Die Omnipräsenz des Märchenkönigs. Darstellung Ludwigs II. in der Film- und Theaterwelt


Masterarbeit, 2014

60 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Präsenz des Ludwig-Stoffes in der deutschen Filmgeschichte

3. Analyse der Motive in den Filmen von Luchino Visconti (1972) und Peter Sehr (2012)
3.1 Ein König zwischen Genialität und Wahnsinn
3.2 Ludwigs symbiotisches Verhältnis zu Richard Wagner
3.3 Lebensphilosophie des Märchenkönigs
3.4 König Ludwig und die Frauen
3.5 Brüderliche Verbundenheit- Schlüsselszenen mit Otto
3.6 Lebenslanges Leiden in der Welt der Sexualität

4. Darstellung Ludwigs in der deutschen Theaterlandschaft

5. Schnittstelle zwischen Film und Theater – Adaption des Visconti- Filmes in den Münchner Kammerspielen (2011)
5.1 Filmische Motive auf der Theaterbühne
5.2 Differente Herangehensweise an den Charakter Ludwigs
5.3 Bühnenbild vs. filmische Bilder

6. Ludwig als Figur im Musiktheater- Darstellung bei Ludwig II. Die volle Wahrheit (1999) sowie im Musical Ludwig II.- Sehnsucht nach dem Paradies (2000)
6.1 Charakterisierung Ludwigs an konkreten Szenenbeispielen
6.2 Bedeutung der musikalischen Elemente
6.3 Ausgefallene Bühnenkonstruktionen- Theater im Sinne Ludwigs?

7. Schlussbemerkung

8. Quellenverzeichnis

1. Einführung

„Ludwigs Rätsel ist auch das meine- die Sehnsucht nach einer besseren Welt, die Vergänglichkeit unseres Glückes, die Ohnmacht, meinen Verstrickungen zu entkommen und die Sünde zu überwinden, die Frage, wer ich bin und wie ich meine Bestimmung an dem mir zugewiesenen historischen Ort und in der mir gegebenen historischen Zeit erfüllen kann.“1

König Ludwig der II. gilt als eine der umstrittensten Persönlichkeiten der Geschichte. Um ihn ranken sich seit jeher Psychologen, Historiker und Regisseure. Ludwig hat sich nicht nur in Form seiner Schlösser unsterblich gemacht. Auch in der Film- und Theaterwelt ist er bis heute stets präsent. Sein tragisches Leben und seine komplexe Persönlichkeit bieten zahlreiche Ansatzpunkte für künstlerische Interpretationen. In der Gesellschaft wird Ludwig oftmals mystifiziert und kategorisiert: „Er ist und bleibt der ‚Märchenkönig‘, der uns von unzähligen Bildern groß, schlank und schön mit seinen irritierenden Träumeraugen anblickt.“2 Neben dieser gefestigten Metapher des Märchenkönigs darf jedoch nicht vergessen werden, dass sich hinter all dem auch ein Mensch verbirgt, der sich mit Enttäuschungen, unerfüllten Sehnsüchten und unaufhaltsamen Veränderungen konfrontiert sah. Sein Leben begann ungewöhnlich mit der Thronbesteigung, die das jähe Ende seiner jugendlichen Entwicklung markiert, und endete ungewöhnlich mit dem Tod im Starnberger See. Doch das, wonach er zeitlebens strebte, ist ganz und gar menschlich und nachvollziehbar. Ludwig sehnte sich im Grunde nach Frieden, nach Schönheit und Freiheit und er verabscheute jegliche Form des Krieges. Nach etlichen Enttäuschungen begann er, sich seine eigene Welt zu erschaffen und sich vollständig in diese zrückzuziehen, da er die Realität nicht mehr ertrug. Ludwig fand sein Glück schließlich im Erschaffen dieses Kosmos. Seine Schlösser gewähren einen tiefen Einblick in sein Seelenleben, besonders Neuschwanstein: „Wie das Äußere der Burg schon etwas von der weltfernen Ritterlichkeit, der scheuen Einsamkeit und dem ein wenig künstlich Gereckten im Wesen des jungen Königs spiegelt, so ist ein Gang durch ihr Inneres wie ein Öffnen seiner Seelenkammern.“3 Durch seine starke Zurückgezogenheit im letzten Drittel seines Lebens und seinen frühen Tod nahm Ludwig so manches Seelengeheimnis mit ins Grab. Trotz der Fülle an Dokumenten und Tagebucheinträgen bleiben einige ungeklärte Fragen. Somit kann bei den Filmen und Theaterinszenierungen immer nur von einer Annäherung an die historische Person gesprochen werden.

Das zentrale Thema dieser Arbeit wird die konkrete Darstellung der Ludwig-Figur in Film und Theater sein. Es soll untersucht werden, wie die einzelnen Regisseure gezielt vorgehen, um dem Publikum das Schicksal des Märchenkönigs näher zu bringen. In der deutschen Kulturszene existiert eine Vielzahl an Inszenierungen, die sich mit dem Mythos Ludwig auseinandersetzen. Die Bandbreite reicht dabei von historischen Filmen über Sprechtheater, Musiktheater bis hin zum Tanztheater. Bei den folgenden Analysen sollen stets der Charakter Ludwigs sowie dessen zwischenmenschliche Beziehungen im Zentrum stehen. Die zu interpretierenden künstlerischen Werke sollen dabei zum einen für sich selbst stehen, zum anderen jedoch auch in einen Gesamtkontext gebracht werden. Möglicherweise lässt sich somit eine Tendenz erkennen, welches Bild von Ludwig in der Gesellschaft existiert.

Im ersten Teil der Arbeit soll der Fokus auf dem Medium Film liegen. Dabei werden vor allem inhaltliche Aspekte eine wichtige Rolle spielen, da der Film ein viel breiteres Publikum ansprechen und somit einen größeren Einfluss auf die kollektive Meinung ausüben kann. Zunächst wird es einen kompakten Überblick über die produzierten Ludwig-Filme geben, der die Brisanz dieser Thematik in der Filmwelt sichtbar werden lässt. Danach wird eine tiefgreifende Analyse zweier Filme folgen. Es handelt sich hierbei um den Ludwig II.4 unter der Regie von Luchino Visconti und dem gleichnamigen Film von Peter Sehr und Marie Noelle aus dem Jahr 20125. Ein Grund für die Analyse dieser Filme ist unter anderem die Tatsache, dass zwischen beiden Produktionen ganze vierzig Jahre liegen und die Frage nahe liegt, inwiefern man deren divergente Darstellungsweisen mit dem zeitlichen Kontext der Produktion in Verbindung bringen kann. Der erste und ausführlichste Untersuchungsgegenstand wird die Darstellung des Charakters der Ludwig-Figur sein. Eine Frage in diesem Zusammenhang ist, ob der Film mit Klischees arbeitet und gezielt versucht, diese aufrecht zu erhalten oder ob er sich auf bisher Unentdecktes bezieht. Die Forschung befindet sich in einer permanenten Entwicklung und ist nicht als abgeschlossen zu betrachten. Der Fokus dieses Kapitels soll vor allem auf der Psyche des Königs liegen. Danach soll das Verhältnis zwischen Ludwig und Richard Wagner näher beleuchtet werden. Auch hier weichen die Darstellungen teils stark voneinander ab. Anschließend wird es um Ludwigs Lebensphilosophie bzw. dessen politisches Verständnis gehen. Stets zu beachten in diesem Zusammenhang ist auch, ob der Regisseur mit seiner Darstellungsweise versucht, das Verhalten Ludwigs zu kritisieren, oder ob er es damit unterstreicht. In den nächsten beiden Kapiteln wird es um Ludwig und dessen familiäre Verhältnisse gehen. Es soll zum einen untersucht werden, wie seine Beziehung zu den Cousinen Sophie und Elisabeth dargestellt wird, zum anderen wird auch das brüderliche Verhältnis zu Otto in der Analyse eine wichtige Rolle spielen. Im zweiten Teil der Arbeit wird das Theater näher in den Fokus gerückt. Zunächst wird auch hier ein kurzer Überblick über die bestehenden Ludwig-Inszenierungen gegeben. Danach wird eine ausgewählte Inszenierung genauer untersucht. Es handelt sich hierbei um eine Adaption des Visconti-Stoffes in den Münchner Kammerspielen aus dem Jahr 2011. Diese Inszenierung stellt eine wichtige Schnittstelle zwischen Film und Theater dar. Neben der Analyse der filmischen Motive auf der Theaterbühne und der Darstellung des Ludwig-Charakters wird auch speziell das Bühnenbild im Fokus der Untersuchung stehen. Im letzten großen Kapitel werden zwei Inszenierungen aus dem Musiktheater analysiert. Hierbei handelt es sich zum einen um die Punkoper Ludwig II. Die volle Wahrheit von Georg Ringsgwandl aus dem Jahr 1999 und zum anderen um das populäre Musical Ludwig II.- Sehnsucht nach dem Paradies von Stephan Barbarino, welches ein Jahr später im Füssener Festspielhaus Premiere feierte. In diesem Kapitel werden vor allem die Bedeutung der Musik sowie die technische Umsetzung auf der Bühne thematisiert.

2. Präsenz des Ludwig-Stoffes in der deutschen Filmgeschichte

Über Ludwig II. und dessen schicksalhaftes Leben wurden bereits zahlreiche Filme gedreht. Seit Anbeginn der Filmgeschichte setzen sich Regisseure immer wieder mit dieser Thematik auseinander. Der erste Film über Ludwig entstand bereits im Jahre 1913 unter der Regie von Ferdinand Bonn6. Im selben Jahr wurde dem Märchenkönig ein Handlungsstrang in Carl Froelichs Verfilmung Richard Wagner gewidmet. Dieser Film zeichnet sich besonders dadurch aus, dass er Ludwig im Kontext seiner Entmachtung nicht negativ darstellt, sondern diese aus dem Konflikt zwischen politischem Druck und der sensiblen und kunstliebenden Persönlichkeit des Königs resultiert. Nur wenige Jahre später wurden zwei weitere Filme produziert, die beide denselben Titel tragen- Ludwig II. König von Bayern. Das Besondere an diesen frühen Exemplaren ist deren Erzählstruktur. Sie entwickeln „die Figur Ludwigs […] in breit angelegten Bildfolgen, in Musik-, Text- und Figurencollagen, die nicht linear sukzessiv, sondern assoziativ nebeneinander entfaltet werden.“7 Somit spiegelt sich die komplexe Persönlichkeit des Königs auch in der Dramaturgie dieser Filme wieder. Diese Struktur ist ebenso in Jürgen Syberbergs Film Wie man ehemaliger Hofkoch wird aus dem Jahr 1972 zu erkennen, in dem die Physis Ludwigs anhand von Botenberichten immer stärker in den Fokus der Handlung rückt. Er tritt dabei nie selbst in Erscheinung, wird jedoch „über die Schilderungen von Speisen und Getränken, von Pflege und Fürsorge umso sinnlicher und greifbarer.“8

Die Filmwissenschaftlerin Eva Warth begründet diese Tendenz der mehrsträngigen Filmhandlung mit der These, dass sich Ludwigs Geschichte nicht vollständig in das etablierte Genre Biopic einordnen ließe. Anhand dieses Genres können Lebensgeschichten bedeutender Politiker oder Künstler in biographischer Weise vermittelt werden. Dabei stehen meist deren Erfolge und Niederlagen im Vordergrund. Würde man strikt diesem Genre folgen, würden die Filme über Ludwig stets von seiner kontinuierlichen Entmachtung handeln. Hieran lässt sich erkennen, dass der Diskurs über den Märchenkönig zu vielseitig und komplex ist für eine Darstellung im Sinne einer klassischen Filmbiographie. „Angesichts der generellen Inkompatibilität von Ludwig-Mythen und Biopic-Konventionen erweist sich letztendlich das Melodram als Königsweg für die filmische Inszenierung Ludwigs im Erzählkino.“9 Ein besonderes Beispiel hierfür stellt der im Jahre 1954 entstandene Film Ludwig II. Glanz und Elend eines Königs von Helmut Käutner dar. Er funktioniert deutlich nach den Konventionen des Melodrams, was sich vor allem in der Darstellung des Ludwig niederschlägt. Die Figur wird dabei im Kontext einer Liebesbeziehung dargestellt, wodurch sie gewissermaßen kategorisiert und eingegrenzt wird. Diese Figurenkonzeption steht bei Käutner in starkem Kontrast zur visuellen Darstellung, in der „die vom melodramatischen Plot erzwungene Eindimensionalität von Figur- und Konfliktgestaltung in eine Vielzahl von Facetten aufbricht, die das aus der Bildmitte Verdrängte an den Rändern wieder ins Blickfeld rücken und so das Geschehen kommentieren.“10 Es lässt sich somit eine klare Divergenz zwischen Handlung und Mise-en-scène feststellen.

Betrachtet man die Gesamtheit der Ludwig-Filme in ihrem zeitlichen Kontext, so ist erkennbar, dass sich der Diskurs Ludwigs durch die gesamte deutsche Filmgeschichte zieht. Angefangen mit einem Stummfilm, entwickelt sich die filmische Darstellungsweise des Märchenkönigs stets mit dem technischen Fortschritt. Es existieren sowohl Schwarz-Weiß-Filme als auch teils computertechnisch Bearbeitete, wie der neueste Ludwig II. aus dem Jahr 2012. Auffallend ist zudem, dass die Figur der Sissi in den Ludwig-Filmen stets eine wichtige Rolle einnimmt, Ludwig jedoch in der Sissi-Trilogie kein einziges Mal vorkommt.

Ferner beachtenswert ist auch die Tatsache, dass Loriot dem bayerischen König anlässlich seines 125. Todestages einen Sketch11 gewidmet hat. In der Exposition ist Ludwig auf einem majestätischen Boot in Gestalt eines Schwans zu sehen, mit dem er auf einem See umher fährt. Interessant ist dabei, dass Loriot hier stark mit dem filmischen Mittel des Weichzeichnens arbeitet, wodurch die Märchenhaftigkeit des Königs auch visuell noch stärker hervortritt. Die Tatsache, dass der Kopf des Schwans eine Krone trägt, unterstreicht seine Zuneigung zu diesen Geschöpfen und seine Identifikation mit dem Schwanenritter Lohengrin. Hinzu kommt, dass es sich bei der Musik im Hintergrund um die Ouvertüre der Oper Lohengrin handelt. Loriot stellt somit vorherrschende Klischees in den Fokus seiner Darstellung und stimuliert die Wahrnehmung des Zuschauers auf visueller und akustischer Ebene. Die Gestik des Protagonisten ist stark verlangsamt und mündet in fließende Bewegungen. Nach einer überspitzten Liebesszene im königlichen Bett findet eine abrupte Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart statt. Ludwig erschrickt, als Touristen in sein Schlafzimmer eintreten, die gerade an einer Führung teilnehmen. Dies vermittelt den Eindruck, als fühle er sich von der Nachwelt in seiner Privatsphäre verletzt. In seinen Schlössern fand Ludwig einen Zufluchtsort, an dem er sich sicher und geborgen fühlte und der ihn vor der Ablehnung der Gesellschaft schützen sollte. Neben der Thematisierung seiner Menschenscheu ist zudem anzunehmen, dass Loriot in diesem Sketch den Zustand kritisiert, dass die Gesellschaft heutzutage stets nur das Märchen um Ludwig sieht und ihn weniger als Mensch wahrnimmt und respektiert.

3. Analyse der Motive in den Filmen von Luchino Visconti (1972) und Peter Sehr (2012)

3.1 Ein König zwischen Genialität und Wahnsinn

Kaum ein filmisches Motiv erlaubt so viel Freiraum für Interpretationen wie die Darstellung eines Charakters. Besonders in den folgenden Ludwig-Filmen divergieren die Figurenkonzeptionen teils stark voneinander. Es soll nun im Detail analysiert werden, auf welche charakterlichen Facetten sich die Regisseure bei der Darstellung Ludwigs fokussieren.

Viscontis Film beginnt mit einem Gespräch zwischen Ludwig und seinem Beichtvater Hoffmann, der den jungen Kronprinzen mental auf seine bevorstehende Aufgabe als König vorbereitet. Ludwigs Gesicht wird dabei in Nahaufnahme gezeigt, sodass seine Mimik deutlich zur Geltung kommt. Während des Dialogs macht Ludwig einen verunsicherten und ehrfürchtigen Eindruck. Er scheint den Worten des Paters zu diesem Zeitpunkt noch große Bedeutung beizumessen. Erwähnenswert ist hierbei, dass Ludwig zur Zurückhaltung aufgefordert wird, was in starkem Kontrast zu seiner späteren Lebensweise steht: „Denke immer daran, ein wirklich großer Mann übt sich in Bescheidenheit.“12 Zudem wird im weiteren Verlauf des Films ersichtlich, dass sich Ludwig auch über die Anleitung des Paters, Entscheidungen mit den erfahrenen Ministern abzusprechen, hinwegsetzt. So erscheint Ludwig in dieser Szene zum einen sehr demütig, zum anderen wird jedoch bereits sein starker Drang, Visionen bedingungslos zu verwirklichen, in Nuancen angedeutet.

Die nächste bedeutsame Sequenz ist die zeremonielle Thronbesteigung. Unmittelbar vor der Zeremonie wird gezeigt, wie Ludwig seine Unsicherheit und Angst mehrmals mit Alkohol kompensiert. Dies steht in deutlichem Kontrast zu dessen Auftreten während der Feierlichkeit, bei der Ludwig souverän und gefasst wirkt. Seine Gestik, insbesondere sein erhabener Gang, unterstreicht den Eindruck der Souveränität. Lediglich seine Mimik lässt kleinere Unsicherheiten erkennen. Auch in der nächsten Szene, die Ludwigs erste Amtshandlung thematisiert, wird das Bild eines selbstbewussten Königs aufrechterhalten. Sowohl seine Körperhaltung als auch Mimik und Sprache sind miteinander kohärent und vermitteln Stringenz und Ernsthaftigkeit. „Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt.“13 Visconti zeigt hierbei einen autoritären und selbstsicheren Ludwig, der keine Assoziation mit einem jugendlichen König zulässt.

Im Verlauf des Films bricht das Bild des makellosen Königs nach und nach in sich zusammen. Zunächst wird der seelische Zustand Ludwigs nur indirekt in Gesprächen angedeutet. Zu Wagner meint er einmal: „Wenn Sie nicht bei mir wären, dann wäre ich wirklich verzweifelt. Sie, meine Stärke, mein einziger Trost.“14 Als Ludwig später über Wagners vermeintliche Intrigen aufgeklärt wird, nimmt er ihn dennoch in Schutz und reagiert sichtlich körperlich auf diese belastende Reaktion. Er ist in Tränen aufgelöst und bildet Schweißperlen auf der Stirn. Diese physische Reaktion ist fortan in zahlreichen Szenen vorzufinden. Ludwig beginnt, sich immer mehr von der Realität zu distanzieren: „Dieser Krieg geht mich nichts an. Für mich existiert er nicht.“15 Die Art, wie er dies ausspricht, lässt ihn rücksichtslos und gefühlskalt wirken. Einige Szenen später jedoch gewährt Visconti dem Rezipienten einen Einblick in Ludwigs tatsächliches Seelenleben, indem er ihn weinend und flehend zu Gott beten lässt. Daraufhin folgt eine sehr bezeichnende Sequenz16, in der Graf Dürkheim den negativen Ausgang des Krieges verkündet und schließlich versucht, an Ludwigs Gewissen zu appellieren. Zunächst geschieht dies auf der emotionalen Ebene, indem er Ludwig eindringlich berichtet, wie sehr sein Bruder Otto unter der Kriegssituation leide. Als dies nicht die gewünschte Reaktion hervorruft, wird Dürkheim direkter und wirft im Egoismus und Immoralität vor. In einem tiefgreifenden Monolog konfrontiert er Ludwig mit dessen politischen Fehlansätzen. Er legt ihm nahe, dass die von ihm erstrebte Freiheit lediglich ihm selbst gelte und er nicht darum bemüht sei, diese auch für seine Untertanen durchzusetzen. Graf Dürkheim fordert ihn auf, sein Amt umsichtig und in Bescheidenheit auszuführen. Hält Ludwig zu Beginn der Szene noch argumentativ gegen die Anschuldigungen des Grafs, so resigniert er allmählich und sinkt immer tiefer in seinen Sessel. Dürkheim fungiert somit als vermittelndes Medium, indem er, stellvertretend für Visconti, die Lebensweise des Königs stark kritisiert. Die Darstellung Ludwigs im Film wirkt nicht minder kritisierend, als er kurz darauf im Umgang mit einer Bediensteten zu sehen ist. Er kommuniziert mit ihr ausschließlich im Imperativ: „Weck sie! Sofort! Lauf! Beeil dich!“17 Nach Auflösung der Verlobung mit Sophie, die Visconti dramaturgisch als Wendepunkt festlegt, beginnt schließlich auch der körperliche Verfall Ludwigs. Seine Zahnschmerzen erträgt er nur noch mit Hilfe von Chloroform. Das adonische Aussehen des Königs ist einem blassen und mit Augenringen durchzogenen Gesicht gewichen. Es ist anzunehmen, dass die andauernden Schmerzen und die Einnahme des Chloroforms zusätzlichen Einfluss auf Ludwigs labile Psyche haben. In der letzten Phase seines Lebens gibt sich Ludwig voll und ganz seinen Illusionen hin. Emotional stimuliert werden kann er nur noch durch Inszenierungen, wie beispielsweise von dem Schauspieler Josef Kainz. Dieser tritt dem König in einer Szene als Romeo gegenüber und kann dabei starke Emotionen bei Ludwig hervorrufen18. In seiner Wahrnehmung findet somit eine vollständige Verschmelzung von Realität und Illusion statt. Schließlich wird Ludwig entmachtet und nach Schloss Berg gebracht. Hinsichtlich der räumlichen Gestaltung ist ein deutlicher Kontrast zur bisherigen Filmkulisse zu erkennen. Viscontis Szenenbilder sind derart geschmückt mit prunkvollen Requisiten, dass sie nah an die von Ludwig geprägte Ästhetik des 19. Jahrhunderts herankommen. Ludwigs letzter Aufenthaltsort hingegen zeichnet sich durch eine minimalistische Einrichtung aus, die symbolisiert, dass der König seinen Glanz und seine Schönheit verloren hat. Dramaturgisch bedeutsam ist zudem, dass der gesamte Film eine Art Rückblick darstellt, der immer wieder von Augenzeugen kritisch kommentiert wird.

Die Regisseure Peter Sehr und Marie Noelle hingegen konzentrieren sich in ihrem 2012 erschienenen Film auf andere charakterliche Facetten des König Ludwig. Dies wird bereits zu Beginn des Films deutlich. In der ersten Szene ist Ludwig als junger Kronprinz zu sehen, der unbeschwert seiner Reitleidenschaft nachgeht und sich amüsiert, als ihn Bedienstete im dichten Wald nicht finden können. Er reitet über Wiesen und Felder und verleiht seinem empfundenen Freiheitsgefühl mit einem Jubelschrei Ausdruck19. Auch seine Mimik zeugt von jugendlicher Leichtigkeit. Bereits hier wird der Zuschauer dazu aufgefordert, einmal hinter die Fassade dieses Menschen zu sehen, fernab des Verrücktseins und des Realitätsverlustes. Die Darstellung zielt stark auf die Etablierung Ludwigs als Sympathieträger ab, wodurch er leicht zu einer Identifikationsfigur werden kann. Bereits in den ersten Minuten des Films werden Ludwigs Interessen klar dargelegt. Er reitet gerne, sehnt sich nach Freiheit, ist naturverbunden, hört leidenschaftlich gern Opern von Richard Wagner und verabscheut Waffen und den Krieg. Diese erste Sequenz zeigt Ludwig als einen aufgeweckten und gesunden Jugendlichen, der sich nur hinsichtlich seines Status als Kronprinz von anderen Altersgenossen unterscheidet. Ludwigs Vater deklariert seine Liebe zur Kunst als Schwäche und steht damit repräsentativ für die kollektive Meinung in der damaligen Gesellschaft. Regisseur Peter Sehr erklärt in einem Interview mit der ZEIT Online: „Ludwig war seiner Zeit um viele Jahrzehnte voraus. Die Vorstellung, dass der künstlerische, musikalische und kulturelle Austausch wichtig ist, um kriegerische Aggressionen zu verhindern, hat auch heute noch eine hohe Relevanz.“20 Bezeichnend in dieser Hinsicht ist jedoch die nachfolgende Szene, in der Ludwig das von seinem Vater zerrissene Libretto zu einem Schwan zusammenklebt, wodurch er symbolisch darstellt, dass er sich von der autoritären Art des Vaters nicht beirren lässt und imstande ist, aus Bruchstücken etwas künstlerisch Neues zu erschaffen.

Eine Kirchenglocke läutet sinnbildlich den ersten Wendepunkt in Ludwigs Leben ein. Aufgrund des plötzlichen Todes seines Vaters Maximilian wird er mit achtzehn Jahren zum König von Bayern. Der Film gewährt einen flüchtigen Einblick in Ludwigs Trauerphase, die bei Visconti gänzlich ausgelassen wird. Zudem werden die Ängste Ludwigs hier stärker sichtbar gemacht. In seiner neuen Rolle als König fühlt er sich anfangs noch völlig fremd. Er zuckt vor der Aufmerksamkeit, die ihm plötzlich zuteil wird, zusammen. Die Phase der unbeschwerten Jugend ist augenblicklich vorbei. Eine sehr eindrückliche Szene ist die Vorbereitung seiner Thronrede. Dabei wird Ludwig in einer intimen Atmosphäre gezeigt, in der er sich darüber klar wird, welche Prioritäten er fortan bei der Verwirklichung seiner Ziele als König setzen möchte. Die Darstellung seiner Emotionen schwankt dabei zwischen Euphorie und Überforderung. Ludwig versucht, in seine neue Rolle hineinzuwachsen und fällt nach energischen Momenten immer wieder in Selbstzweifel zurück. Dieser Eindruck wird dadurch visuell verstärkt, als Ludwig sich in den überdimensional wirkenden Hermelinmantel einrollt und vollständig darin verschwindet. Seine innere Zerrissenheit wird auch bei seiner Thronrede deutlich. Während des zeremoniellen Aktes kann Ludwig dem Druck der Öffentlichkeit standhalten. Doch mit dem Abschluss seiner Rede fällt die Konstruktion des selbstsicheren Königs sogleich wieder in sich zusammen und Ludwig verlässt fluchtartig den Saal21. Hiermit wird ein wichtiger Teil der Persönlichkeit Ludwigs etabliert, den Visconti in seinem Film stets außen vor lässt,- seine stark ausgeprägte Sozialphobie.

Anschließend wird Ludwig bei seinem Regierungsantritt gezeigt. Auch hierbei ist ein deutlicher Kontrast zu Viscontis Darstellung zu erkennen. Ludwig behält seine Jugendhaftigkeit trotz des verantwortungsvollen Amtes zunächst bei. Mit schelmischem Unterton eröffnet er den erfahrenen Ministern: „Ein wenig Bedenkzeit brauche ich allerdings schon. Die werden Sie mir ja in Ihrem Stundenplan sicherlich einräumen, nicht wahr?“22 Somit bleibt er für den Rezipienten weiterhin emotional zugänglich. Dennoch beharrt Ludwig auf die genaue Umsetzung seiner Pläne: „Für das Wohl meines Volkes habe ich bereits eine Entscheidung getroffen. Bald werden die Wunder der Poesie und der Musik ganz Bayern verwandeln.“23 Ludwig wirkt in der ersten Phase seines königlichen Daseins sehr euphorisch und hoffnungsvoll. Die strenge Ernsthaftigkeit, von der die Darstellung der Ludwig-Figur bei Visconti von Beginn an geprägt ist, ist hierbei nicht zu erkennen. Erwähnenswert ist zudem die Vielfalt an Pflanzen, die in den Räumen der Residenz drapiert sind, was Ludwigs Liebe zur Natur und den Kontrast zur zivilisierten Großstadt hervorhebt. Ludwigs Charakter wird zunächst eine kindliche Naivität verliehen, die seine Fallhöhe im späteren Verlauf des Films deutlich verstärkt. Er ist fest davon überzeugt, mit seiner Macht die gesamte Welt positiv verändern zu können. Eine wichtige Szene hinsichtlich der Charakterisierung Ludwigs ist zudem die Premiere von Wagners Tristan und Isolde. Der König muss dabei in der Königsloge vor sein Volk treten. Besonders die Kameraperspektive wirkt hier spannungssteigernd, da der Filmrezipient gewissermaßen neben den König gestellt wird und ebenfalls einer Vielzahl an Blicken ausgesetzt ist24. Ludwigs Mimik zeigt deutliche Merkmale von Nervosität und Unbehagen. Während der Oper ist sein Gesicht in Nahaufnahme zu sehen, wodurch seine Fähigkeit, sich vollkommen in einer illusionistischen Welt zu verlieren, sichtbar wird. Unmittelbar nach dem Ende der Oper verlässt Ludwig fluchtartig seine Loge, damit er sich nicht erneut mit seiner Menschenscheu konfrontieren muss.

Im Verlauf des Films gewinnt Ludwig einerseits immer mehr an Reife und Durchsetzungskraft, was sich vor allem an seiner Artikulation zeigt: „Es wird keinen Bruderkrieg in Deutschland geben! Nicht mit mir!“25, andererseits erhöht sich jedoch auch der politische Druck auf ihn, wodurch er psychosomatisch mit Herzrhythmusstörungen und Schweißausbrüchen reagiert. Widerwillig beugt er sich dem kollektiven Druck und unterschreibt die Mobilisierung seiner Armee. Ludwig flüchtet daraufhin nach Schloss Berg und isoliert sich zunehmend. Die exzessive Einnahme von Beruhigungsmitteln ruft Halluzinationen in ihm hervor: Er sieht seinen Bruder Otto schwerverletzt vor sich stehen26. Im Gegensatz zu Viscontis Darstellung leugnet Ludwig hier nicht den Krieg, sondern erkundigt sich nach der Lage und lässt später Raketen in den Himmel schießen, um symbolisch der Todesopfer zu gedenken. Hiermit wird der starke Konflikt zwischen innerer Überzeugung und verpflichtetem Handeln deutlich. Ludwig fühlt sich gezwungen, mit seiner größten Maxime, der des Weltfriedens durch die Kunst, brechen zu müssen und dem Krieg zu folgen, den er zutiefst verabscheut. Durch die Etablierung der Ludwig-Figur als hoffnungsfrohen Weltverbesserer zu Beginn des Films erscheint dieser innere Konflikt in einer deutlich größeren Dimension als bei Visconti. Trotz mehrerer kurzer Wutausbrüche bleibt der im Grunde herzensgute Charakter Ludwigs weiterhin erkennbar. Die Dramaturgie dieses Films sieht zwei Zeitsprünge vor, in denen die seelischen und physischen Veränderungen Ludwigs deutlich sichtbar gemacht werden. Ludwig wirkt zunehmend ernst und verbittert, was sich besonders an seinem sprachlichen Ausdruck zeigt27. Seine Stimme klingt deutlich rauer als zuvor, er wählt seine Worte mit Bedacht und artikuliert mit klarer Betonung. Seine Mimik ist nun von tiefen Sorgenfalten geprägt. Ludwigs Wesenszüge nähern sich erst wieder dem anfänglichen Charakter an, als er mit dem Bau Neuschwansteins beginnt. Er spricht zu seinen Schwänen: „Gefällt Euch meine Burg? Ich werde sie nach Euch und dem Schwanenritter benennen.“28 Ludwig scheint erleichtert darüber, für sich einen Ausweg aus der belastenden Situation gefunden zu haben und gewinnt im Bau der Schlösser seine jugendliche Begeisterungsfähigkeit teilweise zurück. Mit einem weiteren Zeitsprung wird die Handlung nun auf das letzte Lebensjahr Ludwigs gelenkt. Um die Figur in einer Zeitspanne von einem jugendlichen Kronprinz bis hin zum gealterten König authentisch darstellen zu können, ziehen die Regisseure Sehr und Noelle hier einen zweiten Darsteller hinzu. Die Illusion gelingt, da sich die Protagonisten in ihrer Physiognomie langsam annähern und die bereits vertraute Stimme des jungen Ludwig weiterhin bestehen bleibt. Da Ludwig sein adipöses Essverhalten und seine Vorstellung von Schönheit nicht mehr miteinander vereinbaren kann, verbirgt er sein Gesicht fortan hinter einer Maske29. Die letzte Phase des Films kommt mit wenigen Worten Ludwigs aus, was seine völlige Abgeschiedenheit unterstreicht. Die depressive Stimmung des Königs ist in den finalen Szenen vorherrschend. In einer Sequenz bittet er seinen langjährigen Lakaien Lorenz um Verzeihung und schließt ihn in seine Arme30. Diese Geste zeigt deutlich, dass Ludwig trotz seines verbitterten Daseins die Fähigkeit der Empathie nicht verloren hat. Somit wird die Konzeption der sympathischen Identifikationsfigur bis zum Ende aufrechterhalten.

3.2 Ludwigs symbiotisches Verhältnis zu Richard Wagner

Die Darstellung des Verhältnisses zwischen Ludwig und Richard Wagner ist für die Analyse der beiden Filme von besonderer Bedeutung, da hierbei grundverschiedene Figurenkonzeptionen zu erkennen sind.

Bei Visconti wird Richard Wagner bereits vor seinem ersten Auftritt von einem kommentierenden Zeugen als „skrupelloser Ausbeuter“31 charakterisiert. Diese Rolle wird Wagner lange im Film beibehalten. Der erste Satz, den Wagner unmittelbar nach der Einladung des Königs sagt, lautet wie folgt: „Das Haus ist einfach unmöglich. Es entspricht in keiner Weise meinem Geschmack! […] Nichts auf der Welt könnte zu schön sein für ein Haus, in dem ich arbeiten soll!“32 Wagner begründet sein überhebliches Verhalten damit, dass er nur unter den besten Rahmenbedingungen seine Kreativität frei entfalten kann. Ludwig hingegen idealisiert Wagner und sieht ihn als väterliche Instanz: „Für mich ist das von höchster Bedeutung. Ich habe Wagner den Mut zu verdanken, und den Glauben, dass ich mein Leben mit Sinn erfüllen kann.“33 In den Gesprächen wird deutlich, dass beide Figuren in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, die Art der Abhängigkeit sich jedoch individuell unterscheidet. Für Ludwig scheint Wagner ein Verbündeter zu sein, der ihn über das Unverständnis seiner Mitmenschen hinwegtröstet und seinem Leben einen Sinn verleiht. Wagners Motivation für diese Freundschaft scheint hingegen stets finanzieller Art zu sein. Seine Geliebte Cosima von Bülow fungiert als scheinbar vertrauenswürdige Vermittlerin. Ludwig wird im Verlauf des Films immer wieder emotional erpresst: „Der Meister hätte gern eine Geldsumme zur Verfügung, die ihm erlauben würde, seine Schulden zu begleichen und ruhig in die Zukunft zu schauen. Andernfalls würde er München lieber verlassen.“34 Mit dieser Aussage macht sich Cosima die tiefe Verlustangst des Königs zu Nutze und verleitet ihn dazu, Wagner weiterhin finanziell zu unterstützen. Ludwig verschließt sich zunächst vor Wagners wahrem Charakter. Im späteren Verlauf der Handlung gibt er dem Druck seiner Minister schließlich nach und bittet Wagner, die Stadt zu verlassen. Als Ludwig wegen seiner anstehenden Hochzeit in eine immer tiefere Krise stürzt, holt er ihn wieder zu sich. An dieser Stelle zeigt Wagner zum ersten Mal eine andere Facette seines Charakters: „Meine Zuneigung zu Ihnen ist unverändert, seit dem Tag, an dem Sie mich damals nach München holten, mich von der Armut befreiten und mich mit offenen Armen willkommen hießen. Ich habe das nie vergessen.“35 Angesichts der Art und Weise, wie sich Wagner bisher über Ludwig geäußert hat, verliert diese Aussage jedoch etwas an Glaubwürdigkeit. Die Darstellung Wagners als manipulative Figur und sein Verhalten in dieser Szene lassen sich nur schwer miteinander vereinbaren.

Im Verlauf des Films wird die anfängliche Eindimensionalität des Charakters weiter aufgebrochen. In seinem letzten Auftritt ist Wagner als fürsorglicher Familienvater zu sehen, der seine Liebe zu Cosima in einem eigens für sie komponierten Musikstück zum Ausdruck bringt36. Es ist ersichtlich, dass sich Ludwig und Wagner brauchen und beide voneinander profitieren. Ludwig bietet seinem Freund optimale Bedingungen, um seine künstlerischen Werke zu verwirklichen und Wagner eröffnet ihm den Zugang zu einer illusionistischen Welt, nach der er sich so sehr sehnt. Visconti hebt in seinem Film die komplementären Aspekte dieses Verhältnisses stark hervor.

In ihrem Film hingegen verleihen Peter Sehr und Marie Noelle der Beziehung zwischen Ludwig und Wagner eine besonders emotionale Tiefe und konzipieren die Figur Wagners deutlich aufrichtiger als zuvor Visconti. Die erste Begegnung der beiden erzeugt eine magische Atmosphäre. Beide bekunden gleichermaßen ihre Bewunderung und Zuneigung zueinander. Wagner zeigt sich hier weder manipulativ noch missgünstig. Er begegnet dem jungen König mit tiefer Ehrfurcht und Dankbarkeit. Seine verbalen sowie nonverbalen Signale sind einander stimmig und etablieren ihn als glaubwürdige und sympathische Figur. Diese Szene erreicht eine noch tiefere Dimension, als Wagner die Tragik seiner Lebenssituation deutlich macht: „Majestät, vor zwei Wochen war ich am Ende. Ich wollte diese feindliche Welt verlassen. Für immer. Sie sind göttlich, mein König! Denn Sie müssen mich in meiner Not erhört haben.“37 In der nächsten Szene wird bereits der politische Konflikt deutlich, der die Freundschaft zwischen Ludwig und Wagner immer wieder ins Wanken bringt. Wagner wird von den Ministern als gefährlich und revolutionär eingestuft. Ludwig sehnt sich nach einem friedlichen Umgang und fungiert im Film als Vermittler zwischen den verfeindeten Parteien. Im Wesentlichen steht er jedoch Wagner zur Seite und distanziert sich nach und nach von den Menschen, die ihm dies nicht gewähren. Ludwig greift für seinen Freund Wagner sogar in den Kodex der Pressefreiheit ein: „Als erstes werden Sie dafür sorgen, dass ab sofort nur noch positive Meldungen über Wagner in den Zeitungen zu lesen sind.“38 Für Ludwig ist Wagner der Mensch, mit dem seine Visionen realisierbar erscheinen. Bei der Premiere von Tristan und Isolde zeigen sowohl Ludwig als auch Wagner starke Emotionen. Ludwig ist ergriffen von der Musik, die ihn umgibt, und Wagner berührt es zu sehen, dass er Ludwig mitten ins Herz treffen kann. Zudem kommt bei Wagner große Anspannung hinzu, da er nicht weiß, wie das Münchner Publikum auf sein künstlerisches Werk reagieren wird. Diese starke Emotionalität macht deutlich, wie sehr Wagner für seine Opern lebt und welch essentielle Rolle sie in seinem Leben einnehmen. Die Premierenszene stellt für Ludwig zudem den ersten Schritt zur Verwirklichung seiner Träume dar. Zum ersten Mal eröffnet sich für sein Volk die illusionistische Welt Richard Wagners.

Wagners Charakter wird in diesem Film von mehreren Perspektiven aus beleuchtet. Zu Beginn ist er der ehrfürchtige und bewundernde Untertan, der Ludwig die gesamte Entscheidungsmacht über seine Werke zuspricht. Im Verlauf der Handlung zeigt sich Wagner jedoch auch als Mensch mit klaren Vorstellungen und Zielen, die er bedingungslos vertritt: „Die Zustände in diesem Europa sind doch reif für einen Totalabbruch!“39 Dieser Aspekt wird auch während einer Probenszene deutlich, in der er den Sängern Regieanweisungen gibt und ihnen die Tragweite dieser Szene vor Augen führt. Er greift immer wieder in die Probensituation ein, bis sie sich so positionieren, dass es seiner Vorstellung entspricht40. Wagner wird zum Teil als sehr affektiv dargestellt, was sich in mehreren flüchtigen Wutausbrüchen zeigt. Er lässt sich von seinen politischen Gegnern und der daraus resultierenden öffentlichen Meinung leicht provozieren. Dann hingegen verkörpert Wagner in einigen Sequenzen eine fürsorgliche Vaterfigur, die dem jungen Ludwig den Weg weist: „Ludwig, ich flehe dich an, kehr‘ nach München zurück. Du stehst an einem verhängnisvollen Scheideweg. Deine Macht wirst du nur behaupten können, wenn dich Minister stützen, denen du vertrauen kannst. […] Wenn du jetzt eine Thronrede hältst, dann kannst du deine Vorstellungen klar darstellen!“41 Wagner zeigt Ludwig eine Perspektive auf, wie er den bevorstehenden Krieg noch abwenden kann. Seine Artikulation ist dabei nicht suggestiv, sondern lässt Ludwig die Möglichkeit zur freien Entscheidung. Als sich Ludwig aus politischem Zwang dazu entscheidet, sich von Wagner zu trennen, findet im Unterschied zu Viscontis Film eine persönliche Aussprache zwischen den beiden statt. Ludwig steht dieser belastenden Situation derart verzweifelt gegenüber, dass er die Option des Abdankens in Betracht zieht. Trotz anfänglichen Entsetzens zeigt sich Wagner in der Lage, weiterhin seine Zuneigung zu Ludwig zum Ausdruck zu bringen. Er versucht Ludwigs innere Kräfte wieder zu mobilisieren und zeigt, dass er über Empathie und Verantwortungsbewusstsein verfügt: „Nie und nimmer, mein Junge. Ich würde mich fühlen wie ein elender Hund, wenn du meinetwegen abdanken würdest.“42 Wagner macht ihm deutlich, dass er nur als König die Möglichkeit habe, seine Visionen von Frieden und Kunst zu verwirklichen. Die außergewöhnliche Beziehung zwischen Ludwig und Wagner zerbricht im späteren Verlauf des Films schließlich daran, dass Ludwig die Besetzung der Rolle des Lohengrins ändert. Wagner reagiert entsetzt und ist sich nicht darüber bewusst, dass er einst Ludwig die Entscheidungsmacht überlassen hat. Sein plötzliches Unverständnis lässt sich möglicherweise auf die vorangegangene Enttäuschung zurückführen, dass Ludwig in der konfliktreichen politischen Lage nicht zu ihm gehalten hat und er sich erneut von ihm verstoßen fühlt. Beide zeigen sich bei ihrer letzten Begegnung gleichermaßen verletzt. Ludwig begreift, dass auch er sich in Wagner getäuscht haben muss: „Sollte dein Kind nicht so sein wie ich? Offenbar nur ein Traum.“43 Trotz dieses schmerzlichen Verlustes ist zu beobachten, dass Ludwig weiterhin an den Opern Wagners festhält und sich von ihnen begeistern lässt44. Zusammenfassend ist zu sagen, dass in diesem Film die Freundschaft auch für Wagner von emotionalen Momenten geprägt ist und er nicht nur den finanziellen Rückhalt an Ludwig schätzt, wie es bei Visconti oftmals den Anschein hat.

3.3 Lebensphilosophie des Märchenkönigs

Im Folgenden sollen nun Ludwigs Grundhaltung und seine Motivation genauer beleuchtet werden. Zudem beinhaltet diese Untersuchung auch seine spätere Bauleidenschaft, die hierbei eine Metaebene seiner Lebensphilosophie darstellt.

Zunächst ist auf Ludwigs tiefe Religiosität hinzuweisen, die sowohl bei Visconti als auch in der neueren Interpretation von 2012 als fester Bestandteil in der filmischen Handlung integriert ist. Visconti bringt dies bereits in der ersten Szene zum Ausdruck, als Ludwig in Gebetshaltung vor seinem Beichtvater kniet und ihn um Rat bittet. Auch im späteren Verlauf des Films, als Ludwig mehr und mehr verzweifelt, wird er zunehmend in einem religiösen Kontext gezeigt. In einer Szene wendet er sich weinend und hilfesuchend an Gott: „Hilf mir. Bitte hilf mir, hilf mir! Ich flehe dich an! Bitte, bitte hilf mir.“45 Sein Blick ist dabei stets demütig nach oben gerichtet. Zudem verfügt Ludwig über eine ausgeprägte Phantasie, mit der er sein Leben gestaltet. Er inszeniert sich gewissermaßen selbst. Beispielhaft hierfür ist die Venusgrotte, die Ludwig auf Schloss Linderhof eigens für die Oper Tannhäuser errichten ließ. Er wird dabei selbst Teil der Inszenierung, indem er vor bemalter Kulisse in einer Gondel auf dem Wasser treibt46. Ludwig achtet dabei stets minutiös auf die Gestaltung des Theaterraums, damit er sich der Illusion bedingungslos hingeben kann. Ein Beispiel für die Inszenierung seiner Isolation ist das „Tischlein-deck-dich“, mit dem er die Anwesenheit des Personals elegant umgehen kann47. Die Relevanz, die Ludwig der Kunst im Leben der Menschen einräumt, deutet Visconti in seinem Film meist nur indirekt an. Wenn sich Ludwig über seine Liebe zur Kunst äußert, so geschieht dies weniger im Kontext seiner politischen Ziele. Ausnahmen stellen hierbei eine Sequenz mit Elisabeth sowie mit Graf Holnstein dar. Zu Elisabeth meint er einmal: „Ich bin überzeugt, ich weiß genau, dass man seinem Volk kein größeres Geschenk machen kann, als seinen Geist zu bereichern.“48 Als die Kritik an Wagner immer lauter wird, rechtfertigt sich Ludwig vor Graf Holnstein: „Sein Genie hat eine Moral, die befreit und reinigt, seine Kunst erleuchtet. Eine rettende Kraft gegen die Übel unserer korrupten Gesellschaft!“49 Außerhalb dieser Szenen wird Ludwig jedoch vielmehr als Egoist dargestellt, der seinen Visionen zwar stets folgt, das Wohl seines Volkes jedoch dabei außen vor lässt. Besonders eindringlich wird dies in dem bereits analysierten Gespräch mit Graf Dürkheim deutlich.

[...]


1 Brunner, Erika: Der tragische König. Glowasz-Verlag, Berlin, 2011, S. 692-693.

2 Obermeier, Siegfried: Das geheime Tagebuch. Nymphenburger Verlag, München, 1986, S. 7.

3 Richter, Werner: Ludwig II. König von Bayern. Stiebner-Verlag, München, 2001, S. 223.

4 Visconti, Luchino [Reg.]: Ludwig II. Studiocanal GmbH, 2012.

5 Sehr, Peter [Reg.]: Ludwig II. Warner Bros. Entertainment GmbH, 2013.

6 Sykora, Katharina [Hrsg.]: Ein Bild von einem Mann. Campus-Verlag, Frankfurt am Main, 2004, S. 240.

7 Sykora, Katharina [Hrsg.]: Ein Bild von einem Mann. Campus-Verlag, Frankfurt am Main, 2004, S. 240.

8 Ebd., S. 240.

9 Ebd., S. 241.

10 Sykora, Katharina [Hrsg.]: Ein Bild von einem Mann. Campus-Verlag, Frankfurt am Main, 2004, S. 241.

11 Loriot- Ludwig II. http://www.youtube.com/watch?v=n2SuEOcft2k, zuletzt aufgerufen am 23.06.2014.

12 Visconti, Luchino [Reg.]: Ludwig II., Studiocanal GmbH, 2012, DVD 1, Teil 1, 00:02:00.

13 Visconti, Luchino [Reg.]: Ludwig II., Studiocanal GmbH, 2012, DVD 1, Teil 1, 00:11:36.

14 Ebd., DVD 1, Teil 2, 00:08:23.

15 Ebd., DVD 1, Teil 2, 00:29:58.

16 Ebd., DVD 1, Teil 2, 00:34:38.

17 Visconti, Luchino [Reg.]: Ludwig II., Studiocanal GmbH, 2012, DVD 1, Teil 2, 00:43:04.

18 Ebd., DVD 2, Teil 4, 00:13:38.

19 Sehr, Peter [Reg.]: Ludwig II., Warner Bros. Entertainment GmbH, 2013, 00:02:00.

20 Schwickert, Martin: „Ludwig II. war depressiv, aber nicht unzurechnungsfähig“, ZEIT ONLINE, 26.12.2012. > http://www.zeit.de/kultur/film/2012-12/film-ludwig-marie-noelle-peter-sehr, zuletzt aufgerufen am 01.07.2014.

21 Sehr, Peter [Reg.]: Ludwig II., Warner Bros. Entertainment GmbH, 2013, 00:14:29.

22 Ebd., 00:16:40.

23 Ebd., 00:17:07.

24 Sehr, Peter [Reg.]: Ludwig II., Warner Bros. Entertainment GmbH, 2013, 00:35:26.

25 Ebd., 00:43:15.

26 Ebd., 00:54:58.

27 Ebd., 01:27:01.

28 Sehr, Peter [Reg.]: Ludwig II., Warner Bros. Entertainment GmbH, 2013, 01:39:10.

29 Ebd., 01:42:25.

30 Ebd., 01:59:56.

31 Visconti, Luchino [Reg.]: Ludwig II., Studiocanal GmbH, 2012, DVD 1, Teil 1, 00:24:33.

32 Visconti, Luchino [Reg.]: Ludwig II., Studiocanal GmbH, 2012, DVD 1, Teil 1, 00:24:38.

33 Ebd., DVD 1, Teil 1, 00:30:36.

34 Ebd., DVD 1. Teil 2, 00:12:37.

35 Ebd., DVD 2, Teil 4, 00:15:29.

36 Visconti, Luchino [Reg.]: Ludwig II., Studiocanal GmbH, 2012, DVD 2, Teil 4, 00:02:43.

37 Sehr, Peter [Reg.]: Ludwig II., Warner Bros. Entertainment GmbH, 2013, 00:25:27.

38 Ebd., 00:28:23.

39 Sehr, Peter [Reg.]: Ludwig II., Warner Bros. Entertainment GmbH, 2013, 00:26:50.

40 Ebd., 00:33:32.

41 Ebd., 00:42:26.

42 Sehr, Peter [Reg.]: Ludwig II., Warner Bros. Entertainment GmbH, 2013, 00:51:37.

43 Ebd., 01:19:21.

44 Ebd., 01:38:30.

45 Visconti, Luchino [Reg.]: Ludwig II., Studiocanal GmbH, 2012, DVD 1, Teil 2, 00:34:03.

46 Ebd., DVD 2, Teil 4, 00:09:49.

47 Ebd., DVD 2, Teil 4, 00:15:58.

48 Ebd., DVD 1, Teil 1, 00:30:18.

49 Ebd., DVD 1. Teil 2, 00:15:00.

Ende der Leseprobe aus 60 Seiten

Details

Titel
Die Omnipräsenz des Märchenkönigs. Darstellung Ludwigs II. in der Film- und Theaterwelt
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Theaterwissenschaft)
Note
2,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
60
Katalognummer
V286773
ISBN (eBook)
9783656873488
ISBN (Buch)
9783656873495
Dateigröße
700 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
omnipräsenz, märchenkönigs, darstellung, ludwigs, film-, theaterwelt
Arbeit zitieren
Simone Holzäpfel (Autor:in), 2014, Die Omnipräsenz des Märchenkönigs. Darstellung Ludwigs II. in der Film- und Theaterwelt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/286773

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