehr schwer eine koordinierende Linie erkennen lassen und das Individualarbeitsrecht verwüsten. Stichwortartig seien sie hier genannt: Die Befristung von Arbeitsverträgen verhindert den Kündigungsschutz. Soll dies in Grenzen gehalten werden, so bedarf sie, wie die Rechtsprechung erkannt hat, eines Sachgrundes. Das Teilzeit- und Befristungsgesetz hat dies in wenig praktikabler Gestaltung in § 14 als Grundsatz festgeschrieben, und zwar auch für den Fall, dass ein Zeitvertrag den gesetzlichen Kündigungsschutz gar nicht umgeht, weil ein auf unbestimmte Zeit geschlossener Arbeitsvertrag nicht unter dessen Geltung fiele. Zugleich hat das Gesetz – unter Nutzung europarechtlicher Vorgaben durch § 14 Abs. 2 TzBfG eine Befristung ohne Sachgrund gestattet, wobei zeitliche Grenzen einzuhalten sind, die den Erwerb des allgemeinen Kündigungsschutzes übersteigen. Mängel der Gesetzgebung treten für die Praxis vor allem dann in Erscheinung, wenn die Rechtsprechung tätig wird. Grundbedingung einer freiheitlichen Verfassung ist aber die Verlässlichkeit der Rechtsordnung. Vertrauen ist die Grundlage mitmenschlicher Begegnung, also auch des Rechts, Kirchhof, Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStJG 27 (2004), S. 1. Der Mensch vertraut nur einem Recht, dass ihm vertraut ist. Durch die gerichtliche Fallentscheidung tritt in Erscheinung, wie das positive Recht sich im konkreten Fall auswirkt, vgl. Richardi, Arbeitsgesetzgebung und Systemgerechtigkeit, NZA 2008, 2. Aufgabe und Funktion der Rechtsprechung im gewaltenteiligen Rechtsstaat ist primär nicht den Auftrag zur Sozialgestaltung, sondern der Rechtsanwendung und verbindlichen Streitentscheidung. Die wichtigste Aufgabe des Gesetzgebers im Rechtsstaat ist es, gesetzliche Normen so weit als möglich rechtssicher, verlässlich und transparent zu gestalten. Transparenz, die Durchsichtigkeit und Erkennbarkeit der Strukturen, das Sehen, Ordnen und Verstehen der Welt und der sozialen und rechtlichen Zusammenhänge, setzt voraus, dass diese Welt "zugänglich ist", das ihre Gegenstände, ihre Strukturen, ihre kulturellen Zusammenhänge und ihre kausalen Abläufe und Wirkungsgeflechte sichtbar werden. Leben in der Welt setzt die Erkennbarkeit dieser Welt voraus, muss eine sichere Orientierung und Verständnis ermöglichen. Der Staat stützt die Freiheit des einzelnen durch rechtliche Gewährleistungen und Rechtsinstitute und stimmt das Verhalten des einzelnen auf gemeinschaftliche Bedürfnisse und auf Anliegen des Gemeinwesens ab, plant und lenkt die Entwicklungen des öffentlichen Lebens und verwirklicht Belange des Gemeinwohls, Kirchhof, Mittel staatlichen Handelns, in Handbuch des Staatsrechts, Bd. 5 § 99, S. 4. Das Recht prägt im Rechtsstaat den Staat und staatliches Handeln. Der Rechtsstaat ist ein durch den rechtlichen Sicherheitsauftrag und durch Freiheitsgarantien für die Bürger geprägter Staat. Das Recht muss durch Einprägsamkeit, Stetigkeit und Vertrautheit kraftvoll den Frieden sichern und bewahren, Kirchhof, S. 4. Der Rechtsstaat handelt stets durch das Recht und legitimiert sich im Recht. Der Rechtsstaat gewährt Sicherheit und Landfrieden. Das Recht dient der Staatseingrenzung und der Staatsabwehr, fordert und begrenzt staatliches Tätig werden. Es drängt den modernen Staat nachdrücklich, nicht nur die Freiheitsinhalte zu gewährleisten und Freiheit anzubieten, sondern auch die Freiheitsvoraussetzungen zu pflegen, Kirchhof, S. 5. Auch der freiheitliche Staat braucht eine rechtssetzende Autorität, ein Rechtssetzungsorgan, das vorgefundenes Recht anerkennt und für verbindlich erklärt, eine gewachsene Rechtskultur in der Rationalität eines sprachlich gefassten Gesetzestextes erfasst in den Erfahrungen der Gegenwart Entscheidungen für das verbindliche Recht der Zukunft trifft. Die Rechtsgemeinschaft pflegt, lockert und erneuert die kulturellen Grundlagen dieser Werteordnung, vertraut auf die Überzeugungskraft dieser erprobten und bewährten Regeln. Das Recht regelt aus der Herkunft in die Zukunft. Nach § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG ist es unzulässig, einen unter den erleichterten Voraussetzungen des Satzes 1 abgeschlossenen befristeten Arbeitsvertrag abzuschließen, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein unbefristetes oder ein befristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat. Der Arbeitgeber hat ein Fragerecht, ob der Arbeitnehmer bereits früher bei ihm beschäftigt war; der Arbeitnehmer muss wahrheitsgemäß antworten (§§ 123, 242 BGB). Im Unterschied zum bisherigen Recht ist der Anschluss einer erleichterten Befristung an eine Befristung mit sachlichem Grund bei demselben Arbeitgeber ausgeschlossen. Ebenso ist eine erneute erleichterte Befristung auch nach mindestens viermonatiger Unterbrechung unzulässig. Befristungsketten, die durch einen mehrfachen Wechsel zwischen Befristungen mit und ohne Sachgrund entstehen, werden damit verhindert. Wie bisher ist es zulässig, einen befristeten Arbeitsvertrag ohne sachlichen Grund mit einem Arbeitnehmer im Anschluss an die Berufsausbildung abzuschließen. Ein Berufsausbildungsverhältnis ist kein Arbeitsverhältnis im Sinne des Absatzes 2 Satz 2. Zulässig bleibt es, an eine erleichterte Befristung einen befristeten Arbeitsvertrag mit sachlichem Grund anzuschließen.

239 Möller, Kohäsion? Integration? Inklusion? Formen und Sphären gesellschaftlicher (Ein-)Bindung. APuZ 13–14/2013, S. 44 - „Was hält die Gesellschaft zusammen?“ wird diesem Interesse auch in Bezug auf die gegenwärtige Gesellschaft Deutschlands in den vergangenen Jahrzehnten vermehrt nachgegangen. Unter den Vorzeichen zunehmender Individualisierung eine gewisse Kohäsion der gesellschaftlichen Akteure unumgänglich, ja notwendig. Kohäsion könnte danach als eine Qualität von Gesellschaft verstanden werden, die auf zwei Ebenen zu sichern ist: Auf der Ebene der Spielräume der Individuen müsste der Zugang zu und die Beteiligung an relevanten gesellschaftlichen Einheiten und damit die Wahrung sozialer Chancen so geregelt werden, dass soziale Beziehungen und Bindungen entstehen, die Wahrnehmungen, Empfindungen, Orientierungen und Handlungen in einer Weise zu prägen vermögen, die soziale Ordnung entstehen lassen; dies zumindest soweit, dass Chaos, hier begriffen als Gegenteil von Ordnung, vermieden wird. 1. Wollen wir gesellschaftliche Kohäsion verstehen (oder gar befördern), kommen wir weder ohne den Integrationsbegriff noch ohne normative Bezugspunkte aus. 2. Das Zustandekommen von sozialen Interdependenzgeflechten zwischen einzelnen (Sub-)Systemen (und damit Kohäsionsfaktoren) ist letztlich nicht hinreichend ohne Bezug auf ein mit Bewusstsein ausgestattetes, bedürftiges und intentional agierendes Subjekt zu verstehen. 3. Gesellschaftliche Integration verläuft in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften nicht primär über die Herstellung von Konsens hinsichtlich spezifischer kultureller Normen, sondern über den Modus symbolischer Integration und damit auch über Konflikte. Sozialintegration lässt sich im Anschluss an Max Weber analytisch in die Dimensionen gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Sozialintegration unterteilen (Abbildung). Während erstere sich schwerpunktmäßig auf gesellschaftliche Mesobereiche bezieht (wie Parteien, Kirchen, Vereinigungen), spielt sich letztere eher in den „kleinen Lebenswelten“ (Benita Luckmann) der Mikrosysteme (wie Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft) ab. Dass Integration in diesen Integrationssphären jeweils etwas anderes bedeutet, liegt auf der Hand. Offenbar geht es vordringlich um drei Dinge: Zugehörigkeit, Teilhabe und Anerkennung. Integriert – auch im Sinne von inkludiert – ist nur jemand, der/die der sozialen Einheit, um die es jeweils geht, objektiv und auch dem eigenen Empfinden nach zugehörig ist. Integrationserwartungen gehen aber über bloße Zugehörigkeit hinaus – von Seiten des Subjekts wie auch letztlich von Seiten der Gesellschaft: Teilhabe im Sinne einer Beteiligung an Ressourcen, Entscheidungen und Kollektivhandlungen wird eingefordert.

240 Es gehört zum Kanon des postmodernen Denkens, dass der mögliche Sinn von Zeichen und Symbolen sich niemals vollständig fixieren lässt. Es ist freilich kein Zufall, dass dies vor allem auf jene Begriffe und Zeichen zutrifft, mit denen wir die Modalitäten unseres politischen Gemeinwesens bezeichnen und damit zugleich gestalten. Der moderne Solidaritätsbegriff entfaltete sich erst ein halbes Jahrhundert später, vor allem unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung, die ihrerseits aus jenen Bruderschaften heraus entstanden war und an deren Erbe sie gewissermaßen anknüpfte. Die moderne Arbeiterschaft gilt einerseits als Erfinderin solidarischer Praktiken und wird andererseits mit einem ganz spezifischen Begriff von Solidarität in Verbindung gebracht: „Die Grundlage der Solidarität der Arbeiterschaft ist ihre soziale Nähe. Die Solidarität von Menschen, die unter vergleichbaren Bedingungen leben, die sich also in verschiedenen Hinsichten „ähnlich“ sind, hat der französische Soziologe Émile Durkheim als „mechanische Solidarität“ bezeichnet, Vgl. weiter Karakayali, Kosmopolitische Solidarität, APuZ 13–14/2013, S. 21

241 Es sind viele Normale (mit Handicap), die im flexiblen Kapitalismus der postfordistischen Ära ins Straucheln geraten, und die damit einhergehende Verwundbarkeit und Entsicherung der gesellschaftlichen Mitte, der die öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwird. Spätestens mit der Agenda 2010 und den Hartz-Reformen der rot-grünen Bundesregierung (1998 bis 2005) war deutlich geworden, dass eine Analyse der sozialpolitischen Reformen als Rückzug des Staates jedoch in die Irre führt: Zu beobachten ist stattdessen ein Wandel der sozialstaatlichen Steuerungslogik, der zufolge (potenzielle) Leistungsempfänger nicht mehr als Träger von Rechten, sondern als zur Eigenverantwortung Verpflichtete und in diesem Sinne zu Aktivierende gelten. Aktivierende Sozial- und Arbeitsmarktpolitik schickt(e) sich an, die vermeintlichen Passivbürger des fordistischen Wohlfahrtsstaats durch „Erziehung zu Marktlichkeit“ zu funktionsfähigen, flexiblen Arbeitsmarktsubjekten des flexibilisierten Kapitalismus zu machen. „Im Zentrum der aktivierungspolitischen wohlfahrtsstaatlichen Programmatik steht der tendenzielle Übergang von der ‚Staatsversorgung‘ zur Selbstsorge, von der öffentlichen zur privaten Sicherheitsverantwortung, vom kollektiven zum individuellen Risikomanagement.“ Der Sozialstaat soll reduziert werden auf die „funktionale Rolle des Ausfallbürgen“. Mit der Entdeckung der jungen Alten war die (Bedeutungs-) Macht der hierarchischen Binarität „jung-alt“ auch innerhalb der erweiterten Normalitätszonen keineswegs gebrochen, wie die Popularität von Anti-Aging-Produkten, die Vermessung von Rentnerinnen und Rentner als „Alterslastquotient“ und die Politik mit Szenarien einer alternden Gesellschaft zeigen. Prägend für diesen Prozess ist, dass mit dem Verweis auf die individuell zu verantwortende Gestaltbarkeit des Alternsprozesses im aktivierenden Sozialstaat die Eigenverantwortung für den lebenslangen Lernprozess und die dauerhafte berufliche Qualifizierung immer wieder betont wurde; die Subjektivierung von Arbeit sollte gesichert werden, weiterführend van Dyk, In guter Gesellschaft? Wandel in den Randzonen des Sozialen, APuZ 13–14/2013, S. 14

242 Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander. Die Kluft zwischen denen, die viel haben, und denen, die am Rande stehen, klafft tief. „Die Lebenswelten von Unter- und Oberschicht fallen immer stärker auseinander“. Eine Gesellschaft, deren oberes Zehntel in einer abgeschotteten Parallelwelt lebt, und deren unteres Zehntel dauerhaft ausgeschlossen ist, droht zu zerfallen. Inzwischen belegen die sozialwissenschaftlichen Kenndaten, dass die Mittelschicht nicht – wie noch vor wenigen Jahren oft berichtet wurde – abstürzt. Dennoch haben gerade die, die nicht von Armut betroffen sind, Angst davor. Und diese Angst prägt ihr Verhalten, vgl. Friedrichs, Die Kluft. Was Deutschland teilt, APuZ 13–14/2013, S. 7.

243 vgl. Öztürk, Ungleichheit, Ungleichwertigkeit – Editorial, APuZ 16-17/2012.

244 Freiheit und Ordnung stehen in einem wechselseitigen Steigerungsverhältnis. Paradox formuliert: je freier, desto abhängiger. Dieses empfindliche Gleichgewicht zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit kann jederzeit in neue Formen freiwilliger Knechtschaft umschlagen. Es gibt nämlich eine dunkle Rückseite jener Paradoxie. Man kann zwar Freiheit nur wahrnehmen, wenn man gesichert ist. Und es ist eine Trivialität, dass Freiheit an ganz profane Bedingungen geknüpft ist: im Wesentlichen an Geld und Bildung. Aber die berechtigte Sorge um die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit hat uns die Freiheit selbst vergessen lassen und ein soziales Gefängnis errichtet, das heute vorsorgender Sozialstaat heißt. Die Angst vor der Freiheit schließt die Menschen ein. Denn nicht Freiheit wollen die meisten, sondern das Glück der Sicherheit und der Bequemlichkeit. Freiheit dagegen ist anstrengend; man muss sie in heller, wacher Lebensführung leisten. Die verwaltete Welt ist deshalb für viele eine Wunscherfüllung. Der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates wird ihnen nicht aufgezwungen, sondern sie begehren ihn auch, denn er entlastet sie von der Bürde der Freiheit. Mit dem Terror seiner Wohltaten rückt uns der vorsorgende Sozialstaat derart auf den Leib, dass die Distanz der Kritik eingezogen wird. Wir haben es dann mit Menschen zu tun, die den Politikern zutiefst misstrauen und zugleich alles vom Staat erwarten. Das bedeutet aber: Nicht die "Politikverdrossenheit" ist das Problem der Massendemokratie, sondern die infantile Haltung der Bürger gegenüber dem Staat. Wohlfahrtsstaatspolitik erzeugt Unmündigkeit, also genau den Geisteszustand, gegen den jede Aufklärung kämpft. Und so wie man Mut braucht, um sich des eigenen Verstandes zu bedienen, so kann man nur mit Stolz das eigene Leben selbständig leben. Für den Wohlfahrtsstaat ist persönlicher Stolz die größte Sünde. Vater Staat will nicht, dass seine Kinder erwachsen werden. Für ihre Daueralimentierung bezahlen die mit ihrer Würde. An die Stelle von Freiheit und Verantwortung treten Gleichheit und Fürsorge. Der demokratische Despotismus ist die Herrschaft der Betreuer, die das Leben der vielen überwachen, sichern und vergnüglich gestalten. Dieser demokratische Despotismus entlastet den Einzelnen vom Ärger des Nachdenkens genauso wie von der Mühe des Lebens. Ein Netz präziser, kleiner Vorschriften liegt über der Existenz eines jeden und macht ihn auch in den einfachsten Angelegenheiten abhängig vom vorsorgenden Sozialstaat. Diese Überregulierung des Alltags verwandelt die Befolgung des Gesetzes aus einem Sollen in ein Gehorchen. An die Stelle bürgerlichen Rechtsbewusstseins ist soziale Kontrolle getreten. Der Wohlfahrtsstaat hat den Bürgern die Freiheit abgekauft, nämlich für das Versprechen der Sicherheit und Gleichheit. In der Tat bringt die fröhliche Sklaverei unter kapitalistischen Bedingungen fast allen einen akzeptablen Lebensstandard und hohe Lebenssicherheit. Der vorsorgende Sozialstaat ist deshalb die Hoheitsverwaltung der Hilflosen. Die moderne Gesellschaft zerfällt nicht mehr in Arbeiter und Kapitalisten, sondern in Betreuer und Betreute. Dabei entwickelt sich auf beiden Seiten eine unheilvolle Eigendynamik. Die Betreuer und Sozialarbeiter haben ein Interesse an der Hilflosigkeit ihrer Klientel, währen diejenigen, die es gelernt haben, sich hilflos zu fühlen, nur noch mit der entlastenden Erklärung ihrer Unfähigkeit beschäftigt sind. Die Krankheit des Verwaltet-werden-Wollens! Auch in modernen Massendemokratien wollen die Menschen natürlich Freiheit. Aber das Freiheitsverlangen tritt immer gemeinsam mit zwei ihm feindlichen Leidenschaften auf: dem Wunsch nach Gleichheit und dem nach Führung. Rasch überlagert dann das Interesse daran, dass es dem anderen nicht besser geht als mir, die Chance, dass es mir selbst gut geht. Der vorsorgende Sozialstaat entzieht seinen Bürgern Freiheiten, um sie zu bessern und vor sich selbst zu schützen. Dieser Paternalismus erscheint denen gerechtfertigt, die glauben, man müsse die Menschen vor der eigenen Willensschwäche schützen. Die Betreuer gehen davon aus, dass tatsächliche Freiheit durch eine beschränkte Wahlfreiheit für Inkompetente ersetzt werden muss. Sie streben eine Sozialvormundschaft im Namen der Mündigkeit an. Je komplexer die gesellschaftliche Lage, desto wichtiger wird ein Sozialdesign, da Bürger und Kunden in die richtige Richtung schubst. Der Paternalismus schützt mich vor Willensschwäche uns Irrationalität. Die Leute, die nicht wissen, was gut für sie ist, brauchen also "Wahl-Helfer" im wortwörtlichen Sinne, kompetente Menschen, die ihre Entscheidungen wohltätig beeinflussen. Der vorsorgende Sozialstaat versteht das Glück als universalisierbaren Wert. Eine schöne Paradoxie: Der Staat betreibt Mitbestimmung bei der Selbstbestimmung des Einzelnen. So wird Politik zum Glückszwangsangebot, vgl. auch Bolz, Die ungeliebte Freiheit, 2010 - Man kann Freiheit nur wahrnehmen, wenn man gesichert ist; aber Bemühungen um Sicherheit gefährden die Freiheit, Bolz, Sozialpolitik - "Die fröhlichen Sklaven", FAZ vom 12. Oktober 2011; Der Wohlfahrtsstaat verkauft dem Bürger Sicherheit und Gleichheit. Der Bürger zahlt mit dem Verlust der Freiheit und flüchtet ins soziale Gefängnis. Die Welt versinkt im Chaos, um u retten, was wir gute Menschen noch nie ernsthaft infrage gestellt haben. Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit sind die Ideale moderner Gesellschaften. Wobei das Prinzip Freiheit unwichtig geworden ist. Umfragen zufolge streben die meisten Bürger der Sozialstaaten, nicht nach Freiheit, sondern nach Sicherheit und Bequemlichkeit. Freiheit ausleben sie stets mühevoll und gehe zulasten Anderer. Ein Mensch, der sich in seiner Freiheit zu entfalten müht, geht Risiken sin und er kann frisch, fröhlich frei von einer Enttäuschung in die nächste fallen. Deshalb haben wir uns schön eingerichtet in unserem Sozialstaat, der uns von der Bürde der Freiheit entlastet. Der Wohlfahrtsstaat verzichtet gern auf freie und selbstverantwortliche Bürger und bevorzugt gleiche Abhängige für die er sorgen kann, Er erzieht den Menschen zum "fröhlichen Sklaven", so Norbert Bolz, FAZ vom Beiswenger, Die Knechtsmoral des Vorsorgenden Sozialstaats, Readers Edition - http://www.readers-edition.de/2011/11/11/die-knechtsmoral-des-vorso...12. Oktober 2011.

245 So Doering, Religion und freiheitlich säkularer Staat, APuZ 13–14/2013, S. 11.

246 Ausgangspunkt jeder modernen Lehre vom Staat und der Strukturierung seiner Macht ist die Trennung der drei Gewalten nach Legislative, Exekutive und Judikative - Montesquieu hatte 1748 die Gewaltenteilung zum Verfassungsgebot erhoben. Die Gerichte sind die Gewalt, die der demokratischen Gesetzgebungsgewalt und der Legislative das Recht streitig macht, jedenfalls die Rechtmäßigkeit von Rechtsnormen und Handeln überprüft, vgl. Hirsch, Im Namen des Volkes: Gesetz – Recht – Gerechtigkeit ZRP 2012, 205, Die Gerichte entscheiden in einem System von check and balances , konkrete Lebenssachverhalte am Recht, befinden darüber was rechtens ist. Der Richter hat vielfältige und unterschiedliche Geschehnisse und Tatsachen unter abstrakt-generelle Normen zu subsumieren. Er "belebt" die toten Buchstaben des Gesetzes und "haucht" ihnen Rechtswirklichkeit ein. Funktionale Ziele der Rechtsfindung ist primär die Anwendung des Gesetzes, deren rationales und zu verwirklichendes Ziel ist vor allem Gerechtigkeit. Der Richter hat die funktionale Aufgabe, die Rechtsnormen auf den Einzelfall anzuwenden und das Recht so zu sprechen, wie es der Gesetzgeber niedergeschrieben hat. Recht ist freilich mehr als die Summe der aufgeschriebenen Paragrafen. Der Zivilisationsgrad einer Gesellschaft und ihre Humanität kommen darin zum Ausdruck, ob sie sich ernsthaft bemüht, „Gesetz“, „Recht“ und „Gerechtigkeit“ weitestgehend zur Deckung zu bringen. Die Idee des Rechts, die Ambitionen der Gerechtigkeit sind es, die das Gesetz legitimiert und der der Richter vorrangig verpflichtet ist. Der Richter muss, das geschriebene Gesetz „nach den Maßstäben der praktischen, rationalen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft“ anwenden. Das Gericht ist gerade auf die Verfassung ausgerichtet, während für die Politik andere Gesichtspunkte im Vordergrund stehen. Das Gericht hat keine politischen Ambitionen. Es muss keine Wahlen gewinnen. Es ist nicht auf Spenden angewiesen, Grimm, Ein Gegengewicht zu den Defiziten demokratischer Parteipolitik - Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Hüter von Gemeinschaftsinteressen und sozialer Gerechtigkeit, ZRP 2000, 74. Das BVerfG hat die Grundrechte stets so verstanden, dass die sozialstaatlich sie sozialstaatlich interpretiert die Freiheit des Einzelnen mit gestalten. Dazu gehört, dass der Einzelne nicht nur die rechtliche Freiheit hat, sondern auch die tatsächliche Chance, von ihr Gebrauch zu machen. Und dazu gehört ferner, dass die individuelle Freiheit auch gegenüber mächtigen gesellschaftlichen Interessen geschützt wird, Grimm, Ein Gegengewicht zu den Defiziten demokratischer Parteipolitik - Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Hüter von Gemeinschaftsinteressen und sozialer Gerechtigkeit, ZRP 2000, 74. Smeddinck, Spähren der Gerechtigkeit - Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, ZRP 2000, 27.

247 Kronenberg, Was hält die Gesellschaft zusammen? Ein Blick zurück nach vorn, APuZ 13-14/2013, S. 3 Die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen, mit denen sich Deutschland heute konfrontiert sieht, sind groß. Während die Zahl der Bürger, die als arm gelten, über Jahre gestiegen ist, verfügt ein prozentual kleiner Anteil der Bevölkerung von zehn Prozent inzwischen über zwei Drittel des Privatvermögens in Deutschland. Angesicht dieser Kluft stellt sich unweigerlich die Frage nach dem inneren Zusammenhalt eines Gemeinwesens, dem einstmals das Etikett der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ angeheftet wurde. Ebenso wird die „demografische Krise“ immer mehr zu einem Brennpunkt. Es droht ein Zustand des demografischen Ungleichgewichts mit immensen sozialen Folgekosten. Schlussendlich geht die Notwendigkeit gesellschaftlichen Zusammenhalts über die nationalen Grenzen hinaus, müssen Fragen von gemeinsamer Identität, von Solidarität und Solidität gerade auch mit Blick auf die Zukunft der Europäischen Union erörtert werden. Die Frage nach dem Einenden steht somit – explizit oder implizit – am Anfang einer jeden Beschäftigung mit den angedeuteten vier Krisenerscheinungen, die jeweils unterschiedlich gelagert und doch – auf einer grundsätzlichen Ebene – eng miteinander verbunden sind. Denn es geht um die Frage des Verhältnisses des Einzelnen zum Gemeinwesen, des „Ich“ zum „Wir“, und, noch grundsätzlicher, um die Frage danach, wer warum zum „Wir“ gehört. Es geht um die Neujustierung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürgergesellschaft, die wiederum keineswegs und unter keinem patriotischen „Deckmäntelchen“ eine Abkehr von fundamentalen Prinzipien des Sozialstaats oder gar dessen Rückbau zum Nachtwächterstaat bedeuten darf. Gewiss geht es dabei jedoch um die Beantwortung der schwierigen Frage, welche Leistung in welchem Maße und verbunden mit welchen Kosten künftig der Staat (allein oder im transnationalen Verbund) erbringen kann, soll oder muss und welche Aufgaben in welchem Umfang und verbunden mit welcher öffentlichen Anerkennung womöglich ebenso gut, wenn nicht besser, in bürgerschaftlicher Selbstverantwortung erbracht werden können. Eine schrumpfende und älter werdende Gesellschaft kann deren Beantwortung auf Dauer nicht ausweichen und muss ihrerseits versuchen, überzeugende Gründe zu finden, warum der Weg in die jeweils gewählte Richtung eingeschlagen wird. Die Beantwortung wird nicht allein – wenngleich wesentlich – unter monetären oder gar utilitaristischen Aspekten erfolgen, sondern auch unter Gesichtspunkten, die sich der Arithmetik von finanziellem Gewinn und Verlust entziehen. Warum erleben nachbarschaftliche Selbsthilfegruppen oder auch kirchliche Sozialeinrichtungen einen solchen Zulauf, wie seit einiger Zeit zu verzeichnen ist? Ohne Karitas, ohne Solidarität, Gemeinsinn und Gemeinwohlhandeln, ohne Patriotismus eines wohlverstandenen Eigennutzes, wie Alexis de Tocqueville ihn bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in seinem Buch „Über die Demokratie in Amerika“ beobachtet und analysiert hat, ist dies nicht zu verstehen. Das Verhältnis von realer Freiheit und nachhaltiger Bindung, von Freiheit und wahrhafter Solidarität, von Versicherung und stetigem „fast blinden“ Vertrauen muss human gestaltet werden.

248 vgl. näher Decker, Die Europäische Union auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie? APuZ 38–39/2014, S. 3.

249 Die Fortbildung des Rechts durch die Gerichte ist ein wesentliches Element der Rechtsordnung. Die Arbeit am Gesetz obliegt dem Gesetzgeber, den Gerichten und den Rechtsanwendern; Gesetze sind nicht statisch, sondern müssen fortwährend den jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten angepasst werden.(Weber-Grellet)

250 Der soziale Rechtsstaat ist im Hinblick auf den konstitutiven methodischen Individualismus aus der Idee der persönlichen Freiheit abgeleitet. Auch der als sozialstaatliche Leistung subsidiäre, unabdingbare Anspruch auf Existenzsicherung ist ein subjektivrechtlicher Ankerpunkt eines Staatsstrukturprinzips im Grundrechtssystem. Der Verfassungsstaat findet seinen eigentlichen Logos in der Einheitsherstellung durch konstitutive, dem Recht zugänglichen Entscheidungen. Der Staat ist nicht nur die Resultante von grundrechtlichen Abwägungen, di Fabio, Leitidee der Grundrechte, S. 40. Die Grundrechte begrenzen auch den demokratischen Staat. Eine staatsfreie Zivilgesellschaft der alltäglichen Nähe und der staatsfreien Existenzsicherung kann nicht funktionieren. Der sektoral begrenzte Staat ist eine "societas perfecta", wenn und soweit er Vollkommenheit als offene und wirksame Entfaltungsordnung und nicht als politisch herbei regulierten Gesellschaftszustand mit einem neuen Menschen jenseits von Gier und Egoismus begreift. Sektoraler Staat ist keine überkommene Begriffsbildung ohne aktuellen Wert, ebenso wie die Demokratisierung der Gesellschaft nur Zustimmung verdient. Hinter der Demokratisierung der Gesellschaft lauert für den Freiheitskern der Grundrechte eine Bedrohung, weil mit jeder Verrechtlichung und mit jedem Leistungsgesetz politische Herrschaft mit überlegenen Gewaltmitteln die Arena betritt. Es wurde von partizipativer Verfahrensgestaltung geredet, wo die freiheitliche Gesellschaft verabschiedet wurde, di Fabio, Leitidee der Grundrechte, in Mellinghoff/Puhl (Hg.), Leitgedanken des Rechts, Symposium aus Anlass des 70. Geburtstags von Paul Kirchhof, 2014, S. 42.

251 vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft, 2005) gerecht werden können, vgl. Öztürk, Wohlstand ohne Wachstum? APuZ 27-28/2012, Editorial.

252 So Miegel, APuZ 27-28/2012, S. 5.

253 Miegel, APuZ 27–28/2012, S. 8.

254 Die Überfrachtung des Staates mit sozialen Funktionen ist nicht einmal das Problematischste, auch wenn viele Gemeinden in Deutschland mittlerweile lautstark klagen, sie brächen unter der Last dieser Funktionen sowohl finanziell als auch personell zusammen, so dass rasche Abhilfe, sprich Geld, und zwar sehr viel Geld, das Geld der Bürger vonnöten sei. Noch problematischer als diese Überfrachtung ist, dass mit der schrankenlosen Ausdehnung sozialstaatlicher Aktivitäten, der Übernahme immer neuer Aufgaben und dem rastlosen Aufspüren noch unbeackerter Felder die Gesellschaft in ihrem Kern beschädigt wird. Denn das ist ihr eigentlicher und zugleich wichtigster Daseinsgrund: Will sie in Frieden leben, muss sie die Bürger zu solidarischem Verhalten motivieren, befähigen und anhalten. Nach Jahrzehnten fürsorglich-vormundschaftlicher Führung sind viele Bürger eigenverantwortlichen Handelns entwöhnt worden. Der Staat hat sie nicht nur demotiviert, er hat sie auch entfähigt. Die Folge: Wie erwachsen gewordene Kinder, die der Obhut der "gluckenhaften" Eltern nicht rechtzeitig zu entkommen vermochten, haben sie sich in ihrem Zustand eingerichtet und können jetzt von dieser Obhut nicht genug bekommen. Der (Glucken)Staat hat einen Bürgertyp herangezogen, dessen Ansprüche seine Möglichkeiten weit übersteigen. Der heutige Sozialstaat hat einen Erbschaden, an dem er in nicht zu ferner Zukunft scheitern dürfte: Er hat die Strukturen des untergegangenen Obrigkeitsstaates konserviert und gründet wie dieser in einem abgrundtiefen Misstrauen gegenüber den Bürgern. In den Augen dieses Staates sind Bürger in sozialen Angelegenheiten hilflos wie Kinder. Hellsichtigere haben eine solche Entwicklung schon in den fünfziger Jahren kommen sehe und deshalb davor gewarnt, die sozialen Sicherungssysteme allzu umfassend auszugestalten, Miegel, Hybris - Die überforderte Gesellschaft, S. 107.

255 Bildung auch als Förderung von Urteilskraft, sozialer Verantwortung und Persönlichkeit, Bildung als Grundlage eines selbstbestimmten, erfüllten Lebens – das ist für mich ein Bürgerrecht und ein Gebot der Demokratie. Das Ziel muss lauten: Niemand wird zurückgelassen, nicht am Anfang und auch nicht gegen Ende eines langen Lebens. Angenommen und gestaltet, vermag der demographische Wandel unsere Gesellschaft fairer und solidarischer, vielfältiger und beweglicher und damit zukunftsfähig zu machen. Entfaltungsmöglichkeiten! Wie viele haben wir in den vergangenen Jahren hinzugewonnen, durch Internet und durch mobile Kommunikation – ein Umbruch, dessen Konsequenzen wir weder richtig erfasst noch gar gestaltet haben. Wir befinden uns inmitten eines Epochenwechsels. Ähnlich wie einst die industrielle Revolution verändert heute die digitale Revolution unsere gesamte Lebens- und Arbeitswelt, das Verhältnis von Bürger und Staat, das Bild vom Ich und vom Anderen. Ja, wir können sagen: Unser Bild vom Menschen wird sich wandeln. Nie zuvor hatten so viele Menschen Zugang zu so viel Information, konnte man weltweit so leicht Gleichgesinnte finden. Die digitalen Technologien sind Plattformen für gemeinschaftliches Handeln, Treiber von Innovation und Wohlstand, von Demokratie und Freiheit, und nicht zuletzt sind sie großartige Erleichterungsmaschinen für den Alltag. Sie navigieren uns zum Ziel, dienen uns als Lexikon, Spielwiese und Chatraum, und sie ersetzen den Gang zur Bank ebenso wie ins Büro. Wohin dieser tiefgreifende technische Wandel führen wird, darüber haben wir einfachen "User" bislang wenig nachgedacht. Bundespräsident Joachim Gauck hielt auf dem Festakt zur Deutschen Einheit in Stuttgart am 3. Oktober 2013 diese Rede.

256 In politischer Perspektive erläutert die neue Wissenschaft von der "nehmenden Hand", warum die real existierende Oligarchie nur durch eine Rücknahme der anfänglichen "Nahme" überwunden werden kann. Hiermit tritt der mächtigste politisch-ökonomische Gedanke des neunzehnten Jahrhunderts auf die Bühne. Die Kritik der aristokratischen und bürgerlichen "Kleptokratie", mit Rousseus ahnungsvoll drohenden Thesen begonnen hatte, wurde vom radikalen Flügel der Französischen Revolution mit der erbitterten Begeisterung aufgenommen, die der gefährlichen Liaison von Idealismus und Ressentiment entspringt. ...[......] Es führt geradewegs zu jenem Mehrwertdiebstahl, der vorgeblich in allen Gewinnen der Kaitalseite zutage tritt. In der Lohnzahlung verberge sich ein Nehmen unter dem Vorwand des Gebens; mit ihr geschehe eine Plünderung im Gewand des freiwilligen, gerechten Tauschs. Allein aufgrund dieser moralisierenden Stilisierung der ökonomischen Grundverhältnisse konnte "Kapitalismus" zu einem politischen Kampfwort und "systematischen Schimpfwort werden. Als solches macht es gegenwärtig erneut die Runde. {......] Das Movens der modernen Wirtschaftsweise ist nämlich keineswegs im Gegenspiel von Kapital und Arbeit zu suchen. Vielmehr verbirgt es sich in der antagonistischen Liaison von Gläubigern und Schuldnern. Es ist die Sorge um die Rückzahlung von Krediten, die das moderne Wirtschaften von Anfang an vorantreibt - und angesichts dieser Sorge stehen Kapital und Arbeit auf derselben Seite. ....{....] Gleichwohl, die Unterstellung, "Kapital" sei nur ein Pseudonym für eine unersättliche räuberische Energie, lebt weiter bis in Brechts Sottise, wonach "Überfall auf eine Bank nichts bedeute im Vergleich mit der Begründung einer Bank, so ausdrücklich Sloterdijk, Kapitalismus und Staat, in Die Revolution der gebenden Hand, FAZ vom 13. Juni 2009. Tatsächlich muss man auf den zeitgenössischen Staat blicken, wenn man die Aktivitäten der "nehmenden Hand" auf dem neuesten Stand der Kunst erfassen will. Um die unerhörte Aufblähung der Staatlichkeit in der gegenwärtigen Welt zu ermessen, ist es nützlich, sich an die historische Verwandtschaft zwischen dem frühen Liberalismus und dem anfänglichen Anarchismus zu erinnern. Während der Liberalismus nach dem Minimalstaat strebte, der seine Bürger nahezu unfühlbar regiert und sie bei ihren Geschäften in Ruhe lässt, setzt der Anarchismus sogar die Forderung nach dem vollständigen Absterben des Staates auf die Tagesordnung.....[....] Voll ausgebaute Steuerstaaten reklamieren jedes Jahr die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für den Fiskus, ohne dass die Betroffenen zu der plausibelsten Reaktion darauf, dem "antifiskalischen Bürgerkrieg", ihre Zuflucht nehmen [Enteignung per Einkommenssteuer?!].Dies ist ein politisches Dressurergebnis. ["Kleptokratie des Staates"] ... Angesichts der bezeichneten Verhältnisse ist leicht zu erkennen, warum die Frage, ob der "Kapitalismus" noch eine Zukunft habe, falsch gestellt. Wir leben gegenwärtig ja keineswegs "i Kapitalismus" - wie eine so gedankenlose wie hysterische Rhetorik neuerdings wieder suggeriert-, sondern in einer Ordnung der Dinge, die man cum grano salis als einen massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden "Semi-Sozialismus" auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage definieren muss. Offiziell heißt das "Soziale Marktwirtschaft". Was freilich die Aktivitäten der nehmenden Hand angeht, so haben sich diese seit ihrer Monopolisierung beim nationalen und regionalen Fiskus überwiegend in den Dienst von Gemeinschaftsaufgaben gestellt. Sie widmen sich den "sisyphushaften" Arbeiten, die aus den m. E. sehr berechtigten! und für ein ausgeprägtes solidarisches Gemeinschaftsdenken und gelingendes Miteinander in einer freien Gesellschaft unerlässlichen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit. Sloterdijk folgert, Wer viel nehmen will, muss viel begünstigen. Selbstkritisch hätte er feststellen müssen, dass die "Nahme" letztlich die sozial ausgewogenen Leistungen des fürsorgenden und vorsorgenden, aktivierend begleitenden Sozialstaates erforderlich ist und das Soziale Miteinander der Menschen in Solidarität und Würde finanziert. So bleibt ein fades Gefühl des Sozialneids. Die ökonomische Moderne muss freilich Verantwortung für die Zukunft der Schöpfung und die Zukunft der Menschen tragen. D. h. blindwütige "Verschuldung, Leben im Jetzt und heute" müssen sich der Pflicht zur Verantwortung und Verzicht, einem intergenerationalen Denken und Handeln voller Respekt auch für die natürlichen Lebensgrundlagen und die von folgenden Generationen zu tragenden "belastenden ökologischen und wirtschaftlichen Hypotheken". Nachhaltigkeit ist die ethische Einsicht, die täglichen Bedürfnisse nicht zulasten unserer Lebensgrundlagen, der kommenden Generation und sozioökonomischer Regeln durchsetzen zu dürfen. Dass wir viel stärker längerfristig und verantwortungsbewusster denken müssen1 Nachhaltigkeit als radikale Autonomie des Individuums in den Grenzen der globalisierten Autonomie aller anderen Menschen. Tagesaktuell werden Fragen der Globalisierung, des Klimawandels ebenso wie Fragen um die Zukunft des Sozialstaats und der Generationengerechtigkeit angesprochen, Das Nachhaltigkeitskonzept enthält darüber hinaus organisatorische Maßgaben (Partizipation und Integration) und setzt normative Leitlinien und Steuerungsimpulse, ggf. für einen Teil der Rechtsordnung, etwa das Umweltrecht und die Umweltbeziehungen. Mit dem zielorientierten Gebot effizienten Steuerns, enthält es eine konkrete normative Kernaussage im Unterschied zu dem sehr offen formulierten Rechtsstaatsprinzip, das seine Konkretisierung erst durch die Rechtsprechung des BVerfG erfahren hat. Das Nachhaltigkeitsgebot als Strukturprinzip bildet einen Rechtsbaustein für die Begründung und Ausübung staatlicher Gewalt im staatlichen Ordnungsgefüge, Gehne, Das Nachhaltigkeitskonzept enthält als Strukturprinzip organisatorische und institutionelle Regelungen (effiziente Regulierung, integrative Entscheidungsfindung) und inhaltliche Vorgaben (inter- und intragenerationelle Gerechtigkeit), vgl. Gehne, Nachhaltige Entwicklung als Rechtsprinzip, S. 265. Der Begriff der Nachhaltigkeit konnte aber seine politische und gesellschaftliche Sprengkraft als eine neue regulative Leitidee natürlich erst zu einem Zeitpunkt entfalten, als die destruktiven Folgen einer wachstums- und fortschrittsgetriebenen Moderne langsam ins öffentliche Bewusstsein sickerten Ökologische Herausforderungen und das Bewusstsein um die Grenzen des Wachstum, Meadows. Begriffe wie Wachstum, Wohlstand, Technikeuphorie und Fortschrittszuversicht wurden hinterfragt, Saurer Regen und Klimakatastrophen ließen die schon in seinen forstwirtschaftlichen Ursprüngen angelegte Verbindung ökonomischer, ökologischer und sozialer Faktoren zu dem Begriff und idealen Ausgangspunkt eines neuen Paradigmas heranreifen, welches sich gegen die zerstörerischen Potenziale der industriellen Moderne richtete. Die regulative Leitidee, muss sich, wenn sie in den Katalog politischer Grundwerte aufgenommen wird, als Wertorientierung auch in den alltäglichen Praxen und Verhaltensweisen, also in der politischen Kultur einer Gesellschaft bewähren, bevor man ihr eine gewisse Wirkmächtigkeit zusprechen kann. Nachhaltigkeit wurde in den vergangenen Jahrzehnten auch zu einer prägenden Frage der persönlichen Wertpräferenzen und des Lebenswandels. Ausgehend von den alternativen Lebensformen, in denen zunächst kleinere Gemeinschaften eine neue Kultur des Konsumverzichts einübten sowie neue Formen einer alternativen regionalen Ökonomie ausprobierten, entwickelten sich in den folgenden Jahrzehnten sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben politische Wertorientierungen, die dem Postulat der Nachhaltigkeit folgten und nach und nach auch die Mehrheitsgesellschaft erreicht haben. Wirksamer Umweltschutz heißt, so viel regional wie möglich und so viel global wie nötig. Das bedeutet "Pflicht zum Verzicht" oder Abschied vom Überfluss. Stärkung regionaler Produktion und Märkte, weniger Transporte und Status quo für die Infrastrukturen. Eine politisch herausfordernde Entscheidung. Das Nachhaltigkeitskonzept enthält darüber hinaus organisatorische Maßgaben (Partizipation und Integration) und setzt normative Leitlinien und Steuerungsimpulse. Ethische Grundlage unserer Gesellschaftsordnung ist das Bemühen um das Wohlergehen des Menschen. Daraus folgt die Pflicht für den Staat, die biologisch-physischen Lebensgrundlagen des Menschen zu schützen und für die Menschheit, d. h. künftige Generationen zu sichern. Dieser Sicherungsauftrag in Verantwortung für künftige Generationen verpflichtet den Staat zum Einschreiten, wenn der Mensch heute die natürlichen Lebensgrundlagen beeinträchtigt oder zerstört, denn die Erhaltung einer möglichst intakten Umwelt, die Sicherung der natürlichen Ressourcen und Erhaltung einer Artenvielfalt in der Pflanzen- und Tierwelt ist mit der Staatszielbestimmung Umweltschutz eine fundamentale Staatsaufgabe geworden, vgl. Schwab, Umweltschutz als gesellschaftliches Ziel - Vorsorge als Leitprinzip?, 2009, S. 4.

257 Sloterdijk antwortet Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer- Peter Sloterdijk, FAZ vom 27. September 2009. Aus meiner Sicht steht eines von vorneherein außer Zweifel: Wenn ein Aufsatz wie der genannte auf der einen Seite derart lebhaften Applaus erhält, wie er zu beobachten war, und auf der anderen so heftig angefeindet und verzerrt wird, wie die Attacke des Philosophieprofessors es vorführt, dann muss er einen extrem empfindlichen Punkt berührt haben. Vermutlich sind Fragen des Nehmens und Gebens - neben der Sexualität - die sensitivsten Angelegenheiten, die überhaupt vor Publikum verhandelt werden können. Es sind die Fragen, die unverkennbar die thymotischen (die stolz haften, die zornhaften und die ressentimenthaften) Leidenschaften aufwühlen - Affekte, denen ich in meinem Buch „Zorn und Zeit“ einigermaßen umfangreiche Überlegungen gewidmet habe. Weltgeschichtlich beispielloses System der Umverteilung- Ich stelle noch einmal in Kürze dar, worauf mein aktueller Aufsatz im Rahmen der Krise-des-Kapitalismus-Debatte der F.A.Z. hinaus wollte: Der moderne Steuerstaat hat das Zeitalter der einseitigen Plünderung der Armen durch die Mächtigen beendet - eine Tatsache, die schlechthin niemand auf der Welt bedauern dürfte. Der Proudhonsche Satz: „Eigentum ist Diebstahl“ hatte die alte Ordnung der Dinge polemisch auf den Begriff gebracht. Seither hat die politische Moderne ein weltgeschichtlich beispielloses System der Umverteilung erarbeitet, in dem der zugleich liberale und soziale Staat sich Jahr für Jahr rund die Hälfte aller Wertschöpfungsergebnisse der wirtschaftenden Gesellschaft aneignet und diese nach Maßgabe seiner Funktionen und Pflichten neu verteilt - in der BRD macht die Abschöpfungsmasse seit dem Jahr 2.000 regelmäßig eine Summe von etwa 1.000 Milliarden Dollar aus. Der „nehmende Staat“ beruft sich - zumindest auf dem linken Parteienspektrum - noch heute auf die Überzeugung, dass gegen den ungerechten primären Diebstahl nur ein korrigierender gerechter Gegendiebstahl Abhilfe schafft: Marxistisch heißt diese Prozedur seit dem neunzehnten Jahrhundert „Expropriation der Expropriateure.“ Mein Aufsatz nimmt gegenüber dieser Entwicklung eine bedingungslos bejahende Perspektive ein. Seit Jahren werde ich nicht müde, auf einschlägigen Konferenzen meine Überzeugung zu bekennen, dass die progressive Einkommenssteuer die maßgeblichste moralische Errungenschaft seit den Zehn Geboten darstellt. Weil ich die Denkfigur des Gegendiebstahls wichtig, um nicht zu sagen: epochal bedeutsam finde (sie hat von Rousseau über Marx und Lenin bis hin zu Steinbrück Geschichte gemacht), verwende ich für sie gelegentlich auch das provozierende Wort „Kleptokratie“ - ein Ausdruck, der geeignet ist, Habende und Nichthabende aus ihrem dogmatischen Schlummer zu wecken. Ein Plädoyer für die Umstellung von Enteignung auf Spende. Als unverbesserlicher Verteidiger einer sozialdemokratischen (oder wie ich der Deutlichkeit zuliebe sage: semi-sozialistischen) Logik habe ich nur einen einzigen, allerdings schwerwiegenden Einwand gegen die bestehenden Verhältnisse vorzubringen: Ich nehme daran Anstoß, dass niemand das aktuelle System der Zwangsbesteuerung als solches in Frage stellt - auch wenn man hin und wieder über die „Vereinfachung“ der Besteuerungsverfahren und über deren Reform im Sinne der „sozialen Gerechtigkeit“ diskutiert. Nirgendwo wird auch nur hypothetisch darüber nachgedacht, ob es nicht besser insgesamt durch eine geregelte Praxis der öffentlichen Spenden zu ersetzen wäre. Tatsächlich endet mein Aufsatz mit dem Aufruf zu einem moralisch und politisch anspruchsvollen Gedankenexpriment: Angenommen, der moderne Staat brauchte tatsächlich genau die Summen, die er heute durch Zwangssteuern eintreibt: So soll er sie erhalten.

258 Kapitalismuskritik hat es immer gegeben und war ständige Begleiterscheinung des Versuchs, die vorgefundene Wirklichkeit zu reformieren und zu verbessern. Hayek überliefert die Formel vom "Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs". Eines dieser Ergebnisse ist die Marktwirtschaft. Die Vorteile des Marktsystems sind historisch das Nebenprodukt des Zusammenspiels von vielen individuellen Handlungen, deren Ziel die Maximierung des eigenen höchst individuellen Nutzens ist. Der erste Höhepunkt des Systemdenkens ist der Wealth of Nations von Adam Smith. Ohne Zweifel hat der Systemgedanke und damit verbunden das politische Programm des freien Warenaustauschs unter Bedingungen des Wettbewerbs ganz wesentlich dazu beigetragen die industrielle Revolution zu fördern. Smith hat Einfluss auf die deutsche Philosophie gehabt- Marx und Engels haben im Kommunistischen Manifest zwar der "Bourgeoisieepoche" ein Loblied gesungen, da sie die Produktivkräfte der Gesellschaft entfesselt habe; aber sie entwickelten ein Programm der Überwindung des Kapitalismus und damit der Marktwirtschaft, da sie in ihr nur ein Zwischenstadium im historischen Prozess der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte sahen. Diese könnten in einem bewussten gesamtgesellschaftlichen, zentral gesteuerten Gestaltungsprozess noch weit mehr gefördert werden als dies dem Kapitalismus möglich sei. Bei dieser Wende hin zum zentral gelenkten sozialistischen Wirtschaftssystem war für die Anhänger von Marx und Engels ganz entscheidend die Kapitalismus-Kritik. Das von Marx im „Kapital“ theoretisch durchdachte System des Kapitalismus, musste nach dieser Auffassung nicht nur ephemer, nicht nur vorübergehend, sondern sich verstärkend und letztlich seinen Zusammenbruch heraufbeschwörend zu einer Verelendung der Massen führen. Es kann erwartet werden und wird auch historisch beobachtet, dass die Vehemenz der Kapitalismus-Kritik mit Indikatoren korreliert, die subjektiv als Fehler am System empfunden werden. Beispiele für solche Indikatoren sind Arbeitslosigkeit, Inflation, Versorgungsengpässe und extreme Ungleichheit im Einkommen. Im 19. Jahrhundert sprach man von der „Sozialen Frage“ des Elends des städtischen Proletariats. Dies führte zu einer „Theorie der Verelendung“ und deren Überwindung durch „Expropiration der Expropriateure“, d. h. die Überwindung des kapitalistischen Systems. Auch der Liberalismus erneuerte sich durch das Konzipieren von Ordnungssystemen, die den beobachteten Wildwuchs vom kapitalistischen Phänomen und die „Politik der Experimente“ ablösen sollt. Der von Euken und Böhm entwickelte Ordo-Liberalismus ist eine Antwort auf den „entfesselten Kapitalismus“ in ihrer Zeit. In ihrer Ordnungstheorie wird ein Idealbild einer Marktwirtschaft gezeichnet. Die durchdachte systemische Zielsetzung sollte als Kompass für die Wirtschaftspolitik dienen. Das Thema „Soziale Sicherheit“ war eine der erfolgreichsten Früchte historischer Kapitalismuskritik. Zum großen Gedankensprung! Überall steigen die Bedürfnisse und die dazu passenden Theorien. Zugleich aber auch die Schulden, das große jammervolle Hauptridikule des 19. Jahrhunderts. Schon diese Art, das Vermögen der künftigen Generationen vorweg zu verschleudern, beweist einen herzlosen Hochmut als wesentlichen Charakterzug. Das Ende vom Liede ist: irgendwo wird die menschliche Ungleichheit wieder zu Ehren kommen. Was aber Staat und Staatsbegriff inzwischen durchmachen werden, wissen die Götter. Diese den Inbegriff des modernen Sozialstaats ausmachenden, quasi verbrieften individuellen Ansprüche an den Staat sind in erster Linie Ansprüche auf zukünftige Geld-Leistungen oder „Geld-äquivalente“ Leistungen. Als solche haben sie für das Individuum Vermögenscharakter. Ihr Umfang richtet sich sehr ausgeprägt nach der Lebenserwartung des Individuums. Damit steigt er mit der Lebenserwartung – zumal die Zeit des Eintritts in den Ruhestand nicht parallel zur gestiegenen Lebenserwartung mit gestiegen ist. Der Staat finanziert die Leistungen aus diesen Ansprüchen praktisch weltweit nach dem Umlageverfahren, vgl. Carl Christian von Weizsäcker, Akzeptanzdynamik der Marktwirtsschaft: Die Frage nach der guten Wirtschaftsordnung, Vortrag beim Wirtschafspolitischen Ausschuss des VfS, Münster 14. März 2012

259 Wären die zyklischen Wirtschaftskrisen das direkte Ergebnis einer kapitalistischen Ordnung, dann müssten sie ähnlich verlaufen. Das tun sie aber nicht. Wer den Staat en beim Krisenmanagement zuschaut, sieht auch dass die Schuld nicht beim Markt, sondern bei der Politik zu suchen ist. Die gängige wertkonservative Kritik des Kapitalismus geht von seiner Zählebigkeit aus, doch kommt dieses Eigeständnis als vergiftetes Kompliment daher. Gerade wegen seiner unübersehbaren Vitalität sei er als solcher noch nicht gesellschaftsfähig: Moral, Gesittung und Recht müssten ihm erst beigebracht werden. Vom Marktradikalismus zunächst verdrängt, genieße die Politik nun wieder den gebührenden Vorrang. Der Kapitalismus strebt jedenfalls von sich aus zur Verrechtlichung. Damit schafft er nicht nur vertrauen, das Individuen zur Zusammenarbeit ermutiget, sondern auch die einzige Chance, kollektive Entscheidungen moralisch zu bewerten. Sobald wir über die Logik des Gewaltmonopols, nämlich über die Notwendigkeit und Zumutbarkeit einer verbindlichen Rechtsordnung hinausgehen, haben wir es mit Problemen zu tun, die auch nach einer Lösung verlangen, obwohl es an gesichertem Wissen, an vertretbaren moralischen Prinzipien oder an beidem fehlt. Wir wissen nicht, ob eine wachsende Sparneigung die Krise verlängert oder ob eine höhere Geldmenge die Voraussetzung für Wachstum ist - und dass wir es mit einer Nachfragelücke zu tun haben sollen, ist so plausibel wie die Vermutung, es handele sich um eine Wertillusion, also eine Blase. Doch selbst wenn wir etwas zu wissen glauben, nämlich, dass es bei den Banken und in der Automobilindustrie Überkapazitäten gibt, nach welchen Kriterien gehen wir vor? Nur die anonymen Marktkräfte können auch hier für eine Zurechenbarkeit sorgen, also das Ergebnis moralisch vertretbar machen. Die Politik verhindert so lange wie möglich die "schöpferische Zerstörung". Sie übersieht dabei, dass sie auf diese Weise nicht nur das Geld des Steuerzahlers, sondern auch ihr eigenes Legitimitätskapital aufs Spiel setzt, indem sie den Staat auch psychologisch für die ökonomischen Folgen der politisch motivierten Entscheidungen haftbar macht. Schlimmer noch, der Staat gerät in ein Dickicht von Interessenkonflikten und damit in ein unauflösbares moralisches Dilemma. Wie immer er entscheidet, begünstigt er die Interessen der einen zu Lasten der anderen, schlägt er sich auf die Seite der Beschäftigten und benachteiligt Pensionsfonds und Sparer oder umgekehrt. Von einer Entlastung der Allgemeinheit durch individuelle Vorsorge, also von einer Wettbewerbsgesellschaft, in der Freiheit und Selbstverantwortung anerkannt sind, kann keine Rede mehr sein. Nicht Globalisierung oder Neoliberalismus haben uns in diese Lage gebracht, sondern der Versuch, Logik und Moral des Kapitalismus außer Kraft zu setzen. Das dies auf Dauer nicht gelingen kann, ist ein geringer Trost. Bürgerliche Werte werden als soziale Veranstaltung verstanden, vgl. Zöller, Haben wir denn im Kapitalismus gelebt? FAZ vom 3. August 2009.

260 Schimank, Individualisierung der Lebensführung - Die weitreichende Selbstverantwortung -Schattenseite der Individualisierung besteht darin, dass der "homo optionis" auch selbst dafür verantwortlich gemacht wird, was aus seinen Entscheidungen wird. Die zunehmende "Prekarität" Bei einem solchen Lebensgefühl kann man nur versuchen, sich so lange wie möglich findig und lernbereit als "flexibler Mensch" (Sennett 1998) durchzuschlagen und hinzunehmen, dass das eigene Leben keine lineare Aufwärtsbewegung mehr ist, sondern unter Umständen kreuz und quer dahin treibt. Schimank, Die Unaufhörlichkeit sozialen Wandels in der Moderne - Die unermüdlichen Gestaltungsbemühungen der Akteure sowie "naturwüchsige" Wandlungsdynamiken führen zu einem unaufhörlichen sozialen Wandel. Sozialer Wandel ist eine Grundkonstante der Moderne. Natürlich gab es sozialen Wandel auch in früheren Gesellschaften. Doch diese verstanden sich viel stärker als prinzipiell stabile Ordnungen, in denen Wandel entweder als zumeist von außen, etwa durch Kriege oder Naturkatastrophen auferlegte „De-Stabilisierung“ und Verfall oder als Re-Stabilisierung, also als Gegenreaktion vorkommt. Zum Selbstverständnis der Moderne gehört hingegen, dass es keine dauerhafte Ordnung gibt, vielmehr sämtliche gesellschaftlichen Strukturen immer nur als Provisorien gelten. Die neue Gruppe der "Überflüssigen" - die Anzahl der Menschen, die irgendwann dieses Sich-Weiterhangeln nicht mehr hinkriegen, weil die Kräfte ausgehen, was sich etwa in chronischen Krankheiten und psychischen Beschwerden äußern kann, oder die einfach Pech haben, nimmt seit vielen Jahren zu. http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/137995/individualisierung-der-lebensfuehrung?p=2#bio0

261 Gibt es doch Gesetze des Kapitalismus? Vermögensforscher Piketty sieht die unausweichliche Spaltung der westlichen Gesellschaften. Doch enthält seine Analyse zwei Kardinalfehler. Kritisches zu einem Wirtschaftsbestseller. Karl-Heinz Paqué, FAZ vom 21. September 2014 Endlich jemand, so die Botschaft der Feuilletons, der die Gesetze des modernen Kapitalismus offenlegt – und zwar in jener zentralen Wirkung, die der etablierte Mainstream der Wirtschaftswissenschaft angeblich so gerne übergeht: den unerbittlichen Trend zur Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm. Dazu liefert er noch Vorschläge zur politischen Lösung des Problems: massive Erhöhung der Besteuerung des Wohlstands, und zwar in allen seinen Formen, vom Einkommen über das Vermögen bis zu den Erbschaften. Der Vergleich von Piketty mit Marx ist dabei absolut berechtigt und wohl auch vom Autor gewünscht. Der Titel des Buches erinnert explizit an „Das Kapital“, das Hauptwerk von Marx; die politischen Vorschläge sind ähnlich radikal wie bei Marx, wenn auch nicht ganz so revolutionär. Aber vor allem ist die methodische Vorgehensweise der beiden tief verwandt: Sie suchen im Kapitalismus unabänderliche Trends, Piketty allerdings als moderner Einkommens- und Vermögensforscher mit unendlich schärferen empirischen Instrumenten als seinerzeit Marx. Beide liefern einen Beitrag zu jener Kategorie von Wissenschaft, die der österreichische Philosoph Karl Popper als „historizistisch“ bezeichnete und scharf kritisierte. Allein der Versuch, eherne Gesetze der Geschichte zu identifizieren, war für den kritischen Rationalisten Popper unwissenschaftlich, denn es widersprach seiner Logik der Forschung, die auf den permanenten Versuch der Falsifikation von Hypothesen setzte und politisch der „Stückwerktechnologie“ den Vorzug vor radikalen Umgestaltungen gab, denen stets etwas Totalitäres anhafte. Dynamik des Kapitalismus -- Gerade darin mag allerdings die Faszination liegen, die das Denkmodell von Karl Marx jahrzehntelang ausübte und sich jetzt auch bei den ehernen Gesetzen des Thomas Piketty wieder zeigt. Denn bei Marx war es das bestechend einfache Gesetz der fallenden Profitrate, das die Dynamik des Kapitalismus beherrschte und dessen Niedergang erzwang. Bei Piketty ist es nichts als eine verblüffend einfache Ungleichheit. Sie lautet: die reale Kapitalrendite „r“ ist höher als die volkswirtschaftliche Wachstumsrate „g“ (für growth), also r>g. In der volkswirtschaftlichen Wachstumstheorie ist r>g keine Zauberformel, sondern eine fast selbstverständliche Annahme: In einer Welt, in der Menschen ungeduldig sind und lieber heute als morgen die Früchte ihrer Leistung konsumieren statt zu sparen, müssen sie von Investoren für ihren Verzicht entschädigt werden, und zwar über die reine Zuwachsrate der Wertschöpfung hinaus. Die Ungleichheit r g ist also ein absolut plausibles Charakteristikum der wirtschaftlichen Realität, zumindest zu „normalen“ Zeiten.

262 Der Nationalstaat ist zwar Garant von Volkssouveränität und Demokratie. Die Existenz vieler Nationalstaaten ermöglicht und stimuliert den Wettbewerb, der nach David Hume die Lebensqualität aller Menschen verbessert, Hank, Hat der Nationalstaat wirklich ausgedient? FAZ vom 11. Mai 2014. Der Nationalstaat sagte di Fabio mit großem Nachdruck sei für ihn immer noch eine revolutionäre Idee, der Garant von Freiheit, Demokratie und Vielfalt. Dessen modern gewordene Verteufelung mache er nicht mit, so Klingst, Zwei Anwälte des Nationalstaates, Die Zeit, vom 16. Juni 2005. Die Schöpfer des Grundgesetzes wissen, dass Freiheit nicht ohne offene Grenzen gelingen kann, so di Fabio, bei einem Festakt im Rathaus von Duisburg, 5. Oktober 2013. Deshalb diskutiere man heute über die richtige Balance zwischen den Nationalstaaten und der Europäischen Union. Dagegen versucht Michael Zürn nachzuweisen, dass sich die globale Gesellschaft zunehmend "denationalisiert", vgl. Heins, Die Zukunft der Nationalstaaten, Die Zeit, vom 21. November, 2007. Kaum zu bestreiten ist das problemorientierte politische Integrationsformen jenseits des Nationalstaats eine gute Sache sind und dass sie sich gelegentlich rivalisieren lassen. Der Nationalstaat ist nicht mehr die einzige Form, in der sich gesellschaftliche Handlungszusammenhänge und Identifikationsmuster bündeln, ohne dass darum jenes Globalisierungschaos ausbricht, das immer wieder an die Wand gemalt wurde, vgl. Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, 1998. Vgl. auch Frey, Europas Zukunft-Weg mit dem Nationalstaat, FAZ vom 24. November. 2012 - Der Nationalstaat ist passe. Ein zentralistisch vereintes Europa würde aber alles noch schlimmer machen. Hier kommt eine radikale Utopie: ganz neue politische und wirtschaftliche Einheiten. Die europäische Einigung baut auf Nationalstaaten auf - was gemeinhin als selbstverständlich betrachtet wird. Die Europäische Union braucht ein Bauprinzip, das sich an ihren realen Problemen orientiert. In der heutigen EU werden die Aufgaben innerhalb der gegebenen politischen Grenzen - den Nationalstaaten angegangen. Die Diskussion über die Zukunft der europäischen Einigung wird fast ausschließlich im Rahmen existierender Nationalstaaten diskutiert. Die Gemeinsamkeiten des Westens, die Errungenschaften der politischen Aufklärung, die unveräußerlichen Menschen- und Bürgerrechte, die Prinzipien der Herrschaft des Rechts und die Gewaltenteilung, der repräsentativen Demokratie. Der Westen ist ein normatives Projekt, so Winkler, Welt-Online, 15. November 20122; ders. August Winkler: Geschichten des Westens. Die Zeit der Weltkriege 1914-1945.

263 In den vergangenen Jahren wurde heftig über die Herausforderungen für „den westlichen Lebensstil“ in der und durch die Migrationsgesellschaft diskutiert. Das soziale Handeln wird beeinflusst durch: Beschaffenheit und Ordnung des sozialen Umfelds, Existenz bestimmende Institutionen und deren Funktionen, aber auch deren Interpretationen und Wahrnehmungen durch die Handelnden. Natürlich auch geprägt durch die von den Handelnden verinnerlichten Werten und die von ihnen erstrebten Ziele. „Menschen handeln, indem sie die soziale Wirklichkeit deuten, vgl. Öztürk, Sozialisation, APuZ 49-50/2012, Editorial. Rahmenbedingungen wie gesellschaftliche Normen und Werte, Kommunikationsformen oder Rollenidentitäten – denen Menschen sich anpassen, die sie aber auch verändern können – sind stets in Bewegung. Dieser soziale Wandel findet meist nur langsam und sukzessive statt, kann auch eruptiv dynamisch erfolgen, wenn „die Luft im Kessel des sozialen Lebens“ sich eruptiv entlädt. Man denke an die Bürgerproteste zu S 21, die alte Kommunikationskultur und die Exekutierung von politischen Zielvorgaben in hoheitlichen Verwaltungsverfahren. Zur modernen, innovativen Kommunikationskultur und dem „Ernstnehmen“ des Bürgers als Souverän vgl. Schwab, Verwaltungshandeln, Demokratisierung, frühe Bürgerbeteiligung und Aarhus-Konvention, 2014. Lessenich, Der Sozialstaat als Erziehungsagentur, APuZ 49-50/2012,S. 56 - Die „Institute“ des Sozialstaats formen und prägen, neben anderen gesellschaftlichen Institutionen, die moderne Marktgesellschaft und die in ihr handelnden Subjekte, ihre Interessenlagen und Wertideen, ihre Alltagspraktiken und Lebenswege. Der Sozialstaat ist eine veritable Erziehungsagentur, eine Schulungsinstanz sozialen Handelns. Die wirtschaftsordnungsbedingte, die vom Feld wirtschaftlichen Handelns ausgehende, Prägung ihrer Strukturbildungen und ihres Selbstverständnisses, der Denk- und Lebensweisen der Menschen, hat die moderne Gesellschaft – trotz ihrer Differenziertheit in verschiedenartigste teils völlig verschiedene Funktionsbereiche und Handlungsfelder – zu einer kapitalistischen Gesellschaft – mal begehrt mal kritisiert und abgelehnt, wegen der grundlegenden „Bequemlichkeit und des erreichbaren Wohlstands höchst willkommenen - hat werden lassen und als solche immer wieder zu neuem Leben erweckt. Die postmoderne „kapitalistische Gesellschaft“ ist ein Vergesellschaftungsmodus, der dadurch charakterisiert ist, dass eine bestimmte Form des Rentabilitätskalküls nicht nur das im engeren Sinne wirtschaftliche Handeln der Menschen anleitet, sondern auch deren Handlungsvollzüge in anderen, nicht- oder jedenfalls nicht unmittelbar wirtschaftlichen Dimensionen ihres Lebens – Familie und Freizeit, Lust und Liebe– bestimmt oder zumindest mitbestimmt. Weder „der Markt“ noch „der Staat“ können den modernen Menschen nach Gutdünken zum politischen Marktsubjekt stempeln, und „die Leute“ in modernen Gesellschaften sind keine beliebig formbaren Objekte in Markt- und Staatshänden. Sie sind aufgrund ihrer freien Autonomie und durch die Verfassung als höchstes Gut geschützte und besonders respektierte Selbstachtung und Selbstbestimmung willensbestimmte Lebenswesen, die sich nicht (ver)-objektivieren lassen (möchten).

264 Mehr Demokratie im Unternehmen wagen was nach Sonntagsrede klingt, ist tatsächlich möglich. Arbeitszeit, Gehalt und sogar Vorgesetzte bestimmen Mitarbeiter heute selbst. Kann das gut gehen? Mehr Demokratie, mehr Mitbestimmung wagen in Unternehmen, das liegt im Trend. Das es funktionieren kann, zeigen etwa der Videoanbieter Netflix, der das Thema Arbeitszeit längst freigegeben hat: "Wir zählen nicht die Arbeitsstunden am Tag oder in der Woche, warum sollen wir dann die genommenen Urlaubstage im Jahr zählen. Vertrauensarbeitszeit ist Trumpf. Auch bei dem Maschinenbauer Trumpf, der 2011 eine Wahlarbeitszeit eingeführt hat. Rund 4500 Mitarbeiterinnen können dort für zwei Jahre ihre Arbeitszeit aussuchen. Das Wahlmodell entspreche den immer individuelleren Lebensverhältnissen der Mitarbeiterinnen. Es ermöglicht die bessere Vereinbarkeit von Beruf und familiären Fürsorgeleistungen (Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen) und ein tätigkeitsorientiertes Lernen und Weiterbildung in Selbstorganisation und Lernen im sozialen Umfeld., vgl. Astheimer, Mitarbeiterbestimmung - Wähl dir deinen Chef, FAZ vom 8. Oktober 2014. Offenheit erfordert Mut und tut vielleicht zunächst emotional weh. Menschen mit Verantwortung machen aus solchen Freiheiten etwas Sinnvolles; sie rechnen und orientieren sich am Geschäftserfolg bevor sie ein Wunschgehalt geltend machen. Wenn die Lohnerhöhung an die Geschäftsentwicklung gekoppelt wird, steigert sich die individuelle Identifikation des(r) einzelnen MitarbeiterIn mit dem Betrieb. Es belebt das betriebliche Ideenmanagement und ist "Katalysator" für die Kreativität und disruptive Innovationen. Demokratisierung des Betriebes führt zu einer "besseren Arbeitskultur! oder Betriebsklima. Die Mitarbeiterinnen müssen sich vernetzen und kommunizieren. Sie gehen aufeinander ein, unterstützen sich; sie verstehen die Betriebsgemeinschaft als Teil ihrer eigenen Identität. Das Ergebnis: die Mitarbeiterbindung an das Unternehmen wird gefestigt, so dass durch die geringere Fluktuation wertvolle Erfahrungen und Erkenntnisse im Betrieb "behalten" werden können.

265 Sozialstaatliche Politik steht immer zwischen denen, die etwas bekommen, und jenen, denen man etwas nehmen muss. di Fabio über die Zukunft des sozialen Staatsziels der Politik. Der Sozialstaat gewährleistet Voraussetzungen einer Gesellschaft in Freiheit, wenn er selbst den Bedingungen der Freiheit genügt. Sozialstaatliche Politik darf den Leistungswillen und die Leistungsfähigkeit einer offenen Erwerbsgesellschaft nicht zerstören, aber sie muss die Chancen offenhalten, dass jeder sich nah seinen Fähigkeiten in dieser Erwerbsgesellschaft behaupten kann. Mit anderen Worten: Sozialpolitik muss freiheitsgerecht und leistungsgerecht sein. Sozialstaatliche Maßnahmen sollen helfen. Sie wollen den Lebens- und Freiheitsraum derjenigen Personen erweitern, die im freien Spiel der Kräfte u Bedürftigen werden, und zwar möglichst so, dass sie danach nicht mehr bedürftig sind. Diese Maßnahmen dürfen ihrerseits aber nicht den Freiraum der anderen über Gebühr einschränken und auch nicht deren Leistungsfähigkeit übermäßig bremsen, sonst wird die Freiheitsbilanz sozialstaatlichen Handelns negativ. Der Sozialstaat sitzt zwischen zwei Stühlen:

266 Der oberste Leitwert unserer Verfassungsordnung ist die Würde des Menschen als Herr seines eigenen Schicksals: Das beding individuelle Freiheit, auch die des Scheiterns; es bedingt aber zudem gesellschaftliche Verhältnisse, die nicht die praktische Möglichkeit zum Erfolg verschließen oder den Hilflosen achtlos zurücklassen. Diese Hilfe muss nicht allein durch den Staat geleistet werden. Je mehr Hilfe in gesellschaftlichen Solidargemeinschaften erbracht wird, desto günstiger ist das für die Freiheitsbilanz der Gesellschaft. Subsidiarität heißt das entsprechende Verteilungsregulativ. Soziale Sicherheit ist ein gutes Stück weit eine Voraussetzung, um als Person nicht nur im formellen Sinn "frei" genannt zu werden, sondern sich in seiner Freiheit auch bewähren zu können. Das Prinzip sozialer Gerechtigkeit in der freiheitlichen Verfassung findet hier den ersten Sinn: Bürger sollen sich durch elende und materiell bedrückende Verhältnisse nicht aus dem Kreis der Rechtsgleichen praktisch ausgegrenzt sehen. Jenseits dieser Einsicht beginnt freilich das Niemandsland des Ungefähren und auch das Missverständnis, wo kaum noch etwas systematisch abgeleitet wird. Die schwierige Abwägung zwischen einer noch angemessenen Belastung des erzielten Einkommens aus Arbeit oder aus Kapital mit Abgaben obliegt dem demokratischen Gesetzgeber, der die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit beachten muss. Das kann er nur, wenn er eine Gesamtbilanz der Belastungen aus der Perspektive des einzelnen ermittelt und gewichtet. Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit muss angesichts eines hochdifferenzierten Abgabenrechts längst in ihrer kumulativen Wirkung erfolgen. Das ist nicht zuletzt deshalb dringend nötig, weil sonst der Bezieher eines durchschnittlichen Einkommens durch das Zusammenwirken von Abgabenpolitik auf der einen und Sozialpolitik auf der anderen Seite in die Egalisierungsfalle gedrängt wird. Der Grenznutzen des Erfolgs und die Möglichkeiten zur eigenen Risikovorsorge schieben sich in immer höhere Einkommensgefilde, wenn nicht nur die Abgabenlast steigt, sondern auch die soziale Grundversorgung, die nicht an Arbeit oder erzieltes Einkommen gebunden ist, : di Fabio, Die Zukunft des Sozialstaats - Das bedrängte Drittel, FAZ vom 28. Oktober 2006. Was fordert also das sozialstaatlichen Handelns ist die Existenzsicherung derjenigen, die in eine Notlage geraten sind, wobei nur maßvoll zwischen unverschuldeter und verschuldeter Notlage unterschieden wird. Das ist nicht nur christlicher Nächstenliebe geschuldet, sondern eine ideelle Grundlage jeder wirklichen Gemeinschaft. Die vorsätzliche Ausgrenzung von Schwachen bis hin zur sozialdarwinistischen Aussonderung von "Gemeinschaftsballast" zerstört als erstes die Gemeinschaft in ihren ethischen Grundlagen. Jede menschliche Gemeinschaft muss denen Hilfe leisten, die ihrer existentiell bedürfen - natürlich nach Maßgabe ihrer praktischen Möglichkeiten. Aber die Art und Weise der Hilfe, ihre Qualität hat eine spezifisch freiheitliche Farbe. Es gibt gutgemeinte Hilfen, die Menschen unrettbar abhängig machen vom Helfenden. Sie führen sie in die dauerhafte Abhängigkeit der Karitas von Ämtern und Verwaltungen. Unter dem Primat der Freiheit darf Hilfe aber nicht die Chancen eines selbstbestimmten Lebens mindern, sondern muss sie fördern. Das Grundgesetz achtet die Würde eines jeden Menschen in seinem gattungsspezifischen Anspruch, des Bösen wie des Gute, des Starken wie des Hilflosen. Aber das positive Leitbild, von dem die Dignitas humana ihre Strahlkraft bezieht, ist das Individuum, das für sich selbst und für andere freiwillig Verantwortung übernimmt. Der Staat des Grundgesetzes kümmert sich um diejenigen, die weit entfernt sind, aber er muss seine Maßnahmen so wählen, dass weder für die Hilfsbedürftigen noch für die Gemeinschaft die Annäherung an das Leitbild unwahrscheinlicher wird. Der Gedanke der aktivierenden Sozialhilfe - immer schon im Gesetzeszweck einer Hilfe zur Selbsthilfe enthalten - entspricht dem freiheitsgerechten Sozialstaat besser als ein auf den ersten Blick so sympathisches existenzsicherndes Bürgergeld für alle, das aber geeignet ist, die Motivation zu mindern, Arbeit auch unter schwierigen Bedingungen zu suchen. Der Wert der Arbeit - Doch warum man Menschen mit schlechten Chancen auf einen wieder härter werdenden Arbeitsmarkt zwingen, wenn die Gesellschaft wohlhabend genug wäre, sich die Mittel für eine allgemeine Existenzsicherung zu verschaffen? Eine Antwort überrascht: weil es unsozial wäre, nicht die Chance auf Arbeit zu erhöhen. Arbeit verschafft einen Anteil an den Gütern der Gesellschaft. Arbeit ist aber auch ein zentrales Feld der tätigen Auseinandersetzung, mit dem der Mensch zur Persönlichkeit wächst. Deshalb ist der Verlust eines Arbeitsplatzes, deshalb sind Massenarbeitslosigkeit und unfreiwillige Verkürzung der Lebenszeit zugleich materielle und ideelle Grundprobleme der modernen Gesellschaft. Der eigentümliche Sinn der Erwerbsarbeit liegt darin, dass er Zwang ist, freiwillig auferlegt oder durch die Verhältnisse gefordert. Aber erst aus dieser Last ergibt sich die Chance zur Integration in die Gesellschaft und für andere Perspektiven der Freiheit. Arbeit ist sinnstiftend und für viele Menschen auch Lebenserfüllung. Die Grundbedingung unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, ist das Leben: (Hannah Arendt) Arbeit ist ein zentrales Feld der Lebenserfüllung: Sich Herausforderungen stellen, gefordert werden, Leistung erbringen und Erfolgserlebnisse haben - das macht die besondere Qualität beruflicher Arbeit aus". Ohne Arbeit geht es nicht: "Der Mensch kann auf Dauer nicht untätig in seinen eigenen vier Wänden verweilen. Leben ist die Die Bindungen der Arbeitnehmer an ihren Arbeitgeber werden lockerer, Beschäftigungsverhältnisse auf Zeit nehmen zu. "Weil es keine Beschäftigungsgarantien mehr gibt, lassen auch Betriebstreue und Loyalität der Arbeitnehmer nach, so der Zukunftsforscher Opaschowski, Lust zu schaffen, vgl. Schwab, Arbeitsrecht und Arbeitsgesellschaft der Gegenwart und Zukunft, 2014. Wer genau hinsieht, wird gewahr, dass der Übergang vom Arbeitsprozess in eine Versorgungsexistenz vor allem demjenigen reizvoll erscheint, der noch zu arbeiten hat. Der prospektbunte Glanz der Freiheitsgesellschaft braucht immer wieder die lautstarke Werbung, um darüber hinwegzutäuschen, dass Lebensfreude als reines Vergnügen jenseits aller Pflichten eigentlich unmöglich und jedenfalls sinnverarmt und spannungsleer ist. Entspannung ergibt nur dann einen Sinn, wenn ein Zustand des Angespanntseins vorausgeht. Aus diesen Einsichten folgt etwas Wesentliches für die Frage sozialer Gerechtigkeit in einer freien Gesellschaft. Das Prinzip sozialer Sicherung ist in Deutschland und in vielen anderen Staaten nicht zufällig um die Arbeit herumgebaut - nur werden die Lasten zu hoch, wenn der Anteil der Arbeitenden gegenüber der Anzahl der Versorgten zu gering ausfällt. Insofern führte eine aus Steuermitteln finanzierte Grundsicherung für alle in Höhe mindestens des unteren Einkommensniveaus womöglich zu einer Entlastung des Faktors Arbeit. Aber würde das Anrecht etwa jugendlicher Schulabgänger ohne Voraussetzungen auf eine Grundsicherung nicht zugleich die Motivation beschädigen Arbeit zu suchen? Wenn die Solidargemeinschaft eines Staates jedem nach seinem Mindestbedürfnis gibt und man davon auf einem gerade noch akzeptablen Niveau leben kann, demotiviert sie dann nicht gerade diejenigen, die vor allem über die geordnete Arbeitsbeziehung in Kontakt zur sozialen Welt treten und in dieser Auseinandersetzung ihre Persönlichkeit entfalten? Kein Anreiz zur Ablehnung der Erwerbstätigkeit - Es kommt deshalb darauf an, umverteilende Staatsleistungen so einzusetzen, dass zwar das absolute Existenzminimum nicht unterschritten aber auch kein Anreiz zur Ablehnung einer Erwerbstätigkeit gegeben wird. Am Persönlichkeits- und Freiheitsbild des Grundgesetzes gemessen, ist deshalb eine Politik dann sozial gerecht, wenn sie die soziale Existenzsicherung so ausgestaltet, dass der Wiedereintritt in Arbeitsverhältnisse möglich, notwendig und attraktiv wird und m. E. bleibt!. Das einladende Aufspannen der sozialen Hängematte für arbeitsfähige und lediglich nicht arbeitswillige Menschen erweckt in anderen Menschen in der Gemeinschaft Neid und Missgunst und stört den sozialen Frieden. Geprägt von dem unsolidarischen Verhalten der Arbeitsunwilligen, die in der staatlichen sozialen Hängematte Platz zu hoffen finden, wird nachgeforscht und "Gesinnungsschnüffelei" betrieben. Für ein gelingendes Miteinander in der Gemeinschaft ein unsägliches Verhalten. Deshalb folgert di Fabio zu Recht, dass seit einiger Zeit Einigkeit darüber herrsche, dass die Anreizwirkungen der Sozialpolitik schärfer als bisher beobachtet werden müssen. Nicht alles darf den kollektiven Spielern und den Sachgesetzlichkeiten gesellschaftlicher Umstände zugerechnet werden: Nicht alles, aber vieles ist Sache der persönlichen Einstellungen, Fähigkeiten und Motivationen. Der Mensch ist per se weder gut noch schlecht, sondern vereint viele und auch widersprüchliche Eigenschaften in sich Wenn wir nicht arbeiten müssen tun wir es nicht. Wenn wir aber arbeiten müssen tun wir es womöglich gerne. Sozialpolitik steht immer zwischen denen, die etwas bekommen, und jenen, denen man dazu etwas nehmen muss. Sozialstaatliche Maßnahmen dürfen im Verfassungsstaat das Eigentum weder individuell noch institutionell verletzen. Sozialpolitik muss sich wie jede andere Politik am Maßstab der Grundrechte messen lassen. Sozialpolitische Maßnahmen dürfen nicht darauf verengt werden, bei denjenigen etwas zu holen, bei denen was zu holen ist. Belastung nach Leistungskraft ist eine Forderung des Gleichheitssatzes, denn wenn derjenige, der 100.00 Euro versteuerbares Einkommen erzielt, dieselbe absolute Summe als Einkommenssteuer zu entrichten hatte wie derjenige, der 50000 Euro erzielt, würde Ungleiches willkürlich gleich behandelt. Die Belastung nach der Leistungskraft darf nicht nur danach fragen, ob am guten Schluss noch das Existenzminimum verbleibt, sondern ob dem einzelnen genügend von seinem wirtschaftlichen Erfolg gelassen wird, um noch die Differenz als individuellen Erfolg sichtbar zu halten. Das klingt zwar abstrakt, hat aber erhebliche praktische Konsequenzen, wenn man sich die kumulative Belastung von Leistungsträgern mit mittlerem Einkommen betrachtet, die immer wieder und typisieren für belastbar gehalten werden. Die Rede ist von Facharbeitern, Ingenieuren, Angestellten und u. a. kleinen Handwerkern und Lehrern, kurz vom personellen Rückgrat unserer Volkswirtschaft, vgl. di Fabio, Die Zukunft des Sozialstaats - Das bedrängte Drittel, FAZ vom 28. Oktober 2006.

267 frei nach Fratzscher, Die Deutschland-Illusion, 2014, S. 215.

268 Zur Unantastbarkeit der Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG gehört die Anerkennung eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung. In diesen Bereich darf die akustische Überwachung von Wohnraum zu Zwecken der Strafverfolgung (Art. 13 Abs. 3 GG) nicht eingreifen. Eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zwischen der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Strafverfolgungsinteresse findet insoweit nicht statt, BVerfG, Urteil vom 3. 3. 2004 - 1 BvR 2378/98 u. 1 BvR 1084/99, NJW 2004, 999 = MMR 2004, 302 = JuS 2003, 1213 (mit Anm. Sachs) = BVerfGE 107, 299 = BeckRS 2003 30311054 = NStZ 2003, 441. Der Maßstab der Menschenwürde ist mit dem Blick auf die spezifische Situation näher zu konkretisieren, in der es zum Konfliktfall kommen kann. Die akustische Überwachung von Wohnräumen zu Strafverfolgungszwecken verletzt nicht generell den Menschenwürdegehalt von Art. 13 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG. Allerdings können Art und Weise der Durchführung der Wohnraumüberwachung zu einer Situation führen, in der die Menschenwürde verletzt ist. Dem wirkt Art. 13 Abs. 3 GG durch ausdrückliche rechtliche Vorkehrungen entgegen; hinzu kommen weitere durch Verfassungsauslegung ermittelte Vorgaben. Die Menschenwürde ist tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Verfassungswert, vgl. BVerfGE 6, 32, 36 = NJW 1957, 297; BVerfGE 45, 87, 227 = NJW 1977, 1525; BVerfGE 72, 105, 115] = NJW 1986, 2241. Der Gewährleistungsgehalt dieses auf Wertungen verweisenden Begriffs bedarf der Konkretisierung. Dies geschieht in der Rechtsprechung in Ansehung des einzelnen Sachverhalts mit dem Blick auf den zur Regelung stehenden jeweiligen Lebensbereich und unter Herausbildung von Fallgruppen und Regelbeispielen, vgl. zu Art. 100 BayVerf. etwa BayVerfGH, BayVBl 1982, 47, 50. Dabei wird der Begriff der Menschenwürde häufig vom Verletzungsvorgang her beschrieben, vgl. BVerfGE 1, 97, 104 = NJW 1952, 297; BVerfGE 27, 1, 6 = NJW 1969, 1707; BVerfGE 30, 1, 25 = NJW 1971, 275; vgl. Schwab Heike, Silke und Siegfried, Verfassungsbeschwerden gegen akustische Wohnraumüberwachung, Mannheimer Schriften, Band 25 - Die Zukunft aktiv gestalten III, S. 91 - 113.; Heike, Silke und Siegfried Schwab, BVerfG bestätigt Verwertbarkeit rechtswidrig erhobener Informationen, in Die Zukunft aktiv gestalten III, S. 115 - 141 - aus Art. 1 Abs. 1 GG ergibt sich, dass ein Kernbereich privater Lebensgestaltung absolut und unantastbar geschützt ist. Den Kernbereich betreffende Informationen dürfen nicht verwendet und damit auch nicht in einem Urteil verwertet werden. Zum Kernbereich gehören etwa Äußerungen innerster Gefühle, oder Ausdrucksformen der Sexualität. Allerdings gehören nicht zum Kernbereich Äußerungen, die in unmittelbarem Bezug zu strafbaren Handlungen stehen, wie etwa Angaben über die Planung bevorstehender oder Berichte über begangene Straftaten, BVerfGE, 367, 375. Das BVerfG hat wiederholt betont, dass es mit der Würde des Menschen nicht vereinbar ist, ihn zum bloßen Objekt der Staatsgewalt zu machen, vgl. BVerfGE 30, 1, 25f. u. 39ff. = NJW 1971, 275; BVerfGE 96, 375, 399] = NJW 1998, 519. So darf ein Straftäter nicht unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs behandelt und dadurch zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung und Strafvollstreckung gemacht werden, vgl. BVerfGE 45, 187, 228 = NJW 1977, 1525; BVerfGE 72, 105, 116 = NJW 1986, 2241. Allerdings sind der Leistungskraft der Objektformel auch Grenzen gesetzt, vgl. BVerfGE 30, 1, 25] = NJW 1971, 275. Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, dem er sich zu fügen hat. Die Menschenwürde wird nicht schon dadurch verletzt, dass jemand zum Adressaten von Maßnahmen der Strafverfolgung wird, wohl aber dann, wenn durch die Art der ergriffenen Maßnahme die Subjektqualität des Betroffenen grundsätzlich in Frage gestellt wird. Das ist der Fall, wenn die Behandlung durch die öffentliche Gewalt die Achtung des Werts vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt. Solche Maßnahmen dürfen auch nicht im Interesse der Effektivität der Strafrechtspflege und der Wahrheitserforschung vorgenommen werden. Kritisch zur "inflationären Rechtsprechung zum Thema Menschenwürde" - Tiedemann, Vom inflationären Gebrauch der Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, DÖV 2009, S. 614 - man hätte reflektieren müssen, warum gerade die Unverletzlichkeit der Wohnung zur Entwicklung und Wahrung eines freien Willens, also personaler Authentizität und Identität unverzichtbar ist und somit eine Bedingung der Möglichkeit menschenwürdigen Lebens darstellt und nicht nur Ausdruck einer speziellen Handlungsfreiheit ist. Die Privatwohnung ist ein letztes, nicht weiter reduzierbares Refugium, welches die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, dass Menschen sich ihrer selbst vergewissern können und nicht dadurch von sich selbst entfremdet werden, dass sie permanent öffentliche Rollen spielen müssen. Fazit: Der Höchstwert der Menschenwürde ist aus meiner Sicht unverrückbar und auch nicht abwägbar, entgegen Herdegen, Das Absolute ist relativ, FAZ vom 17. 12. 2008 - die Menschenwürde hat Konjunktur. Da sie unantastbar ist besteht eine Scheu vor Differenzierung. Doch nur sie bewahrt die Würdegarantie vor der Bedeutungslosigkeit. Die Unantastbarkeit des personalen Achtungsanspruchs lässt es nicht zu eine "Verletzung" der Menschenwürde mit anderen Grundwerten der Verfassung zu rechtfertigen. Doch gebietet es die Einheit der Verfassung als in sich stimmige Wertordnung, dass die Formulierung des individuellen Würdeanspruchs auch auf Würde und Leben anderer Bedacht nimmt. Insoweit erschließt sich der konkrete Inhalt der menschlichen Würde in einer Gesamtbetrachtung der berührten Rechtsgüter in einer bestimmten Situation. Nur so lässt sich nach Herdegen überhaupt schlüssig begründen, weshalb langjährige Freiheitsstrafe, Zwangsernährung, Ausforschung des Intimbereichs oder gar staatliche Tötung in bestimmten Fällen (Herdegen meint wohl den "Finalen Rettungsschuss", vgl. Schwab, Aktuelles Polizeirecht, 2010) Würdeverletzungen darstellen und in anderen Fällen würdekonform sind. Herdegen - doch besteht Scheu vor jeder Differenzierung bei der Konkretisierung der Menschenwürde. Dahinter steht die Sorge, jede Differenzierung bedeute eine "Relativierung" der Menschenwürde oder gar eine von Person zu Person vorgenommene Abstufung in der Zuerkennung von Würde. Hinzu tritt die Sehnsucht nach Reduzierung der Komplexität. Die Welt wird unendlich durchschaubarer und berechenbarer, wenn sie von kategorischen Ge- und Verboten regiert wird. Am Ende führt die Scheu vor jeder Differenzierung dazu, dass niemals nach Gefahr, Verantwortlichkeit oder auch nach besonderer Schutzbedürftigkeit unterschieden werden darf. Das Grundgesetz weist der moralischen Bedeutung der Würde des Menschen Rechtscharakter zu, Isensee, in Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. IV, 2011, § 87 RN 23. Das Grundgesetz stattet die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG mit allen normativen Garantien aus, deren das positive Recht fähig ist. Mit den rationalen Mitteln des Rechts errichtet der Verfassungsstaat ein unverzichtbares, krisenfestes Tabu. Die Menschenwürde erweist sich als positiver Grund der Grundrechte. Der Mensch als vernunftbegabtes und selbstbestimmtes Wesen soll nicht Zustände der Entwürdigung und Missachtung ausgesetzt werden sondern in Selbstachtung und Selbstbestimmung sein Leben gestalten. Die würdevolle Autonomie ist eine Wesenseigenschaft des Menschen. Autonome Entscheidungen treffen, in Freiheit auch mit gleichen Bedingungen körperlich und seelisch unversehrt in der menschlichen Gemeinschaft, geachtet mit selbstverständlichem Geben und Nehmen und sinnerfüllt, glücklich und beschützt autonom sein Leben gestalten. "Nach seinen Gefühlen zu fragen, das ist die Entdeckung einer neuen Welt. Warum lernen so viele Menschen, ihre Gefühle zu verdrängen, zu kontrollieren? Können wir sagen: Das fühle ich jetzt, ohne Angst vor Konventionen zu haben. Freundschaft braucht Zeit, braucht gemeinsame Unternehmungen und viele Gespräche (Bischöfin Käßmann, Das Zeitliche segnen - voller Hoffnung leben, In Frieden sterben, 2014, S. 205).

269 Immer mehr Deutsche studieren. Doch die Herkunft beeinflusst den Bildungsweg. Ihren Eltern zuliebe verzichten manche Kinder von Nichtakademiker auf ein Studium. Betrachtet man die Studierenden nach ihren sozioökomischen Merkmalen dann sticht eines heraus, das eine gute Prognose über den Bildungsweg erlaubt: die soziale Herkunft, gemessen am Bildungsabschluss der Eltern. Man kann es auf die Formel bringen: Ein Kind aus einem Akademiker Haushalt studiert fast immer; ein Kind aus einem Arbeiterhaushalt selten. Sogar die Wahl des Studienfaches ist schichtspezifisch. So findet man unter Medizin- und Jurastudenten kaum Arbeiterkinder, aber relativ viele in den Ingenieurwissenschaften, Geisteswissenschaften und dem Bereich soziale Arbeit. Menschen wollen vor allem den sozialen Abstieg vermeiden; das sei ihnen wichtiger als der Aufstieg. Wenn aber der Statuserhalt das Mindestziel ist, reicht für Nichtakademiker-Kinder die Berufsausbildung, während Akademikerkinder - und ihre Eltern - alles dafür tun, um an die Hochschule zu gelangen. Wenn Schüler aus Arbeiterhaushalten über den Erfolg im Studium ins Zweifeln kommen, dann liegt das auch am Selbstbewusstsein "Man traut sich nicht zu es schaffen zu können". Die große Kraft, die die Herkunft habe, könne man nur ein bisschen abmildern. Die Ungleichheit werde über die Jahre zwar weiter abnehmen, es wird notwendigerweise soziale Aufstiege geben. Das werde aber weiterhin nur langsam vonstattengehen, Becker, Studium: Die Aufstiegsangst der Arbeiterkinder, FAZ vom 7. Oktober 2014.

270 1929-1968 - schwarzer amerikanischer Bürgerrechtler und Baptistenpfarrer

271 1831-1910, evangelischer Theologe, Begründer der Bodelschwingschen Anstalten in Bethel)

272 Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstrecke sich nur auf die Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind; er gewährleiste das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen unpolitischen Leben umfasse. Das BVerfG hat durch das AsylbLG-Urteil einige Vorschriften des AsylbLG mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz unvereinbar“ erklärt. Dies kam angesichts der im Hartz IV-Urteil errichteten weitreichenden Anforderungen an das „Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums und der materiellen Maßstäbe dieses Urteils nicht überraschend, Rothkegel, Das Gericht wird's richten – das AsylbLG-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Ausstrahlungswirkungen, ZAR 2012, 358. Britz, Verfassungsrechtliche Grenzen der Ungleichbehandlung von Migrantenfamilien im Bereich der Familienleistungen, ZAR 2014, 56 Das BVerfG bemängelt u. a. die Gesetzgebung habe „sich damals auf eine bloße Kostenschätzung gestützt“ im Rahmen der Gesetzgebung sei insbesondere für minderjährige nach dem AsylbLG Leistungsberechtigte nicht ermittelt worden, „welche besonderen kinder- und altersspezifischen Bedarfe bestehen“; bei Kindern und Jugendlichen müssten auch die Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft als Anspruch gesichert werden; die Materialien wiesen lediglich die Beträge aus, die ausreichen sollten, um einen unterstellten Bedarf zu decken Vermutungen, die Leistungsberechtigten hielten sich alle nur kurzzeitig in Deutschland auf, seien nicht plausibel belegt; jedenfalls für die in § 2 Abs. 2 AsylbLG vorgesehene Dauer des (nach verschiedenen Gesetzesnovellen mittlerweile auf vier Jahre verlängerten) Bezugs von Grundleistungen könne nicht mehr von einem nur kurzen Aufenthalt mit möglicherweise spezifisch niedrigem Bedarf ausgegangen werden; die menschenwürdige Existenz müsse einheitlich gesehen und ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik realisiert werden; auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder -perspektive in Deutschland rechtfertige darum nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken; migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, könnten von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen; die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde sei migrationspolitisch nicht zu relativieren. Bemerkenswert ist die klare Aussage des BVerfG zur Abwägungsresistenz des Menschenwürdeschutzes aus migrationspolitischen Überlegungen. Das hat besondere Bedeutung - zum einen, dass es der Verfassung beispielsweise widerspricht, Ausländern allein aus migrationspolitischen Rücksichten den Zugang zu einem System sozialer Mindestsicherung, durch die inländischen Hilfebedürftigen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden soll, zu verschließen und sie dadurch von den Leistungen dieses Systems auszunehmen. Die klare und bekennende Aussage zur Unerheblichkeit solcher Motive im Rahmen der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz lässt sich verallgemeinernd als unverrückbares Bekenntnis zur Absolutheit des Menschenwürdeschutzes und als Verweis auf seine Abwägungsresistenz, vgl. Herdegen, Das Absolute ist relativ) und als nachdrückliche Ablehnung der "modernen" Auffassung von der relativen Wirkung des Art. 1 Abs. 1 GG verstehen. Mit der Abwägungsresistenz des Menschenwürdeschutzes und der sowohl das Hartz IV- als auch das AsylbLG-Urteil kennzeichnenden Bedarfsorientiertheit lässt sich ferner begründen, dass weder general- noch spezialpräventive Motive (vgl. zur Prävention im Ausländerrecht - Schwab, Die Ausweisung nach dem AuslG, Diss., 1990) eine Unterschreitung des für ein menschenwürdiges Leben notwendigen Leistungsniveaus zulassen. Schon der Menschenwürdegrundsatz verbietet eine Instrumentalisierung des Leistungsrechts zu sachfremden, insbesondere auch zu ausländerpolizeilichen, also jedenfalls bedarfsunabhängigen Zwecken, Rothkegel, Das Gericht wird's richten – das AsylbLG-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Ausstrahlungswirkungen, ZAR 2012, 360.

273 (1927-), deutscher Theologe, Erzbischof von München und Freising)

274 Wirtschaftlich-soziale Machtverhältnisse und Machtbildungen können schon die Entstehung der Freiheit als realer Freiheit verhindern, indem sie die Verwirklichung der rechtlich garantierten Freiheit nicht zustande kommen lassen. Sie tun das immer dann, wenn sie aus sich heraus bewirken, dass einzelne oder ganze Gruppen von Menschen über keine oder wenig soziale Unabhängigkeit und soziale Sicherheit verfügen, dass ihnen dadurch die sozialen Voraussetzungen zur Realisierung ihrer rechtlichen Freiheit fehlen Der Staat muss also, um Freiheit für alle zur Entstehung zu bringen, über die formale rechtliche Gewährleistung der Freiheit hinaus auch vorhandene oder entstandene gesellschaftliche Macht selbst begrenzen, kanalisieren, sie daran hindern, dass sie gegenüber den Un-mächtigen ihre Überlegenheit voll ins Spiel bringt und deren rechtliche Freiheit dadurch erstickt. Nur so lässt sich wenigstens annähernd die Gleichheit des Ausgangspunktes, verstanden als die Realisierung der Freiheit herstellen. Ist die Freiheit als reale Freiheit in dieser Weise entstanden und hergestellt, stellt sich das Problem von neuem und vielleicht noch schärfer. Denn Rechtsgleichheit und allgemeine Erwerbsfreiheit, letzter nur begrenzt durch die gleiche Freiheit des anderen und die elementaren Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, beseitigen keineswegs die natürliche und wirtschaftliche Ungleichheit der Menschen, sondern setzen sie allererst zu ihrer vollen Entfaltung frei, Böckenförde, Freiheitssicherung gegenüber gesellschaftlicher Macht, in Aufsätze, 2011, S. 73.

275 Zu den notwendigen Aufgaben des Staates gehört die Gestaltung und Garantie der Rechtsordnung als Rahmen und Maßgabe für die Ordnung der Gesellschaft und ihres Zusammenlebens. Erst dadurch wird Freiheit eine gesicherte Freiheit. Diese gesicherte Freiheit kommt freilich dadurch zustande dass das Recht nicht einfach Freiräume schafft, sondern zugleich Grenzen setzt, Grenzen für die Beliebigkeit freier Willkür und die Macht des Stärkeren, und dass die Einhaltung dieser Grenzen gewährleistet wird. Begrenzendes, staatlich garantiertes Recht ist notwendige Bedingung der Freiheit, es muss allerdings auch die Freiheit zu seinem Ziel haben, um auch hinreichende Bedingung der Freiheit zu sein. Mit der Aufgabe der Freiheitsgewährleistung durch den Staat hat es allerdings seine besondere Bewandtnis. Sie umfasst nicht nur die Anerkennung und Gewähr der gleichen rechtlichen Freiheit jedes einzelnen, nicht nur die Festlegung eines die Freiheit allgemein sichernden Rechtszustandes durch Umgrenzung der rechtlichen Freiheitssphären im Verhältnis der einzelnen und der Gruppen der Gesellschaft zueinander. Sie umfasst darüber hinaus, um diesen Bereich herauszugreifen und im Folgenden näher zu beleuchten, auch soziale Gestaltung und sozialen Ausgleich. Und dies nicht als Überschritt zur Einschränkung der Freiheit und von ihr weg, sondern um der Freiheit selbst und ihrer Realisierungsmöglichkeit willen. Eine Gesellschaft, deren Grundverfassung in der Rechtsgleichheit, der Handlungs- und Erwerbsfreiheit und der Garantie des (erworbenen) Eigentums liegt, ist auf die freie Entfaltung individueller wie gruppenmäßig organisierter Interessen, nicht zuletzt der wirtschaftlichen Erwerbsinteressen ausgerichtet. Freiheit ist Selbstbestimmung- Selbstbestimmung ist wie voraussetzungsvoll sie im Hinblick auf Sozialisation, Verstand und Bildung auch sein mag, in erster Linie individuelle Selbstbestimmung, Huber, Freiheit braucht Mut, in Festschrift für Hans Jürgen Papier, 2013, 308. Sie fließt aus der Persönlichkeit des einzelnen, verwirklicht sich in individuellen Präferenzentscheidungen Freiheit ist die Fähigkeit, seines Glückes Schmied zu sein. Die höchstpersönliche Prägung der Freiheitsausübung hat unweigerlich zur Folge, dass der, der sie in Anspruch nimmt, sich in einer Minderheit befindet. Freiheitsrechte sich deshalb auch potentielle Instrumente des Minderheitenschutzes. Die eigentliche Bewährungsprobe für die Freiheit ist heute die Behauptung im gesellschaftlichen Kontext, im Verhältnis zwischen Bürger und Bürger. Freiheit zu leben erfordert Mut. Huber, Freiheit braucht Mut, in Festschrift für Hans Jürgen Papier, 2013, S. 313. Die Freiheit ist kein Geschenk, von dem man billig leben kann, sondern Chance und Verantwortung. Freiheit ist Mitverantwortung (Richard von Weizsäcker). Freiheit ist ein Gut, das durch Gebrauch wächst und durch Nichtgebrauch dahinschwindet (Richard von Weizsäcker). Freiheit bedeutet, dass man nicht unbedingt alles so machen muss, wie andere Menschen (Astrid Lindgren). Die Fähigkeit, Nein zu sagen, ist der erste Schritt zur Freiheit (Nicolas Chamfort). Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen und eine unerlässliche Grundlage für ein friedvolles Zusammenleben der Menschen in der sozialen Gemeinschaft. "Recht schafft Freiheit, indem es Grenzen zieht"!

276 Wie frei macht der Sozialstaat?, Böckenförde, FAZ vom 15. Sept. 2004

277 Wenn die politischen Instrumente stupf geworden sind und die Verantwortlichen nicht mehr weiterwissen, kommen regelmäßig Werte auf die Tagesordnung. Das ist praktisch, denn die muss der Einzelne für sich in die Tat umsetzen. Bei Mark Aurel findet sich eine Liste, die seit zweitausend Jahren sicheren Bestand hat und jedem Menschen zugänglich ist, weshalb sich niemand mit der "Mangelhaftigkeit seiner Naturanlage" herausreden kann. Es sind die Fleiß, Selbstbeschränkung, Genügsamkeit, Bescheidenheit, Besonnenheit und Großzügigkeit. Diese Werte täten uns auch heute noch guten Dienst, sind aber von Ausnahmen abgesehen aus der Mode gekommen und zudem unvereinbar mit dem, was der Markt von seinen Teilnehmern erwartet. Statt ihrer beherrscht eine Reihe christlicher Todsünden wie Gier, Neid, Völlerei und Wollust unser Verhaltensrepertoire. Wir haben uns zum "Denken in Rechten, nicht in Pflichten, in Ansprüchen, nicht in Verantwortung" erzogen. Menschen sind zur Geselligkeit verdammt, die Sehnsucht nach gemeinsamem Zeitvertreib wird im Alter eher größer. Warum sollte eine ganze Generation tatenlos zuschauen, wie Teile von ihr in die Einsamkeit kommen und das Leben gegen die Natur verläuft? In lokalen Netzwerken auf Nachbarschaftsebene müssen die Rüstigen sich ehrenamtlich um die Gebrechlichen, Pflegebedürftigen und Dementen ihrer Generation kümmern so Sven Kuntze, Die schamlose Gesellschaft, 2014, S. 251, 253

278 Einige Schulen verzichten bereits auf Hausaufgaben, denn gemeinsame Lernzeiten am Vormittag sollen sozial gerechter sein. Jutta Allmendinger WZB Berlin ist der Meinung, dass Hausaufgaben "soziale Ungleichheit zementieren" und hält es deshalb für besser, den Lernstoff in kleinen Gruppen mit Hilfe des Lehrers noch einmal durchzuarbeiten. Doch es gibt auch andere Stimmen. Laut der sehr breit angelegten Hattie-Studie fördern Hausaufgaben den Lernerfolg durchaus - mehr als kleine Klassen oder hohe Schuldbudgets, allerdings auch deutlich weniger als andere Faktoren wie Lehrerqualität und regelmäßige Tests mit Feedback. Der Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer hat zudem darauf hingewiesen, dass die Befunde der Hattie-Studie differenziert nach dem Alter der Schüler zu betrachten seien. Am Gymnasium sei der Effekt von Hausaufgaben auf die mathematischen, sprachlichen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten stärker, in der Grundschule geringer. Nach Zierers Ansicht ist es gerade gut, früh Verantwortung und Pflichtbewusstsein einzuüben, vgl. Trautsch, Neues Lernkonzept - Den Hausaufgaben droht die Abschaffung, FAZ vom 2. Dezember 2013

279 Die große Idee des Staates ist verblasst. Das Recht bleibt zwar im Gestaltungzugriff der Politik, es wird aber inflationär in mitunter "kleiner Münze" in Umlauf gesetzt und überlagert sich im europäischen Mehrebenensystem. Die Vervielfältigung der Gesetzgeber und die Verschränkungen der Rechtsordnungen mit unterschiedlichen primären und sekundären Rechtserkenntnisquellen(Grundlagenverträge, europäische Richtlinien und EU-Verordnungen) lässt die singuläre und autarke Willensbildung nationaler Gesetzgeber als überkommenes Relikt der Vergangenheit erscheinen. Mit dem Hemmnis rückt der Mensch in den Mittelpunkt. Er war als autonomes Wesen für sich selbst verantwortlich und konnte als anerkanntes, sozial geachtetes Subjekt seines Geschickes und seiner Geschichte die "Bühne der Freiheit" betreten. Die Verbindung von individueller Freiheit und rechtlich beschränkter öffentlicher Gewalt und nach Demokratie in einem durchsetzungsstarken Staat -verlangenden Gemeinwesens - in dem die Grundrechte als Abwehr- und Staatsbürgerrechte dienten, prägte das staatliche Geschehen. Die Würde und Freiheit des Einzelnen sicherten dessen Individualität und bildete mit der Bindung der Staatsgewalt an das rational begründete Recht die Grundlage des Verfassungsstaates. Die Verfassung regelte als Grundnorm des Gemeinwesens die Form und Ordnung und sicherte die Identität der Gemeinschaft als kollektive Einheit ihre Identität und individuelle Freiheit. Der Staat war ausgestattet mit dem Recht und der Verantwortung, die soziale Wirklichkeit zu gestalten, vgl. di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 18.

280 Neid ist kein edles Motiv. Es ist ein Laster. Aber es kann schöpferische Leistungen in Gang setzen. Das Ziel ist erreicht, wenn der Glückliche sein Glück als "unverdient" empfindet und darüber unglücklich wird; wenn er sich für den Erfolg zu entschuldigen sucht, sich schließlich vielleicht selber zu einem "Missbrauch" erklärt. Der moderne Versorgungsstaat versucht, den Neid durch umfassende Umverteilung zu beschwichtigen. Wohlfahrtsökonomie ist Neidbeschwichtigungsökonomie (kleinstmöglicher Neid der größten Zahl). Die Neidökonomie des Wohlfahrtsstaates drückt sich vor allem in der Forderung nach Chancen-, möglichst sogar Ergebnisgleichheit aus. Die Neidökonomie findet sich wieder in der Gießkannenpolitik. Bestes Beispiel ist die Bildungspolitik, die durch das kostenlose Angebot von Ausbildungsleistungen für alle ohne Bedürftigkeitsvoraussetzung, nur eine Filiale der Sozialpolitik darstellt, so Habermann, Die Ökonomie des Neids, Cicero 9/2004, S. 108.

281 Vgl. Sven Kuntze, Die schamlose Generation - Wie wir die Zukunft unserer Kinder und Enkel ruinieren, 2014, S. 250

282 Die Legitimität der politischen Ordnung und der Ausübung politischer Herrschaft stützt sich auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen, die Wahlen durch das Volk und die Anerkennung der jeweiligen Organe durch die Bürger sowie die Bindung der Staatsgewalten an die verfassungsrechtlichen Grundlagen. Legitimation erfolgt durch Normen, Verfahren und Werte, die in den staatlich Verfahren gesichert werden. Die moderne rechtsstaatliche Demokratie ist damit eine Ausprägung rationaler Legitimität. Sie lässt sich von der Legalität, d. h. der Gesetzmäßigkeit des Handelns leiten (Verbindlichkeit grundlegender Regeln und Verfahren). Demokratie ist nicht nur bewusste und dauerhafte Rückkoppelung an den Volkswillen, sondern auch verantwortungsbewusste und bedarfs- und zukunftsorientierte Ausübung von Staatsgewalt. Es gibt keine Freiheit ohne Recht und es gibt kein Recht ohne Staat. Der Rechtsstaat gehört zur Wirklichkeit der allgemeinen Freiheit. Seine Prinzipien sind das Gerüst einer Republik, eines Gemeinwesens freier Menschen, das freilich auch demokratisch und sozial sein muss, Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, 2006. Politik und Recht wirken vielfältig aufeinander. Politisches Handeln führt zu Rechtsnormen. Rechtsnormen regeln politisches Handeln. Politische Gemeinschaften geben sich eine Verfassung. Die Verfassung enthält dann die grundlegende „Geschäftsordnung“ für das Zusammenleben in der Gemeinschaft. Recht ist die Grundlage für eine friedliche Lösung von Konflikten. Es ist ein Garant für die individuelle und staatliche Freiheit und Demokratie. Rechtsvorschriften schaffen im Wirtschaftsleben die notwendige Sicherheit für einen Wohlstand, an dem alle teilhaben können. Der Rechtsstaat mit seinen institutionellen Sicherungen ist Garant für die Freiheit, Voraussetzung für die Demokratie. Er schafft Sicherheit und Vertrauen im Wirtschaftsleben und somit die Vorbedingung für einen Wohlstand für alle.

283 Es mag paradox klingen, aber wenn wir die Zahl der Bildungsverlierer verkleinern wollen, dann müssen wir uns von der Illusion der Bildungsgerechtigkeit verabschieden, wie sie in Deutschland weit verbreitet ist. Jener Illusion, der viele Gesamtschulbefürworter in den sechziger und siebziger Jahren nachhingen und die bis heute in jeden Streit über unser Bildungssystem mitschwingt: dass die Schule in der Lage ist, herkunftsbedingte Bildungsunterschiede auszugleichen, dass man mit Bildung letztlich die gesellschaftliche Ungleichheit beseitigen oder zumindest spürbar abschwächen kann. Die Hilfe für Kinder aus sozial schwachen Familien ist eine Illusion. Wenn man jemanden in lähmende Verzweiflung treiben will, dann muss man ihm nur pausenlos Ziele vorgeben, die er nicht erreichen kann. Die Bildungsforscher betonen in ihrem Bericht, dass vor allem jene Kinder, die in ihren Familien wenig gefördert werden, deutlich besser lesen können, wenn sie mehrere Jahre in Krippe und Kindergarten verbracht haben. Im selben Bericht liest man, dass vor allem bildungsorientierte Familien die Betreuungsangebote für unter Dreijährige in Anspruch nehmen. Eltern so formulieren es die Forscher sind nicht nur selbst wichtige entwicklungsfördernde Impulsgeber für ihre Kinder, sondern sie fungieren auch als entscheidende Wegbereiter für außerhäusliche Bildungsangebote. Wer zusätzliche Angebote schafft, um benachteiligte Kinder zu fördern, der muss damit rechnen, dass Kinder aus bessergestellten Familien sie sogar noch stärker nutzen. Oder dass sie in noch wirkungsvollere Angebote ausweichen. Selbst der längere gemeinsame Schulbesuch von Kindern unterschiedlicher Sozialschichten auf den viele ihre Hoffnung setzen, vermag den Einfluss der Herkunft nicht zurückzudrängen. Man mag es beklagen, aber sollte es nüchtern zur Kenntnis nehmen: Die Schule kann die Gesellschaft nicht gerechter machen. Sie eignet sich nicht als Instrument des social engineering. Wer das von ihr fordert, der überfordert und demotiviert sie. Das nimmt ihr am Ende die Kraft, das drängendste Problem des deutschen Bildungswesens zu lösen: die große Zahl der Bildungsverlierer. Im Bildungsbericht wird auf eine große Gruppe Abgehängter hingewiesen. 15 bis 20 % der jungen Leute können im Alter von 15 Jahren nicht richtig lesen und rechnen und sehen letztlich mit 30 Jahren ohne Berufsausbildung da. Um sie müssen wir uns Sorgen machen. Sie werden im Beruf und im Privatleben große Probleme haben. Unbedingtes Ziel der Bildungspolitik muss es sein, diese Gruppe der Abgehängten unter den Schülern zu verkleinern, Kerstan, Ist die Schule gerecht, Die Zeit, vom 11. Juli 2012 Heft Nr. 27

284 Was meinen Sie, Herr Weber-Grellett, ZRP 2014, 219

285 Die Gerechtigkeit hat einen moralischen Rang, mit dem kaum ein anderer Begriff konkurrieren kann. Denn zum einen zeichnet sie sich durch etwas aus, das unsere Zeiten der Globalisierung willkommen heißen: Al ein Leitziel der Menschheit, das alle Kulturen eint, hat sie omnikulturelle Bedeutung. Zum anderen bildet sie im Rahmen der Sozialmoral jenen Teil, dessen Anerkennung die Menschheit einander schulden, dessen Verletzung daher Protest verdient und nach Veränderung verlangt. Zweifellos gebietet die Sozialmoral mehr, beispielsweise persönlich mitführend, großzügig und hilfsbereit, auch wohltätig zu verhalten. Eine zwangsbefugte Gesellschaftsordnung, ein Recht- und Staatswesen, gebietet aber im Wesentlichen nur, was die Menschen einander schulden, eben die Gerechtigkeit, diese aber kompromisslos, ohne dass sie etwa im Namen wirtschaftlichen Wohlergehens eingeschränkt werden dürfte. Wegen des überragenden Ranges setzen sich Politiker zu Recht für Gerechtigkeit ein, freilich mit der Gefahr dabei Missbrauch zu treiben. Weil die Gerechtigkeit den geschuldeten Anteil der Sozialmoral ausmacht, ist es nämlich politisch klug erstens Eigeninteressen zu Forderungen der Gerechtigkeit zu erhöhen, zweitens Gegenforderungen als ungerecht zu verunglimpfen und für gerechtfertigt zu erklären, was in Wahrheit zum verdienstlichen Mehr gehört, zu Mitgefühl, Nächstenliebe und Wohltätigkeit. Noch lieber als schlicht von Gerechtigkeit sprechen Politiker von sozialer Gerechtigkeit und erklären sie zum entscheidenden Kriterium demokratischer Politik. Dabei vergessen sie die ursprünglich und bis heute unverzichtbare Bedeutung. Gerechtigkeit besteht in der unparteilichen Durchsetzung des geltenden Rechts. Der Mensch muss die Fähigkeit, Überzeugungen zu bilden und ein eigenes Leben zu führen lernen. Er braucht Chancen, heute vor allem für eine hochentwickelte Bildung und Ausbildung. Qualifiziert man auch die dafür zuständige Gerechtigkeit als sozial, reicht sie über die soziale Frage weit hinaus. Die Arbeit erfordert Mühen, die mancher lieber scheut: die Investition eines rechtzeitigen Erwerbs von Berufsfähigkeiten, Leistungsbereitschaften, nicht zuletzt berufliche, soziale und geographische Mobilität. Außerdem leisten zu hohe Bürgschaften jenem sozialen Trittbrettfahrertum Vorschub, das sich Gaben holt, ohne die fälligen Gegengaben zu erbringen. Auf keinen Fall darf die Bürgschaft zur bevormundenden Fürsorge ausarten. Denn im Empfangen von Almosen, auch in dem eines gesetzlich verbürgten Anspruchs liegt kein Höchstmaß an Würde. Merkwürdigerweise wird gern verdrängt: dass ein zu großzügiger Sozialstaat den ideellen Wert der Würde fast umstandslos auf Materielles verkürzt und damit einer andernorts kritisierten Ökonomisierung erliegt. Weil die Alternative in einer "Hilfe zur Selbsthilfe" besteht, muss sich die sachlich erweitere soziale Gerechtigkeit auf eine der neueren sozialen Fragen einlassen. Für die Arbeitsgesellschaft liegt eine Forderung der erweiterten sozialen Gerechtigkeit auf der Hand: Angesichts des Gegensatzes von Beschäftigten und Arbeitslosen darf eine gerechte Lohnfindung und Tarifpolitik nicht die Besitzer von Arbeitsplätzen schützen, die Besitzlosen aber diskriminieren. Statt auf der Klaviatur des Sozialneides zu spielen, setzt sich eine weitsichtig gerechte Politik für eine Rechts- und Wirtschaftsordnung ein, die mit einem global konkurrenzfähigen Arbeits- und Geschäftsklima, zusätzlich mit sozialen und kulturellen Standortvorteilen Investoren gewinnt. Die bildungspolitische Chancengerechtigkeit verlangt keine Ergebnisgleichheit. Gegen sie sprechen die gewaltigen Unterschiede in der Begabung und die unterschiedliche Bereitschaft, durch eine lange und schwierige Ausbildung eine lohnenswerte Investition in die eigene Zukunft vorzunehmen. Die Generationengerechtigkeit verlangt den Menschen ab, dass keine Generation der nächsten eine in der Natur oder funktionalen Äquivalenten insgesamt ärmere Umwelt hinterlassen darf. Gefordert ist nachhaltiges Leben und Wirtschaften. Dazu gehört auch die Pflicht zum Verzicht! Eine ehrliche und wahre, zukunftsoffene und zu demokratischer Wechselseitigkeit fähige und bereite soziale Gerechtigkeit trägt für die Bedingungen realer Freiheit verantwortlich Sorge. Sie sucht die Eigenverantwortung der Bürger und deren Selbstachtung zu stärken, Höffe, Soziale Gerechtigkeit ist mehr als Fürsorge, FAZ vom 24. Mai 2013, S. 12. Ein fundamentales Gemeinwohlanliegen der Nachhaltigkeit ein Bewusstsein, das die Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft insgesamt im Kern betrifft. Ein Verfassungsstaat erweist sich auf Dauer nicht als funktions- und überlebensfähig, wenn die heute Lebenden die Ressourcen der zukünftig Lebenden maßlos konsumieren sowie deren Entscheidungsoptionen und Spielräume durch „Verträge zu Lasten Dritter“ (an Stelle von „Generationenverträgen) drastisch verengen Der Nachhaltigkeitsstaat bezweckt die Herstellung einer angemessenen Balance zwischen dem Recht auf wirtschaftlich-soziale Entwicklung und der langfristigen Bewahrung der begrenzten (insbesondere der ökologischen) Ressourcen. Nachhaltigkeit umfasst somit als „intertemporaler Verbundbegriff“ zentral den (Teil-)Aspekt der intergenerationellen Gerechtigkeit, Kahl, „Soziale Gerechtigkeit“ oder Generationengerechtigkeit? ZRP 2014, 17; Schwab, ODWW 2014, Artikel 620 - Nachhaltigkeit ist die ethische Einsicht, die täglichen Bedürfnisse nicht zulasten unserer Lebensgrundlagen, der kommenden Generation und sozioökonomischer Regeln durchsetzen zu dürfen. Dass wir viel stärker längerfristig und verantwortungsbewusster denken müssen. Wirksamer Umweltschutz heißt, so viel regional wie möglich und so viel global wie nötig. Das bedeutet "Pflicht zum Verzicht" oder Abschied vom Überfluss. Stärkung regionaler Produktion und Märkte, weniger Transporte und Status quo für die Infrastrukturen. Eine politisch herausfordernde Entscheidung. Ökologische Verhältnismäßigkeit bedeutet, dass die Gesellschaft, wenn sie Natur „vernutzt“, ihre Ziele rechtfertigt und Mittel auswählt, die geeignet, erforderlich und angemessen sind. Dieser Maßstab ist ein Spiegelbild des traditionellen Verhältnismäßigkeitsprinzips. Nachhaltigkeit ist als intergenerationelle Gerechtigkeit überlebensnotwendig, vgl. Höffe, Soziale Gerechtigkeit ist mehr als Fürsorge, FAZ vom 24. Mai 2013, S. 12

286 Der soziale Rechtsstaat ist entstanden als Rahmen und Regulierungsform der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft. Um das wirtschaftliche Leben rechtlich verlässlich zu regeln und dem politischen Konflikt um die Arbeitsbedingungen eine Bewegungsform zu geben, wurde die sozialpolitische und sozial gestaltende Aktivität konstitutiv für den modernen Staat. Sie soll durch Berücksichtigung aller Interessen und Bedarfslagen die Voraussetzungen der Integration einer miteinander verkehrs- und vertragsfähigen Gesellschaft und eines kommunikations- und entscheidungsfähigen demokratischen Staates sichern, in den die einzelnen Bürgerinnen und Bürger einbezogen sind Der soziale Rechtsstaat in Deutschland hat mit dem staatlich regulierten Arbeitsvertrag, der kollektiven Ordnung durch Tarifverträge und Betriebsverfassung und der sozialen Sicherung durch Sozialversicherung und ergänzende öffentliche und private Fürsorge seine wesentlichen Strukturelemente gefunden. Indem das soziale Recht die gesellschaftliche Differenziertheit der Einzelnen, ihre soziale Macht- und Ohnmachtsstellung sichtbar macht und dadurch ihre Berücksichtigung durch das Recht, die Stützung sozialer Ohnmacht und die Beschränkung sozialer Übermacht allererst ermöglicht, setzt es an Stelle des liberalen Gedankens der Gleichheit den sozialen Gedanken der Ausgleichung, bringt es an Stelle der kommutativen die distributive Gerechtigkeit zur Geltung, ersetzt es, da die Ausgleichung durch die distributive Gerechtigkeit notwendig eine übergeordnete Stelle über den Einzelnen voraussetzt, die Selbsthilfe durch Hilfe der organisierten Gesellschaft, insbesondere Staatshilfe. Das bedeutet aber, dass auch hinter den privaten Rechtsbeziehungen der Einzelnen und der daran beteiligten Privatpersonen als dritter und Hauptbeteiligter die große Gestalt der organisierten Gesellschaft, des Staates, auftaucht, beobachtend, eingriffsbereit und häufig eingreifend. In einer sozialen Rechtsordnung liegen deshalb privates und öffentliches Recht nicht mit scharfen Grenzen nebeneinander, sie verschieben sich vielmehr ineinander. Diese Gemengelage vollzieht sich vor allem in den neuen Rechtsgebieten des Arbeits- und Wirtschaftsrechts. Wenn mit den Mitteln sozialer Ausgleichung durch eine Macht über den Einzelnen jenes soziale Ohnmacht stützen, dieses sozialer Übermacht Grenzen ziehen will, so müssen in beiden öffentliches und privates Recht zwar unterscheidbar, aber unscheidbar zusammen liegen. Der Begriff des "Sozialen" bezieht sich auf die gesellschaftliche Realität der Menschen. Er benennt die Notwendigkeit, gesellschaftlich auszugleichen und gerecht zu verteilen. Durch Vertrags- oder Vorsorgefreiheiten sind die Zielsetzungen einer Selbstbestimmung in der Erwerbsarbeit nicht zu erreichen; sie müssen durch kollektive Regelungen und Institutionen kompensiert werden. "Soziales Recht" bedeutet aus heutiger Sicht dass das Recht Handlungsspielräume der Beschäftigten eröffnen muss, die eine Wahlfreiheit zwischen unterschiedlichen Lebensmodellen von Rollenbeschreibungen und Zwängen des (Arbeits-)Marktes ermöglichen. "Soziales Recht" bedeutet aus heutiger Sicht, dass die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Einbettungen der Arbeitskraft und ihrer Reproduktion wie Familien- und Sorgearbeit, Bildung und Qualifikation systematischer in den Strukturen des Arbeits- und Sozialrecht enthaltenen Mechanismen und Verfahren gesellschaftlicher Autonomie wie betriebliche Mitbestimmung, Tarifautonomie und soziale Selbstverwaltung eine wichtige Rolle spielen müssen. Das Konzept trifft sich insofern mit dem Fähigkeitenansatz ("capabilities"; Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, 2010, S. 114), auch in der Erwerbsarbeit müssen die Bedingungen es jedem Menschen möglich machen, seine eigenen Fähigkeiten und Wünsche so weit wie möglich zu verwirklichen. Gerechtigkeit wird dadurch verwirklicht, dass die Entwicklung und Entfaltung dieser Fähigkeiten unterstützt und ermöglicht wird. Kocher/Großkreuz, u. a. (Hg.), Das Recht auf eine selbstbestimmte Erwerbsbiografie, 2013, S. 55, 57.

287 Die Bildungsexpansion seit den siebziger Jahren hat vielen jungen Menschen einen Bildungsaufstieg ermöglicht. Doch genau dieser Wandel könnte die Ursache für künftige Probleme sein. Wie liegt das Messer auf dem Teller, wie kräftig ist der Händedruck, wer hat den Knigge gelesen? Verfeinerte Kulturtechniken waren bis ins vergangene Jahrhundert hinein ein Stoppschild, mit dem sich Angehörige der Oberschicht von Aufsteigern abgrenzten. Für den Aufstieg durch akademische Bildung, der jenseits vom Standesdünkel oft gelang, blieb lange elterliches Vermögen die Bedingung, weil Schulbesuch und Bildung teuer waren. Beides, Standesdünkel und ein Vermögen, sind als Bedingungen für den Aufstieg seit einem halben Jahrhundert einigermaßen unwichtig geworden. Zwar ist der Zusammenhangt von Herkunft und Bildungserfolg der Kinder trotz Ausbildungsförderung, Stipendien und Bildungsexpansion nicht aus der Welt zu schaffen. Die Herkunft prägt schließlich auch die Motivation und Ambitionen eines jungen Menschen, sie fließt ein in die Berufswahl. Aber wenn es so etwas wie Leistungsgerechtigkeit gibt, ist sie heute so stark ausgeprägt wie nie zuvor. Die Leistung an Schulen und Hochschulen entscheidet mehr als andere Faktoren darüber, wer später eine gute Anstellung finden wird. Weil nicht nur das Elternhaus, sondern auch der Staat jungen Menschen kräftig dabei hilft, das Versprechen vom materiellen und sozialen Aufstieg durch höhere Bildungsabschlüsse einzulösen, als sei das ewig geltender Automatismus, steigt die Akademikerquote seit Jahrzehnten. Die Bildungsexpansion seit den siebziger Jahren hat nun schon zwei Generationen von Abiturienten den Bildungsaufstieg ermöglicht und die Leistungsgerechtigkeit erhöht. Wer so formuliert schaut durch eine "rosarote Brille" - Abitur als Garantieschein für einen Aufstieg? Numerus clausus nicht eingerechnet! Studium, kleine Scheine, große Scheine, 1. Staatsexamen, Referendariat und mehrere Wahlstationen, vom LG bis zum Anwalt, von der StA bis zur Verwaltungsstelle und dann 2. Staatsexamen. Natürlich war dort weder Herkunft noch Abi als Zulassungsvoraussetzung gefragt, sondern der Erfolg, die Punktezahl! Urlaub in all der Zeit - jobben, jobben, Rücklagen bilden fürs nächste Semester. Dann als alles geschafft war, begann der mühsame Aufstieg: Leistungsbeurteilungen und Befähigungsbeurteilungen - wer schon mal was vom "Fahrstuhleffekt" gehört hatte, musste denken, der "Fahrstuhlführer" macht einen Bummelstreik, langsam, langsam, langsam -- was blieb, war die Hoffnung, eines der höheren Stockwerke irgendwann zu erreichen. Dabei wurde der Vorsatz gefasst, die eigenen Wurzeln nicht zu vergessen, " Soziologendeutsch" - das Herkunftsmilieu nicht zu verleugnen. Herkunft kann Zukunft sein, die Herkunft ist gesichert durch Wurzeln (Familie und Freundschaften, Vereine und Nachbarn) und Wurzeln ernähren den Menschen wie bei einem Baum, sichern auch beim Sturm! Sie geben Halt bei stürmischen Veränderungen, bei dynamischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, eruptiven Neuerungen. Wer sie kappt ist nicht rückgebunden, kann von stürmischen Entwicklungen in der politischen, beruflichen und gesellschaftlichen Welt umgeworfen werden. Sie sichern als Anker den Aufstieg und die Freiheit! vgl. Grossarth, Bildung - Die Herkunft ist wieder entscheidend, FAZ vom 12. August 2014

288 Als eine eigenständige und universale – also nicht von der Bedürftigkeit des Empfängers abhängige – Berechtigung formulieren Art. 12 IPWSKR, 11 ESC und Art. 35 EuGrCH ein Recht auf Gesundheit als den gegen den Staat gerichteten Anspruch auf umfassenden Gesundheitsschutz und hinreichende Gesundheitsleistungen. Ein Recht auf Gesundheit ist dem deutschen Recht fremd, Eichenhofer, Gesundheitsleistungen für Flüchtlinge, ZAR 2013, 173. Die Entscheidung über die gesundheitliche Sicherung von Flüchtlingen ist auch an der Menschenwürde zu messen; das BVerfG stellte klar „Art. 1 Abs. 1 GG iVm. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, BVerfGE 125, 175. Vgl. Janda, Quo vadis, AsylbLG? Möglichkeiten der Neugestaltung der existenzsichernden Leistungen für Personen mit vorübergehendem Aufenthalt nach dem Urteil des BVerfG, ZAR 2013, 175 -„Ausländische Staatsangehörige verlieren den Geltungsanspruch als soziale Individuen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf Dauer aufhalten", BVerfG, NVwZ 2012, 1024,1029. Bezugsrahmen für die Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft ist Einstandspflicht eines Staates für das Wohl und Wehe aller Bedürftigen. Einbezogen sind die Asylbewerber in die Solidargemeinschaft, die nicht auf deutsche Staatsangehörige und EU-Bürger beschränkt ist durch die freiheitssichernde Vorwirkung des Asylrechts und faktisch durch die Einreise und den bis zum Abschluss des Asylverfahrens berechtigten Aufenthalt. Die Universalität der Menschenwürdegarantie beinhaltet den Maßstab, an dem die Berechtigung zum Zugang zu existenzsichernden Leistungen zu messen ist, Janda, Quo vadis, AsylbLG? Möglichkeiten der Neugestaltung der existenzsichernden Leistungen für Personen mit vorübergehendem Aufenthalt nach dem Urteil des BVerfG, ZAR 2013, 178. Differenzierungen in der Art und Weise der Konkretisierung des Art. 1 Abs. 1 GG immanenten Achtungsanspruchs sind nur vor dem Hintergrund differenzierter Schutzbedürfnisse zulässig, Janda, Quo vadis, AsylbLG? Möglichkeiten der Neugestaltung der existenzsichernden Leistungen für Personen mit vorübergehendem Aufenthalt nach dem Urteil des BVerfG, ZAR 2013, 178. Zwar gilt für alle Menschen das Menschenwürdeprinzip, so dass im Hinblick auf Gewährleistungen zu ihren Gunsten alle Menschen als anspruchsberechtigte Rechtssubjekte zu betrachten sind. Aus dem universal gültigen Subjektstatus folgt aber nichts im Hinblick auf dasjenige, worauf sie einen Anspruch haben, also nichts für den Umfang des Schutzbereichs ihrer Rechte. Leitet man nun den Schutzbereich aus dem Sozialstaatsprinzip ab, so bleibt unerklärt, warum Ausländern ohne Aufenthaltsstatus dieselben Ansprüche zustehen sollten wie Inländern oder Ausländern mit Aufenthaltsstatus, so kritisch Tiedemann, Analyse der Entscheidung - Verfassungswidrigkeit der Leistungssätze des Asylbewerberleistungsgesetzes, NVwZ 2012, 1032 - im Urteil zum Lissabon-Vertrag wurde formuliert: dass die Existenzsicherung des Einzelnen nicht nur eine im Sozialstaatsprinzip, sondern auch eine im Menschenwürdeprinzip gründende Staatsaufgabe sei, BVerfGE 123, 267, 363, - wäre es nur noch ein kleiner Schritt gewesen, das Sozialstaatsprinzip in diesem Zusammenhang überhaupt nicht mehr zu erwähnen, so ausdrücklich Tiedemann, Stellungnahme und Kritik, Verfassungswidrigkeit der Leistungssätze des Asylbewerberleistungsgesetzes, NVwZ 2012, 1033.

289 Demografischer Wandel - Lassen Sie uns mit einem kurzen Blick auf den demografischen Wandel beginnen. Sie wissen, dass dieser Wandel in unserem Land aus zwei Komponenten besteht: Erstens leben die Menschen immer länger. In den vergangenen 50 Jahren hat unsere Lebenserwartung um rund elf Jahre zugenommen und sie wird weiter ansteigen. Das ist eine gute Nachricht. Zweitens werden bei uns weniger Kinder geboren. Nicht erst seit gestern, sondern ebenfalls seit Jahrzehnten. Auch daran kommen wir nicht vorbei. Für den Arbeitsmarkt bedeutet das: Die geburtenstarken Jahrgänge, die heute einen großen Teil unserer Beschäftigten stellen, gehen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in den Ruhestand. Zugleich rücken weniger Berufseinsteiger nach, Fachkräfte werden knapp. Rede von Jörg Asmussen anlässlich der Eröffnung der ZEIT-Konferenz "Arbeit und Gesellschaft -Personalentwicklung zwischen Digitalisierung, Generation Y und dem Demografischem Wandel" 16.09.2014 14:21 Uhr - Frankfurt am Main

290 Ende der Geschichte aus der Sicht liberaler oder libertärer Denker heißt, Verwirklichung einer Utopie: nämlich der Utopie der über Markt Verhältnisse, ökonomische Austausch, globale Wirtschaft, repräsentativen Demokratie befriedeten Weltgesellschaft. Was sollte es da noch an historischen Veränderungen geben? Was übrig bleibt, ist ein bisschen Sozialtechnologie, die vielleicht nötig ist, um das zu steuern, und Rahmenbedingungen für effizientes Wirtschaften zu setzen, Nida-Rümelin, Utopie zwischen Rationalismus und Pragmatismus, in Nida-Rümelin/Kufeld, Gegenwart der Utopie: Zeitkritik und Denkwende, 2013, S. 27. Der Wandel betrifft die Gegenwart der Utopie, die Zeitkritisch am Zustand der Gegenwart einer Gesellschaft ihrer Wirtschaft und Politik, sowie ihres Gemeinwesens ansetzt.

291 Nur noch die Utopien sind realistisch (Oskar Negt)Aus dem komplexen Geflecht aus Analyse und Kritik der Gegenwart und der Vergangenheit wird die Utopie zum Movens für Zeitkritik und Denkwenden, erwächst der Versuch, Gegenwartsfähigkeit und Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Utopien sind sachhaft-mögliche Antizipationen im Denken und Werdens, vgl. Bloch, Experiment mundi, Frage, Kategorien des Herausbringens, Bd. 15, 1975, S. 277. Utopien sind unmögliche Möglichkeiten, die mögliche Möglichkeiten sichtbar werden lassen, Kufeld, Zeit für Utopie, in Nida-Rümelin/Kufeld, Gegenwart der Utopie: Zeitkritik und Denkwende, 2013, S. 15. Die globalisierte Welt im digitalen Zeitalter zeitigt eine dynamische Wende, in der nichts zu bleiben scheint, wie es war, vgl. Kufeld, Zeit für Utopie, S. 16. Diese Zeitwenden erzeugen Denkwenden und Denkwenden zeigen moralische Wenden an. In ihnen ist ein utopisches Potenzial der Neuorientierung inhärent, vgl. Kufeld, S. 16. Versprechen sind gewisse, genau abgrenzbare Inseln des Voraussehbaren, ein Wegweiser in ein noch unbekanntes und unbegangenes Gebiet. Moralische Versprechen für die Zukunft entspringen unserer Verantwortung im Heute und sind Verpflichtung auf Heute und Gestaltung von Morgen. Utopien lassen sich Zeit. Trotz ihres visionären Rufs sind sie fest mit der Gegenwart vertäut, so fest an die Struktur von heute gebunden, als dass sie sich drängen lassen würden. Sie lassen sich nicht entwickeln, planen, vgl. Kufeld, Zeit für Utopie, S. 18.

292 Das Ideal ist nichts als die Wahrheit von Weitem, formulierte der französische Lyriker und Politiker de Lamartine. Allzu nah möchte man dem Ideal womöglich gar nicht kommen. All das ist unweigerlich mit einer nostalgischen Rückprojektion verbunden. Früher war eben alles ehrlicher, einfach besser. Früher hielten die Menschen noch zusammen. Früher waren die Werte noch intakt. Früher gab es noch weniger Gewalt und Gleichgültigkeit. Früher war der Sozialstaat großzügig und unlimitiert. Früher waren die Verbrechen noch einfach und klar. Früher war einfach alles besser. Matthias Horx, Zukunft Wagen – Über den Umgang mit dem Unvorhersehbaren, 2013, S. 44!

293 Die Grundrechte garantieren in einer objektiven Dimension die grundlegenden Voraussetzungen für die Inanspruchnahme grundrechtlicher Freiheit. Das ist aber kein Rundum-Sorglos-Paket in einer "Vollkaskogesellschaft", sondern eine Minimalgewährleistung. Das BVerfG hat aus dem Grundrecht auf Gleichbehandlung differenzierte Maßgaben für das zwangsläufig typisierende Sozialrecht entwickelt. 1. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. 2. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu. - Hartz IV-Regelsätze. 3. Der Gesetzgeber kann den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag decken, muss aber für einen darüberhinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen. BVerfG, Urteil vom 9. 2. 2010 - 1 BvL 1/09 u.a., BeckRS 2010, 46077 = BVerfGE 125, 175 = NZS 2010, 270 = DVBl 2010, 314 = NJW 2010, 505 = Ruland, JuS 2010, 844; Lübking, Praxishinweis, KommJur 2010, 137 - das Bundesverfassungsgericht einen Verfassungsverstoß im SGB II dahingehend erkannt, dass das Gesetz keine Leistungen für dauerhafte atypische Bedarfe vorsieht, die den Festbetrag der Regelleistung übersteigen und deren Deckung zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums erforderlich ist. Das Bundesverfassungsgericht hat hier den Gesetzgeber aufgefordert, eine gesetzliche Härtefallregelung in Gestalt eines Anspruchs auf Deckung dieses besonderen Bedarfs vorzusehen. Mit Blick auf die Diskussion über die Neufestsetzung der Regelsätze ist darüber hinaus bedeutsam, dass das Gericht ausdrücklich festgestellt hat, dass die derzeitigen Regelsätze im Ergebnis nicht als evident unzureichend angesehen werden können. Muckel, Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums – »Hartz IV«, JA 2010, 476 - Mit Ulrich Preis mag man in der Entscheidung des BVerfG »die endgültige Bankrotterklärung des Sozialhilfesystems« nach zahllosen Problemen in der Praxis sehen. In der Tat gibt es hier für den Gesetzgeber viel zu tun.

294 Vor über 40 Jahren veröffentlichte der Club of Rome den Bericht „Grenzen des Wachstums“. Der Befund war damals alarmierend: Die herrschenden Produktions- und Lebensweisen industrialisierter Gesellschaften seien langfristig nicht tragbar; sie erschöpften die natürlichen Ressourcen und drängten die Erde an die Grenzen ihrer Tragfähigkeit. Der Schreckensbericht für die noch gedanken- und vor allem sorglosen Wohlstandsbürger bildete eine wichtige Grundlage für die Entstehung der neuen sozialen und ökologischen Bewegungen. 2011 wurde vom Deutschen Bundestag eine Enquete-Kommission „Wohlstand, Wachstum, Lebensqualität“ eingesetzt. Sie sollte politische Handlungsempfehlungen für ein „ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltiges Wirtschaften“ entwickeln. Diese Aufgabe stand für nichts Geringeres als die Neudefinition – und Neuvermessung – gesellschaftlichen Fortschritts. Wohlstand und Lebensqualität, Wachstum und natürliche Ressourcen, sozialer Frieden und generationsgerechter Ausgleich und Chancenerhaltung und Zukunftssicherung – hinterfragt werden sollten die Mentalitäten der Menschen und die Prognosen für die schonende ökologische, ökonomische und soziale Zukunftssicherung. Sozialphilosophische Positionen, ökonomische Wachstumsprognosen, ökologische Bilanzbetrachtung und Belastungserhebungen (etwa die Altstandortkartierungen in B-W), wurden mit den sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen in einem Prozess hochpolitischer Fragen zu einer hochkomplexen, logischen Beurteilung zusammengetragen. Es galt Lösungen zu finden, die auch den Wechselwirkungen von sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen und Entwicklungen (alternde und schrumpfende Gesellschaft, vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Schrumpfende Gesellschaft, 2005) gerecht werden können, vgl. Öztürk, Wohlstand ohne Wachstum? APuZ 27-28/2012, Editorial. Einerseits ist der Mensch – geprägt von der Erfahrung, erst einmal das Heute zu meistern, ehe er sich dem Morgen oder gar Übermorgen zuwendet – ein Kurzfristoptimierer. Andererseits vermögen neue Einsichten, gefördert von spürbaren Veränderungen der Lebensbedingungen und mehr noch von aufschreckenden Katastrophenberichten, durchaus bewusste und gezielte Umorientierungen zu bewirken, so Miegel, Welches Wachstum und welchen Wohlstand wollen wir? APuZ 27-28/2012, S. 5. Miegel stellt bilanzierend fest: Der Fortschritt der Zukunft muss darauf gerichtet sein, das materielle und immaterielle Wohl der Menschen innerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde zu schaffen und zu sichern, APuZ 27–28/2012, S. 8

295 Die Teilhabe am (Erwerbs-)Arbeitsleben ist zentral für den Zugang zu Ressourcen und gesellschaftlicher Anerkennung. „Hauptsache Arbeit!“ so denken viele jüngere Menschen nach der Schule oder Ausbildung; das Gleiche geht auch in Menschen vor, die in eine betriebliche Krise rutschten und ihren Arbeitsplatz verloren haben. Gerade in etwas fortgeschrittenem Lebensalter wird die Arbeitsplatzsuche zum Glückspiel. Das erkennt man auch an unterstützenden gesetzgeberischen Maßnahmen wie § 14 Abs. 3 TzBfG – die zeitliche Befristung für ältere Arbeitnehmer ohne Sachgrund soll eine zügige Weiterbeschäftigung ermöglichen, den arbeitslos gewordenen vom Abstellgleis zurück ins Erwerbsleben holen. Das zügig und ohne Diskriminierung wegen des Alters, vgl. die Mangold Entscheidung des EuGH zur Vorgängervorschrift des heutigen § 14 Abs. 3 TzBfG, ausführlich dazu Schwab, Die Mangold Entscheidung des EuGH, 2014. In den flexibilisierten Arbeitsformen der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, so oft sie auch zu (Selbst-)Ausbeutung führen, liegen auch Chancen auf größere Autonomieräume (die Demokratisierung des Arbeitslebens schreitet im Jahr 2014 mit großen Schritten voran: Arbeiten nicht nach Stechuhr oder Zeiterfassung durch Zeitaufschriebe, sondern wenn man der Auffassung ist, dass Arbeit zu erledigen ist, Urlaub, wenn man zu der Auffassung berechtigterweise gekommen ist, die zu erledigende Arbeiten zufriedenstellend erledigt zu haben – das „Modell Branson“ sorgte nicht nur oberflächlich für Wirbel, es stiftete auch besonnene Unternehmer zum Nachdenken a; auf eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit, sozialen Lernen und berufsorientiertes (Weiter-)Lernen – und nicht zuletzt die Hoffnung auf langfristigen ökonomischen Wohlstand. Arbeit in der modernen Welt der kapitalistischen Produktion gehört zu jenen Kategorien, die von Tauschvorgängen „Arbeit als Ware gegen angemessenen Lohn“ überhaupt nicht zu trennen sind; die lebendige, menschliche Arbeit aus dem Zwangszusammenhang von Tausch zu lösen, könnte nichts anderes bedeuten, als die Geschichte zurückzudrehen in die Zeit der beginnenden Arbeiterbewegung und der kollektiven Gemeinschaft als assoziative Selbsthilfe. Einer der Gründe dafür, dass mittlerweile dieser Begriff der Würde im umfassenden Sinne menschlicher Lebensbedingungen auch auf Arbeit bezogen wird, mag darin bestehen, dass bei sichtbar wachsender Reichtumsproduktion die Gesellschaft in großen Bereichen immer ärmer wird. Oskar Negt, Arbeit und menschliche Würde –Essay, APuZ 15/2011, S. 3. Der Schein einer normalen Marktrationalität wird geschönt vorgegaukelt; daher wird es immer dringlicher, die moralische Komponente des Umgangs mit lebendiger Arbeitskraft öffentlich anzusprechen. Im Kategorischen Imperativs Kants formuliert: Behandle andere Menschen nie bloß als Mittel, sondern immer zugleich als geachteten Zweck, als Selbstzweck. Arbeitsplätze zu schaffen, die den Menschen ermöglichen, auf einer angstfreien Existenzbasis menschenwürdig und sorgenfrei zu leben, wäre ein solches, anzustrebendes Handlungsziel. Die zunehmende Fragmentierung der Arbeitsplätze weist dagegen in eine ganz andere, die falsche Richtung. Wer in fortwährend prekären, in höchstem Maße ungesicherten Lebensverhältnissen existieren muss, fragt nach und verliert den Sinn individueller Lebensplanung. Die empfundene Entwürdigung der Arbeitslosen und der Geringverdiener (der Niedriglöhner) ist und bleibt das zu missbilligende Grundmuster des moralischen Skandals unserer Gesellschaft. Vielfältige Formen der Selbstachtung und der sozialen Anerkennung im friedlichen Verkehr miteinander sind nach wie vor in zentraler Weise mit dem Wesensgehalt einer Arbeit verknüpft, die ihres Lohnes würdig ist, um mit seiner Hände Arbeit ein menschenwürdiges Leben erleben zu können, persönlich eingewurzelt in die solidarische Gemeinschaft – im kleinen, der Familie, und im größeren, der örtlichen Gemeinschaft, Vereinen, der Gesellschaft oder dem Staat. Wer nicht eingewurzelt ist und nicht anderen vertrauen, sich verlassen kann, der wird von den stürmischen Ereignissen des Lebens entwurzelt und wie ein Baum stirbt er ohne Bindung ab. Ein auf Verteilungsgerechtigkeit, auf ein hohes Maß von sozialer Gleichheit beruhendes System gesellschaftlicher Arbeit ist wesentliche Grundlage einer friedensfähigen Gesellschaftsordnung, so nachdrücklich Oskar Negt, Arbeit und menschliche Würde –Essay, APuZ 15/2011, S. 4.

296 Die digitale Zukunft unserer Gesellschaft – Netzpolitik als Gesellschaftspolitik - Das sind gigantische Dimensionen. Tatsächlich muss uns aber allen klar sein: Der Siegeszug des Digitalkapitalismus ist viel mehr als nur ein historisch beispielloses Wirtschaftswunder! Denn mit ihrer unbegrenzten Reichweite und ihren fast unbegrenzten finanziellen Mitteln sind die Internetmonopolisten in der Lage, aktiv in unsere Gesellschaftsordnung einzugreifen! Wenn nicht sogar sie in Frage zu stellen! Uns allen muss klar sein: das Digitale ist politisch! Politisch im umfassendsten Sinne, in dem Sinne, dass die digitale Revolution fast alle Lebensbereiche unserer Gesellschaft berührt! Wie wir kommunizieren. Wie wir arbeiten. Wie wir wirtschaften. Wie wir Freiheit und Demokratie gestalten. Wir haben gekämpft für Arbeitszeiten unter 40 Stunden pro Woche. Für Arbeits- und Versicherungsschutz. Für bezahlten Urlaub. Und für Arbeitnehmerrechte und Mitbestimmung! Wir haben dafür gekämpft, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht irgendwelche rechtlose Objekte für rücksichtsloses Profitstreben sind! Sondern dass sie den Arbeitgebern auf Augenhöhe begegnen! Dass sie teilhaben am Sagen und am Haben! Wir haben dafür gekämpft, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht irgendwelche rechtlose Objekte für rücksichtsloses Profitstreben sind! Sondern dass sie den Arbeitgebern auf Augenhöhe begegnen! Dass sie teilhaben am Sagen und am Haben! Heute, 150 Jahre später muss uns dieser historische Erfolg wieder gelingen! Gerade damit sich die Chancen der neuen, weltweit vernetzten Gesellschaft entfalten können, müssen Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Gerechtigkeit neu verteidigt werden. Dafür braucht die digitale Gesellschaft Regeln! Dafür brauchen wir einen neuen Gestaltungsrahmen. Wir dürfen die Digitalisierung nicht nur dem Markt überlassen! Denn sonst riskieren wir eine Zukunft, in der die Marktkräfte der digitalen Ökonomie mit immer gigantischeren Rechenkapazitäten durchschnittliche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zunehmend durch Software und Roboter ersetzt. Und wenn die Digitalisierung dazu beitragen kann, das Leben für die Menschen besser zu machen, dann müssen wir diese Chancen auch nutzen! Wenn sie dazu beiträgt, dass pflegebedürftige Menschen länger selbständig bleiben können durch intelligente medizinische Geräte. Wenn sie dazu beiträgt, Familie und Beruf besser zu vereinbaren, weil sich mehr Aufgaben im Job nicht nur vom Büro, sondern auch von zuhause regeln lassen. Wenn sie dazu beiträgt, dass harte körperliche Arbeit erleichtert wird, anstatt Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verschleißen. Wir dürfen das digitale Zeitalter weder verherrlichen noch verharmlosen! Denn dafür sind die Risiken für unsere freie Gesellschaft und unser Wirtschafts- und Sozialsystem viel zu groß! Wir dürfen es uns nicht in der ideologischen Komfortzone von „gut“ oder „böse“ bequem machen wir müssen anpacken! Wir müssen gestalten! Deswegen müssen wir Netzpolitik als moderne Gesellschaftspolitik verstehen. Sie entscheidet darüber, wie wir zukünftig leben und arbeiten. Wie wir Wohlstand erzielen oder die demographische Entwicklung gestalten. Konkrete Aufgaben: Das betrifft die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Berufsbild als „Clickworker“ oder „Cloudworker “ gerade erst entsteht. Berufsbilder, bei denen Arbeit mit einem festen Ort, geregelten Arbeitszeiten und auf Dauer angelegte Vertragsverhältnissen gar nicht mehr vorgesehen ist. Bei denen Projekte im Netz global ausgeschrieben und auktioniert werden und der schnellste und billigste Anbieter den Zuschlag bekommt. Sprich: Alle arbeiten, aber nur der Gewinner wird bezahlt. Das Ergebnis sind rechtlose digitale Tagelöhner! Das Ergebnis ist eine Entgrenzung der Arbeit auf Kosten der Menschen! Klar ist: Durch die Entwicklung zur Industrie 4.0. entstehen auch für die deutsche Wirtschaft neue Wettbewerbschancen im globalen Wettbewerb. Wir werden enorme Produktionssteigerungen erleben. Neue Jobs können entstehen, aber andere wird es vermutlich auch nicht mehr geben. Industrie - Arbeitsplätze werden komplexer und damit anspruchsvoller; Qualifikation und Fachwissen immer wichtiger. Die Kreativwirtschaft mit ihren enormen Wachstums und Innovationspotenzialen wird zu einem dynamischen Jobmotor. Gleich zeitig muss aber auch hier der Anspruch der Guten Arbeit gelten und eine verlässliche soziale Absicherung gewährleistet sein. Wir müssen uns fragen: Wie muss die Arbeitspolitik der Zukunft aussehen, damit wir Flexibilität und Sicherheit verbinden? Wie können wir Bildung und Ausbildung so gestalten, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Schritt halten können mit dem technologischen Fortschritt? Tatsache ist: Datenschutz, informationelle Selbstbestimmung und Privatsphäre werden massiv gefährdet durch die individuelle Preisgabe unserer Daten im Internet. Datenkonzerne und Geheimdienste häufen gigantische Informationsmengen über uns an. Ist das die Welt, in der wir leben wollen? Eine Welt, in der unser Verhalten, unsere Gedanken, unsere Gefühle zum Gegenstand kapitalistischer Vermarktungsstrategien und geheimdienstlichen Überwachungswahns zu werden drohen? Gehört nicht zur Würde des Menschen vor allem sein Selbstbestimmungsrecht auch und gerade über seine persönlichen Daten? Bundeswirtschaftsminister Gabriel am 20. September 2014 in Berlin (Parteikonvent)

297 Die digitale Revolution zerstört die Gesellschaft und den Einzelnen. Ist das schlimm? Nein. Wir müssen uns nur neu orientieren. Nicht um etwas zu retten, sondern um etwas Neues zu schaffen. Utopien sind die Kraftquellen jeder Emanzipationsbewegung. Sie entspringen der Empörung über unerträgliche Zustände und öffnen den Blick auf ein gerechtes Gemeinwesen. In ihnen ist die Hoffnung auf Veränderung angelegt. Doch die kann nur gelingen, wenn aufgeklärtes Denken, wenn politische Urteilskraft zum Zuge kommt. (Oskar Negt)

298 Kuntze, Die Schamlosen, S. 48.

299 Die EU als Staatenverbund unterscheidet sich von anderen Staatenbünden und Weltregionen durch Zweierlei: Sie verfolgt erstens – neben anderen – eigene soziale Ziele und Aufgaben, denen sie auch supranationale Geltungs- und Durchsetzungsbedingungen verschafft. Sie gilt nicht nur fremden sozialen Zielen, die die jeweilige nationale Souveränität unangetastet lassen. Diese eigenen sozialen Ziele schlagen sich im EU-Primär- und Sekundärrecht nieder, Mückenberger, Eine europäische Sozialverfassung? EuR 2014, 369. Die EU setzt sich zweitens aus Mitgliedstaaten zusammen, die – neben anderen – soziale Ziele und Aufgaben verfolgen und die bei aller Diversität eine nennenswerte Schnittmenge gemeinsamer Verfassungstraditionen (Art. 6 Abs. 3 EUV) sozialer Art aufweisen. Als „Welfarestate“ Wohlfahrtdsstaat bezeichnet meist nur den sozial umverteilenden Staat, „Sozialstaat“ demgegenüber auch den sozial gestaltenden Staat. Da zentrale Instrumente und Ressourcen der sozialen Umverteilung (etwa i. R. der staatlichen und privaten sozialen Sicherung) nicht europäisiert sind, wäre die Frage nach dem europäischen „welfarestate“ schon im Ausgangspunkt falsch gestellt. Rechtlich geschieht Arbeitsmarktherstellung individuell durch Gewährleistung von Arbeitsvertragsfreiheit (Befreiung von Zwang wie Leibeigenschaft – inkl. Sicherung gegen Marktversagen durch Diskriminierung, unmittelbaren Zwang, externe Effekte etc.) und kollektiv durch Gewährleistung von Tarifvertragsfreiheit, vgl. Schwab, Normalarbeitsverhältnis oder Prekariat, Mindestlohn als sozialer Faktor oder Sargnagel der Tarifautonomie, 2014; Arbeitsrecht und Arbeitsgesellschaft, 2014. Beides zusammen bewirkt das, was Esping-Andersen aus sozialpolitischer Perspektive als „commodification“ (also die Tauschförmigkeit) von Arbeit bezeichnet hat, G. Esping-Andersen, Three Worlds of Welfare Capitalism, 1990. Sozialrecht ist zu verstehen als die marktergänzende öffentlich-rechtliche Regelung solcher Elemente von Arbeitsbeziehungen, die sich privatrechtlicher, marktförmiger Regulierung entziehen. Regulierung erfolgt hier auf zweifache Weise. Sie besteht einerseits in der Vorsorge gegenüber solchen arbeitsbezogenen Risiken, die der Marktteilnahme der betreffenden Person vorübergehend oder dauerhaft im Wege stehen (z. B. durch Maßnahmen der Sozialversicherung). Dies hat Esping-Andersen in seiner sozialpolitischen Typologie als „decommodification“ (also die partielle Aufhebung von Tauschförmigkeit) bezeichnet. Sozialrechtliche Regulierung besteht andererseits in staatlicher Hilfe/Fürsorge. Diese soll auf nicht-markt-förmige Weise sicherstellen, dass die betroffene Person wenn schon nicht am Arbeits-, so doch am Konsumgütermarkt teilnehmen kann (z. B. mittels Sozialhilfe). Arbeitsrecht ist im Prinzip Privatrecht (es gibt noch kein Arbeitsgesetzbuch; das "Arbeitsrecht ist stark fragmentiert in einer Vielzahl von Einzelgesetzen wie dem BGB, dem KSchG, dem TzBfG, dem SGB IX und dem TVG - die Aufzählung ist nicht vollständig; einige grundlegende arbeitsrechtliche und verfassungsrechtliche Normen sollen das fragmentarische Bild erweitern - Art. 9 Abs. 3 GG, das Recht auf positive und negative Koalitionsfreiheit und auf Tarifautonomie als Ausdruck der Koalitionsbetätigungsfreiheit; das aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleitete Arbeitskampfrecht, das wesentlich durch die Untätigkeit vom BAG als Ersatzgesetzgeber geschaffen, fortentwickelt und inhaltlich geprägt wurde; das TzBfG und die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverhältnissen, § 14 Abs. 2 TzBfG als "Beschäftigungsfördermaßnahme" - Art. 12 Abs. 1 GG; vgl. zum Lohn ohne Arbeit - § 616 BGB), vgl. Schwab, Aktuelles Arbeitsrecht, 2010, hat aber öffentlich-rechtliche Anteile (Arbeitsschutz, Betriebsverfassung, normativer Teil des Tarifvertrages: familienpolitische Anreizsysteme wie Elterngeld und Elternzeit - BEEG; flexible Rückkehrregelungen nach einer Mutterschaftsbedingten Auszeit - § 8 Abs. 4 TzBfG; Anspruch auf Arbeitszeitreduzierung zur Pflege von pflegebedürftigen Familienangehörigen, FamPflegeZG). Sozialrecht ist im Prinzip öffentliches Recht (SGB I - SGB XI), hat aber privatrechtliche Bezugspunkte (was sich z. B. in Sperrzeiten- und Beschäftigungsfähigkeitsbestimmungen im Arbeitsförderungs- oder im Lohnabstandsgebot im Sozialhilferecht niederschlägt).

300 Die Zukunft der EU liegt nicht in der Ausweitung des Parlamentarismus. Der europäische Zweckverband kann die nationale politische Bühne nicht ersetzen. Die Globalisierungslücken zu schließen reicht als Ziel der EU aus. Wird nach Lösungen für die Legitimationsprobleme der EU gesucht, ruhen die meisten Hoffnungen mittlerweile auf dem Parlament. Besitze es erst einmal die Kompetenzen, mit denen nationale Parlamente üblicherweise ausgestattet sind, dann rücke das von Unionsbürgern gewählte Organ ins Zentrum der EU und verschaffe ihr die demokratische Legitimation, an der es bis jetzt noch fehle. Die Parlamentarisierung der EU kann das Legitimationsproblem freilich nur dann lösen, wenn es seinen Grund tatsächlich in der mangelnden Kompetenzausstattung des Parlaments hat. Liegt der Grund anderwärts, verfängt diese Therapie nicht. Deswegen darf er Erfolg einer Parlamentarisierung nicht einfach unterstellt werden. Zwar ist Demokratie ohne frei gewählte und mit ausreichenden Kompetenzen versehene Parlamente schwer vorstellbar. Für sich allein garantieren diese Merkmale aber lediglich, dass die Anforderungen an demokratische Herrschaft formal erfüllt sind. Ob es in einem Gemeinwesen auch materiell demokratisch zugeht, hängt von einer Anzahl weiterer Voraussetzungen ab. Erst wenn diese in die Betrachtung einbezogen werden, gewinnt man Klarheit darüber, ob die Parlamentarisierung des europäischen Regierungssystems den gewünschten Erfolg verspricht. Zu diesen Voraussetzungen zählen erstens, dass das Parlament für die Gesellschaft, die es vertritt, einigermaßen repräsentativ ist, um den kollektiv verbindlichen Entscheidungen Legitimität vermitteln zu können. Das fällt heute fast allen Parlamenten in den stark individualisierten Gesellschaften der westlichen Welt schwer, wo Familien-, Kirchen-, Klassen- und Milieubindungen schwinden und Wertepluralismus die Tagesordnung prägt und Wahlabstinenz begünstigt, während sich gleichzeitig ad-hoc-Protest gegen bestimmte politische Entscheidungen leicht mit der Forderung nach partizipativen Gestaltungs- und Beteiligungsprozessen mobilisieren lässt. Gegen diese partizipativen Forderungen - nach Änderung der Kommunikationskultur und Respektierung des Bürgerwillens- und gesellschaftlichen Öffnungsprozesse als Zeitströmung ist wenig auszurichten. Der Legitimationsbedarf bleibt bestehen, seine Deckung wird schwieriger. Die EU wird davon nicht verschont. Im Gegenteil tritt hier die nationale Fragmentierung erschwerend hinzu. Diese trägt dazu bei, dass der Wert der europäischen Integration vorwiegend an dem Nutzen für das eigene Land gemessen wird. Die EU erschwert sich die Lage aber über das unvermeidliche Maß hinaus, indem sie die nationale Fragmentierung in ihrem Wahlsystem verstärkt, statt sie abzumildern. Infolgedessen reicht die Repräsentativität des Europäischen Parlaments nicht an die der nationalen Parlamente heran. Mit der geringen Wahlbeteiligung hat das aber nur vordergründig zu tun. Wichtiger erscheint, dass die Europawehlen nicht europäisiert sind. Gewählt wird getrennt nach den einzelnen Mitgliedstaaten und für nationale Kontingente im Parlament, die nicht den Bevölkerungszahlen der Mitgliedstaaten entsprechen. Gewählt wird zudem nach nationalem Wahlrecht, und wählbar sind nur nationale Parteien, die mit nationalen Themen Wahlkampf machen. Diese Parteien treten im Parlament aber gar nicht als Akteure in Erscheinung. Dort agieren vielmehr europäische Parteien, lockere Zusammenschlüsse ideologisch verwandter nationaler Parteien, die aber in der Gesellschaft nicht verwurzelt sind, Grimm, Die Stärke der EU liegt in einer klugen Begrenzung, FAZ vom 10. August 2014.

301 Letzte Ausfahrt Europa! Wer rettet die Privatsphäre? Wie können wir den digitalen Krieg aller gegen alle beenden? Mit einer Datenschutz-Grundverordnung. Europa muss sie auf den Weg bringen. Man kann sich freilich einreden, es gäbe ohnehin keine zu schützende Privatsphäre mehr. Martin Schulz hat die digitale Revolution mit der industriellen Revolution verglichen und aus dieser Parallele eine Pflicht zu politischer und legislativer Gestaltung abgeleitet. Auch die Sozialgesetzgebung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde gegen mächtige Interessen durchgesetzt. Mit dem Datenschutz wird es nicht anders sein. Wie sieht unser Menschenbild im Kommunikationszeitalter aus? Wie wollen wir leben. Technologien sind in der Lage, Gesellschaften bis an die Wurzel zu verändern. Wir müssen deshalb festlegen, was zu welchem Zweck von wem und unter welchen Bedingungen gemacht werden darf. Dafür brauchen wir, ganz einfach, Gesetze, die sicherstellen, dass die Menschenwürde geachtet wird. Weil sich die digitale Revolution nicht an Landesgrenzen hält, muss auch die begleitende, sichernde Gesetzgebung supranational sein. Eine Institution, welche die dazu erforderliche legislative und politische Macht besitzt, ist die Europäische Union. Leider wird diese Tatsache kaum zur Kenntnis genommen. In dieser anhaltenden medialen Missachtung spiegelt sich das schwindelerregende Paradoxon zeitgenössischer Politik.: Während immer mehr fundamentale Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen werden, muss man nach wie vor nur "Straßburg" oder "Brüssel" sagen, um sicherzustellen, dass man quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit operiert. So kommt es, dass die meisten Menschen gar nicht wissen, wie kurz wir eigentlich vor einem entscheidenden Schritt bei der Domestizierung des digitalen "bellum omnium contra omnes" stehen. Während nicht nur Bürger, sondern auch viele Politiker glauben, den Nebenwirkungen des Informationszeitalter mangels realistischer Handlungsoptionen tatenlos beiwohnen zu müssen, gibt es längst einen substantiellen Gesetzesentwurf, der beweist, dass es sehr wohl möglich wäre, etwas zu tun. Wenn man nur wollte. Die Datenschutzverordnung geht zwar in ihrem Regelungsgehalt noch immer nicht weit genug-. Aber in Demokratien bekommt man eben niemals alles und niemals sofort, nichts ist perfekt. Die Bundeskanzlerin hat verkündet, dass Datenschutz nur als gemeinsame europäische Regelung Sinn ergibt. Ein Vorstoß zu einer Verbesserung der grundrechtlichen Situation, so Zeh, Letzte Ausfahrt Europa, Wer rettet die Privatsphäre? FAZ vom 4. Mai 2014

302 Gerechtigkeit ist im modernen Bewusstsein vorrangig verteilende Gerechtigkeit. Die Kooperationspartner teilen ein Gut unter sich auf, nach Kriterien, in denen sich ihre produktive Beteiligung an diesem Gut ausdrückt. Soweit die Politik mit Gerechtigkeitskriterien argumentiert, bezieht sie sich, wenn es ums Verteilen geht, auf den Mix der normativen Begriffe, mit denen die Rolle der Bürger im gemeinsamen Produktionsprozess lokalisiert werden kann: Verdienst, Bedürftigkeit, Rechte, Freiheiten, Gleichheit usw. Dass Gerechtigkeit und Fairness überwiegend nicht als moralische, sondern als kooperativ-rationale Werte empfunden werden, fördert die Funktion von Gerechtigkeit als der bedeutendsten sozialen Moralstruktur, in der die Beteiligten mit minimalem moralischem Motivationsaufwand zu individuell und kollektiv befriedigenden Ergebnissen gelangen. In ihrer Reichweite begrenzt wird diese Moralstruktur jedoch durch ihren eingebauten Bezug auf die gemeinsame Produktion. Die Naturbedingungen der Produktion sind nicht gemeinsam hergestellt, weshalb es nicht ganz einfach ist, "ökologische Gerechtigkeit" in den üblichen Gerechtigkeitskanon einzuordnen, vgl. Leist, Ökologische Gerechtigkeit als bessere Nachhaltigkeit --- http:www.bpb.de/apuz/30429/oekologische-gerechtigkeit-als-besse...

303 Die EU-Osterweiterung hat den Kontinent enorm bereichert. Wann verstehen die Jungsunde unter den EU - Kritikern endlich, dass sie die eigentlich Rückwärtsgewandten sind. Dass die in den EU-Verträgen beschworene - und nun gerne lächerlich gemachte oder verhöhnte - ever closer Union, die immer engere europäische Einheit ist eine Überlebensvoraussetzung für diesen Kontinent und seine Werte und seine freiheitliche demokratische Kultur in den kommenden Epoche. Wer dies im Gewande des Fortschritts bezweifelt ist mental rückwärtsgewandt: diese Reaktion ist mentaler Separatismus als nationale Selbstbeschädigung. Leicht, Die Verachtung des "alten Europas" ist reaktionär, Die Zeit vom 16. Juni 2014.

304 Eine Währungsunion funktioniert nicht ohne eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, das hat sich in der Krise gezeigt. Haushalts- und wirtschaftspolitische Entscheidungen eines EU-Landes können sich direkt auf ein anderes auswirken. Um dies künftig zu vermeiden, schwebt führenden Politikern eine gemeinsame europäische Wirtschaftsregierung vor, vgl.Haimerl/Rietzschel, Man wird ja noch träumen dürfen - Visionen zur Zukunft der EU, Süddeutsche Zeitung vom 18. Mai 2014

305 Aus der Perspektive der Verfassung ist das Soziale nicht allzu eng zu verstehen: Es gibt und gilt nicht nur ein abstraktes Prinzip, sondern hier gelten auch die Grundrechte mit einer deutlich sozialen Dimension. In diesem Sinne handelt es sich bei den grundrechtlich geschützten Freiheiten immer auch um soziale Rechte, von der Menschenwürde des Art. 1 GG über die Gleichbehandlung der Art. 3, Art. GG . Art. 6 Abs. 5 oder auch Art. 38 GG und den Schutz der Familie des Art. 6 GG bis zum Schulrecht des Art. 7 GG. Das Grundgesetz eröffnet und schafft für den Sozialstaat und für das Sozialrecht ein weites Handlungsfeld. Die soziale Frage ist eine gewichtige, komplexe, in europäisierten und globalisierten Zusammenhängen zu beantwortende Rechts- und auch Verfassungsfrage. Sie ist insbesondere auch eine Grundrechtsfrage – und das ist keineswegs selbstverständlich. Wer das Grundgesetz liest, könnte durchaus auf den Gedanken kommen, sich nur auf Art. GG Artikel 20 Abs. GG Artikel 20 Absatz 1 GG zu konzentrieren. Dann erschöpft sich die soziale Frage verfassungsrechtlich im Sozialstaatsprinzip. Das final strukturierte Sozialstaatsprinzip ist als Staatszielbestimmung im Grundgesetz offen und mit einem Handlungsauftrag an den Gesetzgeber verankert, der zielorientiert das Prinzip mit konkretem Leben erfüllen soll. Es steht unter dem Vorbehalt des Möglichen, ist ein Abwägungsgesichtspunkt, damit zwar nicht wertlos und auch nicht unverbindlich, aber jedenfalls nicht individualisiert, kein eigenes Recht, keine durchsetzbare Forderung, nicht unhintergehbar, so Baer, Das Soziale und die Grundrechte, NZS 2014, 3. Die Grundrechte garantieren in einer objektiven Dimension auch die grundlegenden Voraussetzungen für die Inanspruchnahme grundrechtlicher Freiheit. Das ist allerdings kein Rundum-Sorglos-Paket, aber eine Minimalgewährleistung. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht aus einzelnen Freiheitsrechten auch Ansprüche darauf hergeleitet, den Zugang zu diesen Rechten zu haben, sie tatsächlich leben zu können, BVerfG, Erhebung von Studiengebühren nach dem Bremischen Studienkontengesetz 2005, NJW 2013, 2498 = EuGRZ 2013, 456 Schafft der Staat mit öffentlichen Mitteln Studienangebote, so muss er den freien und gleichen Zugang zu ihnen gewährleisten, vgl. BVerfGE 85, 36, 53 = NVwZ 1992, 361. Aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip der Art. 20 Abs. 1 GG, Art.28 GG 28 Abs. 1 S. 1 GG ergibt sich für diejenigen, die dafür die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen erfüllen, im Rahmen der vom Staat geschaffenen Ausbildungseinrichtungen ein Recht auf freien und gleichen Zugang zum Hochschulstudium ihrer Wahl, vgl. BVerfGE 85, 36, 53 f. = NVwZ 1992, 361; grundlegend BVerfGE 33, 303, 331 f. = NJW 1972, 1561; vgl. auch BVerwGE 134, 1, 134 7 f.= NVwZ 2009, 1562 = JA 2013, 712. Art. 12 Abs. 1 S. 1 i. V. mit Art. 3 Abs. 1 S. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip verpflichten den Gesetzgeber jedoch, auch im Bereich des Hochschulzugangs für die Wahrung gleicher Bildungschancen zu sorgen, vgl. BVerfGE 112, 226, 245 = NJW 2005, 493; er muss Auswahl und Zugang nach sachgerechten, auch für die Benachteiligten zumutbaren Kriterien regeln, BVerfGE 43, 291, 345 = NJW 1977, 569. Der Gesetzgeber darf den Zugang zu staatlich geschaffenen Ausbildungseinrichtungen nicht prohibitiv gestalten. Gebühren dürfen keine unüberwindliche soziale Barriere vor dem Hochschulzugang errichten, BVerwGE 102, 142, 147 = NJW 1997, 2465; 115, 32, 37 = NVwZ 2002, 206 = NJW 2002, 1063 L; BVerwGE 134, 134 Seite 1, 8, 14 = NVwZ 2009, 1562; BVerwG, Urt. v. 15. 12. 2010 –6C909 6 C 9/09, BeckRS 2011, 46817 RN 19, 25. Unzulässig ist eine Gebührenregelung, wenn sie ihrer Höhe nach in einem nicht mehr hinnehmbaren Maße abschreckende Wirkung entfalte, BVerwG, Urt. v. 15. 12. 2010 –6C909 6 C 9/09, BeckRS 2011, 46817 RN 25. Verfassungsrechtlich geboten ist damit ein sozial verträgliches, also entweder ein grundsätzlich für alle finanziell tragbares oder aber ein um ein Ausbildungsförderungssystem ergänztes Ausbildungsangebot, das im Rahmen der staatlich geschaffenen Ausbildungskapazitäten allen entsprechend Qualifizierten ein Studium ermöglicht und den Zugang zum Studium insbesondere nicht von den Besitzverhältnissen der Eltern abhängig macht, BVerwGE 102, 142, 147 = NJW 1997, 2465; BVerwGE 115, 32, 37 = NVwZ 2002, 206 = NJW 2002, 1063 L; BVerwGE 134, 1 8 = NVwZ 2009, 1562. Das Grundgesetz verbietet es, die nur begrenzt verfügbaren öffentlichen Mittel beim Hochschulzugang bevorzugt einem privilegierten Teil der Bevölkerung zugutekommen zu lassen, BVerfGE 33, 303, 334 f. = NJW 1972, 1561. Der Gesetzgeber hat den Zugang zu Einrichtungen zur Ausübung grundrechtlicher Freiheit insgesamt so zu gestalten, dass die sozialen Gegensätze hinreichend ausgeglichen werden und soziale Durchlässigkeit gewährleistet wird, Rüfner, in: BK, Art. 3 I RN 63 [Stand: Okt. 1992]; s. a. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 20 RN 119; Robbers, in: BK, Art. 20 I RN 1412 [Stand: April 2009]). Das Sozialstaatsprinzip verlangt darüber hinaus eine Ausgestaltung der Studiengebühren, die angemessen Rücksicht auf Belastungen Studierender nimmt, die auf Grund persönlicher Lebensumstände oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind, vgl. BVerfGE 45, 376, 387 = NJW 1978, 207. Das gilt für Menschen mit Behinderungen (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) ebenso wie für Studierende mit Kindern oder Pflegeverantwortung in der Familie (Art. 6 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 GG. Wie der Gesetzgeber dem Verfassungsgebot zur sozialen Ausgestaltung allgemeiner Studiengebühren im einzelnen Rechnung trägt, ist in weitem Umfang seiner freien Gestaltung überlassen. Er kann die von der Verfassung geforderte Chancengleichheit insbesondere durch die Höhe von Studiengebühren, durch Stipendien, spezielle Studienkredite und durch Härtefall- und Ausnahmeregelungen zu wahren suchen. Das BVerwG hat ausgeführt, BVerwGE 134, 1, 19 ff. = NVwZ 2009, 1562; BVerwG, Urt. v. 15. 12. 2010 –6C909 6 C 9/09, BeckRS 2011, 46817 RN 32, dass bei der entsprechenden Ausgestaltung von Studiengebühren die völkerrechtlichen Anforderungen zu beachten sind, hier aus Art. 10 Nr. lit. a der Europäischen Sozialcharta vom 18. 10. 1961 (ESC; in Kraft getreten am 26. 2. 1965, ETS Nr. 35, BGBl II, 1122), aus Art. 13 Abs. 1 i. V. mit Art. 13 Abs. 2 lit. c des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte(vgl. auch UN Committee on Economic, Social and Cultural Rights, The right to education 13, UN Doc. E/C. 12/1999/10 vom 8. 12. 1999, Z. 19 f. zu Art. 13 Abs. 2 lit. c IPwskR) und aus Art. 2 Zusatzprotokoll I EMRK i. V. mit Art. 14 EMRK. Dagegen ist von Verfassungs- wegen nichts zu erinnern.

306 Recht soll gut und gerecht sein. Im demokratischen Rechtsstaat liegt die Definitionskompetenz hierfür zuvörderst beim Gesetzgeber, dessen Vorgaben der Richter in denkendem Gehorsam umzusetzen hat. Doch wie hat er zu entscheiden, wenn ihm der Gesetzgeber keine Vorgaben macht, wo er welche machen müsste? Wie hat er mit in sich unstimmigen Vorgaben und einer Rechtsordnung voller Widersprüche umzugehen? Das Arbeitsrecht zeigt die Dringlichkeit dieser Fragen besonders deutlich auf. Auf Grund der in viele Einzelgesetze zersplitterten Regelungen ist es kaum möglich, ein einheitliches Wertungssystem zu schaffen. Hinzu kommt, dass der parlamentarische Gesetzgeber in Fragen des kollektiven Arbeitsrechts regelungsscheu, vielleicht sogar partiell regelungsunfähig ist. Die Gerichte werden zu Ersatzgesetzgebern auf bedeutenden Einzelgebieten des Arbeitsrechts. Methodenfragen sind Verfassungsfragen. Sie betreffen die reale Normsetzungsmacht im Staat. Die Wahl der Auslegungsmethode bestimmt nicht selten das Ergebnis des Rechtsstreits. Davon zeugt die aktuelle Methodendiskussion, wie sie an den jüngsten Entscheidungen des BVerfG zum Strafprozess und zum Unterhaltsrecht deutlich wird. Pflegezeitgesetz: § 1 PflegeZG - Ziel des Gesetzes Ziel des Gesetzes ist, Beschäftigten die Möglichkeit zu eröffnen, pflegebedürftige nahe Angehörige in häuslicher Umgebung zu pflegen und damit die Vereinbarkeit von Beruf und familiärer Pflege zu verbessern. § 3 Pflegezeit (1) 1Beschäftigte sind von der Arbeitsleistung vollständig oder teilweise freizustellen, wenn sie einen pflegebedürftigen nahen Angehörigen in häuslicher Umgebung pflegen (Pflegezeit). 2Der Anspruch nach Satz 1 besteht nicht gegenüber Arbeitgebern mit in der Regel 15 oder weniger Beschäftigten. (2) 1Die Beschäftigten haben die Pflegebedürftigkeit des nahen Angehörigen durch Vorlage einer Bescheinigung der Pflegekasse oder des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung nachzuweisen. 2Bei in der privaten Pflege-Pflichtversicherung versicherten Pflegebedürftigen ist ein entsprechender Nachweis zu erbringen. (3) 1Wer Pflegezeit beanspruchen will, muss dies dem Arbeitgeber spätestens zehn Arbeitstage vor Beginn schriftlich ankündigen und gleichzeitig erklären, für welchen Zeitraum und in welchem Umfang die Freistellung von der Arbeitsleistung in Anspruch genommen werden soll. 2Wenn nur teilweise Freistellung in Anspruch genommen wird, ist auch die gewünschte Verteilung der Arbeitszeit anzugeben. (4) 1Wenn nur teilweise Freistellung in Anspruch genommen wird, haben Arbeitgeber und Beschäftigte über die Verringerung und die Verteilung der Arbeitszeit eine schriftliche Vereinbarung zu treffen. 2Hierbei hat der Arbeitgeber den Wünschen der Beschäftigten zu entsprechen, es sei denn, dass dringende betriebliche Gründe entgegenstehen. § 4 Dauer der Pflegezeit (1) 1Die Pflegezeit nach § 3 beträgt für jeden pflegebedürftigen nahen Angehörigen längstens sechs Monate (Höchstdauer). 2Für einen kürzeren Zeitraum in Anspruch genommene Pflegezeit kann bis zur Höchstdauer verlängert werden, wenn der Arbeitgeber zustimmt. 3Eine Verlängerung bis zur Höchstdauer kann verlangt werden, wenn ein vorgesehener Wechsel in der Person des Pflegenden aus einem wichtigen Grund nicht erfolgen kann. 4Die Pflegezeit wird auf Berufsbildungszeiten nicht angerechnet. (2) 1Ist der nahe Angehörige nicht mehr pflegebedürftig oder die häusliche Pflege des nahen Angehörigen unmöglich oder unzumutbar, endet die Pflegezeit vier Wochen nach Eintritt der veränderten Umstände. 2Der Arbeitgeber ist über die veränderten Umstände unverzüglich zu unterrichten. 3Im Übrigen kann die Pflegezeit nur vorzeitig beendet werden, wenn der Arbeitgeber zustimmt. Pflegezeit – einmalige oder mehrmalige Inanspruchnahme 1. Nach § 3 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 4 Abs. 1 S. 1 PflegeZG sind Beschäftigte bis zu einer Höchstdauer von sechs Monaten von der Arbeitsleistung vollständig oder teilweise freizustellen, wenn sie einen pflegebedürftigen nahen Angehörigen in häuslicher Umgebung pflegen. § 3 PflegeZG räumt dem Beschäftigten ebenso wie § 16 Abs. 1 S. 1 BEEG ein einseitiges Gestaltungsrecht ein. Durch die Erklärung, Pflegezeit in Anspruch zu nehmen, treten unmittelbar die gesetzlichen Rechtsfolgen der Pflegezeit ein, ohne dass es noch eines weiteren Handelns des Arbeitgebers bedürfte. 2. Das PflegeZG erlaubt es einem Arbeitnehmer nicht, Pflegezeit für ein und denselben nahen Angehörigen mehrfach in Anspruch zu nehmen (mehrfaches Gestaltungsrecht). § 3 Abs. 1 S. 1 PflegeZG i. V. mit § 4 Abs. 1 S. 1 PflegeZG eröffnet Arbeitnehmern nur die Möglichkeit, sich einmalig bis zu sechs Monate lang der Pflege eines nahen Angehörigen zu widmen. Hat der Arbeitnehmer die Pflegezeit durch Erklärung gegenüber dem Arbeitgeber in Anspruch genommen, ist sein Anspruch erloschen, sofern sich die Pflegezeit auf denselben Angehörigen bezieht (einmaliges Gestaltungsrecht). Das gilt auch dann, wenn die in Anspruch genommene Pflegezeit kürzer als sechs Monate ist. 3. Es bleibt offen, es mit § 3 Abs. 1 PflegeZG vereinbar ist, dass der Arbeitnehmer die Pflegezeit im Wege einer einmaligen Erklärung auf mehrere getrennte Zeitabschnitte verteilt. 4. Das PflegeZG erlaubt es einem Arbeitnehmer nicht, Pflegezeit für ein und denselben nahen Angehörigen mehrfach in Anspruch zu nehmen (mehrfaches Gestaltungsrecht). § 3 Abs. 1 S. 1 i. V. mit § 4 Abs. 1 S. 1 PflegeZG eröffnet Arbeitnehmern nur die Möglichkeit, sich einmalig bis zu sechs Monate lang der Pflege eines nahen Angehörigen zu widmen. Hat der Arbeitnehmer die Pflegezeit durch Erklärung gegenüber dem Arbeitgeber in Anspruch genommen, ist sein Anspruch erloschen, sofern sich die Pflegezeit auf denselben Angehörigen bezieht (einmaliges Gestaltungsrecht). Das gilt auch dann, wenn die in Anspruch genommene Pflegezeit kürzer als sechs Monate ist. Das Recht eines Arbeitnehmers, einen nahen Familienangehörigen in häuslicher Umgebung zu pflegen, ist kein Anspruch des Arbeitnehmers i. S. des § 194 BGB, zu dessen gerichtlicher Durchsetzung eine Leistungsklage geeignet wäre. § 3 PflegeZG räumt dem Beschäftigten ein einseitiges Gestaltungsrecht ein, Gallner, in ErfK, 11. Aufl., § 3 PflegeZG, RN 4; Fröhlich, ArbRB 2008, 84 [86]; Joussen, Streitfragen aus dem Pflegezeitgesetz, NZA 2009, 69, 71; a. A. Preis/Nehring, Das Pflegezeitgesetz, NZA 2008, 729, 734. Durch die Erklärung, Pflegezeit in Anspruch zu nehmen, treten unmittelbar die gesetzlichen Rechtsfolgen der Pflegezeit ein, ohne dass es noch eines weiteren Handelns des Arbeitgebers bedürfte (in diesem Sinne: Joussen, Streitfragen aus dem Pflegezeitgesetz NZA 2009, 69, 71. Der Arbeitnehmer schuldet während der in Anspruch genommenen Pflegezeit keine Arbeitsleistung mehr 3 Abs. 1 S. 1 PflegeZG. Ähnlich hat der Senat in der Vergangenheit die Rechtslage im Fall der Elternzeit beurteilt. Der Senat hat angenommen, die Inanspruchnahme des Rechts auf Elternzeit sei von einer Zustimmung des Arbeitgebers unabhängig. Sie führe auf Grund des dem Arbeitnehmer eingeräumten Gestaltungsrechts unmittelbar zum Ruhen der sich aus dem Arbeitsvertrag ergebenden wechselseitigen Hauptpflichten, BAGE 114, 206 = NZA 2005, 1354 = NJW 2006, 1832 RN 25. Diese Rechtsfolge trete ein, ohne dass es einer Zustimmung seitens des Arbeitgebers bedürfe, BAGE 110, 224 = NZA 2004, 1039 RN 29. Insbesondere sei ein auf die Änderung des Arbeitsvertrags gerichteter Antrag des Arbeitnehmers i. S. von § 145 BGB, den der Arbeitgeber annehmen oder ablehnen könne, entbehrlich, BAG, NZA 2006, 1413 = NJW 2006, 3595 = AP BErzGG § 15 Nr. 18. Dieselben Erwägungen treffen auf die Pflegezeit i. S. des § 3 Abs. 1 S. 1 PflegeZG zu. Ausweislich der Gesetzesmaterialien wollte der Gesetzgeber die Regelung der Pflegezeit und der Pflegeteilzeit an den Bestimmungen über die Elternzeit in §§ 15 f. BEEG orientieren (vgl. BT-Dr. 16/7439, S. 91). Soweit nach dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 S. 1 PflegeZG der Beschäftigte „von der Arbeitsleistung vollständig oder teilweise freizustellen“ ist, handelt es sich um eine redaktionelle Ungenauigkeit des Gesetzgebers. Einer Freistellungserklärung des Arbeitgebers bedarf es nach der Gesetzesbegründung gerade nicht. Notzon, Aktuelle Rechtsfragen zur Pflegezeit, öAT 2013, 136 - kommt es zu einem Arbeitgeberwechsel während der genommenen Pflegezeit, so dürfte der Freistellungsanspruch bis zur Höchstgrenze von sechs Monaten fortbestehen. Eine Verlängerung über diese Höchstgrenze hinaus erscheint wenig sachgerecht, wenn man den Pflegezeitanspruch an die jeweils zu pflegende Person koppelt. Während der Pflegezeit besteht nach § 5 PflegeZG ein besonderer Kündigungsschutz, so dass Beendigungsfälle eher die Ausnahme bleiben werden. Überdies erscheint es wenig realitätsnah, dass sich ein in Pflegezeit befindlicher Arbeitnehmer auf eine neue Stelle bewirbt und dort zunächst die restliche Pflegezeit in Anspruch nehmen möchte. Schiefer, Urlaub, Pflegezeit, Teilzeitwunsch – Wie das Arbeitsrecht knappe Güter verteilt, NZA-Beilage 2012, 132, stellt fest: Eine familienfreundliche Personalpolitik wird allein auf Grund der demografischen Entwicklung für immer mehr Unternehmen zu einem Erfolgsfaktor im Wettbewerb; das Eingehen auf die familiären Fürsorgepflichten erleichtert den MitarbeiterInnen auch den Spagat zwischen familiären Pflichten und der motivierten Ausfüllung ihrer konkreten beruflichen Stellung. Mit dem subjektiven Wertewandel, der Abkehr von tradierten Pflicht und Akzeptanzwerten und der Betonung von Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung, erlange die „Work-life-balance“ eine immer größere Bedeutung. Sie stellt eine große Herausforderung für die Personalverantwortlichen dar, vgl. Schiefer, Urlaub, Pflegezeit, Teilzeitwunsch – Wie das Arbeitsrecht knappe Güter verteilt Schiefer, NZA-Beilage 2012, 133. Bei dem neuen Familienpflegezeitgesetz handelt es sich um ein neues eigenständiges Gesetz, nicht etwa um eine Erweiterung des Pflegezeitgesetzes, Glatzel, Das neue Familienpflegezeitgesetz, NJW 2012, 1175. Zentraler Gegenstand der Neuregelungen ist, dass die wöchentliche Arbeitszeit bis zu einem Mindestumfang von 15 Stunden für die Dauer von längstens 24 Monaten zur häuslichen Pflege eines pflegebedürftigen nahen Angehörigen bei gleichzeitiger Aufstockung des Arbeitsentgelts durch den Arbeitgeber verringert wird. Die Anlehnung an das Modell der Altersteilzeit wird erkennbar: Hier wie dort schließen die Arbeitsvertragsparteien eine Vereinbarung über die Reduzierung der Arbeitszeit; um die Gehaltseinbußen für den Beschäftigten akzeptabel zu halten, wird das Gehalt aus Bundesmitteln aufgestockt. Die Beschäftigten erhalten durch Aufstockungszahlungen einen Anreiz zur Familienpflegezeit.§ 7 Abs. 1 PflegeZG definiert, wer Beschäftigter im Sinne des Gesetzes ist. Beschäftigte sind nach dieser Vorschrift Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten, aber auch arbeitnehmerähnliche Personen und die in Heimarbeit Beschäftigten und die ihnen Gleichgestelle, vgl. Hexel/ Lüders, Offene Fragen des neuen Pflegezeitrechts, NZS 2009, 265 mit dem kritischen Hinweis, dass die Einbeziehung der arbeitnehmerähnlichen Personen in das Gesetz ist überraschend und systematisch verfehlt sei. Es werde einer Personengruppe, die sonst im deutschen Arbeitsrecht keinen Kündigungsschutz genieße, auf einmal ein strenger Sonderkündigungsschutz gewährt. Zudem würden auf diese Personen Arbeitszeitregeln erstreckt, obwohl ihnen eine feste Arbeitszeit fremd sei, da sie im Wesentlichen ihre Arbeitszeit selbst bestimmen könnten. Raif, Arbeitnehmer kann Pflegezeit pro Angehörigen nur einmal beanspruchen, GWR 2012, 136, rät dringend: Arbeitnehmer mit pflegebedürftigen Angehörigen sind sicherlich gut beraten, vorab genau zu prüfen, für welche Zeiträume ihr Arbeitgeber sie entbehren soll. Ein Nachschieben weiterer Pflegezeiten ist nach der klaren BAG-Entscheidung nicht zulässig. Kern, Keine mehrmalige Inanspruchnahme von Pflegezeit, ArbRAktuell 2012, 144 betont, dass viel dafür spricht, dass der Arbeitnehmer die Pflegezeit nur in einem zusammenhängenden Zeitraum nehmen kann, da das PflegeZG anders als das BEEG keine ausdrückliche Aufteilung auf mehrere Zeitabschnitte vorsieht

307 vgl. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2001, S. 165.

308 Ob sie aber angesichts der wirtschaftlichen Verwerfungen angesichts der Globalisierung ähnliche Sicherheiten wie staatliche Gemeinschaften bieten, ist mehr als zweifelhaft. Vgl. auch Friedmann, Capitalism and freedom, 1962

309 Mäßigung, Wahrhaftigkeit und Courage, das heißt Handeln mit Mut und Zuversicht. Sie sind besonders in Zeiten der Orientierungslosigkeit herausgefordert. Vertrauen muss aktiv gelebt werden. Vertrauen ist keine Einbahnstraße. Werte müssen aktiviert, verinnerlicht und verwirklicht werden. Politische Versprechen sind einzuhalten und wahrhaft umzusetzen. Zwar ist Politik keine stumpfsinnige, wiederkehrende Routine, Dennoch sollte sie selbst in einer unvorhersehbaren Situation berechenbar bleiben. Skepsis gegenüber der Politik, Demokratie und der Marktwirtschaft ist erlebbar. Das Thema soziale Gerechtigkeit begleitet dauerhaft die aktuellen Diskussionen und berührt bzw. betrifft viele. Es ist kein gefühltes Thema, sondern real vorhanden. Unbehagen über demokratische und marktwirtschaftliche Institutionen ebenso. Schwab, 2014.

310 In der Rentenversicherung stehen die Generationen solidarisch zusammen. Deshalb ist dieses Umlageverfahren auch mehr als ein Finanzierungsinstrument. Das müssen wir auch immer wieder erklären. Manchmal denkt man ja, wenn ein Land über 60 Jahre alt ist, wie die Bundesrepublik Deutschland, dann müssen alle alles verstanden haben, und man vergisst, dass immer wieder neue Generationen nachwachsen, die aus ihrer Sicht in ein fast natürliches System hineinwachsen, dessen Verständnis man sich gar nicht mehr erarbeiten muss. Deshalb ist es unsere Aufgabe, um diesen Generationenzusammenhalt zu sichern, um auch den Sozialstaat zu sichern, dass wir die Funktionsweise unserer sozialen Sicherungssysteme immer und immer wieder deutlich machen. Sozialer Pfadfinder in der Geschichte. Angela Merkel, Pfadfinder in der Geschichte , 19. Januar 2011

311 Zentraler Punkt für Deutschland ist die Digitale Agenda. Das Ziel einer flächendeckenden Breitbandanbindung mit 50 Megabit pro Sekunde bis 2018 können wir umsetzen. Wir führen dazu sehr intensive Beratungen und Besprechungen. Das ist ein wichtiger Schritt, aber damit ist es natürlich nicht getan. Wir wissen, dass das, was unter der Bezeichnung „Industrie 4.0“ firmiert, was mit „smart grids“ gemeint ist, was in der Automobilindustrie mit „Fahren ohne Fahrer“ angestrebt wird, in den nächsten Jahren die Übermittlung von Datenpaketen in Echtzeit in einem heute kaum gekannten Ausmaß erfordert. Dazu gehört sehr viel mehr, als nur jeden einzelnen Haushalt mit 50 Megabit pro Sekunde anzubinden. Mehr noch, als starke Industrienation stehen wir im Zusammenhang mit „Industrie 4.0“ vor einer großen Herausforderung, wir müssen Fragen von der Infrastruktur über die richtigen Rahmenbedingungen bis hin zur Sicherheit der Daten bearbeiten. (Rede von Bundeskanzlerin Merkel auf dem BGA-Unternehmertag am 1. Oktober 2014).

312 Die Menschenwürde ist zunächst eine individuelle. Menschen haben eine spezifische Würde, insofern sie in der Lage sind, nach Gründen zu handeln und zu urteilen, insofern sie Vernunftwesen sind, insofern wir ihnen Rationalität, Freiheit und Verantwortung zuschreiben können. Diese Form der Würde ist gleich, sie kommt jedem Einzelnen gleichermaßen zu und sie wird gegenüber Jedem gleichermaßen in Anschlag gebracht, wenn der Umgang untereinander human ist. In diesem Sinne kann niemand für eine andere Person entscheiden. Jede Person ist autonom, darauf beruht ihre spezifische je individuelle Würde. Als Vernunftwesen handeln wir nur nach den Maximen, die verallgemeinerbar sind, d. h. die vereinbar sind damit, dass jede Person ihre Freiheit realisieren und d. h. autonom leben kann. Die Autonomie sichernde Freiheit ist eine je individuelle gleiche. Allen kommen die gleichen Freiheitsansprüche zu, weil sie alle in gleicher Weise autonom leben wollen). Es gibt nur gleiche Freiheit oder keine Freiheit, Nida-Rümelin, Freiheit und Gleichheit, www.fes-online-akademie.de

313 Doch die Zukunft der Demokratie in der EU hängt nicht davon ab, dass er Kommissionspräsident wird. Jürgen Habermas irrt. Jürgen Habermas schlägt in seiner Analyse der Europawahl einen hohen Ton an. Im Feuilleton dieser Zeitung erklärt der Philosoph zum einen, das Europaparlament habe durch die Aufstellung von Spitzenkandidaten erstmals eine "tatsächliche Legitimation" erfahren. Der von Habermas gezeigte pathetische „Alarmismus“ ist schon deshalb unangebracht, weil noch gar nichts passiert ist. Die Bundeskanzlerin hat zu Recht darauf verwiesen, dass der Lissabonner Vertrag einzuhalten ist. Dort heißt es, dass der Europäische Rat dem Parlament "nach entsprechenden Konsultationen" mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorschlägt. Dabei "berücksichtigt" er das Ergebnis der Europawahl. Diese Bestimmung bedeutet erstens, dass der Rat das Vorschlagsrecht hat, nicht das Parlament. Zweitens ist nicht von Spitzenkandidaten die Rede - wohl aber von Konsultationen. Diese lassen sich nicht in zwei Tagen erledigen. Drittens ist keine Rede davon, dass das Parlamentspräsidium direkt nach der Europawahl einen Kandidaten beauftragt, sich eine Mehrheit im Parlament zu suchen. Das Präsidium - nicht das Plenum - hat dies dennoch getan und keine zwei Tage nach der Schließung der Wahllockale Juncker beauftragt, in der erkennbaren Absicht, die Staats- und Regierungschefs vor vollendete Tatsachen zu stellen. Was ist das anderes als eine "Selbstermächtigung" (Habermas)? Die Behauptung von Habermas, dass das Parlament nun erstmals eine tatsächliche Legitimation erfahren habe, beruht auf zwei sich widersprechenden Befunden. Zum einen habe die Aufstellung der Spitzenkandidaten einen "Demokratisierungsschub" ausgelöst, weil Europa so in den Strom der polarisierten Willensbildung seiner Bürger hineingeraten sei. Wer die Auftritte der Spitzenkandidaten verfolgt hat und um ihre überschaubare Bekanntheit weiß, dürfte von dieser Polarisierung wenig mitbekommen haben. Zum anderen hätten die Europagegner stärker als bisher Sitz und Stimme im Parlament erlangt, so dass sich nun die "Böcke von den Schafen trennen". In der Tat standen sich bei dieser Wahl Befürworter und Gegner der europäischen Integration expliziter gegenüber als bisher. Aber zugleich waren die Stimmen für die Europagegner auch Proteststimmen gegen das jeweilige nationale Establishment. So oder so lässt sich aus dem Wahlergebnis nicht ableiten, dass die Bürger die Legitimation des Europaparlaments gestärkt hätten. Soweit es die Europagegner beflügelt hat, wird das Wahlergebnis vor allem die Regierungen der Mitgliedstaaten beschäftigen. Diese sind über nationale Wahlen ohnehin nicht weniger demokratisch legitimiert als das Europaparlament selbst. Habermas geht es indes nicht nur um die Bestellung des Kommissionspräsidenten. Seine Behauptung, der Rat habe sich in der Krise auf undemokratische Weise eine "übergriffige exekutive Macht" angeeignet reicht weiter. Und sie macht ratlos: Meint er, anstatt des Rats hätte das Europaparlament die EU-Krisenfonds beschließen sollen? Angesichts dessen, dass die Mitgliedstaaten die Fonds finanzieren, wäre das eine seltsame Vorstellung. Verstehen kann seine Behauptung wohl nur, wer um Habermas Beobachtung weiß, dass sich die EU in einem "fortgeschrittenen Prozess" der Umwandlung der sozialstaatlichen Bürgerdemokratie in eine "marktkonforme Fassadendemokratie" befinde - und dass sich dieser Prozess nur über ein politisch geeintes Kerneuropa (und damit in der Überwindung der "übergriffigen Macht! der Mitgliedstaaten) umkehren lasse, Mussler, FAZ vom 2. Juni 2014 " Die Kanzlerin hat sich hinter Jean-Claude Juncker gestellt. Der Diskurstheoretiker Habermas müsste wissen, dass der EU bis auf weiteres etwas Entscheidendes fehlt: eine europaweite öffentliche Debatte über die Inhalte eines Gesetzesvorhabens. Sie findet nicht statt, weil es keine europäische Öffentlichkeit gibt. Solange das so bleibt, wird die Legitimation der EU-Gesetzgebung und damit des Europaparlaments an ihre Grenzen stoßen. Die Zukunft der Demokratie in der EU hängt nicht von Namen des Kommissionspräsidenten ab.

314 Übergriffige exekutive Macht, undemokratische Selbstermächtigung, Missachtung des Wählervotums: Wie Jürgen Habermas de Wirklichkeit der Europawahl feuilletonmäßig auf den Kopf stellt. W sind die großen Europäer? Der Kontinent kriselt und keine rettende Tat. Mit welchen Mitteln soll man die Strukturkrisen in den südlichen Staaten Europas lösen - Geld noch flüssiger machen, die nagelneuen Schuldbremsen wieder lockern? Für viele hat die Konzeptlosigkeit ein Gesicht: Angela Merkel. Für Jürgen Habermas ist sie so etwas wie eine graue Gestalt, die einen Demokratisierungsschub Europas fürchte und an der Spitze einer "übergriffigen exekutiven Macht" stehe, mit ihrem schäbigen Klüngel in der Erwartung willfähriger Handlanger. Merkel steht für jemanden wie Jürgen Habermas aber zugleich für die Verweigerung eines "Politikwechsels" in Richtung Francois Hollande. Deutschland habe sich unsolidarisch verhalten, halbhegemonial herrschend, ungerührt von obszön ungleichen Krisenschicksalen den schwächsten europäischen Länder Opfer abverlangt, selbst vom Leid der anderen profitierend, anstatt neue Vorleistungen zu erbringen. Die vor allem mediale Aufregung entzündet sich an einer Frage, die den meisten Menschen in Europa vermutlich besonders auf den Nägeln brennt. Wer soll neuer Kommissionspräsident werden? Es wird gerne vergessen, dass bei der Besetzung der Kommission bislang die Staats- und Regierungschefs genau das tun, was die Verträge, also das geltende Recht und nicht irgendein fiktiver Verfassungsprozess vorschreiben. Die Entscheidungsparität zwischen Regierungen einerseits und gewähltem Parlament andererseits ist eine tragende institutionelle Entscheidung der Verträge. Es handelt sich um die Bildung einer Demokratie im Verbund, die aus zwei Legitimationsquellen gespeist wird. Die Regierungen sind nicht die Monarchen des 19. Jahrhunderts, die der Volkssouveränität im Wege stehen, sondern sie sind die gewählten Regierungen ihrer Völker, die mit ihrer Legitimation und mit ihrer Mobilisierungskraft in den Staaten für das Gelingen Europas einstehen. Dazu gehört, dass im Europäischen Rat eine politische Willensbildung als Interessenausgleich gesucht wird - auch hier gibt es eine Mehrheitsentscheidung in dem kooperativen Geist, der den Frieden des Kontinents sichert. Die verhandelnde Kultur der Regierungen im Rat ist ein Skandalon, sondern diejenige Errungenschaft, die die Europäische Union zu dem gemacht hat, was sie als supranationales Erfolgsmodell allen Anfechtungen zum Trotz verkörpert. In Deutschland betrachtet man die Union manchmal als Herrschaftsort, der Gemeinwohl und Gerechtigkeit garantiere, während die egoistischen Staaten allmählich erodieren und am Ende absterben. Wenn die Staaten Europas als Demokratien, Rechtsstaaten und wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaften in ihrer Gestaltungskraft erlahmen, wird keine Brüsseler Zentrale den Verfall Europas aufhalten. Mehr Zentralität ist in manchen Handlungsfeldern möglich, aber über die Rückverlagerung oder die bessere Abgrenzung von Kompetenzen wie im Arbeits- und Sozialrecht muss nüchtern diskutiert werden, entsprechende Vorschläge müssen nicht gleich als Re-Nationalisierungsprogramm beargwöhnt werden. di Fabio, Europa - Eine demokratische Zäsur, FAZ vom 9. Juni 2014

315 Die Zukunft der EU liegt nicht in der Ausweitung des Parlamentarismus. Der europäische Zweckverband kann die nationale politische Bühne nicht ersetzen. Die Globalisierungslücken zu schließen reicht als Ziel der EU aus. Wird nach Lösungen für die Legitimationsprobleme der EU gesucht, ruhen die meisten Hoffnungen mittlerweile auf dem Parlament. Besitze es erst einmal die Kompetenzen, mit denen nationale Parlamente üblicherweise ausgestattet sind, dann rücke das von Unionsbürgern gewählte Organ ins Zentrum der EU und verschaffe ihr die demokratische Legitimation, an der es bis jetzt noch fehle. Die Parlamentarisierung der EU kann das Legitimationsproblem freilich nur dann lösen, wenn es seinen Grund tatsächlich in der mangelnden Kompetenzausstattung des Parlaments hat. Liegt der Grund anderwärts, verfängt diese Therapie nicht. Deswegen darf er Erfolg einer Parlamentarisierung nicht einfach unterstellt werden. Zwar ist Demokratie ohne frei gewählte und mit ausreichenden Kompetenzen versehene Parlamente schwer vorstellbar. Für sich allein garantieren diese Merkmale aber lediglich, dass die Anforderungen an demokratische Herrschaft formal erfüllt sind. Ob es in einem Gemeinwesen auch materiell demokratisch zugeht, hängt von einer Anzahl weiterer Voraussetzungen ab. Erst wenn diese in die Betrachtung einbezogen werden, gewinnt man Klarheit darüber, ob die Parlamentarisierung des europäischen Regierungssystems den gewünschten Erfolg verspricht. Zu diesen Voraussetzungen zählen erstens, dass das Parlament für die Gesellschaft, die es vertritt, einigermaßen repräsentativ ist, um den kollektiv verbindlichen Entscheidungen Legitimität vermitteln zu können. Das fällt heute fast allen Parlamenten in den stark individualisierten Gesellschaften der westlichen Welt schwer, wo Familien-, Kirchen-, Klassen- und Milieubindungen schwinden und Wertepluralismus die Tagesordnung prägt und Wahlabstinenz begünstigt, während sich gleichzeitig ad-hoc-Protest gegen bestimmte politische Entscheidungen leicht mit der Forderung nach partizipativen Gestaltungs- und Beteiligungsprozessen mobilisieren lässt. Gegen diese partizipativen Forderungen - nach Änderung der Kommunikationskultur und Respektierung des Bürgerwillens- und gesellschaftlichen Öffnungsprozesse als Zeitströmung ist wenig auszurichten. Der Legitimationsbedarf bleibt bestehen, seine Deckung wird schwieriger. Die EU wird davon nicht verschont. Im Gegenteil tritt hier die nationale Fragmentierung erschwerend hinzu. Diese trägt dazu bei, dass der Wert der europäischen Integration vorwiegend an dem Nutzen für das eigene Land gemessen wird. Die EU erschwert sich die Lage aber über das unvermeidliche Maß hinaus, indem sie die nationale Fragmentierung in ihrem Wahlsystem verstärkt, statt sie abzumildern. Infolgedessen reicht die Repräsentativität des Europäischen Parlaments nicht an die der nationalen Parlamente heran. Mit der geringen Wahlbeteiligung hat das aber nur vordergründig zu tun. Wichtiger erscheint, dass die Europawehlen nicht europäisiert sind. Gewählt wird getrennt nach den einzelnen Mitgliedstaaten und für nationale Kontingente im Parlament, die nicht den Bevölkerungszahlen der Mitgliedstaaten entsprechen. Gewählt wird zudem nach nationalem Wahlrecht, und wählbar sind nur nationale Parteien, die mit nationalen Themen Wahlkampf machen. Diese Parteien treten im Parlament aber gar nicht als Akteure in Erscheinung. Dort agieren vielmehr europäische Parteien, lockere Zusammenschlüsse ideologisch verwandter nationaler Parteien, die aber in der Gesellschaft nicht verwurzelt sind, Grimm, Die Stärke der EU liegt in einer klugen Begrenzung, FAZ vom 10. August 2014

Ende der Leseprobe aus 609 Seiten

Details

Titel
Der Sozialstaat in der postmodernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts
Untertitel
Staatsrecht - Völkerrecht - Sozialrecht - Philosophie - Politikwissenschaften - Soziologie
Hochschule
Duale Hochschule Baden-Württemberg Mannheim, früher: Berufsakademie Mannheim  (Forschungsinstitut (FOI))
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
609
Katalognummer
V286695
ISBN (eBook)
9783656870289
ISBN (Buch)
9783656870296
Dateigröße
4266 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Werk ist eine komplexe soziologisch-philosophische und juristische Arbeit zu dem aktivierenden vorsorgenden Sozialstaat in der postmodernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Ein Schwerpunkt ist die Inklusion behinderter Menschen in die Gesellschaft, Teilhabe am Arbeitsleben und Inklusion in die Schule. Betrachtet wird die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention in die nationale Politik. Inklusion ist nicht nur politische Gnade, sondern ein moralischer und rechtlicher Anspruch. "Das Wir gewinnt." In diesem Satz schwingt alles mit, was Inklusion kennzeichnet - Bundespräsident J. Gauck.
Schlagworte
Staatsrecht, Sozialstaatsprinzip, Grundrecht, Existenzminimum, Inklusion (Teilhabe) behinderter Menschen, Arbeitsleben, Teilhabe am Arbeitsleben, Behindertenkonvention, SGB IX, Bildung und Bildungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Veränderung der sozialen Verhältnisse, Ausfstieg durch Bildung, Aufstiegt durch Bildung, Inklusion behinderter Menschen in die Schule, Betriebliches Eingliederungsmanagement, BEM, Philosophische Gedanken zur Menschenwürde, Soziologische Betrachtung des Bildungserfolges, Völkerrecht, Ernst-Bloch, Jürgen Habermas, Oskar Negt, Marion Gräfin von Dönhoff, Sharing-Ökonomie, Rifkin, Carl-Christian von Weizsäcker, Joch, Aktion Mensch
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Dr. Assessor jur., Mag. rer. publ. Siegfried Schwab (Autor:in), 2014, Der Sozialstaat in der postmodernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/286695

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Der Sozialstaat in der postmodernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden