Kurzgeschichten bei Roberto Bolaño. Poetik und Praxis des Erzählens ausgewählter Texte und des Kurzgeschichtenbandes "Llamadas telefónicas"


Magisterarbeit, 2012

91 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Theoretische Grundlagen zur Poetik der Kurzgeschichte
1.1 Die Kurzgeschichte als literarische Gattung
1.2 Definitionen und Merkmale - Poetiken lateinamerikanischer Autoren
1.2.1 Horacio Quiroga - Vorläufer in Lateinamerika (1878-1937)
1.2.2 Jorge Luis Borges - Der Kritiker (1899-1986)
1.2.3 Julio Cortázar (1914-1984)
1.2.4 Ricardo Piglia - Bolaños Freund (1941)
1.2.5 Tendenzen der postmodernen Kurzgeschichte

2 Zur Poetik bei Roberto Bolaño
2.1 Ethik und Ästhetik
2.1.1 Der Infrarrealismus
2.1.2 Ursprünge - Aristoteles und Platon
2.1.3 Die Bedeutung des Exils
2.1.4 Autobiografie und Fiktion
2.1.5 Strukturelle Entleihungen aus der Kriminalgeschichte
2.1.6 Der Leser als Detektiv
2.1.7 Die Rolle des Erzählers
2.1.8 Intertextualität - Der literarische Schatten
2.1.9 Grenzüberschreitungen
2.2 Consejos sobre el arte de escribir cuentos

3 Llamadas telefónicas - Zwischen Auflösung und Rekonstruktion
3.1 Fragmentierung
3.1.1 Teil I - Der Autor als fragmentierte Figur
3.1.2 Teil II - Fragmente verschiedener Realitäten
3.1.3 Teil III - Die Frau als fragmentierte Figur
3.2 Grenzüberschreitungen
3.2.1 William Bums - Metamorphose und Auflösung von Sinn
3.2.2 Arturo Belano - Zwischen Realität und Fiktion, Zeit und Raum
3.2.3 Clara und Llamadas telefónicas - Intertextualität

4 Schlussbemerkung

5 Bibliografie

Einleitung

»Bücher sind Wege, die nirgendwohin führen, auf die man sich aber dennoch begeben muss, um sich zu verirren und wieder zu finden oder um etwas zu finden, was auch immer, ein Buch, eine Geste, einen ver­lorenen Gegenstand, irgendetwas, vielleicht eine Methode, mit etwas Glück: das Neue, das, was immer schon da war.«

Roberto Bolaño in Literatur und Krankheit

Verzweiflung ist das Gefühl, das sich im Leser ausbreitet angesichts von Roberto Bolaños literarischen Ausschweifungen. Seine Texte sind Strudel, die ihm den Boden unter den Füßen entreißen. Je tiefer er gerät, desto geringer ist die Aussicht auf ein Ent­kommen. Der Versuch, jeder Spur zu folgen, ist zum Scheitern verurteilt. Bolaño legt Fährten aus literarischen Leckerbissen, denen der Leser nicht widerstehen kann und die ihn fast in den Wahnsinn treiben, ihn krank machen, aber ihm auch ebenso Momente des Glücks bescheren, z.B. wenn etwas ans Licht kommt, das zuvor im Dunkeln lag. Wie ein Spürhund versucht er die Rätsel zu entschlüsseln, die der Autor ihm auferlegt, bis er sich schließlich im Detail verliert. Auf der Suche nach einem Sinn und Zusam­menhängen gerät der Leser an seine Grenzen, stürzt sich jedoch immer wieder mit dem Bewusstsein des Scheiterns zurück in die Flut.

Roberto Bolaño gilt als einer der herausragenden Autoren unserer Zeit. Die Wer­ke, die er im Jahrzehnt bis zu seinem Tod im Jahr 2003 veröffentlicht hat, haben Vor­bildfunktion für junge Schriftsteller und bezeichnen einen Wandel in der Weltliteratur. Angesichts dieser Aussage stellt sich die Frage, wie sich Bolaños Poetik gestaltet und welche Aspekte seiner Texte tatsächlich einen Wandel in der Literatur bezeichnen. Es gilt herauszufinden, was ihn von anderen Autoren unterscheidet und letztlich dazu führ­te, dass in der literarischen Diskussion und Kritik von einer Bolaño-Mania die Rede ist.

In einer postmodernen Welt befindet sich das Individuum in einer Krise. Bedeu­tungen und Sinnstrukturen lösen sich auf, Medien und Technik bestimmen den Alltag und der Mensch verliert sich in der Anonymität der Masse. Generell wirken sich gesell­schaftliche Entwicklungen auf die Literatur aus, die in der Konsequenz die Prämissen der Zeit aufgreift. Seit der Moderne tendieren Gattungen dazu, sich aufzulösen und mit anderen Gattungen und Genres zu vermischen. Dieses Phänomen kann auch in Bolaños Texten ausgemacht werden und soll in der vorliegenden Arbeit am Beispiel des Kurzge­schichtenbandes Llamadas telefónicas verdeutlicht werden.

Das zentrale Anliegen dieser Arbeit ist, zu ergründen, inwiefern Bolaño die Gat­tungsgrenzen der traditionellen Kurzgeschichte überschreitet. Unterstützend wird an dieser Stelle das Konzept von Ana Rueda aufgegriffen, für die sich die Fiktion der Postmoderne durch eine auflösende, fragmentierende Ästhetik auszeichnet. Auf diese Weise entsteht ein flexibler Text, der die Sprache ins Zentrum rückt. Diesen Beobach­tungen folgend, wird in der Analyse des Kurzgeschichtenbandes nach fragmentierenden Aspekten in den einzelnen Texten gesucht. Im Zentrum stehen hier die Themen, Figu­ren und die Erzählinstanz. Darüber hinaus lässt sich bereits an dieser Stelle sagen, dass Bolaño sich nicht auf die Fragmentierung beschränkt. Paradoxerweise führt diese letzt­lich zu Verbindungen, die sich zwischen den Texten ergeben. Demnach bewegt sich seine Poetik zwischen Auflösung und Rekonstruktion. Der Leser hat dabei die Aufgabe, die Verbindungen zwischen den Texten aufzudecken und Bolaños doppelte Strategie zu enttarnen.

Die vorliegende Arbeit setzt sich aus drei Kapiteln zusammen. Im ersten Teil wird die Entwicklung der lateinamerikanischen Poetik der Kurzgeschichte dargelegt. Begin­nend mit der Definition des Begriffs der Poetik selbst, werden anschließend Definitio­nen und Arbeitsweisen bedeutender lateinamerikanischer Autoren dargestellt und die Tendenzen der Kurzgeschichte in der Postmoderne erläutert.

Im zweiten Teil werden Bolaños Forschungsstand und Rezeption beleuchtet. Da­rüber hinaus werden seine Aussagen zu einer Theorie der Kurzgeschichte aus verschie­denen Interviews und Essays zusammengetragen und systematisiert. Aus diesen Infor­mationen lässt sich bereits einiges über seine Arbeitsweise ableiten. Die darauf folgende Analyse seines Textes Consejos sobre el arte de escribir cuentos wird einerseits aufzei­gen, wie er die vorab erarbeiteten Aspekte in der Praxis anwendet, andererseits zeigt sich, ob dieser Text eine Poetik der Kurzgeschichte im hier definierten Sinne darstellt.

Der dritte Abschnitt dieser Arbeit stellt schließlich die Analyse des Kurzgeschich­tenbandes Llamadas telefónicas dar. Ziel ist es hier, die erzählerische Praxis Bolaños anhand der zuvor genannten Aspekte zu untersuchen.

1 Theoretische Grundlagen zur Poetik der Kurzgeschichte

Vor der Beschäftigung mit Bolaños Texten ist es unerlässlich, sich mit dem For­schungsstand zur Theorie der Kurzgeschichte zu befassen. Wichtige Aspekte sind die Entwicklung der Kurzgeschichte in Lateinamerika und ihre zentralen Merkmale, wie sie von der Literaturkritik und ebenso in verschiedenen Poetiken bedeutender lateinameri­kanischer Autoren dargestellt werden. Darüber hinaus wird verdeutlicht, mit welchen Problemen eine Theorie der Kurzgeschichte in der Postmoderne konfrontiert wird und wie sie sich im Laufe der Zeit gewandelt hat. Zunächst ist es jedoch sinnvoll, den Be­griff der Poetik näher zu betrachten, seine Definition und Entwicklung zu erläutern und zu klären, worin seine Funktion liegt. Erst dann ist es später möglich zu beurteilen, ob bei Bolaño ebenfalls von einer Poetik entsprechend dieser Definition gesprochen wer­den kann.

Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff Poetik bezeichnet die Lehre von der Dichtkunst im Sinne einer Theorie der Poesie. Die Dichtungstheorie setzt sich sowohl mit dem Wesen, den Gattungen und den Formen der Dichtung auseinander, als auch mit deren Gehalt, Techniken, Strukturen und Darstellungsmitteln. Als Literaturtheorie ist sie ein wichtiger Aspekt der Literaturwissenschaft und ebenso Voraussetzung für eine Literaturkritik. Mit den Jahrhunderten hat sich die Form der Poetik ebenso verändert wie die Auffassung über die Dichtung. Bis zum 18. Jahrhundert galten normative Regelpoetiken, die strikte formale Kriterien für gutes Dichten beinhalteten und als ver­bindliche Richtlinien für angehende Dichter angesehen wurden.

Zu den kanonischen Texten der Regelpoetik zählen die Poetik von Aristoteles1 und die Ars Poetica von Horaz2. Im Zuge der Horaz-Rezeption, ausgehend vom Mittel­alter bis zur Renaissance, wurde die Poetik von der Rhetorik instrumentalisiert. Als die Kunst und Literatur im 18. und 19. Jahrhundert jedoch zunehmend vom Ästhetischen bestimmt wurde, wurden Regelpoetik und Rhetorik infrage gestellt. Die normative Poe­tik wurde von der beschreibend-induktiven abgelöst, wobei der Vergleich von Texten zu ihren Formeigenheiten und Gattungsgesetzen führte. Es gab eine Entwicklung hin zur Betrachtung einzelner Gattungen und nationaler Entwicklungen. Der rhetorisch­normative Charakter der Poetik verlor sich und sie konkretisierte sich als Literaturästhe­tik, der es nicht darum ging Regeln aufzustellen, sondern das literarische Schaffen zu begründen. Im Zentrum standen nun die Intentionen und Auffassungen des Autors, sei­ne ethischen, politischen, religiösen oder naturwissenschaftlichen Annahmen und seine daraus hervorgehenden poetologischen Schlussfolgerungen.

Mit dem Formalismus und Strukturalismus setzte sich im 20. Jahrhundert eine neue Sichtweise durch. Hier ging es vor allem um sprach- und kommunikationstheoreti­sche Ansätze und um die Differenzen zwischen verschiedenen Zeichensystemen. Die Post- und Neostrukturalisten dagegen thematisierten weniger die Produktion von Litera­tur als das Problem des Verstehens. Seit Roland Barthes3 gilt der Leser als eigentlicher Produzent des Textes. Ein einheitlicher und eindeutiger Textsinn wird seitdem als un­möglich betrachtet. Die zeitgenössische Poetik ist nicht normgebend, sondern ein sub­versives Element, das zur Dekonstruktion der Sinnkonventionen führt. Die Differenz zwischen einer alltäglichen und einer poetischen Sprache wird aufgelöst und die Poetik spricht der Poesie die Qualität des Besonderen ab.4

In dieser Arbeit wird der Begriff der Poetik als Synonym für Literaturtheorie bzw. Gat­tungstheorie verwendet. Wie hier bereits angedeutet wird, hat sich die Poetik bis heute stark gewandelt. Dieser Prozess wird im Folgenden in Bezug auf die Kurzgeschichte re­flektiert.

1.1. Die Kurzgeschichte als literarische Gattung

El cuento cambia y cada cuentista posee un acento particular, irreductible - estamos hablando de arte, por supuesto - pero hay un aire de familia, unas características comunes: el corte transversal de la realidad, la convicción de que después del punto final la historia secreta seguíra contándose en la imaginación del lector.

Luis Fernando Afanador

Als Gattung wird die Form bezeichnet, in der ein literarischer Text produziert und rezi­piert wird. Die Vorstellung darüber, was eine Gattung ist, beeinflusst die Produktion von Literatur, da Autoren bereits entwickelte Textmerkmale aufgreifen und in ihren Texten nachbilden oder umgestalten (Mora: 8).5 Gattungen sind demnach Ordnungs­schemata, die zur Klassifikation von Texten beitragen.

Neben den drei Grundgattungen Epik, Lyrik und Drama können weitere Untergat­tungen oder Genres, wie z.B. der Roman oder die Kurzgeschichte unterschieden wer­den.6

Laut Collyer kann eine allgemeine Definition der Kurzgeschichte folgendermaßen lauten: “Un máximo de intensidad con un mínimo imprescindible de elementos” (Collyer: 387). Man könnte auch sagen sie ist eine “fictious prose narrative longer than an anecdote and shorter than a novel” (Rotter/Bendl: 77). Beide Aussagen sind sehr all­gemein formuliert und zeigen wie vorsichtig der Umgang mit einer Definition der Kurzgeschichte ist.

In der Forschungsliteratur, wie beispielsweise im Vorwort der Theorie der Kurz­geschichte von Hans-Christoph Graf v. Nayhauss heißt es, dass die Versuche, eine all­gemein gültige Gattungstheorie der Kurzgeschichte zu definieren bisher kläglich ge­scheitert sind. Empirische Grundlagen zeigen allerdings, dass es möglich ist verschie­dene Erscheinungsformen zu benennen. Die historische Dimension wird bei Definiti­onsversuchen häufig vernachlässigt und Literaturwissenschaftler tendieren dazu, Defini­tionen nicht zu eng zu fassen und lediglich Grundbeschaffenheiten zu nennen, die für die Erzählstruktur der Kurzgeschichte gelten können (vgl. Nayhauss: 8f).

Beltrán Almería beschäftigt sich in seinem Artikel El cuento como género literario ebenfalls mit der Kurzgeschichte als literarischer Gattung. Er ist der Meinung, dass Gattungen keinen statischen und unveränderlichen Charakter haben. In der Ver­gangenheit wurde die Kurzgeschichte von der teoría retórica des Romans dominiert, die den Roman als die überlegene narrative Gattung ansieht (vgl. Beltrán Almería: 18). Beltrán Almería erscheint die rhetorische Theorie allerdings veraltet. Den Grund für die Verwirrung zwischen Roman und Kurzgeschichte sieht er in der falschen Annahme, sie hätten denselben Ursprung (vgl. Beltrán Almería: 19f). Er formuliert seinen Standpunkt fo lgendermaß en:

1. El cuento es un género no sólo autónomo de la novela, sino opuesto por su origen, su naturaleza y su historia; 2. Para definir un género literario nunca bastan los elementos textuales y el cuento no es una excepción. Sólo el abanico completo de sus elementos enunciativos puede definir un género; 3. Comprender la naturaleza del cuento nos debe permitir enunciar lo que A. M. Wright llama un cluster of characteristics que van más allá de los esquemas retóricos de la narración (Beltrán Almería: 21).

Die Kurzgeschichte ist nicht nur unabhängig vom Roman, sondern auch völlig gegen­sätzlich in ihrer Natur. Für eine Definition reicht es nicht aus, nur textuelle Elemente zu untersuchen. Sie muss in ihrer Ganzheit erfasst werden, d.h. in ihrem kulturellen und historischen Kontext, denn so ist es möglich, einige zentrale Charakteristika der Kurz­geschichte aufzuzeigen. Beltrán Almería bezieht sich hier auf Aussagen von M. Bachtin. Seiner Meinung nach kann man von Bachtins Theorie zum Roman sowohl eine generelle Theorie der Gattungen ableiten, als auch eine Theorie der Kurzgeschichte (vgl. Beltrán Almería: 21f).

Laut Bachtin verliert die Gattungstheorie der klassischen Poetik ihre Ordnung und systemische Regelmäßigkeit, als der Roman in die Theorie integriert wird. Der Roman ist nicht wie die anderen Gattungen aus dem Oralen entstanden, sondern unter den Be­dingungen der Schriftlichkeit. Bachtin benennt dementsprechend ein Phänomen: die novelización de los generos. Die aus dem Oralen entstammenden Gattungen müssen sich den Gegebenheiten des modernen Romans und der Schriftlichkeit unterwerfen. Andere Autoren sprechen davon, dass die Gattungen sich in der modernen Literatur auf­lösen (vgl. Beltrán Almería: 22). Der Roman wirkt sich destabilisierend im System der Gattungen aus. Dies würde für die Kurzgeschichte bedeuten, dass sie dazu tendiert sich aufzulösen, was gleichzeitig bedeutet, dass sie leichter Verbindungen mit anderen Gen­res eingehen kann (vgl. Beltrán Almería: 24). Auf diese Weise ließe sich die häufig er­wähnte Nähe zur Poetik erklären, ein Aspekt, der in Ansätzen im weiteren Verlauf der Arbeit betrachtet wird.

Gabriela Mora ist wie Beltrán Almería der Meinung, dass es nicht ausreicht, die Gattung Kurzgeschichte nur unter narratologischen Gesichtspunkten zu betrachten. In ihrem Buch En torno al cuento: de la teoría general y de su practica en Hispanoamérica schreibt sie:

[...] tanto la novela como el cuento son géneros que se inscriben en el modo narrativo. Pero, claro, esto no basta. Habrá que averiguar por qué un lector que se dispone a leer un cuento espera algo diferente a lo que esperaría si abriera una novela o un libro de poemas (Mora: 10).

Mora spricht hier die wichtige Rolle des Lesers bei der Rezeption eines Textes an. Sie bezieht sich auf Stanley Fish, der die Meinung vertritt, dass die Strategien des Lesens nicht von der Intention des Autors getrennt werden können, da die Intention und das Verständnis zwei Pole eines konventionellen Aktes sind, die sich gegenseitig bedingen und bestimmen (vgl. Mora: 176). Diese Beobachtung führt zu dem Schluss, dass der kulturelle Kontext, in dem ein Werk geschrieben wird, wichtig ist. Schließlich hängt die Interpretation davon ab, welche Mutmaßungen, Werte und Beurteilungen Autor und Le­ser teilen (vgl. Mora: 176).

Juan Carlos Palazuelos Montecinos untersucht in seiner Doktorarbeit El cuento Hispanoamericano como género literario Geschichten von Rulfo, García Márquez, Borges und Cortázar. Er arbeitet ein semiotisches Modell aus, nach dem literarische Gattungen analysiert werden können. Auf diese Weise versucht er narrative Texte an Aspekten zu orientieren, die konstituierend sein könnten. Auch er beschreibt Gattungen als ein kulturelles Phänomen:

Hoy se sabe que los géneros son modelos convencionales que se forman al interior de las culturas de acuerdo con la dinámica propia de los sistemas, caracterizada por la repetición y la ruptura o innovación de tales modelos. En otra palabra, hoy se sabe que el género es un objeto cultural [...] (Palazuelos Montecinos: 266f).

Seiner Auffassung nach sind Gattungen dynamische Systeme, die sich aus dem Inneren der Kulturen heraus formen und demnach veränderlich sind. Darüber hinaus sagt er:

En nuestros días, la influencia entre sistemas genéricos pertenecientes a diferentes culturas se acentúa progresivamente y es reflejo de la influencia cada vez más estrecha que existe entre los pueblos. Desde este punto de vista, la interdependencia entre géneros es el resultado de un fenómeno que Goethe vislumbró con anticipación: el desarollo de una Literatura Universal (Palazuelos Montecinos: 267).

Gattungen sind nicht nur kulturelle Phänomene, sondern beeinflussen sich gegenseitig, über kulturelle Grenzen hinaus. Literatur wird globalisiert und es formt sich eine Weltli­teratur, wie sie bereits Goethe fordert.7 Klare Grenzen zwischen den Gattungen ver­schwimmen und alle möglichen Formen von Texten werden möglich, was aber zu dem Problem führt, dass sie nicht mehr eindeutig zu einer Gattung zugeordnet werden kön­nen.

Betrachtet man Moras Aussage über die Bedeutung des kulturellen Kontextes für die Interpretationsleistung des Lesers, so scheint dies im Widerspruch zu einer Weltlite­ratur zu stehen. Eine Weltliteratur impliziert, dass sie nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden und nicht mehr an ein bestimmtes Publikum gerichtet ist. Somit wäre der kulturelle Kontext, in dem sie entstand (jeder kann von überall über alles schreiben), nebensächlich oder nicht relevant. Fraglich ist, ob der Leser diese Art von Literatur noch interpretieren kann. Zu vermuten ist, dass der kulturelle Kontext weiterhin ein wichtiger Aspekt bleibt, jedoch der Aufwand für den Leser wächst, einen Text zu ent­schlüsseln. Im Hinblick auf Bolaños Aufenthalt und Leben in verschiedenen Ländern wie Chile, Mexiko und Spanien, gestaltet es sich schwierig zu definieren, ob seine Tex­te die eines Chilenen, Mexikaners oder Europäers sind und an wen sie sich richten. Mo­rales stellt sich in seiner Untersuchung eben diese Fragen und kommt schließlich zu dem Schluss, dass Bolaños Texte keine konkrete Verortung haben, da sie sich aufgrund der vielen lokalen Einflüsse, sowohl an Chilenen, Mexikaner oder Europäer richten (vgl: Morales: 41). Diese Art von Texten kann nur in einem Zeitalter wie dem heutigen funktionieren, in dem jeder Zugriff auf das Internet und somit auf sämtliche Informatio­nen hat. Dieser interessante Gedanke ist verbunden mit dem Konzept der Intertextualität (vgl. Palazuelos Montecinos: ebd.). In Bolaños Arbeiten finden sich immer wieder intertextuelle Bezüge, die das Engagement des Lesers erfordern, der sich selbst auf die Suche nach einer Interpretation machen muss, wie später noch verdeutlicht wird.

Der Theoretiker Anderson Imbert hat sich ebenfalls mit der Theorie der Kurzge­schichte beschäftigt und trifft folgende Aussage:

No se niega, pues, la existencia histórica de los géneros sino su valor como categoría estética.

Teóricamente, un género no existe; históricamente sí (Anderson Imbert: 352).

Für Anderson Imbert sind Gattungen abstrakte Konzepte einer historischen Realität. Sie sind Ausdruck ihrer Zeit und können nicht als ästhetische Norm betrachtet werden. Weiterhin sind Gattungen: esquemas mentales, conceptos de validez histórica que, bien usados, educan el sentido del orden y de la tradición y por tanto pueden guiar al crítico y aun al escritor (Anderson Imbert: 353).

Gattungskonzepte wirken sich auf den Autor und auf den Kritiker aus. Der Kritiker ist an der Struktur einer Gattung interessiert und schafft sich eine Terminologie, mit deren Hilfe er Werke analysieren kann. Der Autor, der in einem bestimmten sozialen und his­torischen Umfeld lebt, orientiert sich jedoch an den ästhetischen Vorgaben seiner Zeit. D.h., er muss sich entscheiden, welche Form er seinem Text geben will, ob er dabei auf traditionelle Werke zurückgreift oder auf jene, die etwas Neues aufweisen.

Anderson Imbert ist der Meinung, dass ein wichtiges Werk nicht nur einer Gat­tung angehört, sondern zweien: derjenigen, deren Normen es überschreitet und derjeni­gen, die es neu formt (vgl. Anderson Imbert: 353). Ebenso sieht es Dusini, der sagt, dass Texte die man ein und derselben Gattung zuspricht, häufig von anderen Gattungen ge­speist werden. Genau diese Zuflüsse können die Handlungsfähigkeit der Gattungen ge­währleisten. Bewähren sie sich, so kann es zur Veränderung einer Gattung kommen, gattungsindizierte Merkmale verschieben, erweitern und reduzieren sich (vgl. Dusini: 331). Ein Beweis dafür, dass Gattungen von anderen Gattungen und Subgattungen be­einflusst werden, ist die Existenz von Kriminalgeschichten, lyrischen, komischen oder tragischen Kurzgeschichten (vgl. Anderson Imbert: 354f).

Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass Gattungen, bzw. eine Poetik der Kurzgeschichte keine allgemeine Gültigkeit für sich beanspruchen kann. Sie kann Ver­bindungen zu anderen Genres und Gattungen eingehen und ist demnach ein hybrides Konstrukt, das sich auch über kulturelle Grenzen hinwegsetzen kann. Nur in ihrem kul­turellen und historischen Kontext lassen sich gemeinsame Charakteristika erkennen, da­her soll im Folgenden aufgezeigt werden, welche Merkmale verschiedene Autoren der Kurzgeschichte im letzten Jahrhundert zusprachen, bzw. wie sich ihre schriftstellerische Praxis beschreiben lässt. Dieses Vorgehen wird erhellen, wie sich der Wandel der Kurzgeschichte bis hin zur Postmoderne vollzogen hat.

1.2 Definitionen und Merkmale- Poetiken lateinamerikanischer Au­ toren

Die Anfänge der modernen Kurzgeschichte sieht Mora im Jahr 1832 bei den Autoren Irving, Poe und Hawthorne. Angesichts der vielen Vorfahren und Wegbereiter ist es schwierig, eine genaue Bestimmung zu treffen. Es ist die Moderne, die laut Mora enor­me Veränderungen im sozio-politischen und kulturellen Umfeld mit sich bringt und sich auch auf die Entwicklung der Gattungen auswirkt (vgl. Mora: 11f). Vor allem die Ent­wicklung des Verlagswesens und der damit einhergehenden Massenproduktion hat ei­nen wichtigen Teil zur Verbreitung der Kurzgeschichten beigetragen. Laut Minardi wurden bereits 1829 die Cuentos Orientales von José María Heredia in Mexiko publi­ziert (vgl. Minardi: 19).

Menton Seymour beginnt seine Anthologie „The spanish american short story“ mit der Romantik und dem Argentinier Esteban Echeverría, dessen Kurzgeschichte El matadero 1838 erschien. Wo auch immer man ansetzen mag, so ist sich die Forschung doch einig darüber, dass die lateinamerikanische Kurzgeschichte in bedeutendem Maße von dem Amerikaner Edgar Allen Poe beeinflusst wurde. Seine Kurzgeschichten wur­den bereits ab 1832 im Philadelphia Saturday Courier veröffentlicht. Poe gilt als der ers­te Theoretiker dieser Gattung und hat die Arbeit der folgenden Generationen weltweit geprägt. Poe zählte zu den wichtigsten Eigenschaften der Kurzgeschichte zunächst ihre Kürze, aus der sich ebenfalls ihre Intensität ergibt. Sie sollte laut Poe in einem Zeitraum von einer halben bis zwei Stunden gelesen werden können (vgl. Mora: 13). Die relative Kürze bringt die Kurzgeschichte dem Gedicht nahe, jedoch ist die Diskussion über ihre Länge nicht abgeschlossen, denn sie wird von jedem anders definiert, was sich deutlich in der Forschungsliteratur niederschlägt (vgl. Mora: 29).

Laut Poe sollte die Kurzgeschichte möglichst in einem Rutsch (at one sitting) ge­lesen werden können und eine Einheit des Effekts (unity of effect or impression) erzie­len. Einige Theoretiker wie Brander Matthews sind der Meinung, dass der einheitliche Effekt nur erzielt werde, wenn es sich in der Geschichte nur um eine Handlung, eine zentrale Person oder eine zentrale Beziehung handelt (Gelfert: 1). Mora kritisiert diese Art der Interpretation des Konzeptes von Poe und weist darauf hin, dass es nachweisbar Kurzgeschichten gibt, die dieser Idee nicht entsprechen. Trotzdem hat sich diese Vor­stellung hartnäckig in der theoretischen Diskussion gehalten (vgl. Mora: 15).

Poe trifft keine konkrete Aussage über das Ende einer Kurzgeschichte, jedoch ist es ihm wichtig, dass der Autor von einem speziellen Effekt ausgeht, den er beim Leser hervorrufen möchte. Nur so kann der Autor die nötige Atmosphäre schaffen, die Zu­sammenhänge beleuchten und den richtigen Ton treffen, der die Intention unterstützt (vgl. Mora: 24). Mora sieht in Poes Umgang mit dem Schluss die Nähe zur Kurzge­schichte der Intrige, in der am Ende der Konflikt aufgelöst wird. Dies entspricht einer aristotelischen Arbeitsweise mit Anfang, Mitte und Ende einer Erzählung. Die moderne Kurzgeschichte dagegen hat mit dieser Tradition gebrochen und lässt das Ende häufig offen oder ambivalent, so dass die Interpretation dem Leser überlassen wird (vgl. Mora: 26).

Die folgenden Autoren haben Aspekte aus Poes Konzept teilweise übernommen und modifiziert.

1.2.1 Horacio Quiroga - Vorläufer in Lateinamerika (1878-1937)

Horacio Quiroga genießt in Lateinamerika ein ähnliches Ansehen wie Edgar Allen Poe weltweit. Laut Munguía Zatarain öffnete er als der erste große hispanoamerikanische Erzähler die Türen „a las relaciones con la tradición europea y norteamericana, porque logró distanciar el género de otros, lo delimitó frente a la gran diversidad de textos híbridos al uso, por ello alcanzó autonomía estética (Munguía Zatarain: 103).

Sein Decálogo del perfecto cuentista[8] gehört zu den Basiswerken in der Theorie der Kurzgeschichte. Die ersten vier Punkte dieses Katalogs sind Anregungen für den Autor und seine Einstellung zum Schreiben. Der Autor soll sich Vorbilder suchen und hart arbeiten, geduldig sein, möglichst die Imitation meiden und an sich selbst glauben.

Die nächsten sechs Punkte beziehen sich auf die Struktur der Kurzgeschichte. In Punkt V bezieht sich Quiroga auf das Konzept des efecto único von Poe. Er stellt fest, dass die ersten drei Zeilen der Kurzgeschichte genauso wichtig sind wie die letzten drei.

Punkt VI propagiert die Ökonomie und Unmittelbarkeit der gewählten Worte. Der Autor soll nicht mehr als nötig sagen, um eine Aussage zu treffen.

In Punkt VII betont Quiroga, wie wichtig es ist, das passende Substantiv zu fin­den, denn keine noch so große Menge an Adjektiven kann ein schwaches Substantiv aufwerten.

In Punkt VIII hält er den Autor dazu an, dem Leser die Welt der Figuren durch deren Augen zu zeigen und nicht durch die des Erzählers. Der Autor soll keine überflüs­sigen Beschreibungen und nebensächlichen Stränge der Handlung wiedergeben.

Schließlich könnte er den Leser damit verärgern, weil dieser keinen Roman, sondern ei­ne Kurzgeschichte erwartet.

Punkt IX und X fordert den Autor dazu auf, real gelebte Emotionen in seiner Kurzgeschichte wiederaufleben zu lassen. Dieser Aspekt spielt eine wichtige Rolle für den Erfolg des Künstlers. Gleichzeitig ist es eine Aufforderung dazu, zwischen der real gelebten und der inneren Welt der Geschichte zu differenzieren, da nur diese für die Er­zählung wichtig ist (vgl. Minardi: 58).

Quiroga hat neben dem Decálago weitere Artikel zur Kurzgeschichte geschrieben. El manual del perfecto cuentista9 ist eine ironische Abrechnung Quirogas mit der da­mals verbreiteten Vorstellung, man müsse nur bestimmte Punkte und Regeln befolgen, um eine gute Kurzgeschichte zu schreiben (s.a. Minardi: 59). Hier heißt es z.B.:

Contentémonos por ahora con exponer tres o cuatro recetas de las más usuales y seguras, convencidos de que ellas facilitarán la práctica cómoda y casera de lo que se ha venido a llamar el más difícil de los géneros literarios (Quiroga 1997: 328).

In einem weiteren Artikel Los trucs del perfecto cuentista10 kritisiert Quiroga den loka­len und folkloristischen Einfluss auf die Literatur seines Landes (vgl. hierzu Minardi: 59f). Es wird deutlich, dass er sich nicht nur mit den europäischen und nordamerikani­schen Traditionen der Kurzgeschichte befasst hat, sondern auch mit denen seines eige­nen Kontinents. Genau dies macht ihn in Munguía Zatarains Augen zum Vorbild in der Entwicklung der lateinamerikanischen Kurzgeschichte (Munguía Zatarain: 103f).

In La retórica del cuento11 bestätigt Quiroga, dass er seine zuvor verfassten Arti­kel eher mit Humor als mit Ernsthaftigkeit geschrieben hat (vgl. Quiroga 1997: 336). Er reflektiert schließlich seine früheren Beobachtungen und kommt zu dem Schluss: „Cuanto sabía yo del cuento era un error“ (Quiroga 1997: 337).

Quiroga entfernt sich von der aristotelischen Forderung nach Anfang, Mitte und Ende einer Geschichte. „Una escena trunca, un incidente, una simple situación sentimental, moral o espiritual” reichen aus, um eine Geschichte zu erzählen (vgl. Quiroga 1997: 337).

1.2.2 Jorge Luis Borges - Der Kritiker (1899-1986)

Desvarío laborioso y empobrecedor el de componer vastos libros; el de explayar en quinientas páginas una idea cuya perfecta exposición oral cabe en pocos minutos.

J. L. Borges

Prolog zu El jardín de senderos que se bifurcan

Jorge Luis Borges zählt heute zu den bedeutendsten Schriftstellern der Welt. Er hat die fantastische Literatur in Lateinamerika mitbegründet. Seine Arbeit gründet auf der Kombination von Detektivgeschichte und philosophischen Diskussionen über das Laby­rinth und die literarische Theorie (vgl. Menton: 268).

In einem seiner Texte El cuento y yo beschreibt er am Beispiel verschiedener ei­gener Kurzgeschichten wie sich diese entwickeln, denn im Gegensatz zu Poe glaubt er nicht daran, dass die Kunst zu schreiben ein intellektueller Akt ist. Vielmehr ist es wie eine Eingebung, die der Autor hat und sie kommuniziert, indem er diese niederschreibt (vgl. Borges: 439f). Borges glaubt an die Existenz der Gattung Kurzgeschichte in dem Sinne, dass der Leser eine bestimmte Erwartungshaltung an einen Text hat und letztlich das darin erkennt, was er erkennen will (vgl. Borges: 440). Er beschreibt auf welch un­konventionelle Art und Weise er an seine Themen gerät. El Zahir entstand z.B. aus der Beschäftigung mit dem herkömmlichen Wort unvergesslich. Als unvergesslichen Ge­genstand kreiert er eine Münze, die einen Mann praktisch in den Wahnsinn treibt, weil er besessen von ihr ist, bis er letztlich glaubt, dass das Verrücktsein seine einzige Ret­tung ist. Borges zeigt damit, wie ein Gegenstand zur Obsession und zu etwas Absolutem wird. Was zunächst als schön erscheint, entpuppt sich als Horror (vgl. Borges: 442f).

Des Weiteren schreibt Borges über das Verhältnis von Realität und Fiktion in sei­nen Kurzgeschichten. Dabei weist er darauf hin, dass die Realität manchmal eigenarti­ger sein kann als die Fiktion. Letztere unterliegt jedoch strengeren Kriterien, denn sie muss im Gegensatz zur realen chaotischen Welt geordnet sein, bzw. akzeptabler oder glaubwürdiger (Borges: 444f). Borges fordert darüber hinaus, dass der Autor sich selbst genügen muss, denn heutzutage kann jeder seine eigene Kunst schaffen, weshalb das Werk nicht mehr besonders ist und damit auch nicht der Künstler (Borges: 446).

Laut Aníbal González Pérez hat Borges seinen hohen Status in der modernen Lite­ratur nicht nur dadurch erreicht, dass er die Normen der verschiedenen Genres be­herrschte, sondern diese auch immer wieder selbst in Frage stellte. Diese sogenannte

Tradition des Bruchs12 ist keineswegs als ein Nicht-Anerkennen der Vergangenheit zu verstehen, sondern eher als eine fundamentale Kritik an den literarischen Konzepten zu sehen. In diesem Sinne ist sein narratives Werk und seine Poetik stets mit der literari­schen Kritik verbunden (vgl. González Pérez: 2111). Ein besonderes Verdienst seiner Arbeit ist laut González Pérez, dass er permanent die angeblichen Unterschiede zwi­schen den einzelnen Gattungen infrage stellt (vgl. González Pérez: 214). Borges sieht keinen Unterschied zwischen der Kurzgeschichte und dem Roman, denn das wichtigste am Roman ist weder seine Länge, noch seine Beschreibungen oder die psychologische Entwicklung, sondern seine Handlung. Geht man davon aus, dass jeder Roman rational auf seine Handlung runtergebrochen werden kann, so kann man auch die Handlung der Kurzgeschichte ebenso zu einem Roman aufblasen (vgl. González Pérez: 2171). Laut González Pérez zeigt Borges, wie es mit Hilfe von Andeutungen und Verweisen, also Intertextualität, möglich wird, der Kurzgeschichte an Tiefe und zu einer großen Band­breite an Informationen zu verhelfen. Der literarische Raum wird zu einem unendlich aufteilbaren Raum, der die Jahrhunderte und Kontinente überwinden kann, denn ein Wort hat nicht nur eine Bedeutung, sondern beinhaltet eine Vielfalt an Resonanzen (vgl. González Pérez: 219).

Bei Borges finden sich immer wieder Passagen, die poetisch anmuten. Er benutzt Metaphern und Bilder, die einen bestimmten Augenblick herbeiführen sollen. Er nennt es die emoción poética, die er beim Leser hervorrufen will. Dieses Konzept wird mit zwei Ideen assoziiert: 1. die Wurzel der Sprache ist irrational und hat magischen Cha­rakter, 2. die ästhetische Begebenheit, also die Wahrnehmung von Schönheit ist das, was der Enthüllung vorangeht. Der magische Charakter der Sprache besteht darin, dass ein Wort verschiedene Bedeutungen haben kann. Der ästhetische Akt kann durch die Ambiguität der Sprache hervorgerufen werden, da sie uns eine eindeutige Bedeutung verweigert, uns jedoch mit einer möglichen Enthüllung lockt (vgl. González Pérez: 226f).13 Nachdem Borges zunächst davon ausging, dass die Schönheit nur einigen we­nigen Autoren Vorbehalten war, bekannte er später, dass sie sogar in der Gossensprache zu finden ist (ebenda: 227). Die Formulierung von Konditionalsätzen erschafft eine Au­ra der Vermutung und bewirkt den Eindruck, dass der Erzähler möglichst wenig in die Handlung eingreift. Dieser stilistische Griff ruft gleichfalls den oralen Charakter der Er­zählung hervor, so dass die Geschichte wie eine Anekdote erscheint, die jemand in ei­nem Gespräch aufgeschnappt hat. Der Text kann somit als ästhetischer Akt wahrge­nommen werden, der weit über die formalen Grenzen hinausgeht, die eine Gattung ihm auferlegt. Eine einzige Begebenheit wird zur Vorlage für ein Gedicht, einen Roman oder eine Kurzgeschichte (ebenda: 229). Drei zentrale Schritte in Borges Geschichten werden von González Pérez festgehalten: 1. er gibt eine Zusammenfassung einer kom­plexen und langen Geschichte, 2. seine Erzählungen beinhalten eine Suche nach einer metaphorisierten Bedeutung oder einem Sinn, 3. gibt es in seinen Erzählungen Spuren der Mise en abyme (ebenda: 230).14 Dies ist sozusagen ein Wiederholungsverfahren, in dem bestimmte Themen oder Elemente gespiegelt werden, allerdings auf z.B. einer an­deren Erzählebene. Dieses Erzählverfahren suggeriert nicht nur unendliche Wiederho­lungsschleifen, sondern auch eine Durchbrechung der Fiktion. Der Text wird als Fiktion entlarvt und bedeutet eine Grenzüberschreitung zwischen dem Erzählen und dem Er­zählten. Was bleibt ist ein Rätsel, eine Frage, die nicht aufgelöst werden kann.

González Pérez Worten zufolge kann Borges Werk folgendermaßen beschrieben werden: „[...] la cuentística de Borges desafía las distinciones genéricas a la par que las acepta provisionalmente, en un doble movimiento, una oscilación interminable.” (González Pérez: 230). Borges nimmt zunächst die Normen an, die ihm die Literatur­theorie vorschreibt, um sie anschließend ihrer Vieldeutigkeit zu entlarven und zu sub­vertieren. Statt gegen die Tradition anzukämpfen vermint er sie von innen heraus und dekonstruiert sie auf diese Weise.

Piglia ist der Meinung, dass in Borges Werk das Gedächtnis eine wichtige Rolle spielt, bzw. seine Abwesenheit. Es gibt keine wirkliche Erinnerung und die Vergangen­heit ist ungewiss und unpersönlich. Seine Helden leben in der reinen Repräsentation oh­ne etwas Persönliches und ohne Identität. Sie erschaffen sich ein künstliches Gedächtnis und ein falsches Leben. Es geht demnach um die Auflösung des Subjekts. Das was Bor­ges kritisiert ist die Massenkultur, die dazu geführt hat, dass persönliche Erinnerungen ausgelöscht wurden, um von einheitlichen und falschen Erinnerungen abgelöst zu wer­den (vgl. Piglia 2006: 281). Borges kreiert ein Paralleluniversum, um den Schrecken der Wirklichkeit zu vergessen. Das Lesen wird in diesem Sinne zu der Kunst ein persönli­ches Gedächtnis zu konstruieren (vgl. Piglia 2006: 30). Damit meint Piglia, dass das Gelesene als private Erinnerung zurückkehrt.

1.2.3 Julio Cortázar (1914-1984)

In seinem Artikel Algunos aspectos del cuento[15] unterscheidet Cortázar die Kurzge­schichte vom Roman und schildert, wie ein Autor beim Schreiben seiner Meinung nach vorgehen sollte. Er vergleicht die Kurzgeschichte mit einer Fotografie. Im Gegensatz zum Film ist das Foto limitiert:

[...] es decir que el fotógrafo o el cuentista se ven precisados a escoger y limitar una imagen o un acaecimiento que sean significativos, que no solamente valgan por sí mismos, sino que sean capaces de actuar en el espectador o en el lector como una especie de apertura, de fermento que proyecta la inteligencia y la sensibilidad hacia algo que va mucho más allá de la anécdota visual o literaria contenidas en la foto o en el cuento (Cortázar (a): 385).

Die Kurzgeschichte erzählt etwas Signifikantes, etwas, das für sich selbst steht und über das Offensichtliche hinausgeht. Da ihr Umfang begrenzt ist, muss sie ohne ausschmü­ckende Elemente auskommen. Für Cortázar bedeutet dies, dass der Autor in die Tiefe, statt in die Breite arbeiten muss:

El tiempo del cuento y el espacio del cuento tienen que estar como condensados, sometidos a una alta presión espiritual y formal para provocar esa «apertura» a que me refería antes (Cortázar (a): 385).

Er ist der Ansicht, dass das signifikante Thema der Geschichte im Zusammenhang mit der Intensität und Spannung betrachtet werden muss. Eine einfache alltägliche Situation kann so dargestellt werden, dass sie eine übergeordnete Bedeutung für den Leser be­kommt, einen tieferen Sinn in sich trägt, seine Emotionen anspricht und Assoziationen und Visionen evoziert. Das Thema ist also nicht das ausschlaggebende für eine gute Ge­schichte, sondern die Art und Weise wie es vom Autor umgesetzt wird (vgl. Cortázar (a): 386f).

Zum Handwerk des Autors gehört es, die Intensität der Geschichte aufrechtzuer­halten, indem er, wie es bereits Quiroga fordert, möglichst ökonomisch vorgeht:

Lo que llamo intensidad en un cuento consiste en la eliminación de todas las ideas o situaciones intermedias, de todos los rellenos o fases de transición que la novela permite e incluso exige (Cortázar (a): 390).

Darüber hinaus muss der Autor die innere Spannung der Handlung halten und den Leser auf diese Weise zum Ende der Geschichte geleiten. D.h., er muss eine passende Atmo­sphäre aufbauen und so die Aufmerksamkeit des Lesers bannen (vgl. Cortázar (a): 391). Aber weder dieses Handwerk allein, noch der alleinige Wille und Enthusiasmus des Au­tors kann den Erfolg eines Werkes sichern. Nur die Kombination aus beiden Aspekten sorgt dafür, dass eine Kurzgeschichte im kollektiven Gedächtnis, also in Erinnerung bleibt (vgl. Cortázar (a): 393).

Im seinem Artikel Del cuento breve y sus alrededores[16] betrachtet Cortázar einige charakteristische Merkmale der Kurzgeschichte, die er für wichtig erachtet. Sein erster Punkt bezieht sich auf die gesamte Struktur, die esfericidad:

[... ] el sentimiento de la esfera debe preexistir de alguna manera al acto de escribir el cuento, como si el narrador, sometido por la forma que asume, se moviera implícitamente en ella y la llevara a su extrema tensión, lo que hace precisamente la perfección de la forma esférica (Cortázar (b): 399).

Die Struktur basiert auf Poes Konzept der Einheit des Effektes und sollte dem Autor be­reits am Anfang klar sein (vgl. Minardi: 63). Der Erzähler soll sich in dieser vorgesehe­nen Struktur bewegen und die Geschichte möglichst spannend machen. Dazu gehört auch, dass er nur das erzählt, was für die Handlung der Geschichte wichtig ist. Darüber hinaus fordert Cortázar eine autarke Geschichte:

El signo de un gran cuento me lo da eso que podríamos llamar su autarquía, el hecho de que el relato se ha desprendido del autor como una pompa de jabón de la pipa de yeso. Aunque parezca paradójico, la narración en primera persona constituye la más fácil y quizá mejor solución del problema, porque narración y acción son ahí una y la misma cosa (Cortázar (b): 401).

Die Erzählperspektive ist ein wichtiger Bestandteil bei der Konstruktion einer Ge­schichte. Der Ich-Erzähler ist dabei das ideale Mittel, um sie autark wirken zu lassen, da er mit der Aktion verschmilzt. Er tritt sozusagen als Figur hinter die Aktion zurück, so dass sich der Leser voll auf die Handlung einlassen kann und das Gefühl hat, die Ge­schichte hätte ein Eigenleben. Diese Art von Kurzgeschichten vermag den Leser von der ersten Sekunde an in ihren Bann zu ziehen:

De una manera que ninguna técnica podría enseñar o proveer, el gran cuento breve condensa la obsesión de la alimaña, es una presencia alucinante que se instala desde las primeras frases para fascinar al lector, hacerle perder contacto con la desvaída realidad que lo rodea, arrasarlo a una sumersión más intensa y avasalladora (Cortázar (b): 402).

Der Leser soll in die innere Welt der Geschichte eintauchen und die reale Welt verges­sen. Hier zählt nur die Logik der Geschichte und beide Welten müssen strikt voneinan­der getrennt werden.

Nicht zuletzt vergleicht Cortázar die Struktur dieser Art von Kurzgeschichten mit der Poesie:

[...] no hay diferencia genética entre este tipo de cuentos y la poesía como la entendemos a partir de Baudelaire. [...] Mi experiencia me dice que, de alguna manera, un cuento breve como los que he tratado de caracterizar no tiene una estructura de prosa. Cada vez que me ha tocado revisar la traducción de uno de mis relatos [...] he sentido hasta qué punto la eficacia y el sentido del cuento dependían de esos valores que dan su carácter específico al poema y también al jazz: la tensión, el ritmo, la pulsación interna, lo imprevisto dentro de parámetros pre-vistos, esa libertad fatal que no admite alteración sin una pérdida irrestañable (Cortázar (b): 405).

Augrund ihrer Struktur nähert sich die Kurzgeschichte der Lyrik an. Für Cortázar sind dies folgende Eigenschaften: die Spannung, der Rhythmus, der innere Pulsschlag der Geschichte und die unvorhersehbaren Parameter innerhalb der vorhersehbaren.

Cortázar benennt einen weiteren interessanten Aspekt:

Ellos [los cuentos] respiran, no el narrador, a semejanza de los poemas perdurables y a diferencia de toda prosa encaminada a transmitir la respiración del narrador, a comunicarla a manera de un teléfono de palabras, Y si se pregunta: Pero entonces, ¿no hay comunicación entre el poeta (el cuentista) y el lector?, la respuesta es obvia: La comunicación se opera desde el poema o el cuento, no por medio de ellos. Y esa comunicación no es la que intenta el prosista, de teléfono a teléfono; el poeta y el narrador urden criaturas autónomas, objetos de conducta imprevisible, y sus consecuencias ocasionales en los lectores no se diferencian esencialmente de las que tienen para el autor, primer sorprendido de su creación, lector azorado de sí mismo (Cortázar (b): 406).

Kurzgeschichten haben ein eigenständiges Leben, das sich vom Erzähler lossagt, ähn­lich der Poesie. In der Prosa dagegen vermittelt der Erzähler seine eigenen Geschichten, seine Meinungen und Erfahrungen an den Leser und zwar durch die Geschichte. Er be­nutzt sie sozusagen als Mittel. In der Kurzgeschichte verläuft die Kommunikation zum Leser jedoch von der Geschichte aus. D.h., der Erzähler tritt hinter die Figuren zurück und es wirkt, als hätten sie ein eigenes Leben. Die Geschichte verselbständigt sich, so dass sogar der Autor vom Ergebnis überrascht ist.

Interessant ist, dass Cortázar hier von einer Kommunikation von Telefon zu Tele­fon spricht, die dem Vorgehen des Prosaisten entspricht. Später wird sich zeigen, dass Bolaño mit seiner Arbeit stets eher mit der Lyrik in Verbindung gebracht wird. Es ist in­teressant, zu untersuchen, warum er dennoch für seinen Kurzgeschichtenband Llamadas telefónicas genau diesen Titel gewählt hat. Vielleicht ist es eine Anspielung auf Cortázars Aussage. Dieser Aspekt wird in der späteren Analyse des Kurzgeschichten­bandes näher beleuchtet.

Ricardo Piglia ist ein argentinischer Journalist und Autor und hat ebenfalls seine eigene Poetik der Kurzgeschichte entworfen. Als Bolaños Freund hat er mit ihm lange literari­sche Gespräche geführt und soll daher hier dargestellt werden.

Sein Text Tesis sobre el cuento handelt primär vom doppelten Charakter der Form der Kurzgeschichte. Piglia entwirft elf Punkte, in denen er erklärt, dass eine Erzählung immer zwei Geschichten beinhaltet. In den klassischen Erzählungen von Poe und Che- jov wurde vordergründig die Geschichte I erzählt, die eine zweite verborgene in sich hatte, die auf elliptische und fragmentarische Weise eingeflochten und verschlüsselt wurde. Während in den klassischen Erzählungen die verborgene angekündigt wurde, wird die moderne Kurzgeschichte so erzählt als seien beide Geschichten eine einzige. Darüber hinaus wird in der Moderne auf ein überraschendes Ende und eine geschlosse­ne Struktur verzichtet, so dass die Spannung zwischen beiden Geschichten auf diese Weise niemals aufgelöst wird (vgl. Piglia 2006: 65). Die Elemente der Erzählung haben eine doppelte Funktion und werden in jeder Geschichte unterschiedlich verwendet. Ihre Überkreuzungen bilden das Fundament der Konstruktion. Es geht nicht darum, einen verborgenen Sinn zu entdecken, der von einer Interpretation abhängig ist. Das Verbor­gene ist eher ein Rätsel, sozusagen eine Geschichte, die rätselhaft erzählt wird (vgl. Piglia 2006: 661).

In dem Artikel La ficción paranoica schreibt Piglia über die Rolle des Detektivs in der Kriminalgeschichte. Ihren Ursprung sieht er in den Geschichten von Poe im Jahre 1841 und dessen Einführung der Detektivfigur (vgl. Piglia 1991: 226). Dieser ist derje­nige, der aufdeckt. Er unterscheidet sich vom Erzähler und stellt dessen Omnipotenz in Frage und verkörpert den Prozess der Narration wie einen Übergang vom Unwissen zum Wissen. Der Detektiv funktioniert wie eine Figur, die mit dem Erzähler ein kon­fliktreiches Verhältnis eingeht. Piglia beschreibt den Detektiv als eine Figur, die sich zwischen dem Staat und der Gesellschaft bewegt wie ein Reisender. Den Platz, den er einnimmt beschreibt er als doppelt. Der Detektiv überschreitet beide Grenzen und hat dadurch die Möglichkeit der Intervention bezogen auf Wahrheit und Gesetz (vgl. Piglia 1991: 227f).

Piglia ist der Ansicht, dass sich Gattungen verändern und miteinander verbinden. Diese Idee führt ihn zu der Erkenntnis, dass die Detektivgeschichte sich heute zu einer paranoiden Fiktion wandelt. Diese Art von Fiktion entsteht aus einer Obsession, die schließlich real wird. Er spricht des Weiteren von den formalen und sozialen Konditio- nen dieser Art von Fiktion. Im Grunde steht jeder Erzähler beim Schreiben vor einem Problem, denn das, was nicht erzählt wird, funktioniert wie ein leerer Raum. Es handelt sich um ein Geheimnis, das aufgedeckt werden muss und welches jeder Erzählung in­newohnt. Genau daraus macht das Genre der Kriminalgeschichte ein Thema, wie bereits oben in Bezug auf Borges erwähnt wurde. Es thematisiert die grundlegenden Probleme der Erzählung. Formal gesehen geht es um eine Ermittlung, eine Suche nach der Wahr­heit oder einem Wissen, einer bestimmten Beziehung zwischen der Wahrheit und der Sprache, aber auch um die Frage, was eine Handlung darstellt (vgl. Piglia 1991: 229f).

Andererseits gibt es den sozialen Aspekt, der in Kriminalgeschichten mit­schwingt. Dieses Genre, das mit der Entwicklung der Massenkultur einhergeht, macht aus dem Menschen ein Subjekt, das sich in der Anonymität wiederfindet. Damit ändert sich auch die Vorstellung über den Anderen, der anonym ist, jemand, den man nicht kennt und der ein Krimineller sein könnte.17 Dieser kann sich nicht nur zwischen den Unbekannten verstecken, sondern auch in der Masse unkenntlich werden. „Desde el cuarto cerrado, el lugar privado, el sujeto amenazado por el otro, desde ese punto, entonces, se constituye el género” (Piglia 1991: 230). Die Figur des Anderen wird in der Literatur häufig als Ungeheuer beschrieben und markiert eine Grenze jeder Kultur. Als weitere Grenze bezeichnet Piglia das Rätsel, das die ultimative Wahrheit kennzeichnet, das Wort Gottes (vgl. Piglia 1991: 231). Eine Gattung ist immer in Spannung zwischen diesen beiden Welten. Die heutige Zeit ist geprägt von der Vorstellung, dass die Subjek­tivität bedroht ist. Dies wirkt sich ebenfalls auf die Literatur aus, die die Vorstellung der Bedrohung und des sich in Gefahr befindlichen alltäglichen Lebens thematisiert. Formal und inhaltlich beinhaltet die paranoide Fiktion somit die Vorstellung einer Bedrohung, einen Gegner, Verfolger, eine Verschwörung, folglich alles, was man um ein paranoides Bewusstsein herum spinnen kann. Ein anderes wichtiges Element ist das interpretative Delirium, das Piglia als eine Interpretation beschreibt, die den Zufall ausradieren möch­te und in Betracht zieht, dass alles einen Grund hat, der nur im Verborgenen liegt und dechiffriert werden muss. Das interpretative Delirium ist ein wichtiger Aspekt im Ver­hältnis zur Realität. Denn der Leser oder die Figur selbst ist nicht in der Lage zwischen Delirium und Realität zu unterscheiden (vgl. Piglia 1991: 232f). Piglia bezieht sich in seinem Text auf den Roman und macht deutlich, dass dieser sich verschiedener Unter­gattungen wie der Kriminalgeschichte bedient, allerdings kann dieses Vermögen eben-

[...]


1 Aristoteles: Poetik. Reclam 2005. Aristoteles verfasste die erste allgemein anerkannte Poetik um 335 v. Chr. Dichtung wird hier als Nachahmung des menschlichen Handelns betrachtet und führt zu einer erlö­senden Katharsis beim Rezipienten. Damit setzt Aristoteles sich von Platon ab, der das Dichten als Folge einer göttlichen Inspiration sah und der Poesie verderbliche Charaktereigenschaften zusprach. Laut Aris­toteles hat die Handlung die Hauptmerkmale Anfang, Mitte und Ende.

2 Horaz: Ars poetica in: De arte poetica. Epistulae II. Ad pisones. Dieses Versepistel wurde 14 v. Chr. veröffentlicht und stellt eine vermittelnde Position zwischen Platon und Aristoteles dar. Die Poesie wird hier als nützlich und lehrhaft, aber ebenso als Vergnügen begriffen.

3 Siehe beispielsweise Roland Barthes: Die Lust am Text. Übersetzt Von Traugott König. Frankfurt a.M. Suhrkamp 1974. Barthes greift hier auf Texte zurück, die keine feste Bedeutung haben. Der Leser nähert sich dem Text auf erotische Weise. Die Sprache selbst steht im Zentrum und es geht Barthes darum, Lust und Wollust im Leser beim Lesakt zu evozieren. Der Text muss dabei als Körper verstanden werden und der Leser muss sich ihm hingeben.

4 Siehe Begriff Poetik bei Gero v. Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Kröner Verlag. Stuttgart 2001, sowie Heinz Ludwig Arnold/ Heinrich Detering: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Deutscher Ta­schenbuch Verlag. München 2005

5 Siehe Text der Otto-Friedrich-Universität Bamberg http://www.uni- bamberg.de/fileadmin/uni/ fakultaeten/split_professuren/ndl/ES_NdL_I_2010_Online- Materialien_Gattungstheorie.pdf (29.11.2012);

6 Siehe Begriff Gattungen in: Gero v. Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Kröner Verlag. Stuttgart 2001

7 „Ich sehe immer mehr, dass die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist, und daß sie überall und zu al­len Zeiten in Hunderten und aber Hunderten von Menschen hervortritt [...] Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“ Über die Gesamtheit aller Literaturen hinaus, verstand Goethe es kommunikativ als den lebendigen geistigen Verkehr zwischen den verschiedenen Literaturen und ihr Zusammenwirken in der Entwicklung. Siehe Begriff Weltliteratur bei Gero von Wilpert. Darüber hinaus ist Goethe davon über­zeugt, dass die Poesie nicht nur einigen wenigen vorbehalten ist: „Es wird sich zeigen, daß Poesie der ganzen Menschheit angehört, daß es überall und in einem Jeden sich regt, nur an einem und dem andern Orte, oder in einer und der andern besondern Zeit, so dann aber, wie alle specifische Naturgaben, in ge­wissen Individuen besonders hervorthut.“ In: Goethe an Carl Jacob Ludwig Iken, 23. 2. 1826 (Konzept; WA IV 40, 302f.).

8 Quiroga, Horacio: Decálogo del perfecto cuentista. El Hogar. Buenos Aires. 27.2.1925

9 Quiroga, Horacio: El manual del perfecto cuentista, Buenos Aires, El Hogar, 10.4.1925

10 Quiroga, Horacio: Los trucs del perfecto cuentista, Buenos Aires, El Hogar, 22.5.1925

11 Quiroga, Horacio: La retórica del cuento, Buenos Aires, El Hogar, 21.12.1928

12 siehe hierzu Octavio Paz (1974): La tradición de la ruptura. in: Los hijos del limo. Barcelona. Seix Barral. 13-35

13 Bachtin, M. M. (1981): The Dialogic Imagination: Four Essays, Austin: University of Texas Press. Bachtin hat den Hybriditätsbegriff für seine Sprachtheorie genutzt und damit auf die Ambivalenz der Sprache hingewiesen, welche im selben Moment different als auch identisch sein kann. Hybridität ist für ihn: a mixture of two social languages within the limits of a single utterance, an encounter, within the arena of an utterance, between two different linguistic consciousnesses, separated from the another by an epoch, by social differentiation or by some other factor. Zentral für seine Theorie ist das Konzept der Heteroglossie. Dieses basiert darauf, dass ein und derselbe Text verschiedene Bedeutungspositionen be­inhalten kann, nämlich die des Sprechers, des Angesprochenen und des Besprochenen. Mit der Vielstim­migkeit sind die Konzepte der Dialogizität und Alterität verbunden, denn eine Annäherung an die Wahr­heit, kann hier nur im dialogischen Austausch erfolgen.

14 Als Mise en abyme definiert Gero von Wilpert eine Bezeichnung für eine dem Spiel im Spiel des Dra­mas entsprechende Technik der Rahmenerzählung, bei der eine bzw. die gerahmte Binnenerzählung selbstreflexiv Widerspiegelung der (Rahmen-) Haupthandlung oder eines Teils derselben ist und diese wie zwischen zwei Spiegeln stehend unendlich fortgesetzen kann.

15 Cortázar, Julio (1963): Algunos aspectos del cuento, Casa de las Américas, vol. II, Nr. 15-16. Ur­sprünglich war dieser Text eine Rede Cortázars bei einer Konferenz in La Habana im Jahr 1962.

16 Cortázar, Julio (1969): Del cuento y sus alrededores, Último Round

17 Piglia bezieht sich hier auf einen Text von Walter Benjamin bezogen auf das Paris Baudelaires, den er hier allerdings nicht näher betitelt.

Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Kurzgeschichten bei Roberto Bolaño. Poetik und Praxis des Erzählens ausgewählter Texte und des Kurzgeschichtenbandes "Llamadas telefónicas"
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Lateinamerikainstitut)
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
91
Katalognummer
V286725
ISBN (eBook)
9783656870593
ISBN (Buch)
9783656870609
Dateigröße
928 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Roberto Bolano, Dekonstruktion, Rekonstruktion, Kurzgeschichte, Llamadas telefonicas, Postmoderne, Poetik, Auflösung
Arbeit zitieren
Jolanta Mihelcic (Autor:in), 2012, Kurzgeschichten bei Roberto Bolaño. Poetik und Praxis des Erzählens ausgewählter Texte und des Kurzgeschichtenbandes "Llamadas telefónicas", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/286725

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Kurzgeschichten bei Roberto Bolaño. Poetik und Praxis des Erzählens ausgewählter Texte und des Kurzgeschichtenbandes "Llamadas telefónicas"



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden