Soziale Defizite der Figuren in Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ (1951). Analyse der Paar- und Familienbeziehungen


Akademische Arbeit, 2004

33 Seiten, Note: 1


Leseprobe

Inhalt

1. Soziale Defizite
1.1 Paarbeziehungen
1.1.1 Philipp und Emilia
1.1.2 Christopher und Henriette Gallagher
1.1.3 Washington Price und Carla
1.1.4 Herr Behrend und Vlasta
1.1.5 Odysseus Cotton und Susanne
1.2 Familienbeziehungen
1.2.1 Kontinuität
1.2.2 Carla und Heinz
1.2.3 Ezra Gallagher
1.2.4 Hillegonda

2. Literaturverzeichnis (inklusive weiterführender Literatur)
2.1 Primärliteratur
2.2 Gespräche und Interviews
2.3 Sekundärliteratur
2.4 Sonstige verwendete Literatur

1. Soziale Defizite

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den sozialen Defiziten der Handlungsträger in Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ aus dem Jahr 1951. Anhand der unterschiedlichen Paar- und Familienbeziehungen soll aufgezeigt werden, dass die sozialen Verhältnisse der Romanfiguren durchaus als problematisch angesehen werden müssen.

Wolfgang Koeppens Gestalten gehen zumeist isoliert ihrer Wege, ungeachtet der vielfältigen Begegnungen, die in der Mehrzahl jedoch oberflächlich bleiben, und gleichwohl sie aufeinander bezogen sind: „The theme of isolation [...] is brought into sharp focus when individuals are shown to be isolated even though they are almost constantly surrounded by other people.“[1] Die Figuren leben nebeneinander, nicht miteinander und auch in Paarbeziehungen und Familien wird diese Isolation, die immer auch eine kommunikative ist, nicht durchbrochen. In allen sozialen Verhältnissen sind beträchtliche Defizite auszumachen, beispielsweise an Interesse, Verständnis, Tiefe oder Wahrhaftigkeit. Neben einer Egozentrik aufgrund von Überforderung durch eine schwierige Gegenwart ist zu beobachten, dass die Figuren bewusst ihre persönliche Bedürfnisbefriedigung zur einzigen Maxime erheben: „Das Nachdenken endet an den Grenzen des eigenen Ichs. Ein Verstehen der anderen wird überhaupt nicht angestrebt.“[2] Die defizitären Beziehungen sind „symptomatisch für den Zustand der Gesellschaft“[3] in diesem Roman.

Erzählerische Mittel unterstützen auch in diesem Teilbereich die inhaltliche Aussage. So entspricht nach Scherpe das Bild der versprengten Einzelnen der Mosaikstruktur des Romans.[4] Jürgen Hein verweist auf die Funktion der Schauplätze zur Darstellung von Oberflächlichkeit, Zufälligkeit und Vergeblichkeit menschlicher Beziehungen, indem sie Sammelpunkte des zufälligen Nebeneinander und Zugleich wie auch angestrebte Zielpunkte für einander zwar Suchender, aber Verfehlender, bieten.[5] Quack ergänzt die Bedeutung des übergreifenden Schauplatzes 'Großstadt': „Nur die urbane Öffentlichkeit einer Metropole konnte die Szene bilden für das geschilderte Beziehungsgeflecht“[6].

Hielscher lenkt den Blick auf die Worte, die von einem Abschnitt in den nächsten übernommen werden, jedoch völlig andere Figuren und Kontexte zum Inhalt haben:

„Die Übernahme eines Wortes aus dem Bewußtsein einer Person [...] in das einer anderen [...] kann, auf der Folie des ganzen Romans, so gedeutet werden, daß die Personen, während sie Verschiedenes betreiben, doch das Gleiche bzw. gleich denken: einander ähnlich, ohne es zu wissen.“[7]

Auch Quack erklärt: „Durch die Form der ungewöhnlichen assoziativen Montage zeigt der Autor, daß es eine Simultaneität des Denkens gibt“[8], eine Nähe, die den Figuren nicht bewusst wird.

1.1 Paarbeziehungen

Die sozialen Störungen und Unzulänglichkeiten sind zum einen in den Paarbeziehungen unübersehbar. Die Unfähigkeit, enge Bindungen zu entwickeln – nicht per se gleichzusetzen mit einer generellen Abwesenheit von Liebe – geht einher mit Unverständnis, fehlender oder mangelhafter Kommunikation und sehr häufig mit gegensätzlichen Bedürfnissen, in denen Kompromisse schwierig bis unmöglich erscheinen. Selbst das Erkennen der jeweiligen Hindernisse verhilft nicht zu einer Verhaltensänderung und damit einer Verbesserung der Beziehung.

1.1.1 Philipp und Emilia

Das Ehepaar Philipp und Emilia wird „am genauesten und intensivsten aus der Innenperspektive [...] dargestellt“ und diese beiden sind es, die „von allen Personen des Romans das klarste Bewußtsein von ihrer Lage“[9] haben.

Die Situation, in der der Leser das Paar antrifft, weist auf eine akute Beziehungskrise hin. Philipp hat die vergangene Nacht im Hotel verbracht und sich damit seiner ihn mit Wutausbrüchen und Klagen konfrontierenden, alkoholkranken Frau entzogen. Emilia wiederum leidet, als sie am Morgen feststellt, dass sie allein ist; ihre Angst vor dem Verlassenwerden wird damit erneut geweckt.

Getrennt verbringen beide den Tag, denken jedoch viel aneinander, positiv wie negativ, und überdenken ihre Beziehung und die Probleme, die zur Krise beitragen. Die aus zwei Perspektiven dargestellten Einsichten decken zum einen zeitlose Paarprobleme auf wie den offenbar recht großen Altersunterschied und die damit verbundenen unterschiedlichen Interessen und Prioritäten sowie unterschied­liche soziale und gesellschaftliche Hintergründe, aus denen differierende Vorstellungen vom Leben resultieren. Philipp ist im Hinblick auf die gesellschaftliche Herkunft objektiv unterlegen, doch ist diese für ihn, im Gegensatz zu seiner Frau, ohne Bedeutung. In Bezug auf Bildung ist Philipp hingegen seiner Frau, die zur geistigen Sphäre keine Bindung hat, überlegen[10] ; Intellektuelle hatten „bei Emilias Eltern zwar Freitisch und Narrenfreiheit, aber nicht Achtung genossen“ (II 88). So schätzt auch sie Geist und Bildung gering, zumal sie dem materiellen Lebensstandard die höchste Bedeutung zumisst: „Emilia haßte und verachtete [...] die mittellosen Geistigen, die lebensuntüchtigen Schwätzer“ (II 88). Sie wirft Philipp vor, sie „aus dem schönen unschuldigen Glauben an das ewige Recht des Besitzes gerissen und sie in das Reich der Intellektualität, der Armut, des Zweifels“ (II 211) geführt zu haben. Philipp wiederum verweist auf den Scheincharakter der von Emilia so hoch geschätzten finanziellen Sicherheit.

Diese Diskrepanz, die diametralen Sichtweisen auf die Bedeutung von materieller Sicherheit, verschärft durch die von äußeren Umständen ausgelöste labile Finanzsituation, gerät zum Kernproblem des Paares.

Emilias Leben war vor Nationalsozialismus und Krieg ein exklusives und rundum abgesichertes: „'Du bist reich, Schöne, du erbst, Hübsche[']“ (II 34). Doch die politischen Entwicklungen führten zur Entwertung ihres Erbes und statt der als sicher angenommenen sorglosen Existenz ist ihr Leben nun voller „Ungewißheit, Bettelgängen und Hungertagen“ (II 88). Zum materiellen Überleben ist Emilia gezwungen, Familienbesitz – weit unter Wert – zu veräußern, was ihr aus mehreren Gründen unerträglich ist; dazu zählen der sowohl finanzielle als auch gesellschaftliche Absturz wie auch die Tatsache, dass sie selbst aktiv tätig werden muss. Zudem leistet Philipp keinerlei finanziellen Beitrag zum gemeinsamen Leben, er verdient weder als Schriftsteller Geld noch mit 'bürgerlicher' Arbeit. Seine Selbstvorwürfe, Emilia nicht glücklich zu machen, vereinen sich mit ihrer Sichtweise, in der sie ihm die Schuld für ihre unwürdige Situation gibt. Dietrich Erlach sieht den Schwerpunkt des Problems jedoch vielmehr darin, dass Emilia „die soziale Eingliederung nach ihrem Fall aus dem wohlbereiteten Nest nicht gelingt“[11]:

„Emilia stand von allen Seiten bedroht im Niemandsland. Sie war reich und war ausgestoßen von der Nutznießung des Reichtums [...], aber sie war auch nicht aufgenommen [...] von der arbeitenden Welt, und dem, daß man früh'rausmußte, stand sie mit [...] Ablehnung gegenüber.“ (II 90)

Ihr Verhältnis zu Philipp ist gespalten, ihr Gefühl zerrissen; so sehr sie das Dichten auch verachtet, ihren Mann dafür hasst, dass er ihr die schmerzvolle Realität nicht erspart, so erhofft sie von ihm doch ein Wunder, „ein bedeutendes Werk“ (II 32), das ihr „Glück, Ruhm und Reichtum“ (II 94) zurückbringt. Zugleich fürchtet sie seinen Erfolg, weil sie sicher ist, dass ihre finanzielle Macht Philipp an sie bindet. Dieser Zwiespalt bleibt ungelöst und sie schwankt zwischen dem Wunsch, ihn zu unterstützen und der Besessenheit, einen möglichen Erfolg zu sabotieren. Emilia neigt zu hasserfüllt-verzweifelten Aktionen, auch mit dem Hintergrund, Philipp strafen zu wollen, doch bedauert sie ebenso schnell ihr Verhalten wieder.

„In Philipp liebt und haßt sie ihr Spiegelbild, die reale Verweigerung gegenüber der Welt des mühsamen Geldverdienens, und ihren nicht erfüllten Wunschtraum: die irreale Hoffnung auf unverdient zufallendes Glück.“[12]

Einen großen Anteil an der emotionalen 'Berg-und-Tal-Fahrt' hat ihre Trunksucht, der sie aus Verzweiflung an ihrer Situation erlegen ist. Um die zwei Gesichter der Emilia in ihrer drastischen Unterschiedlichkeit zu charakterisieren, vergleicht Philipp sie mit

„Dr. Jekyll und Mr. Hyde in der Geschichte von Stevenson. Philipp liebte Dr. Jekyll, eine reizende und gutherzige Emilia, aber er haßte und fürchtete den widerlichen Mr. Hyde, eine Emilia [...], die ein wüster Trunkenbold und eine geifernde Xanthippe war.“ (II 167)

Er erträgt weder Emilias verzweifelte Problemverdrängungsversuche mit Hilfe des Alkohols noch ihre Persönlichkeitsveränderung, welche die Sucht mit sich gebracht hat, auch weil sie, aufgrund seines Verantwortungsempfindens, die eigenen Schuldgefühle unermesslich verstärken. Seine feste Entschlossenheit, sie zumindest durch seine bloße Anwesenheit zu unterstützen, gerät im Verlauf des Tages immer wieder ins Wanken, er wird abgelenkt, nicht zuletzt durch Kay. Emilia kämpft – für Philipp und die Beziehung – um Selbstbeherrschung, weiß sie doch, dass ihr Alkoholismus die Distanz zwischen den Ehepartnern und damit die Gefahr des Verlassenwerdens klar erhöht. Doch ihre Hoffnung, dass Philipp in der Wohnung auf sie wartet, wird enttäuscht und löst weitere Bitterkeit aus, die jeden Vorsatz vernichtet.

Beide wünschten, dass sie wieder zueinander fänden, doch die Hoffnung auf ein Gelingen schwindet. „[']Ich liebe dich doch, Philipp. Bleib bei mir.'“ (II 38), schreibt Emilia auf ein Blatt Papier und obwohl er sie ebenfalls liebt, zieht er eine Trennung als vielleicht bessere Lösung für beide in Betracht. Das Leben seiner Frau wäre ohne ihn, der sie immer weiter in Verzweiflung und Armut treibt, leichter und auch er weiß, „daß er allein, ohne Emilia, viel einfacher leben und sich erhalten konnte“ (II 206). Die Schwierigkeiten des gemeinsamen Lebens machen ihm das Schreiben unmöglich, er „konnte seine natürlichen Schwingen zu den kleinen Flügen, die ihm bestimmt waren und die ihm sein Futter gegeben hätten, nicht mehr rühren“, und diese ungewollte „Fesselung“ legt sich auch „drückend auf das Empfinden der Liebe“ (II 206).

Philipps Überlegungen, „ob er sein Leben mit Emilia nicht anders führen, ob er es nicht ganz anders gestalten könnte“ (II 167), weichen einem pessimistischen Realismus über die Unmöglichkeit einer Veränderung.

Liebe, Verstehen, das gegenseitige Erfassen von Verzweiflung und ein zartes Bemühen reichen nicht aus, um zueinander zurückzufinden. In einem Teufelskreis erleben beide, wie die Schwäche des jeweils anderen elementare eigene Bedürfnisse unbefriedigt bleiben lässt und zugleich erwachen quälende Schuldgefühle ob des eigenen Versagens gegenüber dem anderen. Emilia und Philipp sind zu schwach, um eine Wende herbeizuführen, obwohl sie ein so klares Bewusstsein von ihrer Situation haben.

Schließlich ist in Bezug auf Philipp und Emilia gleichermaßen die Rolle Kays, der jungen Amerikanerin, zu erwähnen. Kay tritt mehrmals während des Tages äußerlich an die Stelle von Emilia, wenn sie mit Philipp zusammen ist und auch Emilia als unbeschwerterer 'Spiegel' ihrer selbst begegnet[13]:

„Etwas erinnerte ihn Kay auch an Emilia, nur daß Kay eine unbefangene, eine unbeschwerte Emilia war“ (II 100). Emilia wiederum „dachte, 'wie nett sie ist, [...] sie ist das nette Mädchen das ich vielleicht hätten werden können“ (II 154).

Beide fühlen sich angezogen von dem Gefühl der Freiheit und der Sorglosigkeit, das Kay unbewusst vermittelt: „Sie war warmes frisches Leben. Immer wieder empfand Philipp Kays freiere Existenz. Nicht das Mädchen, die Freiheit verführte ihn.“ (II 206) Emilia, die sich sonst an Besitz gebunden und ihren Ängsten verzweifelt ausgeliefert fühlt, empfindet einen Moment der Freiheit, als sie der Amerikanerin den Schmuck schenkt, den sie eigentlich verkaufen wollte.

Kay ist jedoch kein Anlass für eine noch weitergehende Loslösung der Partner voneinander, im Gegenteil: Nicht nur, dass Kay beide an eine „bessere“ Emilia erinnert, sie schafft auch weitere Verbindungen. So gehen Emilias Gedanken im Zusammenhang mit ihrer Tat zu Philipp, er „hätte das verstanden. Er hätte auch verstanden, warum sie sich, als sie der grünäugigen Amerikanerin den Schmuck umhängte, so frei gefühlt hatte.“ (II 174) Zudem schließt sich am Abend der Kreis, als Kay Emilias Schmuck abhakt und ihn Philipp schenkt.[14]

1.1.2 Christopher und Henriette Gallagher

Christopher und Henriette Gallagher, er ist ein christlicher Amerikaner, Steueranwalt von Beruf, sie deutschstämmige Jüdin und ehemalige Schauspielerin, ge­meinsam haben sie den elfjährigen Sohn Ezra, leben in einer Ehe, die geprägt ist von Distanz – repräsentiert durch räumliche Trennung und förmliche, unterkühlte Kommunikation –, Un­verständnis seitens des Mannes und Zurückgezogenheit in sich selbst von Seiten der Frau.

Während Christopher mit Ezra die Heimat seiner Frau besucht, hält sie sich in Paris auf; der einzige im Roman genannte Kontakt ist ein Telefonat, in dem Christopher von Erlebnissen vor Ort erzählt und versucht, Henriette zu überzeugen, doch noch nach Deutschland zu kommen: „Christopher vermißte Henriette. Er hatte vorher nicht gedacht, daß er sie vermissen würde. Sie fehlte ihm. Er hätte sie gern bei sich gehabt.“ (II 68) Diese Gefühle behält er jedoch für sich, er spürt die innere Distanz zwischen beiden, die schon länger besteht und für die er keine Erklärung hat: „'wir sind so förmlich miteinander, woran liegt das wohl? ich liebe sie doch.'“ (II 68)

Christopher hat zu den schmerzlichen Deutschlanderfahrungen seiner Frau keinen emotionalen Zugang. Ihm gelingt es nicht, das von ihr Erlebte als Wahrheit zu verinnerlichen, dafür fehlt ihm, der naiv-optimistisch an das Gute im Menschen glaubt, die Vorstellungskraft: „Er wußte es, aber er verstand es nicht. Oder er verstand es, aber so wie man eine Traumerzählung versteht und dann sagt: „Vergiß es!““ (II 68) Diese Reaktion macht eine Einfühlung unmöglich, auch wenn er im Gespräch beharrlich versichert, dass er sie verstünde:

„“Ich verstehe dich; aber glaube mir, es würde dir gefallen. [...] Es würde dir sehr gut gefallen. Mir gefällt es auch sehr gut.“ Und sie sagte immer wieder dieselben Worte: „Nein. Ich kann nicht. Du weißt es. Ich kann nicht.““ (II 68)

Ihm gefällt es im Deutschland des Jahres 1951, er sieht keine Gefahren – „[e]s hat sich alles geändert“ (II 71) – und somit kann er die Ablehnung seiner Frau nicht nachvollziehen. Er nimmt ihr übel, dass sie seinem Urteil nicht vertraut und nicht auf seine Bedürfnisse eingeht.

Durchaus noch vorhandene positive Gefühle können die zwischen Christopher und Henriette aufgebaute Distanz letztlich nicht überwinden, auch weil das Paar Gefühlsoffenheit in seiner Kommunikation längst aufgegeben hat. Craven sieht die Verbindung von Henriette und Christopher als ein Hoffnungszeichen des Romans, eine Beziehung, „in which individuals see each other as such and thus liberate themselves from the past and from social conventions“[15]. Herkunft und Glauben spielten damit für Liebe und Ehe keine Rolle. Das mag für den Beziehungsbeginn durchaus Geltung gehabt haben, doch in Zeiten der Krise erweist sich, dass die unterschiedliche Herkunft mit den daraus resultierenden extrem abweichenden Lebenserfahrungen doch massive Auswirkungen hat und ein gegenseitiges Verstehen hier unmöglich wird.

Auch andere – interessanterweise ausschließlich deutschausländische – Paarverbindungen werden in der Sekundärliteratur immer wieder als geglückte Beziehungen dargestellt. Mehrere Paare mit unterschiedlicher Nationalität, in den 1950er Jahren eine gesellschaftliche Randerscheinung in Deutschland, scheinen danach zu belegen, dass die Überwindung der alten Gesellschaft und eine Neuorientierung einzig aus einer Außenseiterposition heraus gelingen kann.

„Durch den Stoß, den die alte Gesellschaft erlitten hat, haben viele Halt und Orientierung verloren, aber zugleich sind damit neue Möglichkeiten für eine freiere und humanere Gesellschaft geschaffen worden. Die Bitterkeit über die Einsicht „'wir verkehren miteinander, weil wir alle deklassiert sind'“ [II 195], kann überwunden werden und echter Freundlichkeit und Liebe weichen [...]. So steht der Haltlosigkeit, Verzweiflung und Einsamkeit auf der einen Seite die Liebe zwischen Carla und Washington, Vlasta und Herrn Behrend, Susanne und Odysseus auf der anderen Seite gegenüber.“[16]

Diese vereinzelten positiven Ansätze sind solche, die „den Ansprüchen der Gesellschaft trotzen oder direkt gegen sie gerichtet sind“[17], eine Position, die ich mit Brink-Friederici für hoffnungslos oder zumindest hypothetisch[18] halte, scheitern sie doch, wie zu zeigen sein wird, letztlich an starker gesellschaftlicher Gegenwehr oder sind auf den zweiten Blick keineswegs so positiv oder vorbildlich wie sie scheinen.

1.1.3 Washington Price und Carla

Washington Price, ein farbiger amerikanischer Besatzungssoldat, und Carla, eine deutsche Kriegswitwe mit einem elfjährigen Sohn, führen eine Beziehung, die aus unterschiedlichen Interessen begann und gespeist wird. Carla arbei­tete, um für sich und ihren Sohn Heinz zu sorgen, in einer amerikanischen Kaserne. Der dort stationierte Washington Price bemühte sich ebenso zurückhaltend wie ausdauernd um sie:

„Er holte sie ab aus dem Büro, führte sie durch den Gang mit den wartenden, starrenden, dunklen Männern, brachte sie heim, saß stumm neben ihr im Wagen, schenkte ihr was, sagte: „Auf Wiedersehen.““ (II 48)

Sie gibt dem Werben schließlich nach aufgrund eines sexuellen Traumes, eines Begehrens. Das meint auch Ursula Love: „Her initial involvement with Washington Price results from her desire for sexual activity“.[19] Zuneigung ist für Carla zunächst irrelevant – immerhin, „Washington war ein guter Kerl“ (II 47) –, vielmehr erhofft sie sich Sicherheit und eine höhere Lebens­qualität durch die Beziehung mit einem Amerikaner:

„[Q]uickly she becomes nothing more than a concubine, spending her time in the future, in the fully automatic, shining American domestic paradise of magazine advertisements.“[20]

Sie gibt ihre Stellung auf, zieht „in ein anderes Haus, wo andere Mädchen mit anderen Männern verkehrten, lebte mit Washington zusammen“ (II 49), der sie versorgt und damit auch hier die Rolle ihres Mannes übernimmt. Unabhängig von ihren Gefühlen – „war es Liebe?“, war es nicht nur die Furcht des „Nichtalleinbestehenkönnens“ (II 110)? –, ist sie ihm „treu das bin ich ihm schuldig“ (II 49) für die Sicherheiten, die Washington und Amerika ihr verheißen, „keine Angstträume ängstigten mehr“ (II 50). In diesem Kontext ist ihr Plan – „Carla wollte Washington heiraten. Sie war bereit, ihm in die Staaten zu folgen.“ (II 50) – zu verstehen.

Doch die Schwangerschaft lässt Carla mit Schrecken erkennen, dass es ein Fehler war sich mit einem schwarzen Amerikaner einzulassen, denn Washingtons Welt ist nicht die rosarote „Traumwelt der Magazinbilder“ (II 123). Im Versuch, den Schaden des Fehlers zu begrenzen, denkt sie an „Auskratzung“ (II 63): „Das Kind mußte weg. Washington war wahnsinnig, daß er sie bewegen wollte, sein Kind in die Welt zu setzen.“ (II 123).

„Washington hat Carlas Fehler zu büßen“[21], sie lässt ihn leiden und verstärkt damit sein bereits unter dem Aspekt der individuellen Ängste dargestelltes „Minderwertigkeitsgefühl und seine Vorstellung, durch Leistung an Wert zu gewinnen“[22]:

„Washington litt unter dieser Wohnung. Aber er konnte es nicht ändern. Carla fand keine anderen Zimmer. [...] Auch Carla litt unter der Wohnung, aber sie litt weniger unter ihr als Washington, dem sie unermüdlich versicherte, wie sehr sie leide, wie unwürdig das alles für sie sei, und das hieß unausgesprochen, wie sehr sie sich verschenke, wie tief sie sich herablasse [...] und daß er durch immer neue Liebe, neue Geschenke, neue Aufopferung es ein wenig gutmachen müsse, ein ganz klein wenig nur.“ (II 83f.)

Obwohl Carla mit Washington zusammen ist, sowohl eine sexuelle Beziehung zu ihm unterhält als auch eine rechtlich bindende anstrebt, ist auch sie von verbreiteten Vorurteilen gegenüber Farbigen nicht frei, was erneut darauf verweist, dass ihre Ziele lediglich in der persönlichen Bedürfnisbefriedigung liegen und nicht in einer wirklichen Partnerschaft.

Er erträgt geduldig die Wutausbrüche und Demütigungen und hält fest an der Beziehung zu Carla und dem Wunsch nach einer Familie. Das gemeinsame Kind wird ihm zum Hoffnungssymbol im hässlichen Dasein: „Die Erde war kein Himmel. Die Erde war bestimmt kein Negerhimmel.“ (II 86) Die besondere Bedeutung gibt dem drohenden Schwangerschaftsabbruch zusätzliche Dramatik: „Das konnte sie nicht tun, grade dies konnte sie nicht tun“ (II 87). Aus dieser Gefühlslage heraus handelt er, ohne mit Carla gesprochen zu haben, zumal die Zeit drängt. Dr. Frahm lehnt in der Folge die Abtreibung ab, was Carla nahezu verzweifeln lässt, ihr Unglück erscheint ihr damit besiegelt: „“Ist alles nicht so tragisch“, sagte Frahm. 'Es ist der Tod', dachte Carla.“ (II 138)

Mit der verhinderten Abtreibung erreicht die Beziehungskrise ihren Höhepunkt: „Gegen seine Brust schlugen Teller und Tassen, zu seinen Füßen lagen Scherben: die Scherben seines Glücks?“ (II 160) Carla ist aufgebracht: „Meinst, ich will deinen Bankert haben? [...] Mit Fingern würden sie auf mich weisen. Ich pfeif' auf dein Amerika. Auf dein dreckiges schwarzes Amerika.“ (II 160) „The stage appears to be set for their final departure from each other“[23]. Auch Washington überlegt ernsthaft aufzugeben. Die Empfindung, versagt zu haben, verbindet sich mit einem Gefühl der Sinn und Hoffnungslosigkeit. Doch er befreit sich rasch von den negativen Gedanken und klammert sich an eine „Fata Morgana“ (II 86), das Bild des gemeinsamen Kindes. Der Begriff „Fata Morgana“ zeigt die Illusion dieser Hoffnung; sie wird nicht in Erfüllung gehen, sondern scheitert im Roman schnell auf entsetzliche Weise.

Seine Beweggründe, schließlich doch für die Beziehung zu kämpfen, gesteht er sich ehrlich ein: Es ist nicht Liebe, sondern „Trotz“ und der „Glaube an den Menschen“ (II 160). Er will „das Band zwischen Weiß und Schwarz [...] fester knüpfen durch ein Kind, er wollte ein Beispiel geben, er glaubte an die Möglichkeit dieses Beispiels“ (II 160). Die feste Überzeugung lässt Washington handeln; unnachgiebig hält er Carla fest in seinen Armen und redet mit eindringlichen Worten auf sie ein:

„“Wir lieben uns doch, warum sollen wir's nicht durchstehen? [...] Wir müssen uns nur immer lieben. Wenn alle andern uns beschimpfen: wir müssen uns liebhaben. Noch als ganz alte Leute müssen wir uns lieben.““ (II 161)

„Das wiederholte 'wir müssen uns lieben', zeigt, unter welchen 'Leistungsdruck' Washington sich selbst und seine Freundin setzt.“[24] Er versucht durch die Wiederholung der Worte, Carla und ebenso sich selbst davon zu überzeugen, dass die Liebe beide verbindet und alle Probleme lösen wird. Auch wenn dies eher illusionär denn realistisch erscheint, so erkennt er immerhin die mögliche Kraft der Liebe: „With the other characters, Koeppen suggests that love is impossible, but with Washington Price he shows how difficult and improbable love is; not that it is impossible.“[25]

Carla lässt sich von seiner Zuversicht beruhigen und überzeugen, ihr gelingt der Verzicht auf die materiellen Träume: „Sie war nicht von dem Kind befreit, aber von dem Traum an die faule Glückseligkeit des Daseins [...]. Sie glaubte wieder. Sie glaubte Washington.“ (II 172) Die Krise ist überstanden und beide gemeinsam schauen, zumindest für den Moment, positiv in die Zukunft.

Diese positive Entwicklung, wenn sie auch auf neuerlicher Illusion beruht, hat sich jedoch an gesellschaftlichen Widerständen, namentlich dem Rassismus, zu beweisen, der ein Zusammenleben in Deutschland wie in den USA unmöglich macht. Das Paar muss sich von seiner

„Umgebung lossagen und einer Welt von Vorurteilen standhalten. Der Schande, über die Frau Behrend lamentiert, entspricht die Angst und Verzagtheit, die Washingtons Eltern angesichts der Sünde ihres Sohnes befällt, einer Sünde wenn nicht vor Gott, so aber doch vor den Menschen“[26].

Ihnen bleibt, Washingtons Traum gemäß, der Versuch des Rückzugs in ein Umfeld, welches das Zusammenleben von Schwarz und Weiß toleriert. Er setzt seine Hoffnung auf Paris, wo er ein Lokal eröffnen möchte, an dem ein Schild verkündet „Niemand ist unerwünscht“. Doch diese Vision „ist nichts als ein naiver, beflügelnder Traum, der mit fast kindlicher und naiver Hartnäckigkeit fortgesetzt geträumt wird“[27] und der die Qualität der Beziehung, ihren illusionären Charakter und die aggressive Wirklichkeit der Gesellschaft ausblendet. Steinwürfe einer rassistisch aufgeputschten Menge treffen Carla und Washington und zerstören den Traum faktisch.

Doch selbst wenn er hätte verwirklicht werden können bleibt festzuhalten, dass das Gelingen „nur individuell und ohne vorbildhaften Effekt für die Gesamtgesellschaft“[28] gewesen wäre, keine „Veränderung der Welt“, sondern eine „Privatlösung, eine Nische“[29], die einzige Form offenbar, die der Autor zulässt. Eine gelingende Beziehung ist demgemäß nur möglich in der Außenseiterposition,

„die die Hoffnung auf ein authentisches, freies und glückliches Leben durch die Liebe eröffnet. Es ist [...] die Nichtteilnahme, nicht die Organisation von Opposition, die zu einer besseren Welt führt.“[30]

[...]


[1] Gunn (1983): S. 174.

[2] Kurth (1998): S. 50.

[3] Erlach (1973): S. 135.

[4] Vgl. Scherpe (1987): S. 239.

[5] Vgl. Hein (1992): S. 44.

[6] Quack (1997): S. 98.

[7] Hielscher (1988b): S. 59.

[8] Quack (1997): S. 105.

[9] Quack (1997): S. 123.

[10] Vgl. Hielscher (1988b): S. 66.

[11] Erlach (1973): S. 46.

[12] Lorenz (1998): S. 125.

[13] Vgl. Brink-Friederici (1990): S. 68.

[14] Vgl. ebd.

[15] Craven (1982): S. 182.

[16] Erlach (1973): S. 138f.

[17] Haas (1998): S. 48.

[18] Vgl. Brink-Friederici (1990): S. 61.

[19] Love, Ursula: Wolfgang Koeppens Nachkriegstrilogie: Struktur und Erzähltechnik. 1974. S. 66. Zitiert nach: Gunn (1983): S. 59.

[20] Ebd.

[21] Kurth (1998): S. 63.

[22] Ebd.

[23] Gunn (1983): S. 59.

[24] Kurth (1998): S. 60.

[25] Gunn (1983): S. 34.

[26] Erlach (1973): S. 139f.

[27] Kurth (1998): S. 65.

[28] Koch (1993): S. 48.

[29] Kurth (1998): S. 61.

[30] Ebd.: S. 65.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Soziale Defizite der Figuren in Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ (1951). Analyse der Paar- und Familienbeziehungen
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
33
Katalognummer
V288482
ISBN (eBook)
9783656886716
ISBN (Buch)
9783656905691
Dateigröße
705 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
soziale, defizite, figuren, wolfgang, koeppens, tauben, gras, analyse, paar-, familienbeziehungen
Arbeit zitieren
Claudia Kollschen (Autor:in), 2004, Soziale Defizite der Figuren in Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ (1951). Analyse der Paar- und Familienbeziehungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288482

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