Leseprobe
Inhalt
1. Weltbilder
1.1. Amerikanische Weltbilder
1.2. Christlich-humanistisches Weltbild
1.3. Die Bedeutung von Kunst und Literatur
1.4. Wissenschaftliches Weltbild
1.5 Religion
1.6. Kontinuität – Unverändertes Weltbild
2. Literaturverzeichnis (inklusive weiterführender Literatur)
Primärliteratur
Gespräche und Interviews
Sekundärliteratur
Sonstige verwendete Literatur
1. Weltbilder
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Weltbildern, die in Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ aus dem Jahr 1951 eine Rolle spielen. Neben einem amerikanischen und einem christlich-humanistischen Weltbild soll auch die Bedeutung von Kunst und Literatur , die Wissenschaft und die Religion analysiert werden.
1.1. Amerikanische Weltbilder
Die im Rahmen der 'Umerziehungsprogramme' versuchte Vermittlung neuer, demokratischer Werte durch die Besatzer ist prägend in Zeit und Roman; hier werden aufgrund des gewählten Schauplatzes amerikanische Weltbilder in verschiedenen Nuancen zur Darstellung gebracht.
Richard Kirsch, ein junger US-Soldat, sieht die Zeit für sein Land gekommen, ein „Jahrhundert der gereinigten Triebe“ (II 38), dessen Werte es umzusetzen und zu verbreiten gilt. Er spricht den Amerikanern die Rolle als „Kreuzritter der Ordnung“, „Ritter der Vernunft, der Nützlichkeit und angemessener bürgerlicher Freiheit“ (II 39) zu und fühlt sich „frei von Feindschaft und Vorurteilen, nicht Haß und Verachtung belasteten ihn. Die Mißgefühle waren [...] von der Zivilisation überwundene Krankheiten“ (II 38).
Doch ist er kein tadelloses Vorbild für seine Überzeugungen. Das geringe Ausmaß an Zerstörungen in der Stadt enttäuscht, die große Warenfülle in den Geschäften überrascht ihn und man gewinnt den Eindruck, als hielte er beides für nicht angemessen. Seine so selbstsicher vorgetragene Vorurteilsfreiheit basiert überdies auf Gleichgültigkeit und Desinteresse, womit sie ihren positiven Aspekt verliert: „Richard hatte nichts gegen Neger. Sie waren ihm gleichgültig.“ (II 129) Überlegen blickt er auf die Europäer, „ihre Grenzen, ihren Hader“, aber ebenso auf ihren „ästhetischen“ und „gedanklichen Humus“ (II 39), dem er mit Herablassung begegnet. Die vermeintlich „vorurteilsfreie Sicht der Welt“ gerinnt zur „Selbsttäuschung“ und Richard, „der Deutschland und Europa vollkommen sachlich und objektiv zu sehen glaubt“, reproduziert „nur Klischees des „Schulwissens““[1].
Mit seinen naiven Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist er zudem den konträren Begegnungen und Erfahrungen, die er in der Stadt macht, nicht gewachsen.[2] Im Stehausschank des Italieners, einem glühenden Hitler-Verehrer, der ihn in eine Diskussion über Kriegsstrategien verwickelt, braucht Richard seine ganze Kraft, um „seine amerikanischen Grundsätze“ nicht „zu verleugnen“ (II 177) und er erkennt, dass es aus der Entfernung einfacher war, man dachte von dort „geographisch, geopolitisch, unmenschlich“ (II 118). Doch in der direkten Konfrontation empfindet Richard Verunsicherung, was ihn rasch erneut eine sichere Distanz einnehmen lässt: „Sie sollten sehen, wie sie mit ihrem europäischen Wirrwarr zurechtkamen. Er wollte Amerika verteidigen.“ (II 118)
Das hehre Ziel der Wertvermittlung scheitert jedoch auch am Widerstand der deutschen Bevölkerung, der beispielhaft verdeutlicht wird an einer Erfahrung Christopher Gallaghers:
„Er stellte sich auf einen Stein und rief: „Seid doch vernünftig, Leute!“ Die Leute verstanden ihn nicht. Aber da er die Arme so schützend ausgebreitet hielt, lachten sie und sagten, es sei der heilige Christopherus.“ (II 208).
Der Widerstand erfolgt also nicht notwendigerweise aggressiv, sondern auch darin, Werte lächerlich zu machen.
Neben der Vernunft und anderen bereits angesprochenen Werten repräsentiert Christopher
„das Klischee des liberalen Amerikaners [...]. Seine Liberalität resultiert allerdings nicht aus reflektierter Einsicht, sondern aus einer Ungebrochenheit und existentiellen Sicherheit, die ein Feindbild überflüssig machen.“[3]
Dies ist ihm nicht bewusst und trägt zu einer auffallenden Naivität im Glauben an das Gute im Menschen bei, was ihn entgegengesetzte Zeichen übersehen lässt. Er ist, „along with the American teachers, a new world optimist.“[4]
Kay, die jüngste der amerikanischen Lehrerinnen, symbolisiert für einige deutsche Figuren eine große Sehnsucht. Sie vermittelt eine erstrebenswerte, aber unerreichbare Freiheit und Unbefangenheit, weil sie in ihrer Existenz ungebrochen, sie selbst unbeschwert von Vergangenheit, Geschichte, Tradition, Besitz, Rücksichten und Bindungen ist.[5] Philipp – „[v]on allen Figuren artikuliert er am reinsten die Sehnsucht nach radikaler Freiheit“[6] – sieht in Amerika diesbezüglich eine Verheißung, die ihm durch Kay begegnet. Sie ist für ihn „eine Inkarnation Amerikas aus europäischer Sicht mit allen Reizen seiner Frische, Unverbrauchtheit, seiner „Weite und Ferne“ (II 97).“[7]
Neben Kay, deren Symbolkraft nicht uneingeschränkt strahlt, denn die junge Frau wird in ihrer Naivität und Romantisierung der Gegenwart durchaus kritisch gesehen, gilt Washington Price als „the novel's ray of hope“[8]. Er ist „der wirkliche Humanist, der an die Anständigkeit glaubt und an den Menschen.“[9] Dies gelingt ihm trotz schmerzlicher Realität, die er im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Amerikanern als Schwarzer in rassistischen Umfeldern nicht übersehen kann, und einer dementsprechenden Perspektive auf die Welt („böse ist die Welt und Haß ist in der Welt, und voller Gewalt ist die Welt“ (II 63)). Er glaubt aber, in dieser Hinsicht nicht anders als alle Amerikaner, an die Möglichkeit der Veränderung, des guten Beispiels und so sieht er sich als „Ritter gegen Vorurteil und Verfemung“ (II 62).
Washingtons Vision von einem Leben ohne Vorurteile erfüllt sich nicht, weil er das Opfer rassistischer Gewalt wird. Es heißt zwar etwas pathetisch, „sie konnten den Traum nicht töten, der stärker als jeder Steinwurf ist“ (II 210), doch Eckart Oehlenschläger führt zu dieser für Koeppen ungewohnt positiven Beteuerung sehr erhellend die Korrespondenz zwischen dem Autor und seinem Verlag an, in der eine Textstelle lautet: „Unklar bleibt nach dem Steinwurf und seinen Folgen das Schicksal von Washington und Carla. Warum ist der Traum von der Seine und 'Niemand ist hier Unerwünscht' ausgeträumt?“[10]
„Im gedruckten Text ist dieser Traum aber gar nicht ausgeträumt. [...] Die Vermutung liegt sehr nahe, daß die in der Stellungnahme aufgeworfene Frage Folgen gehabt hat. Die vielleicht sympathische, aber doch recht forciert (um nicht zu sagen: sentimental) wirkende und im Romankontext singuläre, positivutopische Versicherung „sie konnten den Traum nicht töten“ etc. hat offenbar erst im Zuge der Überarbeitung Eingang in den Text gefunden. Und das wäre immerhin ein für die Interpretation des ganzen Romans erheblicher Eingriff.“[11]
Die vorbildlichen, von Washington vertretenen Werte sind in dieser Romanwelt somit vollkommen ohne Chance. Desillusionierend zeigt sich auch, dass es „das freie und brüderliche Amerika“, das Richard Kirsch in Europa zu verteidigen entschlossen ist, „gar nicht gibt“[12]. Der Rassismus ist hier wie dort ungebrochen, nicht umsonst sieht Washington Paris als Zielort seines Traumes.
Amerikas stetiger Optimismus, der Glaube an Fortschritt und Nützlichkeit, die hoch gehaltene Fahne der Zivilisation, Vernunft und Freiheit scheinen im Roman als allgemeine Orientierung nicht zu passen; den Besatzern gelingt es nicht, ihre Werte zu vermitteln, zumal es ihnen selbst oft misslingt, sie zu leben. Craven sieht gerade die Mehrheit der „'Kleinbürger' unable to cope with imported American culture and mores“[13].
Übergroße Naivität, ein prägendes Attribut für alle hier vorgestellten Amerikaner, gepaart mit Herablassung und teilweise vorhandener Oberflächlichkeit – „'Die Stadt ist farblos', dachte Mildred, 'und die Frauen sind schlecht angezogen.'“ (II 52) –, die sich auch in den eine sorgenfreie Welt suggerierenden Hochglanzmagazinen niederschlägt, negieren die positiven Aspekte des amerikanischen Weltbildes in seiner Überzeugungskraft. Haas ist darum zuzustimmen in seiner Interpretation:
„Im ersten Nachkriegsroman sind die USA nicht das Versprechen einer neuen, besseren Welt, sondern das Land des Kreuzritterhochmuts (II 38f.), der Rassentrennung (II 6063) und des illusionären Konsumglücks (II 49f., 171f.).“[14]
1.2. Christlich-humanistisches Weltbild
Mr. Edwin hat Amerika denn auch den Rücken gekehrt zugunsten des europäischen Kontinents, von dessen Geist und Tradition er durchdrungen ist. Der Dichter vertritt eine „konservative, elitäre, christlich-moralische Kulturideologie“, „eine Ideologie abendländischer Tradition, des autonomen Geistes, der Heilsgewißheit und des Humanismus“[15]. Seine Sinnproklamationen speisen sich demgemäß aus Antike, Renaissance und deutschem Idealismus[16] und gipfeln in der Überzeugung, dass die christliche Religion „das einzige wärmende Licht“ (II 204) sei, mit dessen Erlöschen die europäische Kultur in die Barbarei zurückfalle.
Edwin ist gewillt, seinen Glauben an die „Ewigkeit des Geistes“ und „die unvergängliche Seele des Abendlandes“ (II 45) weiterzugeben. Diese und weitere angesprochene Werte zu vermitteln oder erneut zu wecken ist er ins gesellschaftlich und geistig erschütterte Nachkriegsdeutschland gereist. Sein Vortrag, ein wichtiger Integrationspunkt des Romans, „ein gesellschaftliches Ereignis“ (II 181), soll einen Beitrag leisten, die „Erschütterung zu bannen, die Unordnung zu ordnen und, freilich im Sinne der Tradition, neue Tafeln eines neuen Gesetzes zu errichten“ (II 180).
Trotz seiner tiefen Überzeugungen hat Edwin bereits im Vorhinein Bedenken, ob er in der Lage sein wird, Sinn zu vermitteln, fühlt er doch selbst, dass seine Botschaft „kalt“ und „ohne Trost“ (II 45) ist. Statt jedoch seine Zweifel zu formulieren, hält er den Vortrag, der – seines Erachtens – von ihm erwartet wird, und der zu einer vergeblichen Beschwörung alter Werte gerät: „Edwins Gedanken sind Schablonen und seine Worte Phrasen.“[17] „Was er sprach, war schön und weise; aber es war wohl zu hoch“ und ohne „Herz“ (II 205). So verwundert es wenig, dass „sein Wissen, [..] seine geistige Botschaft den Kriegsüberlebenden [..] völlig irrelevant erscheinen“[18] muss, geht beides doch an den elementaren Bedürfnissen seiner Zuhörer vollkommen vorbei und bietet keine „Lösung für die chaotische deutsche Nachkriegssituation“[19] und die Sorgen der Zeit. Stühler fasst zusammen: „[I]n dieser heillosen Zeit gibt es keine gesicherte Deutungsinstanz, schon gar nicht kann es der Dichter sein, dessen Wissen zwar erlesen ist, aber für diese Zeit untauglich geworden ist.“[20] Die alten klassischen Werte finden keinen Widerhall, die 'Macht des Wortes' versagt und der „Vortrag würde völlig folgenlos bleiben“ (II 203), weil Mr. Edwin aus einer distanzierten Position heraus „zwar den Weltgeist im Blick [hat], weniger aber den Alltag des Krieges und des Nachkrieges.“[21]
Am Ende des Vortrags spendet das Publikum dennoch obligatorischen Beifall,
„eine Befreiung der Zuhörer, die nichts von Edwins Worten begriffen hatten und die nun mit dem Beifallsklatschen [...] den toten [...] Anhauch seines Geistes als lästige Spinnwebe von sich streiften“ (II 212).
Hielscher erkennt richtig:
„Der Roman negiert [..] Edwins Rede, indem er das dort vermittelte Verständnis sowohl einer autonomen Geistestradition, als auch des in einem göttlichen Heilsplan befindlichen Menschen in der Konfrontation mit den wirklichen Problemen der dargestellten Menschen und des „Darstellers“ Edwin bloßstellt.“[22]
Es zeigt sich „Koeppens tiefe Skepsis gegenüber den Versuchen, nach der Barbarei der Nazizeit das christlich-abendländische Weltbild wieder aufzurichten“[23].
Weitere Kritik gilt Mr. Edwin, dem es ebenso wie einigen amerikanischen Figuren nicht gelingt, seinen hohen Idealen, die er zu vermitteln sucht, selbst konsequent zu folgen: Er bezeichnet sich zwar als „vorurteilslos gegen jedermann“ (II 44), doch „während von Freiheit und kosmopolitischer Verständigung die Rede ist, zeugt die Rede selber von Intoleranz und Verständnislosigkeit dem Andersdenkenden gegenüber“[24]. Auch dient ihm der viel beschworene Geist als bloße „Rechtfertigung“, „als Ausweg aus der Verantwortung in der materiellen Welt.“[25]
Edwins schmählicher Tod, erschlagen von Jugendlichen, deren Schönheit ihn anzog, zeigen sein vollständiges Scheitern: nach dem des Geistes, auch den der Ästhetik. „Die distanzierte Betrachtung der Nachkriegswirklichkeit aus einem ästhetisierenden Blickwinkel wird durch banale Gewalt in die Realität hineingezogen“[26], „the irrelevance of his lecture is demonstrated by the attack.“[27]
1.3. Die Bedeutung von Kunst und Literatur
Philipp bedauert, dass Edwins „Wort, sein Geist, seine Botschaft, [...] ohne sichtbare Wirkung blieben“ (II 212). Seine Verehrung verblendet ihn jedoch nicht für die realistische Erkenntnis, dass die abendländische Bildung, die er selbst sehr schätzt, das Unheil des Nationalsozialismus und des Krieges nicht verhindern konnte, ein Urteil, das der Autor selbst an anderer Stelle wiederholt: „Die bürgerliche Klasse war humanistisch gebildet, aber das hat nichts daran geändert, daß sie in den Krieg zog. [...] Die Kultur hat versagt, überall.“[28]
Philipp, „der Prototyp des modernen Intellektuellen, liberal und tolerant trotz aller Enttäuschungen“[29], ist von der besonderen Aufgabe der Dichter und Schriftsteller überzeugt. So sieht er auch sich „auf einen Posten gerufen, einen ehrenvollen Posten vielleicht, weil er alles beobachten“ (II 23) und aufgrund seines Überblicks die übergeordneten Zusammenhänge erkennen und sichtbar machen sollte. Verzweifelt muss er jedoch feststellen, dass sich „das Beobachtbare, das Beobachtete immer wieder dem Zugriff entzieht“[30]. „Korrekte Beobachtung und wahrheitsgemäße Darstellung erweisen sich als prinzipiell nicht (mehr) einzulösende Zielvorgaben“[31], auch dem Dichter ist der ihn auszeichnende Überblick verloren gegangen. „[T]he speedy and incoherent succession of unrelated events“[32] bereitet Philipp deshalb ebenso massive Schwierigkeiten wie anderen Figuren und mit einem Gefühl der Hilflosigkeit erkennt er: „Die Welt, die er durchschauen soll, droht ihn zu verschlingen; aus einem überlegenen Deuter der Wirklichkeit ist ein Ausgesetzter und Leidender geworden“[33], dem das Leben nicht nur rätselhaft, sondern bedrohlich erscheint.
Kafitz führt mehrere Gründe dafür an, dass dem Dichter seine Position entglitten ist. An erster Stelle ist der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt zu nennen, dessen Bedeutsamkeit zugenommen und in seiner Spezialisierung bei dem durchschnittlichen Dichter zu einem Erfahrungsdefizit geführt hat.[34] Hinzu kommt die 'Informationsflut' der Medien, die „den Kenntnisstand des einzelnen vom Zufall der Auswahl abhängig“ macht und „ihn zudem einem dauernden Wandel“[35] unterwirft. Die Zeit ist schnelllebiger geworden und zwischen „Informationsdefizit und Informationsüberfluß fehlen dem einzelnen die Wertungskriterien für ein sinnvolles Urteilen.“[36] Es zeigt sich damit, dass die Welt, wie Koeppen sie sieht, für niemanden mehr überschaubar ist und der Versuch, sie zu begreifen, daher scheitern muss.[37]
Philipp findet keinen Zugang, keine Worte, versagt vor der Aufgabe eines Beobachters und dem Schreiben eines Werks, in dem er seine Sicht der Welt darlegen könnte: „Philipp wußte das Zauberwort nicht. Er hatte es vergessen. Er hatte nichts zu sagen. Er hatte den Leuten, die draußen vorübergingen, nichts zu sagen.“ (II 56) Darüber hinaus liegt die Schwierigkeit auch in unterschiedlichen Vorstellungen von Kunst und Kultur. Philipp als Verfechter anspruchsvoller Literatur fühlt sich einerseits zu „erhaben“, um „nach dem Geschmack der Leute zu schreiben“ (II 57), die in Filmen und Romanen die seichten „falschen Gefühle“ in der Art der „ Erzherzogliebe “ (II 56) und damit leichte Unterhaltung bevorzugen. Andererseits traut er sich jedoch auch nicht zu, „den Geschmack der Leute zu ändern“ (II 57f.), mit harter Wirklichkeit an ihren Illusionen, ihren kleinen Alltagsfluchten zu rühren. Damit enthält der Schriftsteller der Gesellschaft sehr resignativ sowohl sein intellektuelles wie künstlerisches Vermögen vor, das Orientierung bieten könnte. In der Folge wird daher ausgeschlossen, dass die „jungen Intellektuellen“ einen gesellschaftlichen Wandel anstoßen könnten.[38]
„Der Verbindlichkeit eines traditionalen Menschen und Weltbildes entledigt, unter einem entwerteten Himmel, bleibt die Orientierungslosigkeit, muß der [...] Schriftsteller verstummen. [...] Nicht nur die explizit affirmative, bruchlose Anknüpfung an die Tradition, wie sie Edwin praktiziert, ist unmöglich. Auch für die kritisch gewendete Bemühung, die Lebenswirklichkeit zu erfassen – wie sie Philipp aufgrund seiner politischen Erfahrungen und Aussagen zu unterstellen wäre – gilt dies.“[39]
Kunst und Literatur stiften keinerlei Sinn mehr, was an mehreren Stellen des Romans verdeutlicht wird: Die bildungbeflissenen Lehrerinnen schreiben sich „eine Aufzählung toter Wörter“ in ihre Merkbücher, „Wörter, die sie nicht zum Leben, die sie zu keinem Sinn erwecken würden.“ (II 213) Auch Emilia umgeben nur „tote Bücher, toter Geist, tote Kunst.“ (II 211) Der Roman erwähnt „Schauspieler, die an toten Worten ersticken, Pan war tot, zum zweitenmal gestorben“ (II 26). Der Tod André Gides, immerhin Literaturnobelpreisträger, findet in der Zeitung lediglich unter „Fernerereignetesich“ Erwähnung, „in der Rubrik des kleinen Klatsches“, gleich neben „ Kater des argentinischen Konsuls entlaufen “ (II 95).
Der Bedeutungsverlust von Kunst und Kultur sowie die Interessenverschiebung in der im Roman dargestellten Gegenwart zeigen sich nicht zuletzt exemplarisch bei der Erwähnung Irans: „Die Stimme sagte nicht Hafis. Die Stimme kannte Hafis den Dichter nicht. Hafis hatte für diese Stimme nie gelebt. Die Stimme sagte: „ Oil.“ (II 81)
[...]
[1] Quack (1997): S. 116.
[2] Vgl. auch Brink-Friederici (1990): S. 80.
[3] Kurth (1998): S. 39.
[4] Gunn (1983): S. 51.
[5] Vgl. Hein (1992): S. 47.
[6] Quack (1997): S. 136.
[7] Hein (1992): S. 47.
[8] Gunn (1983): S. 60.
[9] Bungter (1968): S. 196.
[10] Oehlenschläger, Eckart: Nachrichten von Koeppen-Recherchen. In: Müller-Waldeck/ Gratz (Hg.) (1998): S. 1324. S. 17.
[11] Ebd.: S. 17.
[12] Brink-Friederici (1990): S. 80.
[13] Craven (1982): S. 161.
[14] Haas (1998): S. 118.
[15] Hielscher (1988a): S. 86f.
[16] Vgl. Uske (1984): S. 48.
[17] Brink-Friederici (1990): S. 66.
[18] Schmidt, Gary: Koeppen, Andersch, Böll. Homosexualität und Faschismus in der deutschen Nachkriegsliteratur. 2001. S. 69.
[19] Reinhardt, Stephan: Politik und Resignation. Anmerkungen zu Koeppens Romanen. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 34. Wolfgang Koeppen. München April 1972. S. 3845. S. 42.
[20] Stühler (1989): S. 96.
[21] Eggert, Stefan: Wolfgang Koeppen. 1998. S. 47.
[22] Hielscher (1988b): S. 80.
[23] Erlach (1973): S. 116.
[24] Lorenz (1998): S. 130.
[25] Schmidt (2001): S. 70.
[26] Eggert (1998): S. 48.
[27] Gunn (1983): S. 40.
[28] Kunert, Günter: Die Kultur hat versagt. Über die Rolle von Schriftstellern und Künstlern heute diskutieren in einem „Stern“-Gespräch die Autoren Günter Kunert und Wolfgang Koeppen. 1985. In: Koeppen (1995): S. 185ff. S. 185.
[29] Quack (1997): S. 134.
[30] Döhl (1968): S. 174.
[31] Eisele, Ulf: Odysseus trinkt Coca-Cola. Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“. 1987. In: Oehlenschläger (1987): S. 258274. S. 259.
[32] Craven (1982): S. 185.
[33] Kafitz (1987): S. 82.
[34] Vgl. ebd.
[35] Ebd.: S. 83.
[36] Ebd.
[37] Vgl. Döhl (1968): S. 173f.
[38] Vgl. Koch (1973): S. 78.
[39] Uske (1984): S. 50.