Das Eigene, das Fremde und das unfassbare Dritte. Zur Rolle des Antisemitismus in der Differenzkonstruktion


Magisterarbeit, 2012

132 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.2 Geschichtlicher Überblick
1.3 Aktuelle Lage
1.4 Begründung der Relevanz innerhalb der Ethnologie
1.5 Begründung der Relevanz über die Fachgrenzen hinaus

2. Das Vorhaben
2.1 Fragestellung und Hypothesen
2.2 Fallbeispiele
2.3 Theoretischer Hintergrund und Stand der Forschung

3. Grunddefinitionen relevanter Begriffe und was genau ist Antisemitismus?

4. Theorie
4.1 Der Fremde und der Andere
4.1.1 Differenz, Hierarchie und Abgrenzung
4.2 Erklärungsansätze des Antisemitismus und tragende Theorien
4.3 Kritische Rassismustheorie
4.3.1 Kategorisierungen des Rassismus nach W.D. Hund
4.4 Konstruktionen des Antisemitismus nach K. Holz

5. Praxis
5.1 Analyserahmen
5.2 Fallbeispiele: Darstellung und Analyse
5.2.1 Ritualmordvorwürfe in den „aufgeklärten“ Zeiten der Haskala
5.2.2 Völkisch-nationalistische Hetze im gegenwärtigen Ungarn
5.2.3 Literarischer Antisemitismus (fast) ohne Juden in Japan
5.2.4 Dämonisierende Filmproduktionen im islamisierten Antisemitismus
5.2.5 Tätliche Angriffe in den Niederlanden

6. Vergleich und Zusammenfassung der Ergebnisse
6.1 Antisemitismus, Rassismus, die Forschung und der Versuch eines Fazits

Literaturverzeichnis

Vorwort

Die vorliegende Ausarbeitung befasst sich mit dem modernen Antisemitismus und dessen Funktion für die Differenzkonstruktion und in der Identitätsstiftung. Es wird rasch ersichtlich werden, dass jüdische Menschen und Judentum für Antisemiten eine projektionsflächenartige Funktion erfüllen, und dass es im Antisemitismus in erster Linie nicht um tatsächliche jüdische Personen und das Zutreffen oder Nichtzutreffen bestimmter Vorstellungen auf sie geht, sondern um ein kollektives Feindbild, was mit „die Juden“ bezeichnet wird. Dieses Feindbild werde ich durch Anführungszeichen kenntlich machen und ansonsten beim Bezug auf jüdische Menschen schlicht von Juden sprechen. Die allgemein in dieser Arbeit verwendeten männlichen Endungen repräsentieren der Leserfreundlichkeit halber auch die weiblichen Endungsformen. Ich möchte darauf hinweisen, dass das hier bearbeitete Thema in seinem Grundsatz bereits mit Kategorien der Abgrenzung arbeitet: Antisemitismus ist wohl kaum zu denken ohne Begriffe wie „die Juden“ oder die zusammenfassende Betitelung einer Nation als „die XY“. Um mit den mir vorliegenden Quellen arbeiten zu können und nicht zu viel Raum mit dem Zurechtrücken politisch zweifelhafter Begrifflichkeiten zu füllen, soll es genügen, diese Konstruktionen in Anführungszeichen zu setzen; zumeist jedoch wirkt das Weglassen verallgemeinernder Zusammenfassungen wie „die XY“ bereits entschärfend.

Manchmal können unvorhersehbare Entwicklungen Vorhaben ins Wanken bringen - so ist es bei der Entstehung dieser Arbeit geschehen.

Ich danke meinen Eltern für ihre immerwährende Unterstützung und für die Ermutigung, (mich) an dieser Arbeit festzuhalten. Ich danke meinen Schwestern, dass sie mir genug Raum gewährten, als es darauf ankam. Außerdem danke ich Philipp Layer dafür, stets an meiner Seite zu sein, sowie Marjaan Mandeh-Garian, Rike Hundertmark, Kathrin Bauer und Nico Gross für kluge Hinweise und Anmerkungen.

1. Einleitung

Ist die wissenschaftliche Literatur zu Antisemitismus, Rassismus und Differenzkonstruktion kaum noch zu überschauen, haben sich die Sozialforschung und die Antisemitismusforschung doch stark entkoppelt. Besonders jüngere Entwicklungen sozialwissenschaftlicher Theorien werden kaum rezipiert. Nach den 1950 abgeschlossenen Arbeiten der Frankfurter Schule1 und einiger Meinungs­und Einstellungsforschung2 kam die theoretische Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung fast gänzlich zum Stillstand, was maßgeblich zur Entstehung und Verfestigung eines Methoden- und Theoriedefizits beigetragen hat (Holz 2001: 11f). Die Kultur- und Sozialanthropologie und die Ethnologie haben seit Franz Boas' (bes. 1932) grundlegendem Einfluss auf die Trennung von Kultur und „Rasse“ mit Rassismus zusammenhängende Fragenkomplexe diskutiert, diese später jedoch weitgehend der Soziologie und Politologie überlassen, und waren nicht maßgeblich beteiligt an der Produktion wissenschaftlicher Theoreme auf diesem Gebiet (Beer 2002: 15). Die Antisemitismusforschung erfolgte bisher weitgehend ohne Zutun von Ethnologen und zudem länderspezifisch, was dazu führte, dass vermeintliche oder tatsächliche Besonderheiten eines Landes zur Charakteristik des Antisemitismus generalisiert wurden. Weiterhin wurden keine kulturvergleichenden Untersuchungen und Analysen über die reine Statistik hinaus entwickelt und der Antisemitismus zwar als Politikum, psychische Konstitution oder Ideologie, selten aber als Semantik, Weltanschauung, identitätsstiftende Selbstpositionierung und damit als Teil von Kultur gewertet, der eine Dimension der kulturellen Ordnung bezeichnet, und kein psychisches oder individuelles Phänomen (ebd.).

Der Begriff der antisemitischen Semantik wird häufig auftauchen. Unter >Semantiken< ist der kulturelle Wissensvorrat einer Gesellschaft zu verstehen; der Begriff weist Parallelen mit dem von Postmodernisten präferierten und das weite Spektrum von Rede, Text, Handlung, Bewegungen und Ideologien umfassenden Diskursbegriff auf. Ich verwende den Begriff der Semantik, denn er bezeichnet erstens ein in sich strukturiertes Syndrom von Sinngehalten und nicht vereinzelt auftretende Vorurteile. Zweitens ist Semantik ein kommunikations- und nicht ein subjekttheoretischer Begriff, der eine Dimension der kulturellen Ordnung der Gesellschaft bezeichnet und kein psychisches oder individuelles Phänomen (Holz 2001: 28). In Anlehnung an Klaus Holz kann man von einer Semantik sprechen, wenn sich für eine Vielzahl von Ereignissen, hier also antisemitischen Vorfällen, zeigen lässt, dass immer wieder ein spezifisches Muster der

Sinnkonstruktion reproduziert wird. Dieses Muster soll im Folgenden Sinnstruktur der Semantik heißen (31). Daraus lässt sich nicht vorschnell schließen, dass Antisemitismus in allen Kontexten immer exakt das Selbe ist, allerdings soll gezeigt werden, dass die Sinnstruktur der antisemitischen Semantik trotz höchst unterschiedlicher Kontexte nur in einem ausgesprochen schmalen Bereich variiert. Dies schildert bereits die Grundidee dieser Arbeit, deren Aufbau sogleich dargestellt wird.

Zu Beginn möchte ich aber eine kurze Erläuterung des Begriffs der Differenzkonstruktion bzw. des othering geben, da diese die basalen Prinzipien des gesamten Themenfeldes dieser Arbeit darstellen und bereits für den einleitenden Überblick von großer Wichtigkeit sind. Der Begriff des othering geht zurück auf G. C. Spivak (1985) und bezeichnet den Vorgang, in dem „imperiale Diskurse das Andere hervorbrächten“ (nach Beer 2002: 300f). Spivak geht vom kolonialen Diskurs aus und sieht diesen Prozess als dialektisch an: Kolonialisierende Subjekte würden in demselben Moment wie das kolonialisierte Andere (s. hierzu 4.1) als Subjekte hervorgebracht. Da es keine adäquate deutsche Übersetzung dieses Wortes gibt, muss teils auf die zwar etwas umständlichere aber ebenfalls treffende Begrifflichkeit der Differenzkonstruktion zurückgegriffen werden, da othering eben dies bezeichnet: das Konstruieren von Differenzen (kultureller oder biologischer Art) zwischen Menschen und Menschengruppen zwecks Abgrenzung. Es beschreibt also den Prozess, sich selbst, das soziale Image, die kulturellen Prägungen hervorzuheben, indem man Vergleiche zieht und Menschen mit anderen Merkmalen als andersartig, „fremd“ klassifiziert, was mit der Vorstellung einhergeht, dass Menschen und Gesellschaften sich durch ihre Lebensform, Kultur u.a. erheblich unterscheiden. Identitätsbildungsprozesse, Selbstpositionierung, Grenzziehungsprobleme zwischen Eigen und Fremd und Gruppenkonflikte spielen in die Differenzkonstruktion hinein, ohne sie schlussendlich auszumachen.

Mit dieser Grundlage zum Verständnis der perspektivischen Herangehensweise dieser Arbeit ausgestattet, können wir nun an das komplexe Themengebiet des Antisemitismus als Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (nach W. Heitmeyers bekanntem Forschungsprogramm) herantreten. Nach einem Überblick über die Hintergründe, die Entwicklungsströme und die aktuelle Lage des Phänomens folgt eine Begründung der Themenwahl dieser Arbeit zum einen im Fach der Ethnologie, zum anderen für die Relevanz der Thematik weit über den Bereich des Fachs hinaus. Im zweiten Kapitel werden das Vorhaben und die Fragestellung vorgestellt sowie eine Darstellung des Forschungsstandes und der theoretischen Hintergründe gegeben. Das dritte Kapitel dient der ausführlichen Klärung aller relevanten und mit dem Thema verbundenen Grundbegriffe und deren Verschränkungen. Mittels einer Darstellung der tragenden Theorien und der verschiedenen Erklärungsansätze zum Antisemitismus werden die bereits in Kapitel 2 angerissenen theoretischen Hintergründe im vierten Kapitel, dem Theorieteil, konkretisiert und ausgeführt. Ziel dieser Arbeit soll unter anderem sein, zur perspektivischen Erweiterung sowie zur Verbindung der Theorien zu diesem

Themengebiet anzuregen und beizutragen. Die für das Vorhaben basalen Konzeptionierungen zum sog. Anderen bzw. Fremden, dessen Grundprinzip in dieser Einleitung schon in aller Kürze als othering und Differenzkonstruktion vorgestellt worden ist, werden ebenfalls im Theorieteil vertiefend erläutert, um mit den umfassenden Dimensionen dieses Prinzips arbeiten zu können. Es folgt ein Teilkapitel zur Rassismustheorie, in dessen Verlauf u.a. bereits ein erster Teil des für das Vorhaben zu erarbeitenden Analyserahmens vorgestellt wird. Im Teilkapitel zur Antisemitismustheorie wird dann der zweite Teil des Analyserahmens beigetragen, wobei es sich um eine Theorieerweiterung handelt, die bisherige Analysemittel des Antisemitismus maßgeblich bereichert. Die Verbindung dieser beiden Komplexe aus Rassismus- und Antisemitismustheorie soll einen Analyserahmen bilden, der sich dem Antisemitismus mit seinen komplexen Formen und Verstrickungen analytisch umfassender nähern kann (siehe 4.2). Dem Anspruch einer theoretisch ansetzenden Arbeit entsprechend, ist der Umfang des Theorieteils recht ausgiebig, was sowohl der Komplexität des Themas als auch meiner theoretisch-analytischen Herangehensweise entgegenkommt und entspricht.

In Kapitel 5, dem Praxiskapitel, wird der erarbeitete Analyserahmen dann auf fünf interkulturelle Fallbeispiele angewendet, um die jeweiligen Fallstrukturen herauszuarbeiten. Die Ergebnisse der Fallanalysen werden in einem nächsten Schritt verglichen. So können die Strukturelemente der Fälle auf Kongruenzen, Parallelen und Ähnlichkeiten, aber auch auf Widersprüche hin untersucht und im Ergebnis Hypothesen zur Sinnstruktur des Antisemitismus formuliert werden.

1.1 Geschichtlicher Überblick

Als Einstieg in die Thematik soll ein knapper Umriss der verschieden Formen der Judenfeindschaft dienen, um eine Verständnisbasis dieses Phänomens und der antisemitischen Denkweise zu liefern. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit bedeutet dies, die groben Strömungen und Entwicklungen des Antisemitismus anzureißen, um einen Ausgangspunkt für das Vorhaben zu schaffen, von dem ausgehend wir in die Theorie und anschließend in die analytische Tiefe gehen können.

Die Wurzeln des modernen antisemitischen Ressentiments liegen, wie wir gleich sehen werden, im weitesten Sinne im europäisch-christlichen Kulturraum, der sich von seiner „Vaterreligion“ (nach Adorno/Horkheimer 1950), dem Judentum, abzusetzen bedurfte. Frühere antijüdische Tendenzen in der Antike und im sog. „Alten Orient“, im Römischen Reich und später im Hellenistischen Einflussbereich hat es, meist aus Gründen des Festhaltens am monotheistischen Glauben an einen einzigen Gott im Judentum und der Ablehnung, Götter oder Riten anderer Glaubenssysteme darin zu integrieren, gegeben. Haben auch Entwicklungen in damaligen Zeiten grundlegende Einschnitte in die jüdische Geschichte gebracht, wie etwa die Zerstörungen des Tempels in Jerusalem (587 v.Ch. und 70 n.Ch.) oder die Zerstreuung ins Babylonische Exil (ab 589 v.Ch.), allerdings ist kein „identisches System“ hinter den Unruhen in Alexandria (38 n.Ch.) und den antijüdischen Attacken der Kirchenväter zu erkennen (Frindte 2006: 22, nach Claussen 1994a). Daher beschränkt sich die vorliegende Darstellung auf die Entwicklung der Hauptströmungen im für die Entstehung des modernen Antisemitismus relevanten Kulturraum. Dass selbiger von dieser Quelle aus mit den jeweils vorherrschenden Denksystemen verschiedener Jahrhunderte in andere Teile der Welt getragen wurde und sich in diesen auf vielfältige Weisen festgesetzt und spezifisch weiterentwickelt hat, werden die folgenden Darstellungen aufzeigen. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass diese Arbeit einen Beitrag zur Erforschung des Antisemitismus bieten soll, keineswegs jedoch unterstellt sie, dass jeder Mensch zu jeder Zeit und überall Gefahr läuft, antisemitische Tendenzen an den Tag zu legen. Es gab in jeder Epoche freie Denker, die sich gegen solche Sinnesarten und Ideologien wandten, Organisationen, die sie bekämpften und ganze Landstriche, die sich durch ihren Liberalismus den jüdischen Einwohnern gegenüber auszeichneten - man denke etwa an die Niederlande ab dem 17. Jahrhundert bis zu ihrer Besatzung durch das nationalsozialistische Deutschland, oder die überwältigende kollektive Solidarität der dänischen Bevölkerung gegenüber Juden im zweiten Weltkrieg. Das darf, bei allen Bemühungen zur Bekämpfung des Antisemitismus, nicht vergessen werden.

„Die äußeren Grenzen des antisemitischen Denkens sind schwer fassbar und nicht an Lager, Massenmord und rechtsextreme Haltungen gebunden, aber sie erweitern sich immer dann, wenn ganz gewöhnliche Menschen über andere ein Urteilfällen, das auf den stillschweigenden Folgerungen des rassistischen Stereotyps beruht" (Mosse 2006: 270).

Die ursprünglichste Variante des Phänomens ist der christlich-religiöse Antijudaismus, dessen Verbreitung in der Welt z.B. mittels des offen judenfeindlichen Johannesevangeliums, dem 1. Brief Paulus' an die Thessalonicher, der neben der Beschuldigung des Jesus-Mordes besagt, Juden „gefallen Gott nicht und sind allen Menschen Feind“ (1 Thess 2,15), oder auch den antijüdischen Hetzschriften Luthers stattfand, um nur die bedeutendsten zu nennen3. Gehen wir davon aus, dass Antijudaismus eine Form der Judenfeindschaft ist, die durch ihre primäre diskursive Verbindung zur christlichen Theologie gekennzeichnet ist und zum antijudaistischen Motivrepertoire Bilder des Gottesmordes, der immer währenden, unauslöschbaren Schuld, der Christenfeindlichkeit, des Ritualmordes, der Hostienschändung, der Brunnenvergiftung, der „Blindheit und Verstocktheit“ [dies bezieht sich auf Unbekehrbarkeit M.R.] gehören. Gehen wir weiter davon aus, dass Antijudaismus Juden und Jüdinnen als Feinde Gottes annimmt, als „ewigen Juden“, welcher der christlichen Legende nach zu ewigem Herumirren in der Welt verdammt ist, weil er Jesus nicht als Messias annimmt; als „Volk des alten Bundes“, als aus dem „neuen Gottesbund“ ausgeschlossen, das „Judentum als Gesetzesreligion begreift, als Religion ohne „Geist“, als das Äußere, das Abstrakte, als Schein, als Paradigma für den Heilsverlust, für Sünde, Verderben und Gefahr“ (Holz/Kauffmann/Paul (Hrsg.) 2009: 148). Der Begriff des Abstrakten, der im Verlauf dieser Arbeit immer wieder auftauchen wird, bezieht sich keineswegs auf seine mathematische Definition, sondern auf sein Begriffswort (Duden, Ausgabe 2001): Abstraktum ist hier angegeben als Gegensatz von Konkretum, als etwas Nichtdingliches bezeichnend, während abstrakt als Eigenschaftswort vom Dinglichen losgelöst, ohne unmittelbaren Bezug zur Realität oder auch nicht gegenständlich bedeutet. Der Begriff verweist auf die unzähligen Zuschreibungen, Annahmen und Attribute die über Juden im Lauf der Geschichte formuliert wurden und noch immer formuliert werden, die in ihrer oft zusammenhanglos scheinenden Gegensätzlichkeit die projektionsflächenartige Funktion offenbaren, die Juden in der Sinnkonstruktion des Antisemitismus gegeben wird.

Die Kirche verbreitete den Glauben, dass Juden als „Christusmörder“ eine universelle Kraft des Bösen darstellten, wobei die Stoßrichtung bis zu den Kreuzzügen, die erstmals systematische Verfolgung über Landes- und Kontinentalgrenzen brachten, meist lokal gerichtet war und sich gegen die Juden der eigenen Stadt, der Region oder des Landes richteten. Kreuzzüge, Pogrome, Vertreibung, Verfolgung, gesellschaftliche Sonderstellungen, Zwangstaufen und die Ketzerei-Hetzen des Mittelalters prägen die jüdische Geschichte in den langen Jahrhunderten, in denen die Religion den realitätsstiftenden Faktor im westlichen Kulturraum darstellt. Zudem nahm man tausend Jahre lang an, dass Juden anders aussähen, eine andere äußere Erscheinung aufwiesen. Aber während Juden als unterschiedlich begriffen wurden, bestand eine der Facetten dieser Unterschiedlichkeit in ihrer „unheimlichen“ Fähigkeit, genau wie alle anderen auszusehen. Daher wurde diese angebliche Unterschiedlichkeit als Vergänglich betrachtet und u.a. der Judenhut, der gelbe Fleck, der Judenstern oder auch Ghettos im Mittelalter eingeführt, wodurch Juden für die sonstige Bevölkerung kenntlich gemacht bzw. separiert wurden um beispielsweise „Mischehen“ oder allgemein dichte Kontakte zu verhindern (Gilman 1995: 168ff).

Im Laufe der europäischen Epoche der Aufklärung verlieren Kirche und Religion erheblich an Einfluss, und so entsteht, beeinflusst von tradierten judenfeindlichen Stereotypen, aus der traditionellen, religiös begründeten Judenfeindschaft die neuzeitliche, säkulare antisemitische Ideologie (Alter/Bärsch/Berghoff (Hrsg.) 1999: 8). Wie bereits früh von Hannah Arendt (1955) hervorgehoben, herrscht ein deutlicher Zusammenhang des modernen Antisemitismus mit der Entwicklung der Nationalstaaten; es liegt eine Verschränkung mit den Konstruktionen Nation und später „Rasse“ vor, die an den Gedanken vom christlichen Eigenkollektiv anknüpfen konnte. Mit der Karriere der Nation als letztlich dominierende politische Bewusstseins- und Handlungskategorie wird aus dem tradierten religiösen Gegensatz Christentum/Judentum eine national orientierte Differenz, die nach wissenschaftlicher Legitimation suchte. Nach G. Mosse brauchte sie, wie der Rassismus selbst, eine säkulare Grundlage wie die Aufklärung oder den modernen Nationalismus, um die Konsequenzen der christlichen Tauf- und Bekehrungsrituale überwinden zu können und trotzdem zu überzeugen. Der Grund hierfür lag darin, dass die „Minderwertigen“ ausweglos in ihrem Zustand festgehalten werden mussten (Mosse 2006: 10). Maßgeblich In dieser neuen Weltordnung war die Vorstellung einer internationalen Verschwörung von Juden, die sich gegen die Menschheit richtete. Der Begriff des Antisemitismus wurde 1879 zuerst von dem Journalisten Willhelm Marr geprägt und erhielt auf sich wissenschaftlich gebender Ebene großen Auftrieb von Akteuren wie z.B. Heinrich von Treitschke oder etwas später Otto Weininger4. Einer weithin konsentierten Auffassung zufolge entstand er zwischen der Französischen Revolution und der Gründung des Wilhelminischen Kaiserreichs in Europa, lag ab etwa 1870 voll entwickelt vor und war fundamental nationalistisch geprägt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich der „rassen"-ideologische Antisemitismus, der jüdischen Menschen die Fähigkeit zur nationalen und kulturellen Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft abspricht und ihre kulturelle, soziale, religiöse und moralische Minderwertigkeit behauptet. Dabei erblickt man im Wirken des Judentums eine Schädigung nationaler und ethnischer Strukturen und leitet daraus die Notwendigkeit der Bekämpfung des Judentums ab (Holz 2001: 18). Wie W. Frindte festgestellt hat, ist der Formwechsel von Antijudaismus bzw. wie er schreibt „Judenhass" zu Antisemitismus nicht fein, sondern eminent, denn „während der Judenhass konkret war, ist der Antisemitismus abstrakt. Judenhass äußerte sich durch brutale Gewalt und im Totschlagen einzelner Juden. Der Antisemitismus hingegen bedeutet nicht weniger Gewalt, aber kalkulierte Gewalt gegen das Judentum und das jüdische Volk an sich. Das ist die eigentliche Banalität des Bösen" (Frindte 2006:16).

Gehen wir von der rassistischen Annahme aus, dass „die Juden" im modernen Antisemitismus als „Drahtzieher" aller wichtigen Positionen und Institutionen gesehen werden, dass das Judentum als wurzellos, international und vor allem als abstrakt anzusehen sei. Setzen wir weiter voraus, dass „den Juden" eine ungeheure Macht zugeschrieben wird, die Quelle dieser Macht als verborgen, als konspirativ gilt, dass sie dem antisemitischen Denken nach verantwortlich sein sollen für Kapitalismus und Sozialismus, für Liberalismus und Kommunismus, für Universalismus und Anarchismus, für Materialismus und Ausbeutung, für Intellektualität und Progressivität, für Delinquenz und Internationalismus, für Zersetzung, Aufstand und Revolution (Holz et al. 2009: 148). Die Legitimation von Antisemitismus wird hier aus dem phantasierten Handeln des ebenfalls phantasierten Feindes gezogen. Der Kampf gegen „das Böse" wird zur Gegenwehr deklariert. „die

Juden“ sind hiernach Täter, „die Völker“ Opfer. Antisemitismus wird als natürliche Abwehrreaktion und als Streben nach einem friedvollen Leben moralisch legitimiert. (ebd.)

Gehen wir schließlich davon aus, dass der heutige, oft als sekundär bezeichnete Antisemitismus sich nicht umstandslos an die aufgrund des Holocaust diskreditierten traditionellen Stereotype anschloss, sondern dass dieser, direkt mit der Vernichtung der Juden und der daraus resultierenden Schuldthematik verknüpfte Antisemitismus neue Antriebe und Argumentationsweisen aufwies, aber nicht alte Varianten der Judenfeindschaft ersetzte. Nehmen wir an, dass es sich um eine Variante handelt, der (vor allem in Deutschland) die Schuldfrage Struktur und Dynamik gibt und dass sie sich speist aus Schuldabwehr, Schuldminderung und Projektion, aus Schuldkontenbegleichung und aus einer Konstruktion des „schuldigen Opfers“, die sich (auch im Rest der Welt) von dem Urbild des „schuldigen Juden“ ableitet und schließlich aus der Projektion der „jüdischen Rache“ für die Shoa; der Unterstellung der Instrumentalisierung selbiger zum eigenen Vorteil sowie der weitergeführten Phantasie der machtpolitischen Verschwörung in Bereichen wie dem Finanzsektor, der Filmindustrie und intellektuellen Eliten. Mit diesen Vorannahmen lassen sich Verschränkungen aller drei Formen des Antisemitismus feststellen (ebd.).

1.2 Aktuelle Lage

Wir erleben in Reaktion auf die Eskalationen im Nahostkonflikt Wellen intensiver antiisraelischer Demonstrationen und Berichterstattung. Seit Jahren zeigt sich deutlich, dass sich Israel- und im gleichen Atemzug judenfeindliche Haltungen sowohl in den vom Konflikt betroffenen Ländern als auch im Milieu arabisch-muslimischer Diasporagemeinschaften finden und sich in verbalen und tätlichen Angriffen auf Juden und jüdische Institutionen äußern. Dies bedeutet eine Veränderung der politischen Landschaft des Antisemitismus in einer Reihe europäischer Länder, da wir es nun nicht mehr allein mit dem Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft zu tun haben, sondern sich auch interethnische oder interreligiöse Konflikte zwischen Minderheiten auftun (Kohlstruck/Klärner 2009: 240). Außerdem wird von manchen Instanzen das nicht Neue, aber Bemerkenswerte in der Wahl des Objekts gesehen: Israel sei zum „kollektiven Juden“ (Klug 2003: 117) unter den Nationen geworden, sodass der Antisemitismus nun in der Maske des Antizionismus bzw. der „Israelkritik“ auftrete. Allein die isolierte Existenz des Begriffs „Israelkritik“ (den ich seiner moralisch zweifelhaften Existenz wegen ablehnend in Anführungszeichen setzte; niemand hat jemals „Ruanda-Kritik“, „Serbien-Kritik“, „China-Kritik“ o.ä. als feste Begrifflichkeit eingeführt) zeigt auf, dass die Bewertung der Politik dieses Landes unter völlig anderen Maßstäben stattfindet als bei jedem anderen Land auf der Welt, und geht oft, und dann ist Kritik spätestens nicht mehr legitim, einher mit Dämonisierung und Delegitimierung. Neu ist, besonders in Deutschland aber genauso anderswo in der westlichen Welt, dass sich all diese vormals an den spektralen Rändern der Gesellschaft vorfindlichen Positionen heute weiter in die politische Mitte ausgedehnt haben und dort den bislang dominierenden vergangenheitsbezogenen, sekundären Schuldabwehr-Antisemitismus teils ersetzt haben, teils mit ihm so verknüpft werden, dass die „Israelkritik“ in Form des Täter-Opfer-Umkehrarguments zur Entlastung von der NS-Vergangenheit genutzt wird (Holz et al. 2009: 125f. Diese Erscheinung wird in der Forschung häufig mit „Antisemitismus wegen, nicht trotz Auschwitz“ beschrieben). Gessler schreibt, genauso wie der Holocaust weltweit zur Ikone des Bösen an sich geworden sei, so sei der Antisemitismus das weltweit kompatible Trugbild der Modernisierungsgegner, wobei die ursprünglich deutsche Sehnsucht nach Negation oder Relativierung der Shoa sich ebenfalls internationalisiert habe (Gessler 2004:128).

Der von dem Philosophen Taguieff vorgeschlagene Begriff „nouvelle judeophobie planétaire“ (2004) basiert auf der Vorstellung, die Probleme der Welt beruhten allein auf der Existenz des rassistischen Staates Israel; einer Idee, die seit der UN-Resolution 1975 gesellschaftsfähig ist, die Zionismus als Form von Rassismus brandmarkte. Damit gewinne diese Judeophobie eine neue Legitimationsbasis: War bisher Antisemitismus als eine Form des Rassismus bekämpft worden, so begründe sich die auf Israel bezogene Feindschaft mit den Geboten des Antirassismus. Eine seit 1989 weitgehend stabile Situation in Europa geht einher mit einer überhöhten Aktivität auf der Ebene von Meinungsäußerungen im öffentlichen Kommunikationsraum5, Propaganda und Übergriffen auf der Handlungsebene - ein Bild, das für Deutschland festzustellen ist sowie auch für andere nord­westeuropäische Länder wie die Niederlande, Groß Britannien und Schweden6. Das Sinken der Hemmschwelle, antisemitische Inhalte auch öffentlich zu verbalisieren (zumeist unter dem Verweis auf „Meinungsfreiheit“, was der Äußerung vermeintliche Legitimität verleiht: „man wird ja wohl noch sagen dürfen...") und die einhergehende Ausweitung des Sagbaren ist signifikant, denn dadurch verändert sich auch das Meinungsklima, was die Akzeptanz von Antisemitismen betrifft. Hier sind manifester und latenter Antisemitismus zu unterscheiden. Während der Terminus manifester Antisemitismus eher tradierte und zeitlich relativ stabile religiöse, säkulare und/oder politische verbalisierte Vorurteile gegenüber Juden bezeichnen soll, bezieht sich der Begriff des latenten Antisemitismus entweder auf mehr oder weniger unbewusste Vorurteile gegenüber Juden oder auf das Vermeiden, in öffentlichen Räumen die eigenen anti-jüdischen Vorurteile zu thematisieren. Bergmann und Erb haben in diesem Zusammenhang den Begriff Kommunikationslatenz (1986) eingeführt. Parallel zu diesen westeuropäischen Entwicklungen sind Fälle in Ländern Osteuropas bzw. der ehemaligen Sowjet-Satelliten zu beobachten, in denen neben allgemein judenfeindlichen Haltungen in großen Bevölkerungsteilen auch altbekannte antijudaistische Stereotypen wieder aufgewärmt werden und auf fruchtbaren Boden stoßen. Neuauflagen von Hetzschriften wie der „Protokolle der Weisen von Zion" finden etwa in weiten Teilen Russlands, in den ehemals sowjetisch beherrschten Ländern Asiens, in arabisch-muslimisch geprägten Ländern oder auch im Iran eine, alle wissenschaftlichen Beweise der Fälschung dieses Pamphlets negierende, begeisterte Leserschaft. Keineswegs aber bleibt die Wirkungsreichweite solcher Legenden auf diese Länder beschränkt, zumal von der mitteleuropäischen bis hin zur US-amerikanischen Bevölkerung Vorstellungen von jüdischen Drahtziehern, mächtigem „Finanzjudentum" bis hin zu machtpolitischen Verschwörungen weite Verbreitung finden7. An das christlich fundierte antijüdische Klischee, „die Juden" seien schuld am Tode Christus glauben noch immer 14% der Deutschen und je nach Fragestellung weisen zwischen 18% und 30% der Deutschen Juden eine Mitschuld an ihrer Verfolgung durch die nicht-jüdische Umwelt zu (Harms 2004: 23; 59, zit. n. Gessler 2004: 131). Im Jahr 2002 scheint es 36% der Deutschen verständlich, dass „manchen Leuten Juden unangenehm sind“ (Rensmann 2005: 492, zit. n. Gessler 2004: 132). Befassen genannte Studie sich mit deutschen Verhältnissen, korrespondieren die Ergebnisse weitgehend mit denen internationaler Erhebungen8. So kritisch die Ergebnisse solcher Studien in der Wissenschaft behandelt werden sollten, sei es weil sie durch den Mitteilungswillen oder -unwillen der Befragten, Suggestivfragen, unkalkulierbare Faktoren o.ä. leicht verfälscht werden können oder weil sie lediglich das Ausmaß und nicht das Wesen des Antisemitismus in einer Region oder Bevölkerungsgruppe erfragen oder weil Handlungslogiken von Akteuren „nur mittels der Mühen der Feldforschung“ (Kohlstruck/Klärner 2011: 9) aufgespürt werden können, sind sie keinesfalls zu negieren oder aussagelos.

Eine Verzahnung von Antisemitismus und Antiamerikanismus ist außerdem spätestens seit Beginn des „Kriegs gegen den Terror“ nach 2001 festzustellen, die sich ebenfalls häufig mit Antizionismus und Globalisierungskritik vermengt, wodurch sich auch hier Linke, Rechte und auch muslimische Positionen treffen können. Hier verbinden sich ursprünglich antisemitische Klischees („geldgierig, kapitalistisch, kulturlos, zersetzend, heimatlos, künstlich“ etc.) mit Antiamerikanismus und vereinen so eine Angst vor der Moderne, als deren Protagonisten Juden und US-Amerikaner gesehen werden (Gessler 2004: 127). Ob ein gewalttätiger, andere unterwerfender jüdischer Israeli oder ein faden­ziehender, ausbeutender amerikanischer Jude vorgestellt wird, heutige Anschuldigungen richten sich weniger gegen tatsächliche jüdische Mitbürger, sondern eher gegen „international und raubtierartig agierende, aggressive Juden des globalisierten 21. Jahrhunderts“ (Goldhagen 2004: 93f). Der Frage, inwiefern die Globalisierung Einfluss auf eine „Vernetzung des Antisemitismus“ bzw. eine Art von Poolbildung der verschiedenen, länderspezifischen Antisemitismus-Varianten durch erhöhten Informationsfluss und -austausch ausübt, hat Goldhagen vorgegriffen und den Begriff des globalisierten Antisemitismus eingeführt (ebd.). Dieser bezieht sich auf dessen unmittelbare globale Verbreitung durch das Internet, was den internationalen Gedankenaustausch von Judenfeinden ermöglicht, durch einseitige Medienberichte zum israelisch-palästinensischen Konflikt, durch die Verbindung von Elementen der europäischen Rechten und Linken und der Loslösung des Antisemitismus von seinen traditionellen Quellen, wodurch er in diversen Variationen „freischwebend“ und „gnadenlos international“ in die Basisstruktur der weltweiten Vorurteile eingedrungen sei (ebd.: 97).

1.3 Begründung der Relevanz innerhalb der Ethnologie

Die Ethnologie als akademische Disziplin hat sich im 19. Jahrhundert formiert, und zwar im Licht bzw. im Schatten der deutschen Nationalbewegung. Dies brachte mit sich, dass deren zentrale Begriffe „Volk“ und „Kultur“ für beide - für die Ethnologie wie für den völkischen Nationalismus - sinnstiftend waren. Die Ethnologie entlehnte dieser Zeit ihre philosophischen Grundannahmen und kann durchaus als ein „in wissenschaftliche Form gegossenes Abbild der Gesellschaft, ihrer Ideologien und Bedürfnisse“ betrachtet werden (Eisheuer 2010: 12).

Auffallend bei der Durchsicht der schier endlosen Flut sozial- und geisteswissenschaftlicher Theoretisierungen zum Thema Antisemitismus ist, dass die Disziplinen, die sich klassischerweise damit auseinandersetzen- Geschichtswissenschaft, Psychologie, Politologie, Literatur- und Kommunikationswissenschaften, Philosophie, Soziologie, die historische Theologie und auf interdisziplinäre Weise die Stereotypen- und Vorurteilsforschung - Ansätze produzieren, die selten über ihren jeweiligen spezifischen Kontext hinaus reichen9. Angesichts des extrem komplexen, auf vielfache Weisen vermittelten und in seiner Dialektik ambivalenten Gehalts des modernen Antisemitismus muss jede Antisemitismus-Theorie auf der Ebene einer Teilanalyse bleiben und als Gesamterklärungsansatz verkürzt erscheinen. Die differenten sozial-, gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Theorien befinden sich auf unterschiedlichen Abstraktions- und Relationsniveaus und könnten integrierende Momente für die Theoriegeschichte bilden. Anlehnend daran stellt sich die Frage, warum die Ethnologie als Sozial- und Kulturwissenschaft und besonders als Disziplin vom „kulturell Fremden“10 sich nicht stärker in die Forschung einbringt. Um das, was als „fremd“ empfunden wird zu untersuchen, kann man um den Globus reisen, aber man kann mindestens genauso gut der eigenen Gesellschaft einen Spiegel vorhalten, um die Grundfunktionsweise von Rassismus zu betrachten: Menschen als „fremd“ zu klassifizieren. Fremdheit ist ein relativer Begriff und ist untrennbar mit der Frage nach dem Eigenen verbunden, denn wo das Eigene endet und das Fremde anfängt, liegt nicht sofort auf der Hand. Ethnologen bewegen sich auf der Grenzen zwischen den Kategorien vom Eigenen und vom Fremden, weswegen man zu recht vom Grenzgang Ethnologie spricht (Haller 2005: 16ff) Der Antisemitismus kann aufgrund seiner langen Existenz und seiner vielfältigen Erscheinungsweisen als das Paradigma für die Erforschung von sozialen Vorurteilen und Gruppenkonflikten gelten (Benz et al. 2002: 15). Sowohl bezüglich des perspektivischen Programms der Ethnologie („emische Perspektive“) als auch bezüglich ihres praxisnah ausgelegten Methodenrepertoires, welches seit langem als Ethnométhodologie Anwendung und Anerkennung in den Sozialwissenschaften findet, wäre ein stärkerer Einbezug der Ethnologie in die allgemeine Rassismusforschung, wie auch spezifisch in die Antisemitismusforschung überaus vielversprechend. Allein die Ethnologie hat, im Gegensatz zu anderen Disziplinen der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften, eine für die interdisziplinäre Erforschung des antisemitischen Phänomens (wie überhaupt jedes Rassismus) weiterbringende Voraussetzung: Sie arbeitet auf der Basis interkultureller Vergleiche und Analysen und kann umfangreiche Kenntnisse der gesellschaftlichen und kulturellen Situationen anderer Kulturkreise bieten. So kann sie auf herausragende Weise zur Erforschung kulturübergreifender Phänomene wie der Differenzkonstruktion, dem Rassismus, dem stereotypen Ressentiment und dem Antisemitismus beitragen. Diese Voraussetzungen sollten das Fach meines Erachtens mehr als prädestinieren, aktiv und konstruktiv zur Rassismus- und Antisemitismusforschung beizutragen. Die Arbeit von S. Spülbeck (1997) ist bisher der einzige neuere ethnologische, auf einer Feldforschung beruhende Beitrag, der sich gezielt mit Antisemitismus auseinandersetzt; theoretisch angelegte Arbeiten sind zwar häufiger zu finden, befassen sich aber hauptsächlich mit den Verstrickungen der Ethnologie in den Nationalsozialismus11. Der Ethnologe F. Eisheuer bezeichnete jüngst die Ethnologie als „Gesellschaftsspiegel“ (Eisheuer op. cit.), für welchen Jüdische Studien wie auch Antisemitismusforschung als relevante Fachbereiche der empirischen Kulturwissenschaft bzw. der (europäischen) Ethnologie zu betrachten seien. Ich möchte mich dieser Einschätzung anschließen, dass die Ethnologie wiederum entsprechend profitieren würde, wenn Fremdheits-, Stereotypen- und Rassismusforschung stärker in die eigene kulturvergleichende Arbeit einfließen würde. Diese gehören zu den konstituierenden Prozessen jeder Gesellschaft und ein basales Einbeziehen selbiger kann zu einem grundlegenden Verständnis von Inklusions- und Exklusionsmechanismen, der Konstruktion von Feindbildern, gesellschaftlichen Umständen, Ängsten oder Bestrebungen und somit zum Gesamtverständnis von Kultur beitragen12. Die Ethnologie als Wissenschaft der menschlichen Kultur, die alle Formen sozialer Lebensbewältigung, -planung und -gestaltung erforscht und seit einiger Zeit ihren analytischen Blick nicht mehr auf das Nicht-Eigene beschränkt, hat fast sämtliche gesellschaftswissenschaftlichen Einzeldisziplinen als Subdisziplinen. Zudem sind die sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Fachbereiche und Anwendungsgebiete nicht immer klar abgrenzbar. Besonders die geistige Nähe von Soziologie und Ethnologie, die im englischsprachigen Raum entsprechend mit dem Begriff Social- bzw. Cultural Anthropology zusammengefasst werden, zeigt dies deutlich. Die Ethnologie kann mit ihren weitreichenden interkulturellen Vergleichen und einem fokussierten Blick auf interdependente gesellschaftliche Subsysteme den Anspruch einer interdisziplinären Grund- oder Leitwissenschaft „vom Menschlichen“ erheben, was für eine Öffnung der Fachgrenzen spricht (Müller 1987: 386). Hierfür möchte auch ich mich - zwar nicht kategorisch und um jeden Preis, jedoch dann, wenn es Sinn macht und Disziplinen einander bereichern und inspirieren können - klar aussprechen.

1.4 Begründung der Relevanz über die Fachgrenzen hinaus

Wie bereits erwähnt, kann der Antisemitismus aufgrund seiner langen Existenz und seiner vielfältigen Erscheinungsweisen als exemplarisches Phänomen für die Erforschung von Gruppenkonflikten, Differenzkonstruktionen und sozialen Vorurteilen gelten. Mit den gegenwärtigen Migrationsprozessen und mit der Neuformierung von Gesellschaften mit großen ethnischen Minderheiten in Europa, so der Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung Wolfgang Benz, wiederholten sich strukturell viele Konflikte und Problemstellungen, die aus der Geschichte des Zusammenlebens von Juden und Nicht-Juden bekannt seien. Deswegen sei die Antisemitismusforschung nicht beschränkt auf das spezielle Ressentiment und seine Wirkungen, sondern schließe die übergreifende Problematik von Rassismus, Vorurteil und Diskriminierung, Ausgrenzung von Minderheiten und Xenophobie mit ein. Daher habe die Antisemitismusforschung zum Ziel, umfassende Vorurteilsforschung zu sein, die grundsätzlich jedes Forschungsfeld einbeziehen könne, wenn es paradigmatischen Charakter habe (Benz 2001: 142ff). Komparative Studien hätten dementsprechend korrespondierend zur Methodenvielfalt einen hohen Stellenwert in der Antisemitismusforschung. In diesem Sinn müsse schließlich der Begriff des Antisemitismus erweitert und als Forschungsstrategie verstanden werden, die Phänomene in den Blick nehme wie die Verfolgung und Diskriminierung von Minderheiten (z.B. Sinti und Roma; „Asoziale“, bestimmte Migrantengruppen usw.), ausgrenzende Ideologien, die mit biologistischem Determinismus, Sozialdarwinismus, rassistischen antiegalitären Bestrebungen und ähnlichen Theoremen agieren. Sie suche Antworten auf komplexe Problemzusammenhänge und analysiere die vielfältigen Feindbilder und Vorurteile in politischem, sozialem und kulturellem Zusammenhang (ebd.).

Auch ich halte das Begreiflichmachen der Zusammenhänge von Aggressionen gegen Minderheiten, von Xenophobie bis Antisemitismus, für eine grundlegende Notwendigkeit, denn Einsicht in die Wirkungsweise des Vorurteils schafft die Voraussetzung zu verstehen, dass Feindbilder ausgrenzen und dadurch Gemeinsamkeit in der Mehrheitsgesellschaft stiften. Wie Benz schreibt, sei das Gefühl der Einheit, das Minderheiten zu angreifbaren und minderwertigen Fremden mache, nur sehr bedingt und äußerst einseitig ein positiver Wert. Wenn Juden als Fremde definiert, wenn Asylbewerber als Kriminelle diffamiert, wenn Menschen mit einer anderen Staatsangehörigkeit oder anderem kulturellen Hintergrund als den sozialen Frieden und Besitzstand bedrohend empfunden würden, dann spiegelten sich darin Aggressionen und Ängste der Mehrheit, die aufgelöst und überwunden werden müssten. Antisemitismus sei kein aus dem gesellschaftlichen Kontext zu isolierendes Vorurteil gegen eine bestimmte Minderheit: „Antisemitismus ist der Prototyp des sozialen und politischen Ressentiments und darum vor allem ein Indikator für den Zustand einer Gesellschaft" (Benz 2002: 20).

2. Das Vorhaben

Schon Sartre (I960, erstm. 1945) hat darauf hingewiesen, dass für den Antisemitismus nicht die historischen Tatsachen von Bedeutung sind, sondern die Vorstellung, die sich die historischen Akteure „vom Juden" gemacht haben. Anlehnend daran existiert die „imaginäre Gesellschaft" der jeweils eigenen Nation, Kultur oder Ethnie als eine Gruppe mit gemeinsamen Eigenschaften auch nicht unabhängig von den Prozessen, in denen jeweilige Merkmale als sozial bedeutsame Unterscheidungen behauptet und als kollektiv festgeschrieben werden. Vor dem oben beschriebenen Hintergrund soll im Rahmen dieser Magisterarbeit auf Basis der Kategorisierung von Rassismus-Arten nach W. D. Hund und des Antisemitismus-Theorems von K. Holz ein theoretischer Ansatz entwickelt werden, um ausgewählte Fallbeispiele zu untersuchen. Diese Arbeit verfolgt das Ziel, auf einer theoretischen Ebene ansetzend zur Entwicklung eines greifenden sozial- bzw. geisteswissenschaftlichen Paradigmas und zu Analysemitteln des Antisemitismus beizutragen. Unter Rückgriff auf postmoderne Ansätze, welche das Augenmerk besonders auf Konstruktionsbedingungen von Strukturen und theoretische Prinzipien der Identitätsbildung richten, soll untersucht werden, in welcher Form die antisemitische Denkweise Fremd- und Selbstbilder entwirft und aus welcher Motivation heraus sie dies tut, wenn wir Fremd- und Selbstbilder als identitätsstiftendes Moment verstehen, deren Grundsatzfunktionsweise auf der Ab- bzw. Ausgrenzung beruht (siehe 4.1). Die Analyse soll besonders darauf ausgelegt sein zu beantworten, inwieweit der Antisemitismus als Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit eine eigenwillige und extreme Form der Differenzkonstruktion und des Rassismus darstellt, bei dem sich je nach Setting und kulturspezifischen Umständen lediglich die inhaltlichen Argumentationen, also die Bilder von Fremdheit ändern, das Ausgrenzungsprinzip, die Stigmatisierung und die Sinnstiftung auf individuellerwie gesellschaftlicher Ebene jedoch stets denselben Zweck erfüllen.

Selbst in Büchern über den Nationalsozialismus wird, wie G. L. Mosse zurecht bemängelt, der Rassismus oft nur am Rande erwähnt. Dies veranlasst ihn zu fragen, wie man eine solche politische Bewegung und ihre Konsequenzen analysieren könne, ohne auf ihr Weltbild einzugehen und ihr Selbstverständnis zu erforschen (Mosse 2006: 26). Mich dieser Einstellung anschließend ,halte auch ich den Rassismus für den Schlüssel für das Verständnis jedweder (gruppenbezogenen) menschenfeindlichen Gesinnung. Daher sollen in dieser Arbeit auf der Basis sozial- und gesellschaftswissenschaftlicher Grundlagen rassismus- und antisemitismustheoretische Ansätze beleuchtet werden, um eine Konzeptualisierung zu entwickeln, die den vielschichtigen, komplexen Verschlingungen des Antisemitismus gerecht(er) werden kann (vgl. 1.3 und 1.4 sowie 4.2). Wie ich später noch ausführen werde, halte ich die Unschärfen des Rassismuskonzepts für ein Erkenntnishindernis, dem wir in den gängigen Theoriesträngen (Abschnitt 4.2) immer wieder begegnen: Der Vorstellung von Antisemitismus als Teil eines Syndroms, das nicht als eine spezifisch zu analysierende Theorie und Praxis begriffen wird, dem eine Weltanschauung zugrunde liegt in der Rassismus und Nationalismus auf seltsame Weise zu einer Art „Glaubenssystem“ verschmelzen (Mosse 2006: 20).

Explizit wird die anwendungsbegünstigende Zusammenlegung und Erweiterung zweier maßgebender solcher Konzepte angestrebt, um in der Anwendung auf internationale Fallbeispiele aufzuzeigen, dass eine klare Verbindung von Rassismus- und Antisemitismustheorie angemessen und notwendig ist. Um zu einem greifenden und anwendbaren Paradigma zur Erforschung, Erklärung und damit letztlich auch zur Bekämpfung des Antisemitismus beizutragen, halte ich es für unerlässlich, die theoretischen Vorannahmen und Konzeptionen der Vielschichtigkeit und Komplexität des Phänomens entsprechend zu gestalten. Darin begründet sich mein Ansatz, unterschiedliche Theorien auf einander aufbauen und profitieren zu lassen.

Als der Begriff der antisemitischen Semantik eingeführt wurde (s. 1) hieß es, dass dieser sich um ein immer wieder reproduziertes spezifisches Muster der Sinnkonstruktion im Antisemitismus dreht. Mit der Anwendung des noch zu erarbeitenden Analyserahmens auf unterschiedliche Fallbeispiele soll gezeigt werden, dass die Sinnstruktur der antisemitischen Semantik trotz höchst unterschiedlicher Kontexte nur in einem ausgesprochen schmalen Bereich variiert. Der oben erwähnte Mangel an ethnologischen Beiträgen zu diesem Themenkomplex führt dazu, dass für den Theorieteil dieser Arbeit hauptsächlich auf Beiträge aus benachbarten Disziplinen zurückgegriffen wird. Wo es möglich ist, werde ich jedoch auf das Thema betreffende Grundgedanken und Vorarbeiten aus der Ethnologie hinweisen. Der praktische Teil wird durch die Auseinandersetzung mit und den Vergleich von interkulturellen Fallbeispielen eine ethnologische Herangehensweise hinzufügen. Die Analyse antisemitischer Semantik wie sie hier geplant ist, kann als Analyse der emischen Perspektive von Antisemiten betrachtet werden. Im Verlauf dieser Arbeit wird besonders der Praxisteil aufzeigen, dass nicht nur das Untersuchungsfeld vollauf als ein ethnologisches einzustufen ist, sondern auch, dass die Ergebnisse eine weitergehende Einbeziehung der Ethnologie in die Rassismus- und Antisemitismusforschung regelrecht einfordern.

2.1 Fragestellung und Hypothesen

Auf folgende Forschungsfrage soll am Ende eine Antwort gegeben werden:

Welche Rolle spielt der Antisemitismus in der Differenzkonstruktion, wenn diese als identitätsstiftendes Prinzip aufzufassen ist und ein antisemitisches Judenbild bzw. ein antijüdisches Fremdbild nur als Gegenbild zum kollektiven Selbstbild analysiert werden kann, durch welches sich eine Wir-Gruppe durch Sinnkonstruktion und -selektion konstituiert?

Für die geplanten Fallanalysen ergeben sich daraus folgende Unterfragen:

- Welcher Sinngehalt wird durch die Entgegensetzung einer Wir-Gruppe zu einer jüdischen Fremdgruppe konstruiert?
- Was konstituiert diese beiden Personenkollektive, was unterscheidet sie?
- Werden die Kategorien „Eigen“ und „Fremd“ bzw. deren Vermischung thematisiert?
- Welche Konsequenzen ergeben sich daraus, wenn die Wir-Gruppe als Einheit („Volk“, „Nation“, gar „Rasse“ u.Ä.) in Differenz zu „den Juden“ dargestellt wird?
- Worin liegt die angenommene Gefährlichkeit „der Juden“?
- Ergibt sich ein Bedrohungsszenario für die Wir-Gruppe?
- Werden diese Zuschreibungen und Bewertungen in eine Weltanschauung13 integriert?
- Wenn ja, mittels welcher Mechanismen?

Hierbei gehe ich von der Hypothese aus, dass es sich beim Antisemitismus in all seinen historischen wie regionalen Ausprägungen stets um das gleiche Phänomen handelt - nämlich, jenseits von jedem Erklärungs- bzw. Rechtfertigungsmuster, um Sinnkonstruktion durch die kategorische Verteufelung einer spezifischen, zum prototypischen Anderen stilisierten Menschengruppe zur Positionierung des kulturellen Selbst. Diese Auffassung lässt sich besonders in Anlehnung an B. Beer äußern, nach der Rassismus immer Mittel zum Zweck und letztlich selbst eine Form von Ethnizität ist (Beer 2002: 368f). Weiterhin stelle ich folgende Unterhypothesen auf: 1) dass sich die zu betrachtenden antisemitischen Vorfälle in aller Deutlichkeit als Rassismus ausweisen lassen; 2) dass es zur Grundkonstruktion antisemitischer Judenbilder gehört, „die Juden“ als Täter und die eigene Wir- Gruppe als Opfer darzustellen; 3) dass entsprechend dem noch vorzustellenden Theorem von K. Holz „die Juden“ in antisemitischen Zusammenhängen gerade nicht wie die anderen Völker verstanden werden, sondern als ungreifbares, unfassbares Drittes, als eine zusätzliche Instanz zwischen Eigen und Fremd konzipiert werden. Die inhaltliche Stringenz dieser Hypothese wird in 4.4 spezifiziert. Die von mir gewählten Analysemittel (siehe 5.1) dienen überdies dem Durchbrechen des Modus, in welchem Forschungen zu Antisemitismus stets stattfinden: Man analysiert die jeweilige Situation (historisch, gesellschaftlich, sozial, ökonomisch etc.) und leitet daraus Motivationen und Begründungen für Angriffe oder Ausschreitungen ab. Diese Erklärungen funktionieren kausal und situativ, reichen aber über diese Situationshaftigkeit nicht hinaus und lassen den Kern des Phänomens verschleiert. Meine Annahme ist es, dass sich bei jeder Veränderung der äußeren Gegebenheiten zwar gegebenenfalls die Rhetorik, die spezifische Legitimationsstrategie u.a. ändert, nicht aber die Struktur der judenfeindlichen Denkweise selbst. Ebenso, wie man bezüglich der Geschichte des Umgangs mit Juden in Europa von einem Unterschied zwischen Antijudaismus und Antisemitismus ausgeht, bezeichnet dies eine Veränderung in der Benennung von Wahrnehmung, jedoch nicht die grundsätzliche Veränderung der Wahrnehmung selbst.

2.2 Fallbeispiele

Der Versuch, Gruppen- bzw. Identitätsbildungsprozesse wie auch Gruppenkonflikte allgemein und umfassend oder gar mittels eines einzelnen Ansatzes zu erklären, hat notwendig Verallgemeinerungen und problematische Verkürzungen zur Folge. Je nach Gesellschaftsform existieren nach sozialwissenschaftlichen Identitätstheorien mehrdimensionale Typologien von Identitätsformen und -konstruktionsprozessen. Die einzelnen Typen unterschieden sich sowohl hinsichtlich der Abgrenzungsmodi anderen Kollektiven gegenüber, als auch hinsichtlich des Umgangs mit internen identitären Differenzen14. Da das Beantworten der Fragestellung im Rahmen dieser Magisterarbeit nicht in repräsentativem Umfang möglich ist, wird ein stichprobenartiges Herausgreifen aufschlussreicher bzw. für die zu beantwortende Frage relevanter interkultureller Beispiele stattfinden, die in ganz unterschiedlichen Kontexten situiert sind, aber das Prinzip der komplexen, sozial differenzierten, verstaatlichten Form von Gesellschaft gemeinsam haben.

Zumal der Antisemitismus als dynamischer Prozess zu verstehen ist, dessen Ausprägungen und Äußerungen sich nicht nur regional, sonder auch historisch verändern und an Bedingungen anpassen, wird Wert darauf gelegt, auch ein historisches Beispiel heranzuziehen, um diese Prozesshaftigkeit zu verdeutlichen. Hierfür eignen sich besonders Vorkommnisse um die Haskala bzw. die sog. Emanzipation der Juden im Deutschland des 19. Jahrhunderts, welche aufgrund der parallelen Entwicklung der „Rassen"-Theorie im Zusammenspiel mit der Angst der Mehrheitsbevölkerung, „die Juden“ aufgrund ihrer Assimilation nicht mehr von sich unterscheiden zu können, in der Rassisierung mündete. Danach werde ich die aktuelle Entwicklung antisemitischer Tendenzen im post­Sowjetischen Ungarn beleuchten, wo sich, ähnlich wie in anderen Ländern der Region, christlich motivierter Antijudaismus, pseudowissenschaftlicher rassistischer Antisemitismus, Post-Holocaust­Antisemitismus und antizionistischer Antisemitismus gegenseitig befeuern15. Eine interessante Zwischenstufe in der Geschichte stellt der Fall Japans dar, wo Antisemitismus fast gänzlich ohne jüdischen Bevölkerungsanteil Fuß fassen konnte und der Ausdruck „Antisemitismus ohne Juden“ (Lendvai 1971) originäre Verwendung findet. Ein Beispiel des Antisemitismus im muslimischen Kulturraum, die Art seiner Verbreitung und die Verknüpfungen, die er mit dem israelisch­palästinensischen Konflikt eingeht, soll ebenfalls betrachtet werden. Diese Ausprägung des Antisemitismus verfügt über nicht zu unterschätzendes Potential der Einflussnahme auf die entsprechenden Diasporagemeinschaften außerhalb des muslimischen Kulturraums. Wie er eine Verbindung eingeht mit dem, nicht mehr als sekundär16 zu bezeichnenden Antisemitismus in westeuropäischen Gesellschaften - hier am Beispiel der Niederlande - soll exemplarisch aufgezeigt werden, da beide sich gegenseitig beeinflussen und inspirieren. Besonders hinsichtlich des Versuchs, eine ethnologische Betrachtungsweise stärker in die Antisemitismusforschung einzubringen, halte ich es für sinnvoll, in den unterschiedlichen regionalen Settings auch unterschiedliche Ausdrucksformen von Kultur zu betrachten: Von Ritualmordvorwürfen über öffentliche Hasspropaganda zu politischen Zwecken, von literarischem Antisemitismus und wirtschaftlichen Verschwörungstheorien über dämonisierende Fernsehproduktionen und tätliche Angriffe - denn die Form des Ausdrucks verrät viel darüber, wie Antisemitismus als Bestandteil der jeweiligen Kultur in diese integriert ist.

2.3 Theoretischer Hintergrund und Stand der Forschung

Der Bereich der Antisemitismusforschung ist durch seine Interdisziplinarität schwer überschaubar und speist sich aus ganz unterschiedlichen Ansätzen. Keineswegs sollen diese alle behandelt werden, was ohnehin kaum möglich wäre; um eine Einführung in die hier relevanten Ansätze wird sich der Theorieteil dieser Arbeit bemühen. In diesem Abschnitt soll neben der kritischen Sichtung einiger Forschungsmethoden ein Überblick über Tendenzen der für das Vorhaben wichtigen Paradigmen gegeben werden.

Wie eingangs festgestellt wurde, haben sozial-, gesellschafts- bzw. kulturwissenschaftliche Beiträge zur Antisemitismusforschung stark nachgelassen. Nach den wegweisenden Studien zur Kritischen Theorie bzw. zur Dialektik der Aufklärung von Adorno/Horkheimer et al. (erstm. 1947), E. Simmel (erstm. 1946), den Beiträgen von Sartre (erstm. 1945), Parsons (erstm. 1942) und Arendt (erstm. 1951) hat, von kleineren Arbeiten abgesehen, die sozial- und geisteswissenschaftliche Antisemitismusforschung erst in den 1980er und 1990er Jahren wieder Auftrieb erfahren. Die genannten Ansätze waren besonders auf individual- und massenpsychologische Erkenntnisse17 und sozioökonomische Dimensionen (besonders Pariah- oder Middleman-Minority-Erklärungen) ausgelegt. Demgegenüber verfolgten Autoren wie Postone (1982), Claussen (1994a), Poliakov (1993) Schoeps/Schlör (1995) oder Bauman (1992; 1995; 1998) neben der an die Tradition der Kritischen Theorie anknüpfenden Verschränkung von psychologischer und soziologischer Antisemitismus­forschung das Ziel, eine ideologie- und gesellschaftskritische Perspektive in ihre Theorien zu integrieren. Auf den Zusammenhang von modernem Antisemitismus und Nationalismus wurde bereits hingewiesen: Sich zugehörig fühlen zu einer kategorialen Gemeinschaft, die in der neuzeitlichen Welt zumeist durch die Nation definiert wird, verlangt nach dem Ausschluss Nichtzugehöriger (siehe 4.1). Die Forschung zu beiden Phänomenen und ihrer Verbindung hat sich lange darauf konzentriert, Phasen und Typen beider Erscheinungen zu unterscheiden und einander zuzuordnen. Dabei spielte der Bruch zwischen „traditionellem Judenhass“ und „politischem Antisemitismus“ eine große Rolle. Die Typen der Judenfeindschaft entwickelte man synchron zur politischen Geschichte, wobei es zweitrangig blieb, ob man eher Kontinuitäten oder Diskontinuitäten betonte. Entsprechend des hier gewählten Ansatzes halte ich es für notwendig, klar zu machen, dass „der Nationalismus immer bereit“ war, „verschiedene Formen von Xenophobie zu übernehmen“ (Alter et al. 1999: 266), denn diese hat eine Funktion sowohl in dem kognitiven Prozess, die Nation zu definieren, als auch bei der Integration verschiedener und häufig entgegengesetzter sozialer Elementen in die Gesellschaft (ebd.). Damit kreuzen wir Bereiche der Rassismustheorie.

Der Soziologe W.D. Hund hat in seinem Standardwerk zum Rassismus (2007) ein Schema existierender rassistischer Konstruktionen bzw. Zuschreibungen von In- zu Outgroup erarbeitet, wonach der Rassismus unterschiedlich konstruierte Grundlagen-Kategorien für Diskriminierung bietet. Diese werden jedoch keineswegs als für eine unterschiedliche „Natur“ des jeweiligen Phänomens sprechend interpretiert, sondern im Gegenteil als verschiedenartiges Ausleben ein und desselben Phänomens begreiflich gemacht; daher erscheint mir dieser Ansatz besonders geeignet, um die Beantwortung der genannten Forschungsfrage einzuleiten.

Es soll aufgezeigt werden, dass der Antisemitismus aufgrund der Anwendbarkeit aller von Hund aufgestellten Gegensatzkategorien, die zwischen einer diskriminierenden und einer diskriminierten Gruppe zur rassistischen Verunglimpfung konstruiert werden können, nicht etwa eine spezielle Art, sondern ein „Extrem“ der Differenzkonstruktion und des Rassismus darstellt. Dies strebe ich an, weil die fehlende einheitliche Differenzierung von Xenophobie, Rassismus und Antisemitismus ebenso verkürzend ist wie die Reduktion antisemitischer Semantik auf die Personifikation von Abstraka. Auch wenn dies oftmals ihre Erscheinungsform ist, wird so je nach Theorieansatz lediglich ihr Kontext bestimmt - Krisen, Unbewusstes, Kapital, Gesellschaftsstruktur - ohne sie als relativ eigenständige, kulturelle Dimension des Sozialen zu analysieren. Sicherlich steht die antisemitische Weltanschauung in solchen Relationen, aber durch Rückführung der antisemitischen Semantik auf die Kontexte in denen sie auftritt wird nicht geklärt, was genau kommuniziert, wird sondern lediglich, welche Funktion die Semantik hat und mit welchen psychischen oder sozialen Phänomenen sie korrespondiert.

Anhand dieser Diskrepanzen soll zur Antisemitismus-Theorie von K. Holz (2001) übergeleitet werden, der dem klassischen Eigen vs. Fremd-Schema des Othering18 die Figur des Dritten hinzufügt. Diese hat Holz gezielt für die projektive Figur des „Juden“ entworfen. Sie ist nah an der, in den letzten Jahren verstärkt ins Interesse der Gesellschafts- und Sozialtheorie gerückten Mediator- oder Beobachterfigur des Dritten angesetzt (siehe hierzu Essbach 2000), kann angesichts deren Fülle an möglichen Aspekten und Funktionen jedoch durch Konkretisierung auf ihren Forschungsgegenstand überzeugen. Sie sei nach Holz analytisch notwendig, da „die Juden“ im antisemitischen Denken gerade nicht wie andere Völker als partikulare Identitäten verstanden würden, sondern vielmehr als Dritte zur Unterscheidung zwischen der Wir-Gruppe und den anderen Nationen konstruiert würden. Dieser Ansatz wird noch ausführlich elaboriert werden und das gedankliche Fundament der Arbeit bilden.

Hinzuweisen ist noch auf die Arbeiten von S. Volkov (2000, 2001), die Antisemitismus nicht nur als tradiertes Feindbild, sondern als kulturellen Code begreiflich macht. Die Arbeiten von S. L. Gilman, G. L. Mosse und W. Wippermann19 zeigen ausführlich, dass es nicht um das spezifische Bild des jeweiligen „Fremden“ geht, sondern um eine Projektion - um eine „Ausgrenzung des Nicht­identischen im Antisemitismus“ (Hödl (Hrsg.) 1996: 24). Die Inhalte von Alterität wechseln, nicht aber ihr Stellenwert und ihre Funktion; hier befindet sich die Schnittstelle zwischen dem theoretischen Hintergrund und der dargelegten Fragestellung. Diese und weitere Ansätze werde ich in die Abschnitte 4.2 und 4.3 einbetten und weiter ausführen.

Hauptteil „Die duale Trennung muss man machen. Das ist unausweichlich. Wir haben nicht die Option Zusagen: das wollen wir nicht, das schaffen wir ab. Möglich ist nur, diesen Zwang des Unterscheidens zu reflektieren. (...) Identitätswahn ist die verweigerte Reflexion darauf, dass Identität durch Unterscheiden konstruiert wird." (Holz et al. 2009: 138)

3. Grunddefinitionen relevanter Begriffe und was genau ist Antisemitismus?

Es ist festzustellen, dass auf kaum einem Themengebiet der Gesellschaftsforschung die Verwendung und Definition der jeweiligen Kernbegriffe so uneinheitlich ausfällt wie in der Vorurteils-, Rassismus-, und Antisemitismusforschung. Dies mag verschiedene Gründe haben: die jeweiligen historischen Hintergründe der Länder, denen die Forschenden entstammen; die unterschiedliche Rezeption dieser Hintergründe und daraus ggf. resultierende sprachliche oder anderweitige Tabus und Konventionen; die unterschiedlichen fachlichen Prägungen und Traditionen in der interdisziplinären Forschung und die sich daraus ergebende Unübersichtlichkeit; aber auch die mehr oder weniger kritischen Absichten des jeweiligen Forschers.

In den europäischen Theorien und Debatten werden zumeist Umschreibungen wie negative ethnische Vorurteile, Ethnozentrismus oder negative Stereotypen verwendet, während der Rassismusbegriff v.a. in der amerikanischen und angelsächsischen Forschung dominiert20. Vorurteile werden oft synonym mit Verzerrung (bias) des Weltbildes verwendet, die eine motivierende Kraft auf diskriminierende Handlungen ausübt und diese legitimiert. Entgegen der europäischen Tendenz möchte ich dafür plädieren, den Antisemitismus, über dessen genaue Einordnung in derartige Kategorien noch immer keine Einigkeit besteht, seiner Struktur, Funktion und seines Sinngehalts nach zweifelsfrei als Rassismus zu deklarieren. Dies überzeugend nachzuweisen wird ein Anliegen des Analyseteils dieser Arbeit sein. Einige basale Begrifflichkeiten und deren Abgrenzungen sollen nun geklärt werden. Eine grundlegende Variante der Differenzkonstruktion ist der Ethnozentrismus:

Zick (1997: 40, nach Triandis 1994) beschreibt diesen als Phänomen der Ingroup-Aufwertung und Outgroup-Abwertung, wonach Menschen die Tendenz zeigen, das, was in ihrer eigenen Kultur geschieht, als natürlich und richtig zu bezeichnen und das, was in anderen Kulturen geschieht, als unnatürlich und nicht angemessen. Dies meint u.a., die Gebräuche der Ingroup als universalgültig wahrzunehmen („was gut für uns ist, muss auch für alle anderen gelten“); zu denken, dass die Ingroup-Normen, -Rollen und -Werte offenbar und unumstößlich richtig sind; zu glauben, dass es natürlich sei, Mitgliedern der eigenen Gruppe zu helfen und mit ihnen zu kooperieren; so zu handeln, dass die eigene Gruppe bevorzugt ist; stolz auf die Ingroup zu sein; oder auch feindselig gegenüber Outgroups zu sein (ebd.). Dies wird von einigen Wissenschaftlern in Anlehnung an Lévi-Strauss als allgemeine, in allen Gesellschaften vorhandene Einstellung konstatiert21. Allerdings wird auch immer wieder auf Alternativen zu der Annahme verwiesen, die ethnozentrische Perspektive sei die einzige Sicht auf Fremdgruppen (z.B. Antweiler 1998). Zur Klärung dieser Frage beizutragen, obliegt nicht dem Anspruch der vorliegenden Arbeit; einigen wir uns daher mit und nach Antweiler darauf, dass die ethnozentrische „die universal dominante“ (vgl. ebd.: 56) Perspektive darstellt. Aber:

„Wie die historisch und vergleichend verfahrende Anthropologie und Soziologie zeigen, finden tatsächliche Grenzziehungen zwischen Kollektiven nach ganz unterschiedlichen Modi statt. Potentialität und Aktualität von Ethnozentrismus sollten also nicht verwechselt werden. Und auch die Verwechslung zwischen Universalität und Legitimität von Ethnozentrismus sollte man vermeiden. Der empirische Befund weltweiter Ethnozentrismen muss keinesfalls dazu führen, dass man sie billigend hinnimmt"(Kerner 2009: 157).

Das Ausmaß des Ethnozentrismus ist durch die Vergleichsdimension (Status, Prestige, etc.) und die Position derjeweiligen Gruppen determiniert.

Aufbauend auf ethnozentristischen Tendenzen können Stereotypen entstehen. Stereotypen können gefasst werden als verallgemeinernde Charakterisierungen sozialer Gruppen, die sich auf wenige einzelne, oft hochstilisierte Eigenschaften beziehen (nach Beer 2002: 42). Auf Stereotypen basierend können wiederum Vorurteile gebildet werden, die im Allgemeinen als negative und ungeprüfte Bewertungen sozialer Gruppen beschrieben werden. Stereotypen und Vorurteile können sich bei empfundenem Anlass zu Ressentiments entwickeln und schließlich zu geschlossenen Feindbildern verdichten, die als Bestandteile politischer Ideologien instrumentalisiert werden und eine hohe integrative Kraft haben. Dieser Prozess lässt sich beschleunigen durch Propaganda oder andere Einwirkung auf die öffentliche Meinung und dient der Ab- und Ausgrenzung wie auch der Selbstbestätigung, und zwar auf der Empfängerseite wie bei den Äußernden der Ressentiments (Benz 1996: 7f). Benz beschreibt Vorurteile als Katalysatoren für individuelle und kollektive Frustrationen und Aggressionen. Er nennt drei Wirkungszusammenhänge bei Aufbau und Nutzung von Feindbildern: Selbstbestätigung und Ausgrenzung; Schuldzuweisung und Sinnstiftung; Angst und Realitätsverweigerung (ebd.). Der Begriff des Vorurteils berührt den der Xenophobie, der die Furcht vor dem Fremden meint und umgangssprachlich oft mit „Fremdenfeindlichkeit“22 gleichgesetzt wird. Diese verstehe ich als diffuse, eher unkonkrete Ablehnung anderen Kulturen oder Nationalitäten gegenüber, die aber nicht die Tragweite, die Verbohrtheit und Gezieltheit ihrer sinnverwandten Begriffe aufweist. Wichtiger ist allerdings hier, dass es, wie wir im Kapitel zu Holz' Antisemitismustheorem und im Analyseteil sehen werden, einen grundlegenden Unterschied gibt zwischen der Konstruktion der eigenen nationalen Identität durch xénophobe Abgrenzung von anderen nationalen Identitäten, und durch antisemitische Abgrenzung von der Nicht-Identität des Jüdischen. Diese Abgrenzungen funktionieren strukturell unterschiedlich, und genau diese Tatsache wird später die Analyse orientieren.

Folgende wesentliche Indikatoren machen Vorurteile nach Benz (1996: 9) aus: 1. Die negative Bewertung, die 2. durch die ethnische Zugehörigkeit der Person, gegen die sich die Vorurteile richten, hervorgerufen wird und nicht durch deren persönliche Qualitäten, 3. stellen Vorurteile eine negative Prädisposition zur Reaktion auf bestimmte Personen und/oder Gruppen dar.

Hochkonjunktur haben zu Feindbildern verdichtete Vorurteile in Situationen vermeintlicher oder tatsächlicher Bedrohung, unter Sinnkrisen und sozialem Stress und in Phasen des Umbruchs. Sie entstehen häufig aus Frustration oder Angst, sie schaffen die Voraussetzung für Aggressionen, in letzter Konsequenz für gewaltsame Konfliktlösungsversuche, für Krieg. Den Gefühlen xenophober Abscheu korrespondiert die Überzeugung der eigenen moralischen Überlegenheit, aus der Selbstbestätigung und Strafgewalt abgeleitet werden. Dies dient dann der Legitimierung kriegerischer bzw. gewalttätiger Handlungen. Integration über Feindbilder bedarf aber nicht zwingend äußerer Feinde; Minderheiten und Randgruppen der eigenen Gesellschaft können genauso dafür herhalten. Dafür ist es notwendig, sie erst zu Fremden zu machen, damit sie die Funktion der ausgegrenzten feindlichen Minderheit für die daran Interessierten wahrnehmen können. Fremdbilder dienen vor allem dazu, Selbstbilder zu konturieren; durch die Abgrenzung zu ihnen können Wir-Gruppen erst erzeugt werden. Wie Zick postuliert, ist der gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismus bzw. die damit verbundene Ideologie ein zentrales Element, das Rassismus von Vorurteilen unterscheidet. Er bezeichnet „Rassismus als kollektive Umgangsform, mit der eine ganze Gruppe oder Gesellschaft andere Gruppen nach ethnischen Kriterien behandelt“ (Zick 1997: 41). Rassismus sei ein sozio-semantisches Phänomen und eine Machtrelation, gleichzeitig auch ein Bedeutungsbündel; er könne praktisches Verhalten meinen sowie ein politisches Projekt, eine persönliche oder gesellschaftliche Ideologie, eine juristische Struktur oder auch den Horizont eines Staates (ebd.). Er impliziere Wahnvorstellungen, die „in den Rang von mit einer wissenschaftlichen Aura umgebenen Dogmen erhoben worden" sind (Poliakov et al. 1984: 45) und sei „eine Haltung, die sich einen Grund >erschafft<, indem sie offensichtlich nur der Einbildung entsprungene >rassische< Unterschiede erfindet, mit denen dann alle anderen eingebildeten oder tatsächlichen Unterschiede in Verbindung gebracht werden" (ebd.: 37, Hervorh. im Orig.).

Nach E. Balibar ist „die rassistische Denkweise eigentlich eine Produktionsweise der >eigenen Gemeinschaft<, der rassistischen Gemeinschaft, und zugleich eine Interpretationsweise der sozialen Welt, in der diese Gemeinschaft situiert werden kann" (Balibar 1991: 184, Hervorh. Im Orig.).

Eine gründlichere Vorstellung des Rassismus, seiner Komplexität inklusive eines Plädoyers für die Annahme von Rassismus unabhängig von einem Konzept menschlicher „Rassen“, was in die verworrene Debatte um seinen Begriff übergeht, werde ich im Abschnitt zur Rassismustheorie (4.3) liefern; für die erstinstanzliche Definition soll dies genügen. Der Nationalismus, der auf den ersten Blick eigentlich nicht in die Reihe der hier aufgeführten Begriffe der Ausgrenzung gehört, erhält hier trotzdem einen Platz, weil er im Zusammenhang mit modernem Antisemitismus von Belang ist. Wie Mummendey/Simon (1997: 132) feststellen, werde beim Nationalismus die innergesellschaftliche Homogenität der Mitglieder einer Nation hinsichtlich verschiedener Kategorien angestrebt, was ihn u.a. vom Patriotismus unterscheide. Damit seien die Ablehnung von Verschiedenheiten zwischen den Mitgliedern einer Nation, ein obrigkeitsorientiertes Verhältnis zwischen politischem Staat und Individuum sowie die Idealisierung und Überbewertung der eigenen Nation verbunden. Auf psychologischer Ebene wird Nationalismus von den Autoren als idealisierte Einstellung des Einzelnen gegenüber seiner Nation begriffen. Eine solche Einstellung sei mit Überzeugungen der eigenen nationalen Überlegenheit, der Bereitschaft zu unkritischer Akzeptanz der nationalen, staatlichen und politischen Autoritäten und mit stereotypisierten Abwertungen innergesellschaftlicher Minderheiten und anderer Nationen verknüpft, was auch die These Spiewaks (2006: 37) unterstützt, dass Nationalismus sich in wohl jedem Fall mit Xenophobie verbindet.

Zusammenhängend damit geht nationale Identität für die vorliegende Fragestellung und in ihrer Beziehung zum (nationalen) Antisemitismus weit über eine bloß politische Bedeutung hinaus und bezeichnet nach Holz vielmehr das Selbstbewusstsein der Gemeinschaft eines Volkes, zusammengehörig zu sein (Holz et al. 2009:118); so soll der Begriff auch hier verwendet werden.

Wie deutlich geworden sein sollte, sind die Übergänge zwischen Stereotypen, Vorurteilen und Rassismus durchaus fließend, bauen aufeinander auf und können zueinander angeordnet werden: Mit und nach Zick ( 1997: 47f) bilden Stereotype den weicheren Pol, während Rassismus als schwere gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierung das andere Extrem ausmacht. Vorurteile beruhen auf ethnozentristischen Tendenzen und sind Transformationen von Stereotypen, welche die Grundlage für rassistische Einstellungen bilden, weil sie auf einer kategorialen Differenzierung zwischen Gruppen (z.B. nach „biologischen“ oder kulturellen Kriterien) basieren können. Vorurteile müssen demnach nicht unbedingt zur Diskriminierung führen, und umgekehrt muss Diskriminierung nicht aus Vorurteilen resultieren, sie kann allein durch institutionelle Restriktionen bedingt sein, sie kann bewusst und unbewusst stattfinden und aus individuellen oder kollektiven Begründungen motiviert sein.

Dass der Antisemitismus eine Sonderstellung unter den Vorurteilen einnimmt, ist etwa im deutschen Alltag ständig sichtbar in den zumeist fest eingerichteten polizeilichen Bewachungen jüdischer Einrichtungen, Personen, Veranstaltungen und Symbole, die in dieser Form lange allein für „Jüdisches“ existiert haben. Alle verschiedenen Definitionen und Sub-Differenzierungen des Antisemitismus auf die wir bereits getroffen sind und noch treffen werden, haben einen zentralen Aspekt gemeinsam:

„'that the hostility is directed towards Jews ,as Jews', or towards Jews,because they are Jews', or towards Jews because of their actual or perceived religious or racial background or identification'. Es gehtschlechterdings urn dieJuden alsJuden" (EUMC 2004: 12, zit.n. Frindte 2006: 21).

Mit dem Begriff Antisemitismus sind hier all jene Konstruktionen gemeint, mit denen Nichtjuden Juden als Juden zu diskriminieren und zu diffamieren versuchen, um ihnen die Rechtmäßigkeit ihrer Existenz als Mitglieder sozialer Gemeinschaften abzusprechen.

Moishe Postone (1982: 15) stellt zu Beginn seiner Analyse des modernen Antisemitismus fest, dass bestimmte Aspekte der Ausrottung des europäische Judentums so lange unerklärlich bleiben müssten, wie der Antisemitismus als bloßes Beispiel für Vorurteile, Fremdenhass und Rassismus im Allgemeinen behandelt werde; also so lange, wie der Glaube fortbestehe, dass Antisemitismus lediglich ein Beispiel für Sündenbockstrategien (siehe 4.3) sei, deren Opfer austauschbar seien. Alle in der Shoa zum Ausdruck gekommenen Monstrositäten in Qualität und Quantität außen vor gelassen, die hier zu diskutieren weder moralisch noch rahmenmäßig Raum ist23, unterscheide sich der Antisemitismus nach Postone nicht nur in seiner offenbar über jedes historische und kulturelle Setting erhabenen Wiederkehr klar vom xenophoben Vorurteil. Auch die dem jüdischen Anderen zugeschriebene Macht, die als „mysteriöse Unfassbarkeit, wurzellose (...) und ungeheuer große Abstraktheit und unkontrollierbare und konspirative (...) Allgemeinheit“ (Postone 1982: 15f) phantasiert wird, dichtet dem klassischen Feindbild noch die zusätzliche Dimension der Undefinierbarkeit, der Unfassbarkeit an. Postones Einschätzung dessen, dass der Antisemitismus eine eigene Qualität in Sachen Menschenhass darstellt, möchte ich mich umstandslos anschließen, allerdings entbindet uns dies nicht von einem zumindest groben Definitionsversuch:

Nach Zick lässt sich der aktuelle, moderne, sekundäre24 oder auch globalisierte Antisemitismus in seinen Merkmalen wie folgt definieren (Zick 2010: 227ff):

1. Antisemitismus entspricht einer generalisierten, affektiven, kognitiven und/oder verhaltensorientierten Abwertung von jüdischen Personen und Judentum, weil sie als Mitglieder der Gruppe der Juden wahrgenommen werden. Allerdings hat der Antisemitismus weder mit dem Bekenntnis zum jüdischen Glauben noch mit dem Judentum selbst als Religion und Kultur oder aber mit ihren Anhängern etwas zu tun, wohl aber mit der Mehrheitsgesellschaft, die ihn hervorbringt. Antisemitismus kann Grundlage einer Bewegung sein, wie auch eine individuelle Einstellung. Er ist immer sozial, d.h. Individuen sind antisemitisch, weil sie sich mit einer Gruppe identifizieren, die sich von Juden und deren Kultur abgrenzt. Er drückt eine kollektive Feindseligkeit aus, wie andere Vorurteile auch.

2. Antisemitismus kann sich in vielen unterschiedlichen Facetten äußern. Der Unterschied zwischen einem offenen, direkten Antisemitismus und versteckten, subtilen Formen ist besonders relevant, weil letztere versuchen, offizielle Normen der „Äußerbarkeit" zu umgehen, indem sie sich als Urteile, nicht als Vorurteile darstellen (Herv. im Orig.). Dabei hängen traditionelle und moderne versteckte Ausdrucksformen oft eng zusammen und viele moderne und scheinbar harmlose antisemitische Einstellungen rekurrieren auf traditionelle religiöse Mythen („Christus- und Gottesmörder"), weltliche Mythen („Finanzjudentum", „Wucherjude"), politische Mythen („jüdische Weltverschwörung", neuerdings Verweis auf israelische Politik), oder rassistische Mythen (Charakter, Aussehen, Unterstellung von „Illoyalität" und „Kumpanei"), die im kollektiven „Wissen" erhalten bleiben, auch wenn sie nicht alle zu jeder Zeit gleichermaßen aktiviert werden und traditionelle Vorurteilsformen überlagert werden. Nach Zick hängen all diese Facetten des Antisemitismus signifikant zusammen, d.h. wer traditionell antisemitischen Äußerungen zustimmt, neigt auch zur Zustimmung zu anderen, subtileren antisemitischen Äußerungen.

3. Antisemitismus ist gekennzeichnet durch eine enge Assoziation mit Vorurteilen gegenüber anderen Gruppen. Vorurteile sind syndromatisch miteinander verbunden, was zugleich ihre Resistenz ausmacht. Viele Studien zeigen, dass Antisemitismus mit religiösen Vorurteilen, Feindlichkeit gegenüber Eingewanderten, Vorurteilen gegenüber nichtnormativen sexuellen Orientierungen, Sexismus u.Ä. zusammenhängt. Außerdem können ihn Vorurteile gegenüber anderen Gruppen zugleich befördern, denn er transportiert und bedient soziale und gesellschaftliche Mythen von Ungleichheit und Ungleichwertigkeit und gebiert neue Mythen, die Affekte und Einstellungen aus der Gegenwart aufgreifen.

4. Der Antisemitismus beruht, wie andere Vorurteile auch, wesentlich auf einer Ideologie der Ungleichheit. Zumindest in Deutschland ist diese stark mit einem autoritären Sozialverständnis und -verhalten verbunden (s. Autoritarismus-Forschung der Frankfurter Schule). Der Antisemitismus gebiert und legitimiert zugleich die Ungleichwertigkeit von Juden und er drängt auf Unterordnung.

Wolfgang Benz unterstellt dem Antisemitismus als ausgrenzende Ideologie ebenfalls sehr wohl Elemente von Xenophobie. Er sei aber damit nicht gleichzusetzen, da er als übergreifende Weltanschauung und Protesthaltung eigene Charakteristika aufzuweisen habe, die über stereotype Vorurteile mit irrationalen Einstellungen und Vorbehalten Feindbilder konstruiere, welche über eigentliche Judenfeindschaft hinaus der Welterklärung dienten und vielfältig instrumentalisiert werden könnten (s. Fußnote 15). Konstitutiv für den Antisemitismus sei es, so auch Benz, dass sich das Ressentiment immer gegen „den Juden als solches“ richte - wenn auch die Gewalt vom Antisemitismus auf andere Vorurteile oder Diskriminierungen überspringen könne, weil sie ähnlich stereotypisiert, gemeinsam als Bedrohung assoziiert oder sich aus einer gleichen Ideologie der Ungleichwertigkeit speisten - was auch bedeute, dass die Träger des Vorurteils die Definitionshoheit beanspruchten (frei nach Karl Luegers berühmtem Satz „wer Jude ist, bestimme ich“ MR) Der Antisemitismus sei dabei nicht nur Weltanschauung, Emotion oder Einstellung, sondern auch hochgradig verhaltensrelevant (Benz 2010: 22f). In der Forschung wird Antisemitismus als eine im Kern irrationale Haltung angesehen, welche jenseits des Bereichs der rational zu begründenden und moralisch zu rechtfertigenden Positionen situiert ist. Entsprechend richtet sich die Suche nach Erklärungen für derartige Überzeugungen auf die sozialen und psychischen Bedingungen, die dazu führen, dass „moralisches Urteilsvermögen derart eingeschränkt“ ist (E-Quelle Scherr/Schäuble).

4. Theorie

„Der Jude ist ein Mensch, den die anderen Menschen für einen Juden halten: das ist die einfache Wahrheit, von der man ausgehen muss" (Sartre I960: 143). „So ist der Jude in der Situation des Juden, weil er in einer Kollektivität lebt, die ihnfür einen .Juden hält" (145). „Nicht die Erfahrung [mit Juden, MR] schafft den Begriff des Juden, sondern das Vorurteilfälscht die Erfahrung. Wenn es keinen Juden gäbe, der Antisemit würde ihn erfinden" (189).

Diese Auszüge zitiert Jaques Derrida von Jean-Paul Sartre in „Abraham, der Andere“ (Derrida 2006: 9ff), in dem Unterfangen, das Abstrakte greifbar zu machen und zu interpretieren, wo der Mensch aufhört und der Jude anfängt (MR). Es sind diese Arten von Gedanken, die die Irrationalität des Antisemitismus vor Augen führen und im gleichen Atemzug deutlich machen, wie geradlinig reine Kontextanalysen an seinem irrationalen Kern vorbeigehen. Vertiefen wir, was hinter diesen Gedanken steht, um den Kern besser vorstellbar zu machen.

4.1 Der Fremde und der Andere

Grundlegend für diese Arbeit ist das Theorem vom Anderen, das in soziologischem Zusammenhang ursprünglich auf G. Simmels „Exkurs über den Fremden“ (erstm. 1908) zurückgeht und hier kurz eingeführt werden soll. Es geht dabei um Bilder fremder Kulturen und deren Mitgliedern, die durch Prozesse der Orientalisierung (nach Said 1978), der Exotisierung, des othering häufig zum Negativ des Eigenen werden (Haller: 19). Bezogen auf fremde Kulturen, die reisende Forscher besucht hatten, hielt das Konzept bereits vorher Einzug in die Anthropologie und Ethnologie. Werke wie das systematische Theorem G. H. Meads zum „generalized other“ (1973, erstm. 1934) und philosophische Schriften von E. Lévinas, J. Lacan und J. Derrida, aber auch von W. Benjamin, J. Kristeva und M. Foucault haben seine Inhalte und Wirkungsbereiche geprägt und erweitert.

„>Fremd< ist ein Wort, das ein Verhältnis bezeichnet. Das hegemoniale Denken bedurfte und bedarf des Fremden“, so Anselm (2011: 198, Herv. i. Orig.). In vielen Gesellschaften hatten Fremde eine besondere, eigene Rolle:

„In Mythen und Volksmärchen spielen Mitglieder verachteter und rechtsloser ethnischer und kultureller Gruppen eine wichtige Rolle, da sie universelle menschliche Werte vertreten und ihnen Ausdruck verleihen" und: „in geschlossenen oder strukturierten Gesellschaften symbolisiert das marginale oder ¿inferiore' Mitglied oder der ¿Außenseiter'oft das,Gefühl der Humanität

schreibt auch Victor Turner (Turner 2000: 109). Simmel meinte nicht die „exotischen“ Fremden, sondern die heimischen, explizit Juden und deren Ort im gesellschaftlichen Leben, der sie zu Fremden macht, er kommt aber der Beschreibung des Fremden in den ethnologischen Studien sehr nah. Dem entsprechend formuliert auch Zygmunt Bauman, dass der Fremde in der Moderne einen neuen sozialen Ort erhalte, da nun nicht mehr, wie in den ethnographisch beschriebenen „vormodernen“ Gesellschaften, nur Freund und Feind unterschieden werden könnten, sondern der Fremde, bereits nah an Holz' Grundidee des Dritten, hier in eine Position rücke, die ihn zum Gegenspieler des dichotomisch strukturierten Ganzen mache:

„Gegen diesen vertrauten Antagonismus, dieses konflikthafte Einverständnis von Freunden und Feinden rebelliert der Fremde. Die Bedrohung, die er mitbringt, ist schrecklicher als das, was man vom Feindbefürchtet. Er gefährdetdie Vergesellschaftung selbst" (Bauman 1991: 25),

womit Bauman konkret meint, dass Fremde sich eben nicht in diese bipolare Kategorisierung einordnen lassen würden, weder in die Gruppe der Freunde noch in die der Feinde. Als Feinde seien sie physisch zu nahe und als Freunde blieben sie den Einheimischen geistig zu fern. Der Fremde sei gerade der, der sich der Eindeutigkeit des Freund/Feind-Schemas entziehe und deshalb zur Familie der Unentscheidbaren gehöre. Da den Juden diese Position auf Dauer zugeschrieben worden sei, seien sie „im Prinzip Unentscheidbare. Sie sind die Vorahnung jenes >Dritten Elements< das nicht sein sollte“ (Bauman 1995: 80). Damit untergraben die Juden als Juden die herrschenden sozialen Konstruktionen der Ordnung und „vergiften die Bequemlichkeit der Ordnung mit dem Misstrauen des Chaos" (Bauman, 1992: 26. Zu Fremdheit und Ordnung vgl. auch Waldenfels 2006). Beide Autoren, Simmel und Bauman, machen deutlich, wie die, nicht notgedrungen positive aber jedenfalls besondere Funktion, die „Fremde“ aufgrund ihrer sozialen Position in vielen Gesellschaften innehatten, in den modernen Gesellschaften ins Gegenteil umschlägt (Anselm: 198ff). Baumann ist mit Arendt einig, wenn er die Rolle der Juden inmitten einer Welt entstehender oder bereits existierender Nationen beschreibt:

[...]


1 Adorno/Horkheimer/Frenkel-Brunswik/Levinson (Hrsg.) 1977 (erstm. 1950):TheAuthoritarian Personality; Adorno/Horkheimer (Hrsg.) 1947: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.

2 Bes. die „Studies in Prejudice“ unter der Leitung Max Horkheimers; „Gruppenexperiment“ (1955) von Friedrich Pollock; „Antisemitism amongAmerican Labor“ des Institute of Social Research an der Columbia University (1945); die auf aktiv teilnehmender, unstrukturierter Beobachtung und ethnographischer Feldforschung beruhende Arbeit „Wartime Shipyard. A Study in Social Disunity“ von Katherine Archibald (1947). Zu Hintergründen und Entwicklungen dieser Studien siehe Eva- Maria Ziege 2009. Für einen allgemeinen Überblick über derartige Forschungen siehe Bergmann/Erb 1991.

3 siehe hierzu z.B. Wippermann 2005 oder Ley 1993. Luthers Originalschrift „Von denJuden und ihren Lügen“ (1543) ist zu diesem Thema seine Bekannteste, allerdings greift er es auch in seinen anderen, besonders späteren Schriften immer wieder auf.

4 Siehe Treitschke, z.B. 1879. Weininger plädiert in seiner damals leider wegweisenden Schrift „Geschlecht und Charakter" (1903) für die Überwindung alles im Menschen potentiell vorhandenen „Jüdischen" und „Weiblichen" um als vollwertiger Mensch betrachtet werden zu können. Die Tatsache, dass er selbst gebürtigJude war (und vermutlich homosexuelle Neigungen hatte die er mit „Weiblichkeit" verwechselte) und sich kurz nach Erscheinen des Buches das Leben nahm, bestätigte vielen Rezipienten seine Ansichten, denn als „Betroffener" müsse er es ja wissen. Für eine ausgiebige Diskussion von Weiningers Werk und Wirken siehe Gilman 1993; Ders. 1994; Braun 1993

„Man findet sie [die antisemitische Semantik MR] im Kontext des Protestantismus, des Katholizismus und des Atheismus, in der französischen Arbeiterbewegung, bei hessischen Bauern und Berliner Studenten, in Ländern mit 10% (Polen}, 1% (Deutschland} oder 0% (Japan} jüdischem Bevölkerungsanteil, in traditionell demokratischen und kapitalistischen (USA} wie in traditionell undemokratischen undplanwirtschaftlichen (Russlandbzw. UdSSR}Staaten."(Holz 2001: 31)

Nachdem man den aktuellen Antisemitismus der westlichen Gesellschaften lange Zeit im Wesentlichen auf Seiten der extremen Rechten lokalisiert und ihn dann auch im Antizionismus der extremen Linken verortet hatte, hat sich seit einiger Zeit das Feld seiner Trägerschichten ausgeweitet (Schwartz/Schwartz-Friesel/Reinharz (Hrsg.) 2010: 8ff). Zum Teil wird ein neuer Antisemitismus der „Mitte“ diskutiert, der „bürgerlich und gebildet“ (ebd.) sich nicht über Gewaltparolen oder Holocaustleugnung, sondern über Kommunikationsstrukturen manifestiere. Teils wird von einem neuen, primär auf Israel bezogenen Antisemitismus in Europa gesprochen, während wieder andere eine christlich-jüdische Allianz zur Verteidigung des Abendlandes gegen das Vordringen des Islam beschwören und dabei als besondere Gefahr die Judenfeindschaft in der islamischen Welt hervorheben. Eine neue Diskussion ist außerdem darüber entbrannt, inwiefern der Antisemitismus sich von anderen Formen xenophober Vorurteile unterscheidet.

5 Allein für Deutschland z.B. : die Friedenspreis-Rede von Martin Walser 1998, die in der Walser-Bubis-Debatte mündete; Jürgen Möllemanns umstrittene Wahlkampfmaßnahmen; die allgemeinen verbalen Attacken auf Michel Friedmann und Ignaz Bubis als „Stellvertreterfiguren" des Judentums; die Äußerungen der CDU-Politiker Hohmann und Günzel; die klar aus dem rechten Spektrum stammenden Holocaust-Leugnungen Horst Mahlers u.v.m. Auf internationaler Ebene z.B. die Geschehnisse um die UN Generalversammlung in Durban 2001 und deren Nachfolgeveranstaltung in Genf 2009; die internationale Nichtsanktionierung gegen die konsequenten antisemitischen Hetzreden und Drohungen der Regierung des Irans gegen Israel; die Affäre um die antisemitische Rede des malaysischen Premiers Mahathirvom 16.10.2003; die Speisung immer noch machtvoller christlicher Quellen durch Filme wie „Die Passion Christi". Die Aufzählung könnte beliebig lang weitergeführt werden.

6 European Union Agency for Fundamental Rights: Anti-Semitism summary overview of the situation in the European Union 2001-2009. Updated Version April 2010, FRA Working Paper.

7 Bergmann/Erb 1991; Schwartz-Friesel/Friesel/Reinharz (Hrsg.) 2010, Benz 2004

Siehe etwa Jahresberichte des Vidal Sassoon Centerfor the Study of Antisemitism der Hebrew University of Jerusalem unter http://sicsa.huji.ac.il/ai.html, oderderAnti Defamation League unter http://www.adl.org/annual report.asp

9 Für eine kritische Durchsicht bisheriger Erklärungsversuche: Holz 2001; Claussen 1994; Benz (Hrsg.) 2004; Ders. 2008, Salzborn 2010.

10 Die Untersuchung des „Fremden“ ist der klassische Ansatz der Ethnologie, das Eigene hingegen gerät erst in den letzten Jahrzehnten ins ethnologische Blickfeld. Seit Fredrik Barths Ethnizitätstheorie (1969) wird zunehmend auf den Grenzziehungsprozess zwischen dem Eigenen und dem Fremden verwiesen, welcher weder gegeben noch selbstverständlich ist und ein hochgradig spannendes und ertragreiches Forschungsfeld bietet.

11 Etwa Kreide-Damani 2010; Streck 2000; Hauschild 1995; Fischer 1990

12 Diese Haltung findet sich z.B. auch bei Beer (2002), die ebenfalls die Wichtigkeit der Einbeziehung und Erforschung derartiger Konzepte hervor hebt.

Nach Rürup wurde der Antisemitismus, sowohl der radikale als auch der konservative, seit den 1870er Jahren zur Weltanschauung. Er sei mehr als ein antijüdisches Programm, mehr als eine judenfeindliche Bewegung und offeriere ein Erklärungsmodell für die nicht verstandenen Entwicklungstendenzen der Gesellschaft und suggeriere damit zugleich Lösungsmöglichkeiten für die wirtschaftlichen, kulturellen oder politischen Krisen der Gegenwart. Er biete das Zerrbild einer Gesellschaftstheorie (Rürup 1975: 91 zit. n. Holz 2001: 28f). Holz fügt dem hinzu, dass dieses umfassende „Erklärungsmodell“ und „Zerrbild einer Gesellschaftstheorie“ durch die Legierung von Antisemitismus und Nationalismus zustande komme; mit der Bezeichnung „Weltanschauung“ solle hervorgehoben werden, dass der Antisemitismus eine umfassenden Deutung der Gesellschaft anbiete, die in ein kollektives Selbst- und ein antijüdisches Fremdbild integriert sei (ebd.).

14 Siehe hierzu z.B. Giesen 1999, Rommelspacher 1997; 2002

15 Siehe Petersen/Salzborn (Hrsg.) 2010

16 Siehe hierzu Benz 2004

17 siehe insb. die Arbeiten von Bergmann/Erb 1990; 1991

18 Siehe hierzu ausführlich Todorov 1985; Assmann 1998, Bauman 1995

19 Gilman 2006,1998,1995,1993,1991a, 1991b, Mosse 1993,1985,1978, Wippermann 2005,1997

20 Siehe etwa: Griffin et al. 2006

21 vgl. Leiris 1951; Beer 2002; von großem Interesse diesbezüglich sind die berühmt gewordenen Laborexperimente des Sozialpsychologen und Gruppenkonfliktforschers Herni Tajfel und seine Social IdentityTheory (erstm. 1973)

22 Den Begriff setze ich in Anführungszeichen, weil ich ihn seiner allgemeinen Akzeptanz zum Trotz nicht einleuchtend finde. Wie z.B. auch der Begriff „Ausländerhass" impliziert „Fremdenfeindlichkeit" wie selbstverständlich, dass bestimmte Personen faktisch als „Fremde" oder als „Ausländer" definiert und aus diesem Umstand heraus gehasst oder angefeindet werden können, was stets aus der superioren Perspektive der Mehrheitsgesellschaft resultiert. Fremdheit ist kein natürlicher Zustand, sondern resultiert immer aus dem Kontinuum, das sich zwischen Eigen und Fremd erstreckt, und wird auf dynamische Weise stets neu sozial hergestellt. Siehe hierzu auch Haller 2005:17ff; 80ff.

23 Eine persönliche Anmerkung: Ich habe mich entschieden, das Thema der Shoa und des nationalsozialistischen Vernichtungs-Antisemitismus nicht in diese Arbeit aufzunehmen. Dieser Komplex des unvorstellbaren Grauens kann in meinen Augen nicht neben andere antisemitische Episoden gestellt und gemeinsam mit ihnen betrachtet werden; er bedürfte einer eigenen Abhandlung und fällt außerhalbjeglicher Kategorien, die ich für vergleichend analysierbar halte. Nicht frei von persönlichen Emotionen ist diese Entscheidung freilich eine Subjektive. Sie kann, wie die Lektüre von Klaus Holz' Werk überzeugend vermittelt, zweifellos anders ausfallen und stichhaltige und stringente Ergebnissen hervorbringen, wenn die Erfahrung und die Perspektive des Autors die notwendige Distanzierung vom Thema erlauben.

24 Modernisierter und sekundärer Antisemitismus haben sich nicht trotz, sondern wegen des Holocaust entwickelt (Bergmann/Erb, 1991). Während der sekundäre Antisemitismus eher so etwas wie eine Ersatzkommunikation darstellt, mit dem Antisemiten ihre judenfeindlichen Einstellungen in dominante gesellschaftliche Diskursthemen einzupassen versuchen (z.B. in die Diskussionen über den „Schlussstrich unter die Vergangenheit“ oder die „Opferrolle der Deutschen“), haben wir es beim modernisierten Antisemitismus mit dem Versuch zu tun, dominante gesellschaftliche Diskursthemen umzudeuten, um die Juden auch weiterhin in klassischer oder moderner Weise diskriminieren zu können. Frindte (2006) führt dieses Verhältnis aus.

Ende der Leseprobe aus 132 Seiten

Details

Titel
Das Eigene, das Fremde und das unfassbare Dritte. Zur Rolle des Antisemitismus in der Differenzkonstruktion
Hochschule
Universität Hamburg  (Kulturgeschichte und Kulturkunde: Institut für Ethnologie)
Veranstaltung
Ethnologie / Soziologie
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
132
Katalognummer
V287663
ISBN (eBook)
9783656879374
ISBN (Buch)
9783656879381
Dateigröße
2507 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ethnologie, Soziologie, Rassismus, Antisemitismus, Judenfeindschaft, Differenzkonstruktion, Vorurteilsforschung
Arbeit zitieren
MA Myrthe Rosenbaum (Autor:in), 2012, Das Eigene, das Fremde und das unfassbare Dritte. Zur Rolle des Antisemitismus in der Differenzkonstruktion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/287663

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