Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I Mnemosyne
II Voraussetzungen der Husserlschen Zeitanalyse: Die Begriffe der Konstitution und Fundierung
III Das originäre Zeitfeld
IV Die primäre Erinnerung
V Die sekundäre Erinnerung
VI Schlußbemerkung: Erinnerung als Grundlage der transzendentalen Phänomenologie
Literaturverzeichnis
I Mnemosyne
Am Kithäron aber lag
Eleutherä, der Mnemosyne Stadt. Der auch als
Ablegte den Mantel Gott, das Albendliche nachher löste
Die Locken.
Hölderlin, Mnemosyne (1806)
Wie findet die Seele sich selbst und ihre Ausdrucksformen? Wie kann der innere Bewußtseinsfluß gleichsam innehalten und bedenkend, sprechend, dichtend, gestaltend aus sich herausgehen? Wie kann der Geist Eindrücken gewahr werden, wie kann er sich etwas bewußt machen ?
Nur die Erinnerung vermag zur Geltung zu bringen, was sonst in die Dunkelheit absinken würde, nur das dem Gedächtnis Eingeschriebene kann erinnernd zur Darstellung gebracht werden.
Für die griechische Antike war daher Mnemosyne, die Göttin des Gedächtnisses, auch die Mutter der Musen[1]: Sie schenkt der Seele das Vermögen, sich auf sich selbst zu beziehen und ihren Eindrücken Ausdruck zu geben.
Die Mutter der Musen habe der Seele eine "Knetmasse" geschenkt, führt Platon im Theaitetos aus (191c-e), darin prägten wir wie mit einem Siegelring alles ab, woran wir uns erinnern wollten, was wir gesehen, gehört oder selbst ausgedacht haben.
Im Philebos differenziert Platon das Verhältnis zwischen 'Abprägen' und 'Erinnern' genauer: Die Mneme - das Gedächtnis - läßt er Sokrates als "Bewahren von Wahrnehrnung" (34a) definieren. Wahrnehmung geschehe dann, wenn ein Vorkommnis, eine "Erschütterung" (33e) Leib und Seele gemeinschaftlich berühre. Dasjenige, was dann die Seele "ohne den Leib für sich allein soweit möglich zurückholt" (34b), ist Erinnern. Auch wenn das "Andenken" einer Wahrnehmung "verlorengegangen war", so kann die Seele "selbst bei sich selbst" (34b) sie aus der Vergessenheit zurückholen durch Erinnerung.
Nur die Seele und in ihr die Mneme kenne den Zustand der Erfüllung allen Strebens und Begehrens, der Leib zeige dagegen nur den Mangel, die "Ausleerung" (35c) an. Das Gedächtnis ist daher das Grundprinzip des Lebendigen[2], denn alles Begehren beruht auf Erinnerung an Erfüllung.
Im Philebos gleicht die Seele für Platon einem Buch, dem Wahrnehmungen wie Reden eingeschrieben sind. Die Schreiberin ist Mneme, "das mit den Wahrnehmungen übereinkommende Gedächtnis" (39a): Indem sie die Wahrnehmungen in der der Seele entsprechenden Form bewahrt, fallen Wahrnehmung und Gedächtnis zusammen[3].
Es findet sich auch ein Maler in der Seele, "der nächst dem Schreiber des Gesprochenen die Bilder davon in der Seele zeichnet" (39b). Unabhängig, sich "losmachend" vom ursprünglich Vorgestellten und Verbalisierten kann die Seele Bilder davon "in sich selbst" (39c) entstehen lassen.
Die Phantasie, das Vorstellungsvermögen steht auch für Aristoteles in enger Verbindung mit der Erinnerung. Für ihn gehört die Mneme demselben Seelenteil an wie die 'Phantasia': nur das vom Gedächtnis Bereitgestellte kann erinnert werden. Erinnerung ist für ihn die Vorstellung in Form eines Bildes dessen, was das Vorgestellte beinhaltet[4].
Drei aus der griechischen Antike überlieferte Verständnislinien von Erinnerung sind also festzuhalten. Als 'göttliches Geschenk' der Mnemosyne verweist das Erinnerungsvermögen erstens auf den kreativen, konstituierenden Seelenanteil. Entscheidend ist dabei, daß Erinnerung die Fähigkeit zur Selbstbesinnung der Seele umfaßt. Mnemosyne, wie sie auch Hegels Phänomenologie kennt, steht für das Selbstbewußtsein des Geistes; sie ist für Hegel das 'Pathos des Sängers', wenn es nicht durch äußere Naturkräfte hervorgerufen wird, sondern zurückgeht auf 'Besinnung und gewordene Innerlichkeit, die Erinnerung des vorhin unmittelbaren Wesens' ist[5].
Platon unterscheidet in diesem Sinne zweitens zwischen Gedächtnis und Wiedererinnerung. Die Mneme schreibt Erlebnisse in die Seele ein. Indem so Wahrnehmungen bewahrt werden, fallen Gedächtnis und Wahrnehmung zusammen. Wiedererinnerung ist dann die ureigenste Seelentätigkeit des Andenkens oder Zurückholens der Wahrnehmungen. Dies kann die Seele nicht nur sprachlich, sondern auch durch Verbildlichung realisieren.
So stellt auch drittens für Aristoteles die Erinnerung das Hervorrufen eines Bildes durch das Vorstellungsvermögen dar.
Kreativität, Selbstbesinnung, Vorstellungsvermögen - für die griechische Antike war mit der Erinnerung weit mehr verbunden als in den Begriff der 'memoria' als bloße Erinnerung einer früheren Handlung oder eines Ereignisses später hineingenommen wurde. Vor allem Platons Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Wiedererinnerung, die die bloß latente Wahrnehmung 'beseelt', verdient Beachtung, denn sie führt direkt zu Husserls Analysen des Zeitbewußtseins. Nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch von der gegenwärtigen und zukünftigen Zeit läßt die Seele in uns "Schriften und Bilder" entstehen, sagt Platon im Philebos (39c-e).
Heißt das aber nicht, daß sich die Seelentätigkeit überhaupt an den drei Zeiten orientiert, daß Zeitlichkeit die Form vorgibt, in der 'Schriften und Bilder' erst in uns entstehen können? Ist dann nicht Zeitlichkeit die Form, in der Bewußt-sein erst existieren kann[6] ? Und wenn nur durch Erinnerung Selbstbesinnung möglich ist, bedeutet das nicht, daß die im Zeitfluß existierende Seele dennoch gleichsam innehalten und von ihrer Form wissen kann? Diese Fragen leiten Husserls phänomenologische Analysen des inneren Zeitbewußtseins.
II Voraussetzungen der Husserlschen Zeitanalyse: Die Begriffe der Konstitution und Fundierung
In radikaler Vorurteilslosigkeit zu einer absoluten Rechtfertigung wissenschaftlicher Erkenntnis zu kommen, ist Husserls Anspruch an die Philosophie.
Descartes' Gewißheitsprinzip, daß an allem gezweifelt werden kann, nur nicht am Ego, das da zweifelt, entspricht daher Husserls Anspruch an eine absolute Rechtfertigung universaler Wissenschaft[7]. Das erste Prinzip, der unbezweifelbare absolute archimedische Punkt allen gegenständlichen Wissens kann nur das Ego mit seinen cogitationes sein: in interiore homine habitat veritas. Mit diesem berühmten Erkenntnisprinzip Augustins schließen Husserls Cartesianische Meditationen.
Damit verdeutlicht er, daß das cogito für ihn nicht, wie für Descartes, Ausgangspunkt einer deduktiven Wissenschaft "ordine geometrico" (CM, §10) ist, sondern daß die Ur-Evidenz 'Bewußtsein' gleichsam intuitiv auf alle weitere Evidenz verweist. Die Philosophie muß daher noch einmal neu beginnen, so wie es Augustin mit seinem, von aller Scholastik noch unberührten Prinzip 'in te ipsum redi' tat. Nur wenn alles Vorwissen des Philosophierenden 'in Klammern' gesetzt wird, kann die Welt ganz neu erscheinen, und zwar als cogitatum des Bewußtseins. So entsteht eine "Phänomenologie der wesenhaften Gegebenheitsweisen des Seienden im intentionalen Bewußtsein"[8], die auf im Bewußtsein konstituierte Gegenständlichkeit trifft und damit zur Konstitutionsanalyse wird[9].
Husserls phänomenologische Reduktion besteht in eben jener Zurückführung aller Seinsgeltung auf ihr bewußtseinsmäßiges, intentionales Erscheinen[10]. Konstitution heißt für Husserl, daß sich die Welt aus motivierten Transzendenzvollzügen des Bewußt-seins heraus aufbaut[11], und insofern läuft seine Konstitutionsanalyse auf eine idealistische Position hinaus[12]. In natürlicher Einstellung gilt die Welt und ihre Gegenständlichkeit als objektiv, bewußtseinsunabhängig bestehend. Unabhängig von der eingeschränkt-situativen Gegebenheitsweise von Gegenständen begegnen diese mir als objektiver Bestand der Außenwelt und sind in diesem Sinne transzendiert[13]. Obwohl konkrete Wahrnehrnungen nur wechselnd, von Moment zu Moment und in begrenzter Perspektive stattfinden, erscheint dennoch eine Welt von identisch verharrendem, transzendenten Sein. Das Bewußtsein nimmt nicht nur eine Seite eines Gegenstandes wahr, sondern seine ganze, originäre Gegebenheit. Nur so ist es möglich, daß sich voller Sachgehalt überhaupt erst erschließt. Die perspektivische Begrenztheit der Wahrnehmung bleibt unthematisch, das Bewußtsein läßt sich ihren ganzen Gehalt erfüllen
[...]
[1] vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp.1441
[2] ebd.
[3] ebd.
[4] ebd., Sp.1442
[5] ebd.
[6] vgl. Held 1986, Einleitung, S.24
[7] vgl. Prechtl 1991, Husserl zur Einführung, S.18
[8] Löwith 1984, Erinnerung an Husserl, S.239
[9] vgl. Held 1986, S.7
[10] vgl. Held 1985, Einleitung, S.50
[11] ebd.
[12] vgl. Held 1986, S.8
[13] ebd., S.9